Dann eben ohne Titel… Wir konnten uns mal wieder nicht einigen - Anja Kling - E-Book

Dann eben ohne Titel… Wir konnten uns mal wieder nicht einigen E-Book

Anja Kling

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Beschreibung

Zwei Schwestern, eine Geschichte und ein Buch ohne Titel

Anja und Gerit Kling, Deutschlands berühmtestes Schwesternpaar, sind seit Jahrzehnten als Schauspielerinnen erfolgreich und könnten doch kaum unterschiedlicher sein. Beide, Gerit und die fünf Jahre jüngere Anja, wuchsen in der Nähe von Potsdam auf, durchliefen die klassische DDR-Jugend und träumten schon früh von einem Leben in Freiheit. Fünf Tage vor dem Mauerfall flüchteten sie in den Westen. Die folgenden dramatischen Tage überstanden sie nur gemeinsam, als Schwestern, so wie sie sich ihr Leben lang Halt gegeben haben.

Während es Gerit von Kindesbeinen an auf die Bühne und vor die Kamera zog, kam Anja erst über Umwege zur Schauspielerei. Beide machten sie Karriere, doch auch das Leben im Rampenlicht hat seine Schattenseiten. „Dieser Beruf ist der schönste der Welt, wenn er funktioniert, und der grausamste, wenn er nicht funktioniert“, sagen die Kling-Schwestern.

Anja und Gerit Kling erzählen launig, berührend und immer ehrlich von den Höhen und Tiefen, die sie als Schwestern gemeistert haben. Davon, dass man am besten durchs Leben kommt, wenn man sich selbst nicht immer so ernst nimmt. Und sie verraten, wie man gemeinsam ein Buch schreibt, wenn man sich nicht mal auf einen Titel einigen kann...

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Seitenzahl: 301

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Ein Leben ohne Schwester ist möglich, aber sinnlos. (frei nach Loriot)

Anja Kling und Gerit Kling, Deutschlands berühmteste Schwestern, sind seit Jahrzehnten als Schauspielerinnen erfolgreich und könnten doch kaum unterschiedlicher sein. Gerit und die fünf Jahre jüngere Anja wuchsen in der Nähe von Potsdam auf, durchliefen die klassische DDR-Jugend und träumten schon früh von einem Leben in Freiheit. Fünf Tage vor dem Mauerfall flüchteten sie in den Westen. Diese dramatische Zeit überstanden sie nur gemeinsam, als Schwestern, so wie sie sich ihr Leben lang in schwierigen Momenten immer Halt gegeben haben. Während es Gerit von Kindesbeinen an auf die Bühne und vor die Kamera zog, kam Anja erst über Umwege zur Schauspielerei. Beide machten sie Karriere, doch auch das Leben im Rampenlicht hat seine Schattenseiten. „Dieser Beruf ist der schönste der Welt, wenn er funktioniert, und der grausamste, wenn er nicht funktioniert“, sagen die Kling-Schwestern.

In ihrem Buch beleuchten sie die vielen Facetten ihrer Beziehung anhand von Geschichten und Erlebnissen aus ihrem Leben – die schönen und die weniger schönen Momente, Krisen und Erfolge und das Geheimrezept, wie man es schafft, am Ende dann doch immer zusammenzuhalten.

Gerit Kling, geb. 1965, ist seit mehr als 30 Jahren in Kino, Theater und Fernsehen zu Hause. In den 90ern spielte sie in der ARD-Serie „Die Gerichtsreporterin“, danach folgten weitere Hauptrollen in Film und TV. Seit 2007 sieht man sie als Notärztin in der ZDF-Serie „Notruf Hafenkante“, regelmäßig steht sie auf der Bühne und führt seit 2017 auch Regie am Theater. Sie hat aus erster Ehe einen Sohn und ist seit 2016 in zweiter Ehe verheiratet.

Anja Kling, geb. 1970, spielte im Alter von 17 Jahren ihre erste Hauptrolle im Kino. Seitdem war sie in mehr als 20 Kino- und über 100 Fernsehproduktionen, u.a. in „Wir sind das Volk“ und „(T)Raumschiff Surprise“, zu sehen. Sie hat eine Tochter und einen Sohn. 2018 heiratete sie ihren Lebensgefährten.

Die Journalisten und Autoren Olaf Köhne und Peter Käfferlein blicken auf eine langjährige Laufbahn im deutschen Fernsehen zurück und haben schon zahlreiche SPIEGEL-Bestseller veröffentlicht, u.a. mit Dirk Roßmann „...dann bin ich auf den Baum geklettert“ und Hardy Krüger „Was das Leben sich erlaubt“.

ANJA KLING UND GERIT KLING

DANN EBEN OHNE TITEL

… wir konnten uns mal wieder nicht einigen

Zwei Schwestern, eine Geschichte mit Olaf Köhne und Peter Käfferlein

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.de abrufbar.

© 2020 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR

Bildredaktion: Susanne Maier

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

unter Verwendung eines Fotos von Mirjam Knickriem

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-25591-6V002

Inhalt

Prolog

1. Wer ist eigentlich wer?

2. Hauptrollen werden einem nicht in die Wiege gelegt

3. Und dann kam Anja

4. Eine Familie namens Kling

5. Hund über Bord

6. Achtung, Kreuzbiss!

7. Wahrheit sagen ist langweilig

8. Der Lockruf des Westens

9. April, April

10. Hans Wurst

11. Die Feder am Arsch

12. Der Hausgeist von Brandenburg

13. Grüne Hochzeit

14. Zimmer mit Aussicht

15. Wir müssen hier raus

16. Jeschute ist weg

17. Auch weiße Häuser sind grau

18. Gerits »Nachfolgerin«

19. Um dich jeht’s hier jarnich

20. Der schöne Schein

21. Führe mich nicht in Versuchung

22. Fehlt dir was?

23. Das richtige Maß an Nähe

Epilog – Zwei wunderliche, alte Frauen

Danke

Bildnachweis

Prolog

GERIT

Wie soll unser Buch denn heißen?

ANJA

Was Lustiges wäre schön.

GERIT

»Wer ist eigentlich die Ältere?« Das ist doch lustig.

ANJA

Das findest nur du lustig. Wie findest du: »Kling-Kling«?

GERIT

Ach herrje, das hört sich an wie »palim-palim«. Worum soll es in unserem Buch überhaupt gehen?

ANJA

Ich fände es schön, wenn durch die hoffentlich humorvolle Art des Erzählens klar wird, dass wir alle in unserer Familie, und gerade wir als Schwestern, ein bisschen nach dem Motto leben: Mit Humor bekommt man die Dinge und das Leben besser hin. Nicht immer alles nur mit starrem Blick sehen und mit einer Alles-ist-ganz-ernst-Einstellung an die Dinge herangehen. Und sich selbst nicht so bierernst nehmen. Unser Buch soll unterhaltsam sein, aber auch spannend. Zum Beispiel der Teil über die Geschichte unserer Flucht, über die ich lange Zeit gar nicht sprechen wollte, weil sie mich emotional immer noch sehr aufwühlt.

GERIT

Wir sollten auch vermitteln, dass das Leben nicht immer nur geradeaus geht, sondern natürlich Umwege nimmt, Ecken und Kanten hat – und dass es auch hoch und runter ging in unserer Beziehung zueinander, dass es schwere Zeiten, schwierige Momente gab. Wenn man uns in der Öffentlichkeit erlebt, in Interviews, in Talkshows, zeigen wir uns innig, was ja in der Regel auch den Tatsachen entspricht. Aber jeder, der selbst Geschwister hat, weiß, dass nicht immer alles nur rosarot ist, dass es den Hand-in-Hand-durchs-Wunderland-Zustand nicht auf Dauer gibt. Wir mussten auch viel kämpfen, jede an ihrer eigenen Front. Durch unsere Auseinandersetzungen fanden wir auch immer wieder zueinander. Und so konnte etwas Neues entstehen. Unser Buch soll ehrlich über die Konflikte berichten, die wir als Schwestern über die Jahre miteinander austrugen, aber auch darüber, wie man sich fühlt, wenn man als Schauspielerin älter wird. Es wäre schön, wenn die Leserinnen und Leser uns von einer anderen Seite kennenlernen und Dinge erfahren, die man aus den bunten Zeitungen oder Talkshows nicht kennt.

Einige Wochen, viele Telefonate und noch mehr WhatsApp-Chats mit weiteren Titelideen später …

ANJA

Ich hab’s. »Hans Wurst und die Feder am Arsch« – das ist doch ein super Titel. Gibt ja auch passende Geschichten dazu.

GERIT

Ja, aber das will der Verlag nicht. Kein »Arsch« im Titel.

ANJA

Herrgott noch mal, dann eben ohne Titel.

1

Wer ist eigentlich wer?

GERIT

Als wir Kinder waren, sahen wir völlig unterschiedlich aus. Anja hatte lange, wunderschöne, dunkelblonde Haare, und ich war eher noch dunkler als heute.

ANJA

Und du hattest immer so eine Powermähne. Dickes, aber eher kurzes Haar.

GERIT

Das waren die Achtziger. Und ich hatte in der Jugend ein ganz rundes Gesicht. Alles an mir war rund. Augen rund, Gesicht rund, alles rund.

ANJA

Das hast du dir immer eingebildet. Ein bisschen Babyspeck vielleicht. Aber den hatte ich auch.

GERIT

Nein, Anja, ich war ein ganz anderer Typ als du. Damals sahen wir uns überhaupt nicht ähnlich. Es gibt Beweisfotos, erst neulich fielen mir wieder welche in die Hände. Da dachte ich: Ist ja irre, wie verschieden wir waren.

Anja und Gerit Kling mit ihrer Mutter Margarita

GERIT

Solange ich mich zurückerinnern kann, waren wir unglaublich eng verbunden und versuchten, so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen. Kein Blatt passte zwischen uns. Ich kam am 21. April 1965 im thüringischen Altenburg in der tiefsten DDR zur Welt. Zur selben Zeit kämpfte der Regimekritiker Biermann mit der Tragik seines Auftrittsverbots, die Scorpions gründeten ihre Band, und die Antibabypille kam in der DDR auf den Markt. Anja wurde fünf Jahre nach mir, am 22. März 1970, geboren. In der Rolle der großen Schwester fühlte ich mich von Anfang an pudelwohl. Den Hauptteil unserer Kindheit und Jugend verbrachten wir in Wilhelmshorst, einer kleinen Gemeinde sieben Kilometer südlich von Potsdam gelegen, mit heute etwas mehr als 3000 Einwohnern. Der Westen – das immer leuchtende und glamouröse Westberlin – befand sich in greifbarer Nähe, war für uns aber unerreichbar. Nach Wilhelmshorst zogen wir, als ich zehn und Anja gerade fünf Jahre alt war. Das Haus, das meine Eltern gegen unsere Drei-Zimmer-Neubauwohnung in Potsdam tauschen konnten, war ein kleines Holzhaus. Viereinhalb Zimmer, Küche und Minibad mit kohlebetriebener Zentralheizung. Anja und ich bekamen ein gemeinsames Zimmer und waren glücklich, dass ab sofort niemand mehr unter uns wohnte, der mit dem Besen gegen die Decke donnerte, wenn wir mal wieder angeblich zu laut über den Flur rannten. Zu dem Haus gehörte auch ein riesiger Garten, und ringsherum war viel Wald. »Garten« ist eigentlich untertrieben, es war eine Art Park, mit großen Tannen und Kastanienbäumen, Wiesen und Blumenbeeten. Es gab dort seltene Vögel, wie zum Beispiel den Pirol, der durch sein gelbes Gefieder auffällt und den man nicht oft zu Gesicht bekommt. Gleich in unserem ersten Jahr in Wilhelmshorst fanden wir ein kleines, junges Pirolvögelchen, das aus dem Nest gefallen war. Anja und ich zogen es groß, jagten einen Sommer lang mit Fliegenklatschen jedem Käfer hinterher, um unser Pflegekind zu ernähren, und schafften es tatsächlich, es in nächtelangen Aktionen seinen Vogeleltern wieder zuzuführen. Schnappi nannten wir unseren Pirol.

Anja und ich, wir waren wie ein Kiek und ein Ei – in der Kindheit, während der ganzen Schulzeit und auch später, als wir studierten und eigene Wege gingen. Was keine Selbstverständlichkeit ist, denn immerhin trennten uns fünf Jahre – ein Altersunterschied, der bei anderen Geschwistern ganze Welten bedeutet, gerade wenn die eine in die Pubertät kommt, während die andere noch Kind ist. Bei uns war das irgendwie nicht der Fall. Für mich war es selbstverständlich, dass ich Anja überallhin mitschleppte. Als ich älter wurde, nahm ich sie mit zu Einladungen, auf Partys, ja sogar in die Disco. Wozu ich sie ein bisschen überreden musste, weil ihr das nicht ganz geheuer war. Ich aber war einfach nur glücklich, wenn wir zusammen waren. Anja wiederum stand mir bei, wenn ich Probleme mit dem Lernen oder in der Schule hatte. Unser Vater sagt immer, wir hätten uns als Schwestern perfekt ergänzt. Den Jungs, die mit mir ausgehen wollten, passte es gar nicht, dass ich stets Anja im Schlepptau hatte. Was ich ignorierte. Manchmal bekam ich »Beschwerdebriefe« von Verehrern, da stand in etwa:

»Wenn Du Deine kleine Schwester noch mal mitbringst, kannst Du selbst auch gleich zu Hause bleiben.« Woraufhin ich dachte: Nix da, jetzt erst recht. Also, wir waren immer sehr verbunden miteinander. Was die eine als Schwäche hatte, war die Stärke der anderen. So hat sich alles ausgeglichen. Davon profitieren wir beide bis heute. Natürlich änderte sich vieles, als wir älter wurden und später sogar denselben Beruf ausübten. Es gab Phasen der Entfremdung, auf die jedoch immer wieder eine Annährung folgte. Das würde jedem Pärchen so gehen, ob es nun Geschwister sind oder Mann und Frau, die im selben Umfeld arbeiten, zumal, wenn man in der Öffentlichkeit steht. Wir schafften es aber jedes Mal, den Ausgleich zu finden. Aus schwierigen Situationen sind wir als Schwestern letztlich immer gestärkt herausgekommen. Auch wenn wir miteinander Stress hatten – am Ende hielten wir zusammen und haben uns nie verloren.

Was uns heute selbst am meisten amüsiert, ist der Umstand, dass wir ganz oft verwechselt werden. Und je älter wir werden, desto öfter passiert uns das. Früher sahen wir, wie gesagt, sicherlich noch unterschiedlicher aus. Mit den Jahren sind wir uns optisch ähnlicher geworden. Und heute ist es, wenn wir uns entsprechend zurechtmachen, frappierend, wie gleich wir aussehen können, wenn wir wollen. Auch unsere Stimmen und Stimmlagen ähneln sich ja, was Außenstehenden auffällt, wenn sie beobachten, wie wir reden, artikulieren, gestikulieren und erzählen.

Neulich war ich mit der Familie, meinem Mann und meinem Sohn, in einem Restaurant essen. Die ganze Zeit über merkte ich schon, dass die Gäste an einem der anderen Tische zu uns herüberschauten. Nach so vielen Jahren in der Öffentlichkeit spürt man schnell, wenn man von anderen erkannt wird. Die Leute fingen an zu tuscheln. Guckten wieder zu mir, flüsterten weiter, schauten ganz schnell wieder fort. Irgendwann hatten wir unser Essen beendet, zahlten und wollten das Lokal verlassen. In dem Moment sprachen die Leute vom Nachbartisch mich an.

»Sagen Sie mal, Sie sind doch die Anja Kling, oder?«

»Nee. Ich bin die Schwester«, sagte ich.

»Ha!«, sagte die eine Frau, starrte mich noch mal intensiv an. »Dann wären Sie ja die Gerit Kling. Na, das wüsste ich aber!«

Da diskutieren die Leute doch tatsächlich mit dir über deine Identität …

ANJA

So etwas Ähnliches ist mir auch kürzlich passiert. Ich war beim Blumenkaufen, und vor dem Laden steht immer eine Frau und bietet frischen Spargel und Erdbeeren an. Ich ging zu ihr. Sie schaute mich an, drehte den Kopf nach links, nach rechts, begutachtete mich von oben bis unten.

Schließlich sagte sie ganz überschwänglich und freudig erregt: »Hallo!«

Ich: »Ja, hallo.«

Sie: »Das ist sie doch!« Mit verschwörerischem Blick.

Ich: »Wie bitte?«

Sie: »Das ist sie doch! Jaaa, das ist sie doch. Die Gerit, ne?«

Ich: »Nee, nee.« Ganz freundlich. »Das bin ich nicht.«

Sie: »Ha, doch, doch.«

Ich: »Nee, nee, wirklich nicht.«

Sie: »Jetzt verarscht sie mich aber! Ich seh das doch.«

Ich: »Nein, Sie irren sich.«

Jetzt ein ratloser Blick. Sie dachte wohl: Und wer ist dann die hier? Muss irgendeine Unbekannte sein, kein Promi, schade. Und sagte, plötzlich ziemlich unfreundlich: »Aaah … Ach so. Na, was woll’n Se denn?«

Diese Verwechslungen sind schon erstaunlich. Man erkennt sicherlich denselben Stall, aber ich finde, wir sehen uns weiß Gott nicht so ähnlich, dass man uns nicht auseinanderhalten könnte. Am ehesten gleichen wir uns im Habitus, in der Gestik, im Sprechen. Als Gerit und ich einmal zusammen drehten, kam die Tonmeisterin entnervt zu uns und beschwerte sich, dass das so nicht ginge. Sie müsse uns sehen können, sonst wisse sie nicht, bei wem gerade die Tonangel sei. Es kam sogar schon vor, dass ich im Tonstudio Sprachaufnahmen für Gerit machte, und kein Mensch hörte einen Unterschied. Meine Schwester sollte ein paar Takes für eine TV-Serie nachsynchronisieren, war aber zeitlich verhindert. Also sprang ich ein. Und mir selbst ist einmal passiert, dass ich auf unserem Anrufbeantworter eine Nachricht für meinen Mann hinterließ – »Schatz, ich komme heute ein bisschen später« –, und als ich nach Hause kam und den AB abhörte, dachte ich: Nanu, wieso teilt mir Gerit denn mit, dass sie später kommt?

Seit ein paar Jahren pflegen wir eine lieb gewonnene Familientradition: Zu besonderen Anlässen wie runden Geburtstagen oder zu Hochzeiten produzieren wir Überraschungsfilme für den Jubilar oder Feiernden. Alles in Eigenregie geschrieben, gedreht und geschnitten, unter höchster Geheimhaltungsstufe, damit die Überraschung klappt. Das Witzige daran ist, dass wir uns in den Filmen gegenseitig spielen und die Macken der anderen persiflieren. Alles total überzogen, auch ein bisschen böse, da müssen aber alle durch. Soll ja lustig sein. In den Filmen, die wir für unsere Eltern drehten, spielte ich Gerit und unseren Vater, Gerit mich und unsere Mutter. Unsere Kinder spielten sich selbst. Die Szenen fanden immer im elterlichen Schlafzimmer statt. Meine Mutter (Gerit) und mein Vater (ich) gehen ins Bett, wir beginnen ein Gespräch, das Licht geht noch einmal an, und dann werden Themen wie Technikverständnis, Sprachkenntnisse, Trinklaunen oder Filmangebote der Töchter diskutiert.

Geburtstagsvideo für die Eltern: Anja verkleidet als Vater Ulrich (rechts), Gerit als Mutter Margarita (links)

Drei solcher Filme entstanden bislang, zu den 60., 65. und 70. Geburtstagen unserer Eltern. Sie wurden bei den Feiern vor versammelter Mannschaft gezeigt. Zum 75. schonten wir unsere Eltern, auch weil sie sagten, nun reiche es mal mit den ganzen Macken, die wir da von ihnen aufführten. In dem Film, mit dem ich Gerit zu ihrem 50. überraschte, erkannten selbst engste Freunde nicht, wer wer ist.

Einer fragte Gerit tatsächlich, nachdem der Film auf der Party gelaufen war: »Wieso hast du dich denn selbst so gespielt? Du nimmst dich ja ganz schön auf die Schippe.«

Rollentausch fürs Geburtstagsvideo: Anja als Gerit (links) und Gerit als Anja (rechts)

»Was meinst du? Das ist ein Film, den Anja für mich gemacht hat – als Geburtstagsüberraschung.«

»Wie jetzt? Aber das warst doch du?«

»Nee, war ich nicht. Das war Anja.« Er hatte es nicht kapiert.

Mittlerweile bekommen unsere Kinder immer größere Rollen. Zur Hochzeit von Oli und mir hatte sich die Familie etwas besonders Originelles ausgedacht: Der Überraschungsfilm war ein Blick in die Zukunft unserer Ehe. Dabei spielte meine Tochter Alea mich in 25 Jahren, und Oli wurde von meinem Sohn Tano dargestellt, beide werden interviewt von Birgit Schrowange, natürlich verkörpert von Gerit.

Es ist nicht immer leicht, aber wir können uns gegenseitig wirklich gut hochnehmen, ohne dass die andere das übel nimmt. Niemand kennt meine Macken besser als Gerit, und umgekehrt gilt das genauso. Gerit spielt mich immer ein bisschen als Trümmerfrau. Sie schlüpft einfach ungeschminkt in eine Hausklamotte, macht sich einen Zopf und fertig ist die Anja. Und ich stelle Gerit stets als Obertusse dar, mit ganz viel Glitzer-Glitzer, in engen Klamotten und auf High Heels, dann schminke ich mich extra stark und behaupte, Gerit zu sein. Eigentlich hätten wir da schon beide einen Grund, eingeschnappt zu sein.

Gerit war für mich als Schauspielerin immer ein Vorbild. Ich liebe sie vor allem im Theater. Wenn sie auf der Bühne steht, ist sie wirklich in ihrem Element. Ein richtiges Bühnenpferd. Und ich bin jedes Mal aufgeregt, weil ich denke: Jetzt muss sie da raus und vor diesen vielen Menschen bestehen. Am liebsten möchte ich das Buch mitnehmen, um ihr wenigstens aus dem Publikum zuflüstern zu können, falls sie einen Hänger hat. Hat sie aber nie. Ich saß in jeder Premiere von Gerit und bin unheimlich stolz auf alles, was sie gemacht hat.

2

Hauptrollen werden einem nicht in die Wiege gelegt

GERIT

Es gibt eine Geschichte, die ich nur aus Erzählungen kenne. Ich war damals sechs Monate alt. Ich armes Hascherl.

ANJA

Nicht weinen, Gerit.

GERIT

Aber es tut mir immer noch so leid um mich.

ANJA

Du hast geschlafen, als Mama reinkam!

GERIT

Nein. Ich schlafe ja mittags nicht …

GERIT

Die erste Wohnung unserer Eltern befand sich in Potsdam auf dem Kiewitt an der Havel. Eine kleine Neubauwohnung mit zwei Zimmern, einem winzigen Bad und einer Küche ohne Fenster, aber mit Durchreiche. Alles winzig. Als Anja zur Welt kam, wohnten wir noch ein Jahr zu viert auf diesen 35 Quadratmetern und zogen dann in die Albert-Klink-Straße – lustigerweise Klink, aber mit K. Dort wurde meinen Eltern eine Dreizimmerwohnung zugewiesen. So lief das ja damals in der DDR. Räumlich verbesserten wir uns gewaltig. Auf einmal lebten wir auf 55 Quadratmetern – das war ein Quantensprung. Anja und ich teilten uns ein kleines Zimmer. Unsere Betten standen sich gegenüber, und wir hielten uns beim Einschlafen an den Händen. Unser Vater war damals Herstellungsleiter bei Dokfilm, dem Dokumentarfilmstudio der DEFA in Babelsberg, und unsere Mutter unterrichtete Kunst an einer Schule.

An meine ersten Lebensmonate, an die Zeit, als ich in die Krippe kam, habe ich natürlich keine eigenen Erinnerungen, aber das Gefühl, von meiner Mutter getrennt zu sein, muss für mich sehr schlimm gewesen sein. Von der ersten bis zur letzten Minute, die ich in der Krippe verbrachte, weinte ich. Sobald sie mittags Unterrichtsschluss hatte, kam sie sofort und holte mich ab. Die Krippe befand sich im DDR-Grenzgebiet. Um dorthin zu kommen, benötigte man einen Passierschein, ansonsten wurde man abgewiesen. Da meine Mutter auch sonnabends in der Schule arbeitete, musste sie sich beeilen, denn die Krippe war an den Tagen nur bis 14 Uhr geöffnet. Bis dahin mussten alle Kinder abgeholt sein. Aber einmal passierte Folgendes: Unsere Eltern, beide so jung und neu in der Gegend, kannten niemanden in Babelsberg. An diesem besonderen Samstag war mein Vater auf einer Dienstreise. Meine Mutter war also ganz allein. Sie kam zu der alten Villa, in der die Krippe untergebracht war, und fand sie verschlossen vor, Türen und Fensterläden verrammelt, kein Mensch weit und breit. Und das, obwohl es erst 13 Uhr war und die Krippe eigentlich noch eine ganze Stunde hätte geöffnet sein müssen.

Unsere Mutter war in heller Aufregung. Ihre Tochter müsse doch noch in dem Gebäude sein, dachte sie. Und die Leiterin würde doch erst abschließen und nach Hause gehen, nachdem das letzte Kind abgeholt war! Meine Mutter lief um das Gebäude herum, auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Der Schuppen, in dem die Kinderwagen abgestellt wurden, war leer – bis auf meinen. Also musste ich noch da sein. Meine Mutter rief die Feuerwehr. Man machte ihr unsanft klar, dass sie für den Schaden selbst zu bezahlen hatte, sollten Schlösser oder sonst etwas aufgebrochen werden müssen. Sie war natürlich mit allem einverstanden. Der Feuerwehrmann schlug die Scheibe eines Kellerfensters ein, damit sie eine Tür öffnen konnten, und durch den Keller liefen sie nach oben – der Feuerwehrmann vorneweg, meine Mutter in der Mitte und zuletzt die Leiterin der Nachbarwochenkrippe, die zufällig dazugekommen war. Sie rissen alle Türen auf – und da, in einem der Zimmer, lag ein kleines Mädchen, einsam, verlassen, verheult und wach. Meine Mutter nahm mich auf den Arm und trug mich den ganzen Nachmittag hin und her, um mich und auch sich selbst zu beruhigen. Am Abend berichtete sie meinem Vater, was geschehen war, und gemeinsam beschlossen sie, die Krippenleiterin anzuzeigen. Das wäre der richtige Schritt gewesen. Die Geschichte hatte sich nämlich wie ein Lauffeuer in Babelsberg herumgesprochen, und tatsächlich war es die Leiterin selbst, die mich vergessen hatte, einfach vergessen. Für diesen Fehler sollte sie sich verantworten. Am nächsten Tag klingelte es an unserer Tür, und davor stand die Krippenleiterin. Heulend, verzweifelt bat sie meine Eltern um Nachsicht. Sie verstehe gar nicht, wie ihr das habe passieren können, und mit einer Anzeige würde sie garantiert ihre Stelle verlieren und nirgendwo mehr eine bekommen. Und da mein Vater ein gutes Herz hat, ließ er sich erweichen. Unter einer Bedingung: Ab sofort müsse sich seine Tochter, also ich, in der Krippe wohlfühlen. Dafür habe die Leiterin gefälligst zu sorgen.

»Und eines verspreche ich Ihnen: Wir werden Sie ganz genau beobachten«, drohte er ihr. Meiner Mutter wäre es lieber gewesen, die Sache mit der Anzeige durchzuziehen, doch mein Vater setzte sich letztlich durch. Und das Ende vom Lied? Von einer Verwandten meiner Mutter, die auch als Erzieherin in Potsdam arbeitete, hörten wir später, dass sich schon alle heimlich die Hände gerieben hatten. Denn die Leiterin der Krippe war allseits nicht beliebt, behandelte ihre Lehrmädchen sehr streng. Nun kam sie doch ungeschoren davon. Aber ihr Ruf hatte gelitten. Immerhin.

Ich wurde kurz danach dennoch aus der Krippe genommen und von einem Rentnerehepaar fürsorglich betreut, während unsere Eltern arbeiteten. Im Alter von drei Jahren kam ich dann in den Kindergarten. Wo es mir abermals nicht gefiel, was vor allem daran lag, dass ich dort immer Mittagsschlaf halten musste. Mittags schlafen – das klappte einfach nicht. Kann ich bis heute nicht.

Diese Geschichte erzähle ich nur deshalb, weil sie viel über das Leben in der DDR aussagt. Natürlich war es schön, dass es solche Einrichtungen wie die Kinderkrippen gab, aber die Bedingungen waren oft nicht die besten, und junge Mütter mussten extrem viel erdulden. Und dass Frauen in der DDR nach der Heirat einfach zu Hause blieben und nicht ihrem Beruf nachgingen, war eher die ganz große Ausnahme. Im Freundes- und Bekanntenkreis unserer Eltern gab es das jedenfalls nicht.

3

Und dann kam Anja

GERIT

Das war eine Freude. Eine ganz große Freude.

ANJA

Na ja, auf den alten Acht-Millimeter-Filmen wirkst du schon auch ein bisschen eifersüchtig. Also am Anfang zumindest.

GERIT

Vielleicht war ich mal eifersüchtig, weil so eine Kleine immer mehr Aufmerksamkeit bekommt als die Große. Das ist ja logisch. Aber die Freude hat überwogen.

ANJA

Als jüngeres Geschwisterkind kennt man ein Einzelkind-Dasein logischerweise nicht. Gerit war immer da. Immer an meiner Seite. Immer fröhlich. Ich glaube, das ist das prägendste Wort. Gerit hat ganz viel Fröhlichkeit in sich. Und viel Temperament. So würde ich sie beschreiben, so war und ist sie einfach. Wenn man einen Saal betritt, dauert es zwei Minuten, und Gerit kennt alle.

GERIT

Das stimmt.

ANJA

Meine ersten eigenen Erinnerungen stammen aus meiner frühen Kindergartenzeit. Ich war erst drei Jahre alt und hatte mich bereits verliebt. Das ist noch untertrieben – ich war wahnsinnig verliebt in meine Kindergärtnerin. Sie war für mich der Inbegriff von Schönheit, Grazie und Eleganz, auch wenn ich das damals so natürlich nicht hätte formulieren können. Sie sah für mich aus wie Schneewittchen. Ich war überzeugt: Sie ist Schneewittchen. In meinen Augen hatte sie langes, schwarzes Haar, wie Ebenholz, und eine makellos weiße Haut. War bildschön, hatte etwas Edles, Ruhiges an sich. Ich habe sie verehrt. Viele Jahre später, ich hatte bereits meine ersten Filme gedreht, kam ein älterer Herr auf mich zu und sagte: »Ich muss Sie jetzt mal ansprechen, Frau Kling. Ich bin der Mann Ihrer Kindergärtnerin.«

»Das gibt’s doch nicht«, erwiderte ich, wirklich richtig erfreut. »Soll ich Ihnen mal etwas verraten? Ihre Frau war für mich die schönste aller Frauen überhaupt, sie war für mich das einzig wahre Schneewittchen.« Sein Lächeln verschwand. Er musterte mich von oben bis unten, schaute drein, als stünde er einer psychisch labilen Person gegenüber.

»Ah, aha«, sagte er und verschwand. Ich erzählte meiner Mutter von dieser Begegnung. Sie lachte und meinte nur, dass die Realität wohl nicht ganz so gewesen sei wie in meiner kindlichen Erinnerung.

Vielleicht lag meine Begeisterung für diese Frau auch darin begründet, dass ich mich immer schon gern auf eine Person fixiert habe, besser gesagt: Ich brauchte früher jederzeit eine Bezugsperson. Nach der Kindergärtnerin kam das nächste Opfer an die Reihe, in Gestalt meiner ersten Lehrerin. In sie war ich genauso verliebt und heftete mich auch an ihre Fersen. Praktischerweise wohnte sie gleich bei uns um die Ecke. Auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus lief ich regelmäßig auf und ab, immer in der Hoffnung, dass sie aus dem Fenster schaute und mir zuwinkte. Heute ist sie Rentnerin und lebt immer noch hier im Ort, und wenn ich sie treffe, bin ich nach wie vor ganz ehrfürchtig und freue mich, sie zu sehen.

An solche Momente wie die mit Schneewittchen habe ich also frühe Erinnerungen. Auch an bestimmte Kinder aus der Kindergartengruppe und an meinen besten Freund Marc. Unsere Eltern waren befreundet und direkte Nachbarn, und Marc wurde nur sechs Stunden nach mir geboren. Unsere frühe Kindheit in Potsdam haben wir also wie Geschwister zusammen verbracht. Inzwischen lebt er mit seiner Familie auch in Wilhelmshorst und ist mir als Freund bis heute erhalten geblieben.

Ich war ein Kind, das immer Angst hatte. Zum Beispiel Angst davor, dass ich nicht abgeholt werde. Große Verlustängste. Ich weinte schon, wenn wir im Kindergarten in Gruppen aufgeteilt wurden, weil ich befürchtete, wenn ich gleich in einem anderen Raum bin, dann findet mich doch keiner. Ich malte mir aus, dass meine Eltern mich vom Kindergarten abholen wollten, mich nirgendwo entdeckten und achselzuckend ohne mich wegfuhren. Völlig absurd.

GERIT

Unsere Eltern waren noch ziemlich jung, als Anja und ich auf die Welt kamen. Unser Vater studierte, beide wollten ihre Jugend genießen, und – zack – waren da zwei kleine Kinder. So mussten sie wohl auf eine Menge Studentenpartys verzichten. Wenn sie sich dann aber doch mal einen freien Abend gönnten, blieben wir Kinder kurzerhand allein zu Haus. Babysitter waren im Osten eher unüblich, wir waren da also keine Ausnahme. Und ich weiß noch, dass ich Zeter und Mordio schrie, sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war. Ich sehe mich noch angsterfüllt im Bett in unserem Kinderzimmer in der Albert-Klink-Straße liegen. Keine Sekunde konnte ich schlafen, stattdessen lauschte ich auf das Geräusch der Fahrstühle, die hoch- und runterfuhren. Stundenlang. Und immer wenn die Fahrstuhlkabine in der dritten Etage stoppte, hielt ich die Luft an. »Jetzt kommen sie!« Erst in der Sekunde, in der ich hörte, wie der Schlüssel die Wohnungstür öffnete, atmete ich auf und schlief beruhigt ein.

ANJA

So ging es mir auch lange Zeit. Selbst später noch, als wir schon nach Wilhelmshorst gezogen waren. Unser Haus lag am Wald, die Umgebung war dunkel, Straßenlaternen wie heute gab es noch nicht, und ich fürchtete mich dort nachts allein zu Tode. Wenn Gerit am Wochenende bei einer Freundin übernachten wollte und meine Eltern zum Beispiel ins Theater gingen, sollte ich allein bleiben in diesem Psycho-Monster-Grusel-Haus, in das sich unser schönes Heim bei dieser Nachricht sofort verwandelte. Woraufhin ich ein Riesentheater veranstaltete. Oft durfte ich dann auch bei einer Freundin schlafen oder sie bei mir. Alles war mir recht, um nur nicht für ein paar Stunden am Abend allein bleiben zu müssen. Für den Fall, dass es sich doch nicht vermeiden ließ, hatte ich mir eine Strategie zur Selbstverteidigung zurechtgelegt. Ich illuminierte das gesamte Haus, machte jede Lampe in jedem Zimmer an. Außer in meinem, das dunkel blieb. Dort legte ich mich aufs Bett – bewaffnet mit einem großen Stein, den ich aus den Ferien an der Ostsee mitgebracht hatte, und mit einem Messer. Und jetzt kommt sie, meine Logik. Ich dachte, wenn der Mörder das Haus betritt – und er würde kommen, da war ich mir ganz sicher –, ginge er durch das erleuchtete Haus und käme irgendwann zu meinem Zimmer. Wenn er nun vom Hellen ins Dunkle schaute, sah er nichts. Und wenn ich aus der Dunkelheit ins Helle schaute, sah ich alles. Das heißt, ich würde den Mörder sofort erblicken, er mich aber nicht. Da lag ich also in meinem Bett, den Stein in der rechten Hand, das Messer in der linken. Wenn ein Eindringling im Türrahmen stand, wollte ich ihm den Stein an den Kopf werfen, und während er vor Schmerzen schreiend in die Knie ging, würde ich aufspringen, ihn mit dem Messer traktieren und außer Gefecht setzen. Das war mein Plan. Messer und Ostseestein versteckte ich, was meine Eltern nicht ahnten, tagsüber unter meiner Matratze. Wo ich sie auch schnell verstaute, sobald sie in der Nacht nach Hause kamen. Ich stellte mich schlafend. Meine Eltern warfen einen Blick ins Kinderzimmer und glaubten, ich schliefe tief und fest. Ich schlief aber nie. Erst Jahre später, als ich erwachsen war, habe ich meinen Eltern von meinen Ängsten in der Kindheit erzählt. Es tat ihnen im Nachhinein natürlich sehr leid, dass sie meine Sorgen damals gar nicht mitbekommen hatten.

Ich lebe immer noch, besser gesagt wieder, in Wilhelmshorst, in einem Haus gleich neben dem unserer Eltern. Der Ort hat sich seit unserer Kindheit natürlich sehr gewandelt. Damals gab es nur wenige Häuser, die man in den Wald hineingebaut hatte. Dazu zwei kleine Lebensmittelläden, einen Konsum und eine HO (Handelsorganisation), einen Bäcker, einen Fleischer, eine Drogerie und eine kleine Gaststätte. Eine Schule und einen Kindergarten – und ansonsten sehr viel Wald, in dem wir einen Großteil unserer Freizeit verbrachten. Hier bauten wir Buden, spielten Verstecken oder »Mutter, Vater, Kind« und kletterten auf den Bäumen herum.

Angst machte mir der Wald nur bei Dunkelheit, am Tag fühlten wir uns sicher und geborgen. Ohnehin machte man sich damals nicht so viele Gedanken, was alles hätte passieren können, wo überall Gefahren lauern konnten. Vielleicht war unsere Welt, zumal abgeschottet im Osten, für uns Kinder auch sicherer, als sie es heute ist.

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Eine Familie namens Kling

ANJA

Unsere Mutter ist schon mit 20 schwanger gewesen. Oder mit 19? Ja, mit 19.

GERIT

Nee, sie war 20.

ANJA

20?

GERIT

Oder … Nein, jetzt hab ich’s. Sie war 21, als sie mich bekommen hat, also schwanger mit 20.

ANJA

Hab ich doch gesagt!

Familie Kling, 1972

GERIT

Unser Vater sagt über uns, wir seien von unserem Wesen her sehr originell und ein bisschen außerhalb der Norm. Manchmal auch ein wenig unberechenbar. Insofern, dass wir beispielsweise ganz anders reagieren, als man es in manchen Situationen erwarten würde. Im Nachhinein sei es aber gut, dass wir so reagiert haben. Genau das habe ihn auch von Anfang an an unserer Mutter fasziniert. Sie zeigte Verhaltensweisen, die ihm selbst eher fremd waren und ihn immer aufs Neue verblüfften. Sie besuchte ihn an der Filmhochschule, wo er damals studierte, und wenn sie wieder fort war, fühlte er sich einsam und befreit zugleich. Diese Besuche strengten ihn an, und trotzdem konnte er nicht davon lassen, weil es ohne sie langweilig war. Mittlerweile sind unsere Eltern seit mehr als 50 Jahren glücklich verheiratet.

Großeltern Julius und Olga Pahl

ANJA

Unsere Mutter Margarita Kling, gebürtige Pahl, war ein Flüchtlingskind. Die Pahls stammen aus Bessarabien, das heute zu Moldawien gehört. Die Eltern unserer Mutter wurden während des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1940, von Bessarabien in die damals sogenannten »eingegliederten Gebiete« im besetzten Polen umgesiedelt. Sie gehörten zu denen, die durch den Hitler-Stalin-Pakt als Deutsche aus Bessarabien »heim ins Reich« geholt wurden. Fast 100 Jahre zuvor waren die ersten Deutschen nach Bessarabien gekommen, wo man ihnen Land, Rechte und Privilegien versprochen hatte. Damals waren große Landstriche in der Nähe des Schwarzen Meeres noch unbesiedelt, wie in Moldawien, in der Ukraine. Deutsche Dörfer wurden gegründet, das Land wurde erschlossen, und die Menschen dort lebten nach schweren Jahren auch lange Zeit sehr gut. Viele von ihnen als Weinbauern, so auch die Familie unserer Mutter.

GERIT

Jetzt wird mir einiges klar.

ANJA

Wir können also gar nichts dafür!

GERIT

Ist genetisch bedingt.

ANJA

Und Papa hat sich dem einfach angepasst.

GERIT

Wein mögen alle bei uns. Der kleinste gemeinsame Nenner.

ANJA

In Bessarabien also lebten die Eltern unserer Mutter, Olga und Julius Pahl. Sie hatten vier Kinder, und die drei ältesten wurden dort auch geboren, nur unsere Mutter, das jüngste Kind, nicht. Sie kam in Westpreußen/Polen zur Welt. Die Pahls bauten sich in Beresina/Bessarabien ein großes Haus aus Lehm und mit Reetdach, gründeten eine Wirtschaft und arbeiteten sich mit Fleiß nach oben. Die Eltern meiner Mutter waren bereits die fünfte Generation der Familie in eben diesem Dorf Beresina. Die Vorfahren der Deutschen in jener Gegend waren ehemalige Schwaben aus dem Württembergischen. Und fast alle, die wie die Familie unserer Mutter das Land 1940 verlassen mussten, zogen wieder in die Stuttgarter Gegend. Einige wenige blieben, wie gesagt, in Mecklenburg hängen. Eines lässt sich sicher sagen: Die Kindheit unserer Mutter verlief weniger bürgerlich als die unseres Vaters. Ihre Eltern waren zwar Weinbauern, aber in der Familie gab es auch eine der Kunst zugewandte Seite. Großvater Julius besaß ein Talent für Holzarbeiten, er drechselte und bastelte, zum Beispiel Vogelhäuser, die er künstlerisch gestaltete. Oder er versuchte, das Haus in Bessarabien besonders zu gestalten, er entwarf und modellierte zwei lebensgroße Löwen, die er links und rechts der Eingangspforte platzierte. Die älteste Schwester meiner Mutter besuchte viele Jahre später noch einmal ihren Geburtsort und fand sogar ihr Elternhaus, in dem mehrere russische oder moldawische Familien wohnten. Nur an Großvaters Löwen erkannte sie das Gebäude, das mittlerweile ziemlich heruntergekommen war.

Olga und Julius Pahl waren bescheidene Leute. Sie haben nie gejammert, obwohl sie vieles verloren hatten. Gleich mehrmals waren sie den politischen Gegebenheiten zum Opfer gefallen, verloren ihre Heimat in Bessarabien, wurden zwangsweise nach Polen umgesiedelt, flohen von dort 1944 ins kriegszerstörte Deutschland, wurden in Ostdeutschland nach der Bodenreform Neubauern in Mecklenburg, um dann vor der Kollektivierung in die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) zu kapitulieren. Sie haben in Mecklenburg alles aufgegeben und sind in die Nähe von Berlin gezogen, wo zwei ihrer Töchter lebten.

Wir, die Enkel, haben leider nie ein sehr inniges Verhältnis zu unseren Großeltern mütterlicherseits aufgebaut. Opa Julius habe ich als sehr ruhigen Mann in Erinnerung, der nicht viel sprach. Wir besuchten unsere Großeltern gelegentlich, feierten Weihnachten an einem der Tage zusammen mit ihnen und allen anderen Verwandten. Aber mehr habe ich über meine Großeltern leider erst erfahren, als ich bereits erwachsen war und sie schon nicht mehr lebten. Durch die vielen Geschichten und die Aufzeichnungen, die es über sie gibt. Vielleicht blieben sie mir als Kind auch fremd, weil sie in einer Sprache redeten, die für mich unverständlich und komisch klang – im Schwäbischen verwurzelt und im Laufe der Jahrzehnte mit russisch-rumänischen Ausdrücken vermischt. Ich weiß noch, dass meine Mutter einmal zu meiner Oma sagte: »Sprich doch mit den Kindern Hochdeutsch. Du kannst das doch.«

Und meine Oma erwiderte: »Kann ich, will ich aber nicht.« Sie lehnte es schlichtweg ab, Hochdeutsch zu sprechen. Ich glaube, dass die Eltern unserer Mutter sich in ihrer neuen Heimat, in der DDR, nie wohlfühlten und dass Bessarabien für sie immer das Zuhause blieb, das sie verloren hatten.