Gefährliche Lüge - Marie Louise Fischer - E-Book

Gefährliche Lüge E-Book

Marie Louise Fischer

4,8

Beschreibung

Österreich-Ungarn kurz vor dem Ersten Weltkrieg. In der mondänen ungarischen Adelselite spielen die von Vörös ein gewichtige Rolle. An der Seite ihres Mannes dabei die wunderschöne Magdalena von Vörös. Was niemand weiß, eine Gefährliche Lüge könnte das Lebensglück des jungen Paares zerstören. Erpresser drohen, ihren Mann und die Öffentlichkeit von ihrer Vergangenheit als Revuetänzerin zu unterrichten. Der Preis, den sie für ihr Schweigen verlangen, ist hoch: Magdalena soll ihnen Geheimpapiere aus den Unterlagen ihres Mannes aushändigen – Papiere, die kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs für Ungarn von unermesslicher Wichtigkeit sind. Jetzt geht es nicht mehr nur um das private Glück, sondern um die großen politischen Zusammenhänge.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Gefährliche Lüge

Roman

Saga Egmont

Gefährliche Lüge

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1977 by Xenos Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718803

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Es war zwölf Uhr mittags. Von der Berliner Parochial-Kirche klangen verweht die Melodien des Glockenspiels. Viele Neugierige warteten auf die Ablösung der Schlosswache und bestaunten die schmucken Soldaten mit ihren blauen Waffenröcken und den glitzernden Helmen, in denen sich die Frühlingssonne spiegelte. Aus dem Konfektionsviertel drängten und liefen in duftigen Kleidern die Mädchen. Sie stießen gelangweilte Kavaliere an, die, den Spazierstock in der Hand, stehen blieben, um die Wache vorbeimarschieren zu lassen. Ein hoch gewachsener Polizeiwachtmeister mit gewaltigem Bart, der Kinn und Nase fest verdeckte, legte die Hand an die Pickelhaube und salutierte. Die steif gewachsten Schnurrbartspitzen zitterten dem vorbeireitenden Hauptmann nach, und die Stiefel der Soldaten knallten an ihm vorüber: eins-zwei, eins-zwei, einszwei, eins-zwei. Es knallte in geschlossenem Ruckzuck, Kommandos ertönten: »Präsentiert das Gewehr!« Die Trommler rührten die Trommelschlägel, Blechhörner und Pauken fielen ein. Die Fahrt der unübersehbaren Wagenreihen über den Schlosspark stockte für Minuten.

Eine von zwei prächtigen Apfelschimmeln gezogene Kutsche hielt vor der erhobenen Hand des Schutzmanns. Der Kutscher in taubengrauer Livree saß unbeweglich auf dem Bock und starrte zu dem Schutzmann hinunter.

Eine Frauenstimme aus dem Innern des Wagens rief ungeduldig: »Was gibt’s denn?«

»Wachablösung, gnädiges Fräulein!« Und er dachte: ›Hat es wieder mal eilig, die Kleene. Kann’s nicht abwarten, den Bräutigam wieder los zu werden. Die hab’n doch keen Herz, die reichen Leute!‹

Das Mädchen, über das der Kutscher so abfällig urteilte, hatte die Hand unter den Arm eines noch jungen, sympathischen Mannes geschoben. Sie war hübsch, von jener gepflegten Hübschheit, der man ansieht, dass sie zugleich Inhalt eines Lebens ist und sehr viel Geld kostet. Das Gesicht war noch sehr kindlich, ein wenig hochmütig und kühl, als wollte es jedem sagen: ›Ich bin Carola Splettenberg, einzige Tochter des Generaldirektors der Berliner Linoleumwerke und eine reiche Partie.‹

Der junge Mann neben ihr war Dr. Gyula Batthyany, seit einigen Jahren von der Königlich Ungarischen Justizkammer als Rechtsanwalt zugelassen und seit einem Tag Carolas Bräutigam. Er spürte den Druck ihrer Finger und rückte dichter an das Mädchen heran.

Die abgelöste Wache marschierte nun mit klingendem Tsching-dara-bum-bum von dannen. Die Soldaten warfen im Takt die Beine.

Uniformen, Helme, glitzernde Trompeten und Hörner, Schellenbaum und geschulterte Gewehre entschwanden langsam. »Na, wie gefallen dir unsere Jungs?«, fragte Carola lachend.

Gyula neigte sich vor, um die Wache vorbeidefilieren zu sehen, und sie blickte wohlgefällig und ein wenig verliebt auf den hübschen Menschen, den sie ihren Freundinnen vor der Nase weggeschnappt hatte. Was für ein nettes Gesicht er hatte, welch feurige Ungaraugen, welch prachtvolle Mähne schwarzen Haares. Ein wenig weich war er, ihr Gyula, noch nicht so ganz für das kalte, klare, tüchtige Berliner Leben geeignet. Aber das gefiel ihr gerade an ihm, seine Ritterlichkeit, seine Gutherzigkeit, seine Anbetung der Frau. Mit Gyula konnte man umspringen, wie man wollte. Und verliebt war er, wie ein Berliner Kaufmannssohn nicht verliebter sein konnte!

Froh und voller Besitzesfreude drückte Carola Gyulas Arm und lächelte ihm zu.

Die Straße war nun wieder frei. Johann, der Kutscher, ließ die Zügel locker, er schnalzte mit der Zunge, die Pferde zogen tänzelnd an.

Gyula legte den Arm um seine Braut und küsste sie rasch auf die Wange. Die Uhr des Kirchturms schlug einmal. Carola machte sich von Gyula los. »Ach, du lieber Gott! Schon Viertel nach zwölf? Und ich muss noch zur Schneiderin und zur Modistin!«

Gyula aber meinte gekränkt, das habe doch wahrhaftig Zeit, er sei nur noch eine Stunde in Berlin, und viele Wochen würden sie einander nun nicht sehen. Sie müsse bis zur Abfahrt des Zuges bei ihm bleiben.

»Aber, aber«, lachte Carola halb geschmeichelt, halb unzufrieden, »wir sind hier in Berlin nicht so sentimental wie ihr Ungarn. Du wirst dich doch sehr umstellen müssen, wenn du bei Papa als Syndikus eintreten willst.«

Gyula sah das Mädchen zuerst erstaunt an, aber dann lachte auch er. »Ja, ja, ich weiß, aber das hat alles noch Zeit. Vorläufig bin ich noch mein eigener Herr und kann sentimental sein und verlangen, dass meine Braut sehr, sehr lieb zu mir ist.« Er zog Carolas Hand an die Lippen und küsste sie zärtlich.

Der Wagen hatte die Linden passiert und fuhr durch das Brandenburger Tor. Omnibusse, Auto- und Pferdedroschken, Räder eilten vorüber. Im Tiergarten sprossen an Sträuchern und Bäumen die ersten Knospen dem Himmel zu. Der berauschende Hauch des Frühlings strömte aus dem schönen Park. Arm in Arm lustwandelten Verliebte, und Scharen von spielenden Kindern tummelten sich auf den Wegen. Eine kurze Fahrt durch die Königgrätzer Straße, dann wurde der große rote Ziegelbau des Anhalter Bahnhofs sichtbar. Die Uhr am Giebel zeigte nun halb eins. Ein Diener des Hauses Splettenberg trug Gyulas Gepäck durch das Gewühl in die rußgeschwärzte Halle. Noch fehlten fünfunddreißig Minuten bis zur Abfahrt des D-Zuges.

Gyula half Carola beim Aussteigen und streckte dann dem Kutscher Johann zum Abschied die Hand hin. »Auf baldiges Wiedersehen, Johann, und vielen Dank für all Ihre Mühe mit mir.«

Der Kutscher ergriff nach einem verlegenen Blick zu seiner Herrin die dargereichte Hand und lächelte erfreut. »Hat nichts zu sagen, Herr Doktor, gern geschehen. Und gute Reise auch!«

Unter den tausenden von Menschen, die irgendwohin fahren wollten, gingen die Verlobten durch die Sperre. Auf Gleis 4 dampfte schon die Lokomotive des Zuges, dessen Richtung die Schilder ankündigten: Bodenbach – Prag – Wien – Preßburg – Budapest. Die Türen der Abteile standen noch offen, Passagiere und Träger hasteten ein und aus.

»Bist du so glücklich wie ich?«, fragte Gyula.

»Aber, Gyula!«, wehrte Carola ab. »Wir sind nicht allein. Denk an die Leute!«

Gyula war anderer Meinung. Mit einer Handbewegung erledigte er Carolas Bedenken.

»Was gehen uns die Leute an? Ich liebe dich. Und du liebst mich? Ja?«

Er umarmte seine Braut und küsste sie leidenschaftlich. Fremde blieben stehen und blickten lächelnd auf das Paar.

Carola stieß Gyula, peinlich berührt, zurück. »Alle Leute schauen schon!«

»Ich habe mir die Liebe verliebter vorgestellt«, sagte Gyula ein wenig gekränkt.

»Du Romantiker!«

»Ja, natürlich, woher sollte ich es wissen? Du bist meine erste Liebe.«

Aber die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel Carola in dem Augenblick nicht. Sie fürchtete wieder einen Ausbruch von Gyulas feurigem Temperament.

Mit damenhafter Überlegenheit beendete sie das Gespräch. »Du musst jetzt einsteigen, Gyula. Und sei nicht traurig, ich hasse großes Abschiednehmen. Ich glaube, ich werde jetzt gehen, Tante Klothilde wartet schon seit einer halben Stunde im Salon Renée auf mich.«

Gyula sah seine Braut ernst an. Sie begriff, dass er beleidigt war. Wie ärgerlich! Carola holte aus ihrer Handtasche eine rosa Puderquaste hervor, betupfte damit ihre Wangen und sah verstohlen auf den Zürnenden. Dann sagte sie mit gespieltem Gleichmut: »Nun spiel’ aber nicht den Gekränkten, Gyula. Bitte, schreibe oft, bummle nicht so viel. Vergiss nicht, Papa will, dass wir im Juni heiraten, sei also fleißig.«

»Du hast recht. Ich bin dumm. Komm!« Er ergriff Carolas beide Hände.

Dabei fiel ihre Handtasche zu Boden, und ihr Inhalt entleerte sich auf dem Bahnsteig. Der Diener sprang hinzu, um alles aufzusammeln.

Ärgerlich schimpfte Carola: »Weil du so wild bist! Die Leute gaffen und klatschen schon, und dort drüben Frau von Rodenberg lacht uns aus.«

Gyula aber nahm seine Braut fest in seine Arme und küsste sie mehrmals auf Mund und Wange. Schon gab der Dienstleiter mit dem Stab das Abfahrtszeichen, der Zug ruckte an und fuhr fauchend aus der Halle.

Hinter einem verspäteten Passagier erkletterte Gyula rasch das Trittbrett.

Dem Winkenden erschien die Gestalt der Braut immer kleiner. Dort stand sie und winkte zurück. Nun wandte sie sich und ging durch die Sperre. Sie hatte es eilig, zu ihrer Schneiderin zu kommen.

Mit einem Seufzer setzte sich Gyula auf seinen Platz. Die deutschen Mädchen waren alle selbstbeherrscht und kalt. Aber konnte man das wirklich bleiben, wenn man von Herzen liebte?

Er ergriff nachdenklich die Zeitung und überflog die Schlagzeilen: ›Große Manöver des III. und IV. russischen Armeekorps an der deutschen Grenze … Deutsch-russischer Grenzzwischenfall!‹

Überall ging das Geraune, dass ein Krieg unvermeidlich sei.

Gyula wollte nicht daran denken. Er tat die Zeitung beiseite, legte den Kopf auf die mit rotem Samt überzogene Lehne und schloss die Augen. Aber da tauchte schon wieder Carolas Bild vor ihm auf, seine reizende Carola! Das schönste und reichste Mädchen des Berliner Westens. Welch ein Wunder, dass sie seine Braut geworden war! Er konnte sein Glück noch kaum fassen.

Immer schneller stürmte der Zug dahin. Weißer Dampf, vermengt mit Kohlerauch, wälzte sich aus dem Schlot. Die Räder drehten sich auf endlosen Schienen unendlich weiter. Bald hatte er Berlin verlassen. Felder breiteten sich links und rechts aus, auf denen Bauern mit ihren Frauen und Knechten arbeiteten. Eine Koppel junger Pferde raste dahin. Wiesen und Saatfelder säumten, ein grüner Teppich, die glitzernden Schienen.

Gyula sann träumend seinem Leben nach. Seine Finger berührten den roten Samt. Gyula Batthyany, der Hungerleider, fuhr in der ersten Klasse nach Hause. Was war er bis gestern? Ein Rechtsanwalt ohne Prozesse, und heute war er der Schwiegersohn des Industriellen Splettenberg. Er sollte in dessen Konzern Syndikus werden, man würde vor ihm zittern. Er würde Haufen von Geld verdienen, Aktien besitzen, Dividenden einstecken, ein großes Haus führen. Im Geiste hörte er nochmals die Kommerzienräte, denen er gestern vorgestellt worden war, die sich freuten, ihn kennen zu lernen. ›Wir empfangen am Donnerstag, kommen Sie bitte zum Tee! ‹ – ›Zum Dinner!‹ – ›Zum Souper!«

Gyula, der mittellose Student, der unbedeutende kleine Rechtsanwalt, war durch Splettenberg etwas geworden. Wie war nur alles geschehen? Wie hatte er nur so ein unverschämtes Glück gehabt? Wer hätte sich das träumen lassen? Er begann seiner Vergangenheit nachzusinnen, die nun so weit hinter ihm zu liegen schien, als sei sie nie gewesen.

In Esztergom, an der Donau, unter der Brücke, über der die Kathedrale des Primas von Ungarn aufragt, war er Carola zum ersten Mal begegnet. Schwimmend wollte das kleine Mädchen die Donau durchqueren, und er, der unbekannte Student der Rechte Gyula Batthyany, hatte Carola gerade noch im letzten Augenblick dem Tode in den Fluten entrissen.

Die Belohnung, die ihm Carolas Vater antrug, hatte er nicht abgelehnt. Er brauchte notwendig Geld. Seine Anzüge und Schuhe waren zerrissen, und er hungerte sich recht und schlecht durch das Studium durch. Seine Eltern waren früh gestorben. Der Ortspfarrer hatte sich seiner angenommen, um einen Geistlichen aus ihm zu machen. Auf der Schule in Peterwardein aber hatte Gyula seinen Plan geändert und sich zum Studium der Rechte entschlossen. Er war wohl der ärmste Student auf der Budapester Universität und hatte wenig Freude. Oft hatte er nichts zu essen, in manchen Nächten wusste er nicht, wo er schlafen sollte. So hatte es damals um ihn gestanden.

Nach der Rettung bekam Gyula Batthyany von der Stadthauptmannschaft eine Rettungsmedaille und erhielt vom Deutschen Generalkonsul in Budapest eine Einladung. Alle Zeitungen waren voll von ihm und seiner Tat.

Im ›Hotel Jägerhorn‹ erwarteten ihn Generaldirektor Splettenberg aus Berlin und Carola. Splettenberg gab dem jungen Mann einen respektablen Scheck zusammen mit seinem Dank.

Carola aber drückte ihrem Lebensretter einen innigen Kuss auf die Wange. »Ich werde Sie nie vergessen!«, sagte sie. »Wenn Sie fertig sind mit dem Studium, kommen Sie nach Berlin.«

Aber erst eine ganze Reihe von Jahren später, als Gyula sich bereits in Budapest eine bescheidene Kanzlei eingerichtet hatte, führten ihn die Interessen eines Klienten nach Berlin, und er hatte den Splettenbergs seine Aufwartung gemacht. Der Empfang war überaus herzlich. Überall wurde er, der mutige Retter, eingeführt. Und die kühlen, blauäugigen deutschen Mädchen bewunderten den dunklen, schlanken, temperamentvollen Ungarn. ›Wie ein Zigeuner‹, flüsterten sie über ihn, und ihre Augen sagten ihm schmeichelhafte Dinge.

Carola Splettenberg begann einen Flirt mit Gyula, aber es wurde eine Verlobung daraus. Eigensinnig erklärte sie ihren Eltern: »Gyula und keinen anderen werde ich heiraten!«

»Woll’n mal sehen, Mädel, wie der junge Mann sich macht. Gib ihm noch ein Jahr Zeit. Wenn er gut tut, kann er Syndikus bei uns werden. Ich werde dich doch keinem Hungerleider geben.«

Als er nach einem Jahr wiederkam, wurde Gyula Batthyany von Splettenberg akzeptiert. Sein Schwiegervater schlug ihm vor, seine Kanzlei in Budapest aufzugeben und in seinen Konzern als Jurist einzutreten. Und nun fuhr Guyla Batthyany heim, um dort die Zelte abzubrechen und ein neues Leben an Carolas Seite zu beginnen.

›Liebst du Carola?‹ Aufschreckend fuhr Gyula hoch. Hatte er laut geträumt, oder stand der Frager im Korridor? Er schob die Coupétür zurück und starrte auf den Gang hinaus. Aber niemand war zu sehen. Immer noch hörte er deutlich die Frage: ›Liebst du Carola?‹

Gyula presste seinen schmerzenden Kopf gegen die kühlen Fensterscheiben. Sein Atem belegte das Glas. Mechanisch zeichnete sein Zeigefinger den Namen ›Carola‹ darauf. Aber sein Herz schlug nicht schneller. Ärgerlich über sich selbst, trat er auf den Korridor und zündete sich eine Zigarette an. Er erinnerte sich mit Bitterkeit an den Salon Renée. Ob Carola ihn wirklich liebte? Aber es musste doch so sein. Warum sonst hatte sie ihn genommen? Splettenberg hatte ihm ganz offensichtlich eine Gnade erwiesen, als er ihm seine einzige Tochter gab. Gyula erinnerte sich noch an das Gespräch zwischen ihm und Herrn Splettenberg: »Vergiss nicht, mein Junge, was ich alles für dich getan habe.«

»Ich verlange«, hatte Splettenberg gesagt, »dass du ein Rechtsanwalt nach meinem Sinne wirst und mit meiner Tochter später ein großes Haus führst.«

Gyula dachte jetzt im Zug etwas bitter bei sich, während er sich zustimmend verbeugte: »Jawohl, Herr Generaldirektor! Ihre Tochter soll von mir ein Schloss, ein Automobil, Diamanten, Pferde bekommen, und wenn sie nicht gerade bei fremden Leuten speist oder im Theater ist, wird sie auch wohl eine halbe Stunde für Gyula Batthyany Zeit haben!«

Aber er wollte nicht weiter nachdenken. Alles würde sich finden, wenn sie erst verheiratet waren. Er setzte sich auf der Samtbank bequem zurecht und nahm wieder die Zeitung zur Hand. Unaufmerksam glitten seine Augen über die Buchstaben.

›Liebt Carola mich wirklich – oder ist alles nur eine Laune von ihr?‹, fragte es wieder in seinem Inneren. Wütend warf er die Zeitung hin.

Zum Glück ertönte ein Gongschlag; durch den Korridor eilende Speisewagenkellner meldeten: »Im Speisewagen ist zum Kaffee serviert!«

Gyula stand auf und lief dem Kellner nach. Es war wie eine Flucht.

Lillafüred, Ungarns mondänster Kurort, war im Mai noch idyllisch ruhig. Es lag verzaubert zwischen Hügeln, Bergen und alten Laubwäldern, und prächtig blühende Wiesen dehnten sich bis zur Terrasse des Grandhotels heran. Das ehemals herrschaftliche Schloss, jetzt von einer Aktiengesellschaft bewirtschaftet, war bisher das einzige Etablissement, in dem sich Kurgäste eingefunden hatten. Um so eifriger aber wurden sie von einer Unzahl von Kellnern bedient, die mit bis zu den Fußspitzen reichenden weißen Schürzen geschäftigt servierten: Kaffee, Tee, Schokolade, Milch, Jogurt und alles, was man sich nur wünschte. Ein dicker Koch, eine viertelmeterhohe, gestärkte Mütze auf dem Kopf, schob würdevoll einen mit Leckerbissen beladenen Teewagen vor die Gäste, die, in weiche Wolldecken eingehüllt und vom zarten Sonnenschein gewärmt, das erste Frühstück zu sich nahmen.

Die Besucher, die schon jetzt in Lillafüred erschienen waren, nannte die Hoteldirektion stolz ihre Stammgäste. Meist waren es Weltenbummler, die in dieser Einsamkeit Atem für die kommende große Saison in Ägypten, Italien, Baden-Baden, Nizza oder Monte Carlo holten.

Auf dem mit leuchtend rotem Sandkies bestreuten Tennisplatz wurde gerade ein brillantes Doppelspiel ausgetragen: zwischen dem dänischen Grafen Erik Lindström und Louis Birot, Sohn eines französischen Millionärs, einerseits und der Baronin Magdalena von Vörös und deren Gesellschafterin, Fräulein von Waldberg, andererseits. Das Spiel hatte viele Zuschauer, was kein Wunder war. Denn erstens gab es in Lillafüred sonst nicht viel zu schauen, und zweitens war eine der Spielerinnen, Magdalena von Vörös, von sehr fesselndem Äußeren.

Die Fürstin Witemsky, die seit 14 Tagen mit ihrem Sohn, dem Prinzen Alex, das Kurhaus mit ihrem Besuch beehrte, beglückte auch seit ebenso langer Zeit die Vörös mit ihrem neugierigen Interesse. Sie beobachtete durch ihr Lorgnon das Spiel der schönen Baronin und sagte dann im Tone eines Kanzelredners, der ein Dogma verkündet: »Alex, die Vörös betrügt ihren Mann!«

Prinz Alex zupfte an seinem schwarzen Bärtchen und starrte ebenfalls die Vörös nachdenklich an. Sie gefiel ihm nicht übel, prachtvolle Figur, schönes Haar. Er wollte schon aus Bequemlichkeit seiner Mutter beistimmen, als das Gerechtigkeitsgefühl doch bei ihm überhand nahm, und mit verbindlicher Stimme sagte er: »Aber, Mama, wie kommst du darauf?«

Fürstin Witemsky klappte energisch ihr Lorgnon zu. »Mein lieber Alex, mein Gefühl täuscht mich nie. Seit drei Tagen spielt sie übrigens mit diesem Franzosen Tennis, und der …«

»Aber, liebste Mama, ich spiele schon seit vierzehn Tagen mit Mimi Esterhazy Tennis, und du wirst noch nicht bemerkt haben, dass sie mir mehr Sympathie schenkt, als irgendeinem anderen.«

Die Fürstin zuckte die Achseln. »Dumm genug von ihr. Aber das ist kein Beweis. Ich sag’ es der Vörös auf den Kopf zu, sie betrügt ihren Mann!«

Prinz Alex zündete sich eine Zigarete an und schlug die Beine übereinander. Im Grunde war er selbst einem kleinen Klatsch nicht abgeneigt. »Würdest du mir sagen, Mama, aus welcher Quelle du das alles so haargenau weißt?«, fragte er.

»Quelle! Was brauche ich dazu eine Quelle? Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Ich kenne den guten Vörös seit dreißig Jahren. Er war seinerzeit Witemsky bei der Botschaft in Petersburg zugeteilt und tanzte gut Walzer. Ich erinnere mich ganz genau an ihn. Ich war eben verheiratet und er ein junger Legationsrat, kaum fünfundzwanzig Jahre alt. Heute muss er schon über fünfundfünfzig sein. Und nun schau dir seine schöne Frau an, die ist nicht viel mehr als fünfundzwanzig, lebt monatelang hier in Lillafüred allein in ihrer Villa und spielt mit gut aussehenden Sportsleuten jeden Tag Tennis! Wenn das keine schlagenden Beweise sind!«

Der Prinz lachte belustigt auf. »Mama, an dir ist ein Sherlock Holmes verloren gegangen. Nur, weil es deine Fantasie so will, muss die Vörös ihren Mann betrügen. Im übrigen habe ich bessere Informationen. Die schöne Baronin ist ihrem Gatten treu, ist außerdem eine vortreffliche Hausfrau, eine noch vortrefflichere Mutter, und das bisschen Sport, das sie jeden Tag mit einem der Partner betreibt, ist wohl das harmloseste Vergnügen, das man sich denken kann. Also, Mama, du siehst, dein Menschenverstand hat diesmal die falsche Richtung eingeschlagen.«

Beleidigt beharrte die Fürstin auf ihrer Meinung. »Du mit deinem Kindergemüt! Es ist für mich ganz sonnenklar, dass sich die Vörös nach jemand anderem umsieht. Ihr Mann ist doch in Ungnade gefallen! Oder hast du etwa nicht gehört, dass der Sektionschef Vörös von Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät des Dienstes enthoben wurde? Kapierst du jetzt?«

Die Fürstin schaute ihren Sohn triumphierend an.

»Was den verehrten Sektionschef betrifft, so brauchst du um ihn keine Angst zu haben. Seine Majestät wird schon seine Gründe dafür haben, dass Vörös für einige Zeit kaltgestellt wird. Die Rede des Sektionschefs vor der Delegation über die Kriegsgefahr war ein Alarmsignal, und dass die Russen und Serben daran keine Freude hatten, kann man sich lebhaft vorstellen. Wie ernst die Mahnungen von Vörös aber bewertet werden, und wie der Außenminister ihn deckt, ist daraus zu ersehen, dass er jetzt in Budapest an einem geheimen Memorandum arbeitet, das nur allerhöchsten Ortes vorgelegt werden soll!«

»Was du nicht sagst! Was schreibt er denn?«

»Das kann ich dir auch nicht so genau sagen, liebe Mama. Es heißt, Vörös sei bestens unterrichtet, wie bedrohlich der Brand am Balkan weiterglimmt. Er will alle Beweise in der Hand haben und behauptet, dass ein Krieg nicht zu umgehen ist.«

»Um Gottes willen! So ernst wird es doch nicht sein. Das ist nur eine Wichtigmacherei von dem Vörös!« Die Fürstin erhob sich und ließ sich von ihrem Sohn in die Hotelhalle begleiten. »Das muss ich aber doch der Tina nach Paris schreiben«, meinte sie dann eifrig, »ich bin ihr sowieso einen Brief schuldig!« Sie ließ sich von einem Boy in die oberen Stockwerke hinauffahren. Prinz Alex ging wieder zum Tennisplatz. Das Doppelspiel war zu Ende, die Balljungen glätteten mit einem Strohbesen den aufgekratzten Sand. Die Herren waren im Spiel Sieger geblieben und gerade dabei, sich von Magdalena von Vörös und Fräulein von Waldberg zu verabschieden.

Als alter Bekannter begrüßte Prinz Witemsky die Baronin mit vertrauter Herzlichkeit. »Baronin, haben Ihnen nicht eben die Ohren geklungen?«

Magdalena reichte ihm lächelnd die Hand. »Nein, Prinz, warum sollten sie?«

»Mama und ich haben von Ihnen gesprochen.« Magdalena schob das Futteral über ihr Rackett und verzog ein wenig spöttisch den Mund. »Und wie ich Ihre Durchlaucht kenne, hat sie über mich gelästert?«

Prinz Alex kniff vergnügt die Augen zu. »Sie wissen, Baronin, das kommt mit den Jahren. Je weniger man sich selbst am Spiel beteiligen kann, desto genauer schaut man dem anderen auf die Finger, ob er auch nicht schwindelt.«

Magdalena lachte belustigt auf und wollte etwas erwidern. Aber da erklang Hufgetrappel, und ein kleiner Reiter kam auf einem Pony dahergesprengt, gefolgt von einem berittenen Stallburschen. Es war Jenö, das einzige Kind von Magdalena von Vörös.

Als er seiner Mutter ansichtig wurde, sprang er unter lautem Jubelgeschrei vom Pony, warf die Zügel dem Begleiter zu und lief ihr entgegen. »Guten Morgen, Bussi, liebste Mammi!« Schon hing er an ihrem Hals. Magdalena stellte den kleinen Mann auf die Erde. »Aber, Jenö, du bist nun schon ein großer Bub! Mach’ eine Verbeugung vor Prinz Alex!«

Jenö verbeugte sich beflissen und reichte dem Prinzen die Hand; aber dann vergaß er die eben erhaltene Belehrung schon wieder. »Ich muss dir schnell was zeigen, Mammi! Die Rozika hat sieben Kinder bekommen!«, sagte er und zerrte an der Mutter Hand.

Prinz Alex schaute Magdalena entgeistert an. »Sieben Kinder!?«

»Rozika ist unsere dreijährige Zuchtsau«, klärte die Baronin lachend das Missverständnis auf.

»Ah so«, tat der Prinz interessiert und gewann so das Vertrauen Jenös, der gleich bereit war, mitzuteilen, was alles auf dem Gut Vörös sonst noch passiert war, von Hühnern, die gescheckte Eier legten, von Schafen mit gerolltem Haar, von Kühen und Pferden.

Lächelnd sah seine Mutter ihn an, und der Prinz dachte: ›Unsinn, diese Frau ist dem guten Vörös treu wie Gold. Schade übrigens. Wäre eine Sünde wert!‹

Indessen stand der Postbote des Dorfes Lillafüred schon seit einigen Minuten vor der Tür des Tennisplatzes und winkte Magdalena mit einem Telegramm zu.

Bildete Prinz Alex es sich ein, oder erschrak sie tatsächlich?

Sie eilte zur Tür, ehe er ihr noch zuvorkommen konnte; eine rasche Blutwelle schoss über ihre Wangen. »Nun, Janos, was gibt’s?«

Der Briefträger hielt seine Dienstmütze in der Hand und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn; er war mit dem Rad vom Postamt hergefahren und hatte sich sehr beeilt. »Bittschön, Frau Baronin, da wäre ein Telegramm!«

»Papa hat telegrafiert!«, schrie Jenö dazwischen. »Hurra, wir fahren nach Pest.«

»Du sollst nicht so neugierig sein«, mahnte Magdalena und riss das Telegramm auf.

Plötzlich setzte ihr Herzschlag aus. Das Papier zitterte in ihrer Hand, als sie las: ›Ich lasse Ihnen noch drei Tage Zeit. Mirko.‹

Nichts weiter … Mirko! Noch drei Tage! Sie fühlte selbst, wie sie erblasste.

»Geh du jetzt mit Fräulein von Waldberg spazieren«, sagte sie zu Jenö mit einer Stimme, die sie mühsam zur Heiterkeit zwang, »ich kann dich jetzt nicht gebrauchen.«

»Also kommt der Papi nicht?«, fragte Jenö, erhielt aber keine Antwort und wurde von der Gesellschafterin weggeführt.

Magdalena wandte sich zu Alex Witemsky. »Auf Wiedersehen, Prinz. Es ist inzwischen schrecklich spät geworden. Ich eile nach Hause.«

Alex sah die Sorge auf Magdalenas Stirn und wagte nicht, ihr seine Begleitung anzubieten. ›Sollte doch etwas an Mamas Vermutung sein?‹, sann er, indem er dem Hotel zuging.

Magdalena verließ den Club durch den Park, der sich an das Tennisgelände anschloss. Sie ging über die Wiesen, zertrat Halme und Blüten, schneller, immer schneller wurden ihre Schritte. Nervös zerknüllte sie in ihrer Faust das Telegramm.

Nun war das eingetreten, was sie so lange erwartet hatte, wovor sie gezittert und wovon sie gehofft hatte, ein gütiger Gott möge es doch nicht geschehen lassen.

Sie entfaltete nochmals das völlig zerknitterte Papier, in der hoffnungslosen Hoffnung, geträumt, sich verlesen zu haben. Aber da stand es immer noch: ›Ich lasse Ihnen noch drei Tage Zeit. Mirko. ‹

»Schufte!«, sagte sie vor sich hin, und Tränen der Wut traten in ihre Augen. »Schufte!«

Das kleine Gut der Vörös, Vörös Naja, lag auf einer Anhöhe, eine schmale, mit weißem Quarzkies beschotterte Serpentinenstraße führte hinauf.

Ein ebenerdiges, hübsch gegliedertes Herrenhaus stand vor einem Akazienwäldchen, in dem jetzt nächtens die Nachtigallen schlugen. Rundum dehnten sich Äcker und Weiden, die ein Pächter bewirtschaftete, und aus dem Gutshof am Fuße des Hügels erscholl das Lachen der Pächterskinder, das Wiehern der Pferde, das Grunzen der Schweine, das Gackern der Hühner und das Schrillen des Schleifsteines, über den die Sensen geführt wurden.

Von den Fenstern des Herrenhauses konnte man weit in die ungarische Ebene sehen. Wie oft hatte Magdalena hier mit dem Fernglas gestanden und die Ankunft ihres Gatten erwartet! Zuerst erblickte sie den langsam dahinschnaufenden Zug, der immer zu spät ankam, dann das mit schnellen Pferden bespannte Gefährt, das ihn vom Bahnhof abholte und zu ihr brachte. Sie versuchte, einen Entschluss zu fassen. Es war so schwer, nach den vielen Jahren ein Geständnis zu machen, das ihre Ehe zerrütten konnte. Sie liebte Eugen, sie hatte mit ihm glücklich gelebt, da war Jenö. Aber es gab ja keinen Ausweg. Es musste wohl sein.

Endlich ging sie zögernd ans Telefon und meldete ein Gespräch nach Budapest an. Sie wollte Eugen bitten, zu ihr zu kommen, hierher, hier würde es ihr leichter sein, wo sie so viele glückliche Stunden miteinander verbrachten, ihm die Wahrheit zu sagen.

Nachdem sie das Gespräch angemeldet hatte, ging sie, die Hände ineinander schlingend, hin und her, bald wieder blieb sie stehen und starrte verloren zum Fenster hinaus. Sie war unglücklich und verzweifelt.

Beim Schrillen der Telefonklingel nahm sie den Hörer hastig von der Gabel. Ihr Herz hämmerte. Gleich darauf hörte sie die Stimme ihres Mannes.

»Eugen!« Es klang fast wie ein Schrei. »Eugen, ich bitte dich, komm. Ich kann nicht mehr allein sein! Bitte, komm!«, sagte sie mit zitternder Stimme.