Darf's ein Küsschen mehr sein? - Rachel Gibson - E-Book

Darf's ein Küsschen mehr sein? E-Book

Rachel Gibson

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Beschreibung

Witzige Dialoge und prickelnder Sex – Rachel does it again!

Der Ort Truly ist für Maddie Jones ein düsteres Kapitel: Vor vielen Jahren wurde hier ihre Mutter gewaltsam ums Leben gebracht. Eines Tages findet sie zufällig das Tagebuch ihrer Mutter und Maddie wird klar, dass sie sich dieser Familientragödie stellen muss. Als sie dann in Truly ankommt, hätte Maddie mit allem gerechnet, aber nicht mit dem unwiderstehlichen Charme von Mick Hennessy, dessen Vater damals schon das Herz ihrer Mutter gebrochen hatte …

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Seitenzahl: 408

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Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Tangled Up in You« bei Avon Books, an Imprint of HarperCollins Publishers, New York. Penguin Random House Verlagsgruppe FSC-DEU-0100 Das Holmen Book Cream FSC-zertifizierte Papier für dieses Buch liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Rachel Gibson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagfoto: Getty Images/Reggie Casagrande Redaktion: Anita Hirtreiter
KA · Herstellung: Str. ISBN : 978-3-641-03197-8V003
www.goldmann-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Autorin
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
 
Copyright
Buch
Das Schicksal hat es bisher nicht allzu gut mit der 34-jährigen Maddie Jones gemeint: Ihren Vater lernte sie nie kennen, und ihre Mutter Alice verlor sie bereits als kleines Mädchen. Diese hatte ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, dessen Ehefrau sie beide in einer Kneipe erschoss und anschließend auch sich selbst das Leben nahm. Als Maddie eines Tages das Tagebuch ihrer Mutter findet, nimmt sie sich vor, die Hintergründe des Familiendramas zu erforschen. Sie macht sich auf in die Kleinstadt Truly, in der ihre Mutter als Kellnerin in der Bar Hennessy’s arbeitete. Dort lernte diese auch Loch Hennessy, den Besitzer, kennen, in den sie sich leidenschaftlich verliebte und mit dem sie eine Affäre einging.
Autorin
Seit sie sechzehn Jahre alt ist, erfindet Rachel Gibson mit Begeisterung Geschichten. Mittlerweile hat sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen erobert, sie wurde auch mit dem »Golden Heart Award« der Romance Writers of America und dem »National Readers Choice Award« ausgezeichnet. Rachel Gibson lebt mit ihrem Ehemann, drei Kindern, zwei Katzen und einem Hund in Boise, Idaho.
Von Rachel Gibson außerdem bei Goldmann lieferbar:
Küssen will gelernt sein. Roman (46684) Gut geküsst ist halb gewonnen. Roman (46465) Ein Rezept für die Liebe. Roman (46218) Er liebt mich, er liebt mich nicht. Roman (46021) Sie kam, sah und liebte. Roman (45964) Traumfrau ahoi! Roman (45630) Das muss Liebe sein. Roman (45458) Frisch getraut. Roman (46534) Liebe, fertig, los! Roman (46677)
Kapitel 1
 
 
Das leuchtend weiße Neonschild über der Mort’s Bar flimmerte und lockte die durstigen Bewohner der Kleinstadt Truly, Idaho, in Scharen an wie eine Insektenlampe. Aber das Mort’s war mehr als nur eine beliebte Kneipe. Mehr als nur ein Ort, an dem man kaltes Coors trinken und sich freitagabends in eine Schlägerei verwickeln lassen konnte. Das Mort’s war eine Institution, ähnlich wie die Alamo Autovermietung. Während andere Geschäfte kamen und gingen, war das Mort’s stets dasselbe geblieben.
Bis vor etwa einem Jahr, als der neue Besitzer den Laden mit eimerweise Farbe und Desinfektionsmittel auf Vordermann gebracht und ein striktes Slipwerfverbot eingeführt hatte. Bis dahin war das Zielen mit Damenhöschen auf die Geweihreihe über der Theke gefördert worden wie eine neue Wettkampfdisziplin. Wenn eine Frau jetzt den Drang dazu verspürte, wurde sie auf dem nackten Arsch hinausgeschleift.
Ach, die guten alten Zeiten.
Völlig immun gegen die unterschwellige Verlockung, die das Licht durch die heraufziehende Dunkelheit aussandte, stand Maddie Jones vor dem Mort’s auf dem Bürgersteig und sah zu dem Leuchtschild auf. Gedämpftes Gemurmel und Musik drangen durch die Risse des alten Gebäudes zwischen »Ace Haushaltswaren« und dem »Panda Restaurant«.
Ein Pärchen in Jeans und Tanktops drängelte sich an Maddie vorbei. Die Tür öffnete sich, und Stimmengewirr und das unverkennbare Banjo-Geklimper von Countrymusik strömten auf die Main Street. Als sich die Tür wieder schloss, stand Maddie immer noch draußen. Sie rückte ihren Handtaschengurt auf der Schulter zurecht und zog den Reißverschluss ihres dicken blauen Pullovers hoch. Da sie vor neunundzwanzig Jahren aus Truly weggezogen war, hatte sie vergessen, wie kalt es hier nachts wurde. Sogar im Juli.
Sie machte Anstalten, die alte Tür zu öffnen, und ließ die Hand wieder sinken. Eine plötzliche Beklommenheit ließ ihr die Haare im Nacken zu Berge stehen und verursachte bei ihr Übelkeit. Dabei hatte sie das schon Dutzende Male getan. Warum also diese Beklommenheit? Wieso jetzt auf einmal?, fragte sie sich, obwohl sie die Antwort kannte. Weil es sie diesmal persönlich betraf, und sobald sie die Tür geöffnet und den ersten Schritt gewagt hatte, gab es kein Zurück mehr.
Wenn ihre Freundinnen sie jetzt sehen könnten, wie sie dort stand, als seien ihre Füße einzementiert, wären sie schockiert. Immerhin hatte sie schon Serienkiller und kaltblütige Mörder interviewt. Doch Spinner mit asozialen Persönlichkeitsstörungen auszufragen war ein Klacks gegen das, was sie in der Mort’s Bar erwartete. Hinter dem »KEIN ZUTRITT UNTER 21«-Schild wartete ihre Vergangenheit, und wie sie in letzter Zeit hatte feststellen müssen, war es viel leichter, in der Vergangenheit anderer zu wühlen als in der eigenen.
»Es hilft ja doch nichts«, murmelte sie unwirsch vor sich hin und griff nach der Türklinke. Sie ärgerte sich über ihre Feigheit, besann sich aber auf ihren eisernen Willen, der ihr ein wenig die Angst nahm. Es würde nichts passieren, was sie nicht wollte. Sie hatte alles unter Kontrolle. Wie immer.
Als sie eintrat, schlugen ihr der dumpfe Beat der Jukebox und der Gestank von Bier und Tabak entgegen. Die Tür schloss sich hinter ihr, und sie blieb stehen, bis sich ihre Augen an das schummerige Licht gewöhnten. Das Mort’s war bloß eine Bar. Wie tausend andere in den Staaten auch, in denen sie schon gewesen war. Nichts Besonderes, nicht einmal das Aufgebot an Geweihen, die über der langen Mahagonitheke hingen, fiel aus dem Rahmen.
Maddie mochte keine Bars. Erst recht keine Cowboybars. Den Zigarettenqualm, das Countrygedudel, die Biersauferei. Aus Cowboys machte sie sich auch nicht viel. Eine gut sitzende Wrangler an einem knackigen Cowboyhintern konnte die albernen Stiefel, die protzigen Gürtelschnallen und die ekligen Kautabakklümpchen nicht ganz wettmachen. Sie stand auf Männer mit Anzügen und italienischen Lederschuhen. Nicht, dass sie in den letzten vier Jahren einen Mann gehabt hätte. Oder auch nur ein Date.
Während sie sich zum einzigen leeren Barhocker mitten an der langen Mahagonitheke durchkämpfte, ließ sie den Blick über die Menschenmenge schweifen. Sie registrierte Cowboyhüte und Truckercaps, diverse Bürstenschnitte und ein oder zwei Vokuhilas. Ihr fielen Pferdeschwänze auf, schulterlange Pagenköpfe und ein paar der schlimmsten Dauerwellen und nach außen geföhnten Ponys, die die Achtzigerjahre überstanden hatten. Was sie jedoch nicht sah, war der Mensch, nach dem sie Ausschau hielt, auch wenn sie nicht damit rechnete, ihn irgendwo an einem Tisch hocken zu sehen.
Sie zwängte sich zwischen einen Mann im blauen T-Shirt und eine Frau mit chemisch überstrapaziertem Haar auf den Barhocker. Hinter der Registrierkasse und den Spirituosen verlief ein Spiegel, so lang wie die Theke selbst, an der zwei Barkeeper Bier zapften und Drinks mixten. Keiner davon war der Besitzer dieses tollen Lokals.
»Die Kleine stand auf AC/DC, wenn ihr wisst, was ich meine«, prahlte der Mann links von ihr, und Maddie nahm an, dass er nicht über Back in Black oder Highway to Hell sprach. Besagter Typ war um die sechzig und hatte eine verbeulte Truckercap auf und einen Bierbauch wie ein Dreißigliterfass. Im Spiegel beobachtete Maddie, wie die Männer, die neben ihm aufgereiht saßen, nickten und dem Bierbauchtypen wie gebannt lauschten.
Einer der Barkeeper legte ihr eine Serviette hin und erkundigte sich nach ihren Wünschen. Er sah aus, als wäre er erst neunzehn, obwohl er mindestens einundzwanzig sein musste. Alt genug, um in dem Sumpf aus Tabakqualm und knietiefer Scheiße Alkohol auszuschenken.
»Saphir Martini. Extra trocken, mit drei Oliven«, sagte sie und überschlug im Kopf den Kohlehydratgehalt der Oliven. Sie zog ihre Handtasche auf den Schoß und sah zu, wie der Barkeeper sich umdrehte und nach den Flaschen mit Gin und Wermut griff.
»Ich hab der Kleinen gesagt, sie kann ihre Freundin ruhig behalten, wenn sie sie ab und zu mal mitbringt«, fügte der Typ zu ihrer Linken hinzu.
»Recht haste!«
»Geile Nummer!«
Andererseits war sie hier in einem Provinznest in Idaho, wo gelegentlich über Nichtigkeiten wie Alkoholgesetze hinweggesehen wurde und manche Leute eine brillante Lügengeschichte für ein eigenständiges Literaturgenre hielten.
Maddie verdrehte die Augen und biss sich auf die Lippe, um ihre Kommentare für sich zu behalten. Sie hatte die Angewohnheit, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, was sie nicht unbedingt für eine schlechte Angewohnheit hielt, aber sie stieß damit nicht immer auf Gegenliebe.
Sie ließ den Blick im Spiegel an der Theke auf und ab schweifen, auch wenn sie es nicht für wahrscheinlicher hielt, den Eigentümer auf einem Barhocker zu entdecken als an einem Tisch. Als sie in der anderen Kneipe in der Stadt angerufen hatte, die ihm gehörte, hatte sie die Auskunft erhalten, dass er heute Abend hier wäre, und so nahm sie an, dass er hinten im Büro saß und die Buchhaltung prüfte. Oder, wenn er wie sein Vater war, den Innenschenkel einer Bardame.
»Ich bezahle grundsätzlich alles«, jammerte die Frau, die Maddie gegenübersaß, ihrer Freundin vor. »Ich hab mir sogar selbst eine Geburtstagskarte gekauft und sie von J. W. unterschreiben lassen, weil ich dachte, dass er sich dann schlecht fühlt und den Wink mit dem Zaunpfahl versteht.«
»Meine Güte.« Maddie konnte sich den Stoßseufzer nicht verkneifen und sah sich die Frau genauer an. Zwischen Flaschen mit Absolut- und Skyy-Wodka konnte sie eine blonde Löwenmähne, rundliche Schultern und große Brüste ausmachen, die aus einem roten, mit Strass verzierten Tanktop quollen.
»Aber er hat sich überhaupt nicht schlecht gefühlt, sondern sich nur beschwert, dass er so kitschige Karten nicht ausstehen kann!« Sie nippte an ihrem mit einem Schirmchen verzierten Glas. »Wenn seine Mutter nächstes Wochenende verreist, soll ich abends vorbeikommen und für ihn kochen.« Sie wischte sich schniefend die feuchten Augen. »Ich überlege, ob ich mich weigern soll.«
Maddies Augenbrauen zogen sich zusammen, und im Nu war ihr ein »Willst du mich verarschen?« rausgerutscht.
»Wie bitte?«, fragte der Barkeeper, der ihr gerade den Drink hinstellte.
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts.« Während sie in ihre Handtasche griff und ihr Getränk bezahlte, hämmerte ein Song über einen Honky Tonk Badonkadonk, was zum Teufel das auch sein mochte, aus der leuchtenden Neon-Jukebox und verschmolz mit dem steten Stimmengemurmel.
Maddie schob ihren Pulloverärmel hoch und griff nach dem Martini. Während sie das Glas zum Mund führte, schaute sie auf die Leuchtzeiger ihrer Armbanduhr. Neun. Früher oder später musste sich der Kneipenbesitzer ja blicken lassen. Und wenn nicht, war morgen auch noch ein Tag. Sie trank einen Schluck, und die Gin-Wermut-Mischung wärmte ihren Magen.
Aber sie hoffte schwer, dass er sich eher früher als später blicken ließ. Bevor sie zu viele Martinis intus hatte und vergaß, warum sie hier auf dem Barhocker saß und liebesbedürftige passiv-aggressive Tussis und größenwahnsinnige Kerle belauschte. Auch wenn Leute zu belauschen, deren Leben noch bedauernswerter war als ihr eigenes, manchmal höchst amüsant sein konnte.
Sie stellte ihr Glas wieder auf die Theke. Lauschen war nicht ihre erste Wahl. Normalerweise bevorzugte sie die direkte Herangehensweise: im Leben anderer herumzuwühlen und ohne viel Federlesens ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse zu ergründen. Manche Leute gaben ihre Geheimnisse widerstandslos preis und erzählten bereitwillig alles. Andere zwangen sie, tief zu graben, sie herauszuschütteln oder mit den Wurzeln auszureißen. Ihre Arbeit war manchmal schmutzig und immer hart, doch sie schrieb für ihr Leben gern über Serienkiller, Massenmörder und ganz normale, durchschnittliche Psychopathen.
Mit irgendwas musste man sich schließlich hervortun, und Maddie, die unter dem Pseudonym Madeline Dupree schrieb, war eine der besten True-Crime-Autorinnen. Sie schrieb über Morde und andere Blutbäder. Über Perverse und Gestörte, und es gab Menschen, darunter auch ihre Freundinnen, die glaubten, dass ihre Arbeit sie negativ beeinflusste. Sie fand eher, dass sie zu ihrem Charme beitrug.
Die Wahrheit lang irgendwo dazwischen. Was sie gesehen und worüber sie geschrieben hatte, beeinflusste sie sehr wohl. Ungeachtet der Barriere, die sie zwischen ihrer geistigen Gesundheit und den Menschen errichtete, die sie befragte und erforschte, sickerte deren Abartigkeit manchmal durch die Ritzen und hinterließ an ihr einen schwarzen, klebrigen Film, den man verdammt schlecht wieder abschrubben konnte.
Durch ihre Arbeit sah sie die Welt mit anderen Augen als diejenigen, die noch nie einem Serienmörder gegenübergesessen hatten, während er sich an der Nacherzählung seiner »Arbeit« aufgeilte. Doch genau diese Erlebnisse machten sie auch zu einer starken Frau, die sich von niemandem etwas bieten ließ. Sie ließ sich nur selten einschüchtern und machte sich über die Menschheit keinerlei Illusionen. Vom Kopf her wusste sie, dass die meisten Menschen anständig waren. Dass sie, wenn sie die Wahl hatten, das Richtige taten, aber sie wusste auch von den anderen. Von den fünfzehn Prozent, die nur an ihrem eigenen selbstsüchtigen und abartigen Vergnügen interessiert waren. Dabei waren nur etwa zwei von diesen fünfzehn Prozent Serienmörder. Die anderen gesellschaftlich devianten Menschen waren ganz normale Vergewaltiger, Mörder, Schlägertypen und Firmenmanager, die heimlich die Altersvorsorgekonten ihrer Angestellten plünderten.
Aber wenn etwas so sicher war wie das Amen in der Kirche, dann, dass jeder seine Geheimnisse hatte. Sie selbst hatte auch ein paar. Sie ließ sich nur weniger in die Karten schauen als die meisten Menschen.
Sie führte ihr Glas an die Lippen, und ihre Aufmerksamkeit wurde auf den hinteren Teil der Bar gelenkt. Eine Tür ging auf, und ein Mann in einem schwarzen T-Shirt trat aus dem beleuchteten Gang in die dunkle Kneipe.
Maddie kannte ihn. Schon bevor er aus der Finsternis trat. Noch bevor die Dunkelheit über seine kräftige Brust und die breiten Schultern glitt. Bevor das Licht über sein Kinn und seine Nase schweifte und in seinem Haar leuchtete, das so schwarz war wie die Nacht, aus der er gekommen war.
Er trat hinter die Theke, schlang sich eine rote Barschürze um die Hüften und schnürte die Bänder über seinem Hosenstall zu. Sie hatte ihn nie getroffen. War noch nie mit ihm im selben Raum gewesen, aber sie wusste, dass er fünfunddreißig war, ein Jahr älter als sie. Dass er 1,88 Meter groß war und 86 Kilo wog. Er hatte zwölf Jahre in der Armee gedient, wo er Helikopter geflogen und Hellfire-Missiles hatte niederregnen lassen. Er war nach seinem Vater Lochlyn Michael Hennessy benannt worden, wurde aber Mick gerufen. Wie sein Vater war er ein unverschämt gut aussehender Mann. So gut aussehend, dass er den Frauen die Köpfe verdrehte, ihren Herzschlag aussetzen ließ und sie auf unanständige Gedanken brachte. Auf Gedanken an heiße Küsse, geschickte Hände und verrutschte Klamotten. An den Hauch warmen Atems an ihrem gewölbten Hals und die Vereinigung von schwitzenden Körpern auf dem Autorücksitz.
Nicht, dass Maddie für solche Gedanken empfänglich wäre.
Er hatte eine ältere Schwester, Meg, und besaß hier in der Stadt zwei Kneipen: das Mort’s und das Hennessy’s. Letztere war schon länger in Familienbesitz, als er auf der Welt war. Das Hennessy’s, die Bar, in der Maddies Mutter gearbeitet hatte. Wo sie Loch Hennessy kennengelernt hatte und wo sie gestorben war.
Als hätte er ihren Blick gespürt, sah er von den Schürzenbändern auf. Wenige Meter von Maddie entfernt blieb er stehen, und ihre Blicke trafen sich. Prompt verschluckte sie sich an dem Gin, der ihr im Halse stecken blieb. Von seinem Führerscheinfoto wusste sie, dass er blaue Augen hatte, doch in natura war es eher ein tiefes Türkis. Wie das Karibische Meer, und ihn ihren Blick erwidern zu sehen war ein Schock für sie. Sie ließ das Glas sinken und hielt sich die Hand vor den Mund.
Die letzten Klänge des Honky-Tonk-Songs erstarben, während er sich die Schürze fertig zuband und näher trat, bis sie nur noch wenige Meter Mahagoniholz voneinander trennten. »Geht’s wieder?« Seine tiefe Stimme durchdrang den Lärm um sie herum.
Sie schluckte und hustete ein letztes Mal. »Ich glaube schon.«
»Hallo, Mick«, rief ihm die Blondine auf dem Nachbarhocker zu.
»Hallo, Darla. Wie läuft’s denn so?«
»Könnte besser sein.«
»Ist das nicht immer so?«, fragte er mit einem Blick auf die Frau. »Hast du vor, dich heute anständig zu benehmen?«
»Du kennst mich doch.« Darla lachte aufreizend. »Vor hab ich das immer. Aber ich lass mich gern zu Unanständigkeiten überreden.«
»Deinen Slip behältst du heute aber an, ja?«, entgegnete er und zog süffisant eine dunkle Augenbaue hoch.
»Bei mir weiß man nie.« Sie beugte sich vertraulich vor. »Ich bin unberechenbar. Manchmal stell ich verrückte Sachen an.«
Nur manchmal? Sich selbst eine Geburtstagskarte zu kaufen, um sie vom eigenen Freund unterschreiben zu lassen, deutete auf eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung hin, die schon an völlig durchgeknallt grenzte.
»Behalt einfach nur deinen Slip an, damit ich dich nicht wieder auf dem nackten Hintern rausschleifen muss.«
Wieder? War das schon mal passiert? Hastig trank Maddie einen Schluck und ließ den Blick über Darlas beachtliches Hinterteil gleiten, das in eine Wrangler-Jeans gequetscht war.
»Ich wette, das würdet ihr alle gern sehen!«, flötete Darla und warf affektiert ihr Haar nach hinten.
Zum zweiten Mal am Abend verschluckte sich Maddie an ihrem Cocktail.
Micks tiefes Lachen zog Maddies Aufmerksamkeit auf das belustigte Blitzen in seinen erstaunlich blauen Augen. »Brauchen Sie ein Glas Wasser, Schätzchen?«, fragte er besorgt.
Sie schüttelte den Kopf und räusperte sich.
»Ist der Drink zu stark?«
»Nein. Alles in Ordnung.« Sie hustete ein letztes Mal und stellte ihr Glas auf der Theke ab. »Ich hatte nur gerade eine Horrorvision.«
Sein Mund verzog sich zu einem wissenden Lächeln, und es zeigten sich seine Wangengrübchen. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Sind Sie auf der Durchreise?«
Energisch verdrängte sie das Bild von Darlas fettem nacktem Arsch aus ihrem Kopf und konzentrierte sich auf den Grund, warum sie hier im Mort’s saß. Sie hatte damit gerechnet, Mick auf Anhieb nicht leiden zu können. Fehlanzeige. »Nein. Ich habe draußen in der Red Squirrel Road ein Haus gekauft.«
»Schöne Gegend. Direkt am Seeufer?«
»Ja.« Sie fragte sich, ob Mick mit dem Aussehen auch den Charme seines Vaters geerbt hatte. Nach allem, was Maddie über Loch Hennessy hatte in Erfahrung bringen können, hatte er die Frauen mit wenig mehr als einem Blick in ihre Richtung ins Bett gekriegt. Ihre Mutter war seinem Charme jedenfalls gnadenlos verfallen.
»Dann verbringen Sie den Sommer hier?«
»Ja.«
Er legte den Kopf schief und musterte ihr Gesicht. Sein Blick glitt von ihren Augen zu ihrem Mund und verweilte mehrere Herzschläge dort, bevor er wieder aufsah. »Wie heißen Sie, Rehauge?«
»Maddie«, antwortete sie und hielt den Atem an, während sie darauf wartete, dass er sie mit der Vergangenheit in Verbindung brachte. Mit seiner Vergangenheit.
»Nur Maddie?«
»Dupree«, antwortete sie und benutzte ihr Pseudonym.
Am Ende der Theke rief jemand nach ihm, und er schaute kurz hin, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete. Dann schenkte er ihr ein ungezwungenes Lächeln. Eins von denen, die seine Grübchen zum Vorschein brachten und sein männliches Gesicht weicher machten. Er wusste nicht, wer sie war. »Ich bin Mick Hennessy.« Die Musik setzte wieder ein, und er sagte: »Willkommen in Truly. Vielleicht sehen wir uns ja noch.«
Sie schaute ihm nach, wie er ging, ohne dass sie ihm den Grund gesagt hatte, warum sie in der Stadt war und in seiner Kneipe saß. Dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, aber irgendwann musste es sein. Er wusste es noch nicht, aber Mick Hennessy würde sie noch oft zu Gesicht bekommen. Und beim nächsten Mal wäre er vielleicht nicht so freundlich.
Der Lärm und der Gestank in der Bar wurden ihr zu viel, und sie schlang ihre Handtasche über die Schulter, rutschte vom Barhocker und bahnte sich einen Weg durch die schwach beleuchtete Menschenmenge. An der Tür warf sie noch einen Blick zurück zu Mick. Unter der Thekenbeleuchtung legte er den Kopf leicht in den Nacken und lächelte. Sie hielt inne, und ihr Griff um die Türklinke verstärkte sich, als er sich umdrehte und aus der Zapfanlage ein Bier zapfte.
Während sie dort stand und die Jukebox irgendwas mit Whiskey für Männer und Bier für Pferde dudelte, registrierte sie seine dunklen Haare und seine breiten Schultern. Er drehte sich um und stellte das volle Glas auf die Theke. Während sie ihn beobachtete, lachte er über irgendwas, und bis zu diesem Moment hatte Maddie keine richtige Vorstellung von Mick Hennessy gehabt; mit einem so lebendigen und fröhlichen Mann hatte sie jedenfalls nicht gerechnet.
Durch die dunkle Bar und den Zigarettendunst landete sein Blick auf ihr. Sie konnte fast spüren, wie er quer durch den Raum schweifte und sie berührte, was natürlich reine Illusion war. Da sie im verdunkelten Eingang stand, war es fast unmöglich, sie in der Menschenmenge auszumachen. Sie öffnete die Tür und trat an die kühle Abendluft. Während ihres Kneipenbesuchs hatte sich die Nacht über Truly gesenkt wie ein schwerer schwarzer Vorhang und wurde nur gelegentlich von ein paar beleuchteten Ladenschildern und einer Straßenlaterne erhellt.
Ihr schwarzer Mercedes parkte auf der anderen Straßenseite vor »Tinas Herrenunterwäsche« und der »Rock Hound Kunstgalerie«. Sie ließ einen gelben Hummer vorbeifahren, bevor sie aus dem Schein des Neonschilds über dem Mort’s auf die Straße trat.
Als sie sich dem Wagen näherte, öffnete sie ihre Handtasche, griff in das kühle Lederinterieur, zog den Transponderschlüssel heraus und entriegelte damit die Fahrertür. Normalerweise war sie nicht materialistisch eingestellt. Sie machte sich nichts aus Klamotten oder Schuhen. Da ihre Unterwäsche in letzter Zeit sowieso niemand mehr zu Gesicht bekam, war ihr gleichgültig, ob ihr BH zu ihrem Slip passte, und teuren Schmuck besaß sie auch nicht. Vor dem Mercedeskauf vor zwei Monaten hatte Maddie mit ihrem Nissan Sentra über dreihundertzwanzigtausend Kilometer zurückgelegt. Sie hatte ein neues Fahrzeug gebraucht und sich gerade einen Volvo SUV angesehen, als sie sich umgedreht und den schwarzen Mercedes S 600 gesehen hatte. Die Showroom-Beleuchtung hatte auf den Wagen herabgestrahlt wie ein Fingerzeig Gottes, und sie hätte schwören können, eine Engelschar halleluja singen zu hören wie der Mormon Tabernacle Choir. Sollte sie etwa eine Botschaft des Herrn ignorieren? Und so fuhr sie den Wagen, nur wenige Stunden nachdem sie das Autohaus betreten hatte, aus dem Showroom in die Garage ihres Hauses in Boise.
Sie drückte auf den Startknopf der Gangschaltung und warf die Scheinwerfer an. Die CD in ihrer Stereoanlage erfüllte den Mercedes mit Warren Zevons Excitable Boy. Sie fuhr an und wendete mitten auf der Hauptstraße. Warren Zevons Texte hatten etwas Brillantes und zugleich Verstörendes. Als würde man in das Gehirn eines Menschen blicken, der auf der Grenzlinie zwischen Wahnsinn und Normalität stand und ab und zu eine Schuhspitze hinüberschob. Mit der Grenzlinie spielte, sie austestete und dann einen Rückzieher machte, kurz bevor er dem Wahnsinn anheimfiel. In Maddies Beruf gab es nicht viele, die noch rechtzeitig zurücktraten.
Die Mercedesscheinwerfer schnitten durch die tintenschwarze Nacht, als sie an der einzigen Verkehrsampel der Stadt nach links abbog. Ihr allererstes eigenes Auto war ein so ramponierter Volkswagen Rabbit gewesen, dass die Sitze mit Klebeband zusammengehalten werden mussten. Seitdem hatte sie es weit gebracht. Von dem Roundup-Wohnwagenplatz, auf dem sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, und dem engen kleinen Haus in Boise, wo sie bei ihrer Großtante Martha aufwuchs, war es ein weiter Weg gewesen.
Martha hatte bis zu ihrer Pensionierung als Verkäuferin im Rexall Drugstore gearbeitet, und die beiden hatten von ihrem bescheidenen Gehalt und von Maddies Sozialhilfe gelebt. Obwohl das Geld immer knapp gewesen war, hatte Martha sich stets ein halbes Dutzend Katzen gehalten. Das Haus hatte immer nach Friskies und Katzenklos gestunken, sodass Maddie die Viecher bis zum heutigen Tage verabscheute. Außer vielleicht Schnucki, den Kater ihrer guten Freundin Lucy. Schnucki war cool. Für einen Stubentiger.
Sie fuhr anderthalb Kilometer ums östliche Seeufer, bevor sie in ihre von dicken, hochgewachsenen Kiefern gesäumte Einfahrt bog und vor dem einstöckigen Haus hielt, das sie vor wenigen Monaten gekauft hatte. Sie wusste noch nicht, wie lange sie es behalten würde. Ein Jahr. Vielleicht drei. Oder fünf. Sie hatte lieber Eigentum erworben, als zur Miete zu wohnen, und betrachtete es als Geldanlage. Immobilien in der Gegend um Truly waren heiß begehrt, und falls sie das Haus verkaufen sollte, würde dabei ein hübscher Profit herausspringen.
Maddie schaltete die Scheinwerfer des Mercedes aus, und Dunkelheit umgab sie. Sie ignorierte das unheimliche Gefühl, als sie aus dem Wagen stieg und über die Treppe die Rundumveranda erklomm, die mit zahlreichen 60-Watt-Glühbirnen erhellt war. Sie hatte vor nichts Angst. Schon gar nicht vor der Dunkelheit, doch sie wusste, dass Frauen, die nicht so wachsam und vorsichtig waren wie sie, durchaus schlimme Sachen passierten. Frauen, die in ihren Umhängetaschen kein kleines Arsenal aus Selbstverteidigungsutensilien mit sich herumschleppten. Einen Elektroschocker, Pfefferspray, einen Handtaschenalarm und Schlagringe, um nur ein paar zu nennen. Als Frau konnte man nicht vorsichtig genug sein, besonders nachts in einem Provinznest, wo man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. In einer Stadt mitten im dichten Wald, wo wild lebende Tiere in den Bäumen und im Unterholz raschelten. Wo Nagetiere mit Knopfaugen nur darauf warteten, bis man ins Bett ging, um über die Speisekammer herzufallen. Maddie hatte zwar noch keine ihrer Selbstverteidigungswaffen einsetzen müssen, doch in letzter Zeit hatte sie sich gefragt, ob sie als Schützin gut genug war, um mit ihrer Elektroschockpistole eine plündernde Maus außer Gefecht zu setzen.
Im Haus brannten die Lichter, als Maddie die waldgrüne Tür aufschloss, eintrat und hinter sich zuriegelte. Zum Glück huschte nichts aus den Ecken, als sie ihre Handtasche auf einen roten Samtsessel an der Tür pfefferte. Ein Riesenkamin dominierte die Mitte des großen Wohnzimmers und trennte es von dem Raum ab, der zwar als Esszimmer gedacht war, von Maddie aber als Büro genutzt wurde.
Auf einem Couchtisch vor dem Samtsofa standen Maddies Rechercheordner und ein 13 x 18 Zentimeter großes altes Foto in einem Silberrahmen. Sie griff nach dem Bild und betrachtete das Gesicht ihrer Mutter, ihr blondes Haar, ihre blauen Augen und ihr breites Lächeln. Die Aufnahme war wenige Monate vor Alice Jones’ Tod gemacht worden. Eine glückliche Vierundzwanzigjährige, strahlend und voller Leben, und wie das vergilbte Foto in dem teuren Rahmen waren auch die meisten Erinnerungen von Maddie verblasst. Sie erinnerte sich noch bruchstückhaft an dieses und schemenhaft an jenes. Sie hatte eine schwache Erinnerung daran, wie sie ihrer Mutter beim Schminken und Kämmen zusah, bevor sie zur Arbeit ging. Sie erinnerte sich an ihren alten blauen Samsonite-Koffer und dass sie von einem Ort zum anderen gezogen waren. Durch das schwache Prisma von neunundzwanzig Jahren hatte sie eine sehr vage Erinnerung an das letzte Mal, als ihre Mutter ihren Chevy Maverick beladen hatte, und an die zweistündige Autofahrt nach Truly. An den Einzug in ihren Wohnwagen mit orangefarbenem Florteppich.
Die deutlichste Erinnerung, die Maddie an ihre Mutter hatte, war der Geruch ihrer Haut. Sie hatte nach Mandellotion geduftet. Doch hauptsächlich erinnerte sie sich an den Morgen, als ihre Großtante zum Wohnwagenplatz gekommen war, um ihr zu sagen, dass ihre Mutter tot war.
Maddie stellte das Foto wieder auf den Tisch und lief über den Parkettboden in die Küche. Sie schnappte sich eine Cola light aus dem Kühlschrank und drehte den Verschluss auf. Martha hatte immer gesagt, dass Alice flatterhaft war. Wie ein Schmetterling von einem Ort zum anderen flog, von einem Mann zum anderen, auf der Suche nach einem Ort, an den sie gehörte, und nach der Liebe. Für gewisse Zeit beides fand, bevor sie zum nächsten Ort oder zum nächsten Mann weiterschwirrte.
Maddie trank aus der Flasche und schraubte den Verschluss wieder zu. Sie war ganz anders als ihre Mutter. Sie wusste, wo sie hingehörte. Sie fühlte sich wohl mit dem, was sie war, und brauchte mit Sicherheit keinen Mann, der sie liebte. Eigentlich war sie noch nie verliebt gewesen. Hatte keine romantische Liebesgeschichte erlebt, wie ihre gute Freundin Clare sie von Berufs wegen erfand. Und auch keine törichte amour fou, die das Leben ihrer Mutter beherrscht und sie letztlich das Leben gekostet hatte.
Nein, an der Liebe eines Mannes war Maddie nicht interessiert. Sein Körper war schon eine andere Geschichte, und einen Fuck Buddy hätte sie durchaus gern gehabt. Einen Mann, der mehrmals in der Woche vorbeikam, um mit ihr zu schlafen. Er brauchte kein toller Gesprächspartner zu sein. Verdammt, er musste sie nicht mal zum Essen ausführen. Ihr idealer Mann würde einfach mit ihr ins Bett gehen und wieder verschwinden. Doch bei der Suche nach Mister Perfect gab es zwei Probleme. Erstens war jeder Typ, der nur Sex von einer Frau wollte, höchstwahrscheinlich ein Arsch. Und zweitens war es schwierig, einen willigen Kandidaten zu finden, der echt gut im Bett war und es sich nicht nur einbildete. Die zeitaufwändige Prozedur, Männer daraufhin abzuchecken, war ihr irgendwann so lästig geworden, dass sie es vor vier Jahren aufgegeben hatte.
Sie ließ die Colaflasche zwischen zwei Fingern baumeln und verließ die Küche. Ihre Flipflops klatschten an ihre Fußsohlen, während sie das Wohnzimmer durchquerte und am Kamin vorbei in ihr Büro schlenderte. Ihr Laptop stand auf einem L-förmigen Schreibtisch, der an die Wand geschoben war, und sie knipste die Lampe an, die an ihrem Regal befestigt war. Zwei Sechzig-Watt-Birnen erhellten einen Stapel Tagebücher, den Laptop und ihre »Unschlagbar«-Klebezettel. Insgesamt lagen dort zehn Tagebücher in den verschiedensten Ausführungen und Farben. Rote. Blaue. Pinke. Zwei hatten Schlösser, während ein weiteres nur ein gelber Spiralnotizblock war, auf den mit schwarzem Marker das Wort »Tagebuch« geschrieben worden war. Sie hatten allesamt ihrer Mutter gehört.
Maddie klopfte mit der Cola-light-Flasche an ihren rechten Oberschenkel, während sie das oberste, weiße Buch auf dem Stapel betrachtete. Bis zum Tod ihrer Großtante Martha vor ein paar Monaten hatte sie nicht mal gewusst, dass sie existierten. Maddie glaubte nicht, dass Martha ihr die Tagebücher absichtlich vorenthalten hatte. Viel wahrscheinlicher hatte sie vorgehabt, sie Maddie eines Tages zu geben, es aber völlig verschwitzt. Alice war nicht die einzige flatterhafte Frau im Familienbaum der Jones’ gewesen.
Als Marthas einzige lebende Verwandte war Maddie dafür verantwortlich gewesen, den Nachlass zu regeln, sich um die Beerdigung zu kümmern und das Haus auszuräumen. Es war ihr gelungen, für die Katzen ihrer Tante ein Zuhause zu finden, und eigentlich hatte sie vorgehabt, fast alles der Wohltätigkeitsorganisation Goodwill zu spenden. In einem der letzten Kartons, die sie durchsah, war sie dann auf alte Schuhe, altmodische Handtaschen und einen ramponierten Schuhkarton gestoßen. Sie hätte den ramponierten Karton fast weggeworfen, ohne auch nur den Deckel abzuheben. Ein Teil von ihr wünschte sich fast, es wäre so gekommen. Dass sie sich den Schmerz erspart hätte, als sie entgeistert in den Karton gestarrt hatte, während ihr das Herz bis zum Halse schlug. Als Kind hatte sie sich stets nach einer Verbindung zu ihrer Mutter gesehnt. Nach irgendeiner Kleinigkeit, an der sie sich festhalten konnte. Sie hatte davon geträumt, etwas zu haben, das sie sich von Zeit zu Zeit ansehen konnte, etwas, das sie mit der Frau verband, die ihr das Leben geschenkt hatte. Während ihrer gesamten Kindheit hatte sie sich nach etwas gesehnt …, nach etwas, das die ganze Zeit nur wenige Meter entfernt ganz oben im Wandschrank lag. Und in einem »Tony Lama«-Cowboystiefel-Karton auf sie wartete.
Der Karton hatte besagte Tagebücher enthalten, die Todesanzeige ihrer Mutter und Zeitungsartikel über ihren Tod. Außerdem einen kleinen Satinbeutel mit Schmuck. Hauptsächlich billiges Zeug. Eine »Foxy Lady«-Halskette, diverse Türkisringe, ein Paar Silberkreolen und ein rosafarbenes Bändchen aus dem St. Luke’s Hospital, auf dem in Druckschrift die Worte »Baby Jones« geschrieben standen.
Als sie an jenem Tag in ihrem alten Zimmer stand und keine Luft mehr bekam, weil sich ihr die Brust zuschnürte, hatte sie sich wieder wie ein verängstigtes, verlassenes Kind gefühlt. Wie ein Kind, das sich fürchtete, zuzugreifen und die Verbindung herzustellen, aber gleichzeitig aufgeregt war, endlich etwas Handfestes zu haben, das seiner Mutter gehört hatte. Einer Mutter, an die es sich kaum erinnerte.
Maddie stellte ihre Colaflasche auf den Schreibtisch und drehte ihren Bürostuhl zu sich. An jenem Tag hatte sie den Schuhkarton mit nach Hause genommen und den Seidenbeutel in ihrem Schmuckkästchen verstaut. Dann hatte sie sich hingesetzt und die Tagebücher studiert. Sie hatte jedes einzelne Wort gelesen und sie an einem Tag verschlungen. Die Tagebücher hatten am zwölften Geburtstag ihrer Mutter begonnen. Einige waren dicker als andere, und ihre Mutter hatte länger gebraucht, um sie vollzuschreiben. Durch sie hatte sie Alice Jones kennengelernt.
Sie hatte sie als zwölfjähriges Kind kennengelernt, das davon geträumt hatte, erwachsen zu sein und eine Schauspielerin
Kapitel 2
 
 
Mick Hennessy zog ein Gummiband über einen Stapel Geldscheine und legte ihn neben einen Stoß aus Kreditkartenquittungen und Einzugsermächtigungen. Das Rattern des elektrischen Münzsortierers erfüllte das kleine Büro im hinteren Teil des Mort’s. Alle außer Mick waren nach Hause gegangen, und er machte nur noch Kassensturz, bevor es ihn ebenfalls dorthin zog.
Kneipen zu besitzen und zu betreiben lag Mick im Blut. Micks Urgroßvater hatte während der Prohibition selbst gebrannten billigen Äthylalkohol verkauft. 1933, zwei Monate nach Aufhebung des 18. Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten, als die Zapfhähne wieder flossen, hatte er dann das Hennessy’s eröffnet, und seitdem war die Bar in Familienbesitz.
Mick machte sich nicht viel aus streitsüchtigen Besoffenen, aber ihm sagten die flexiblen Arbeitszeiten zu, die seine Selbstständigkeit mit sich brachte. Er musste keine Befehle entgegennehmen und sich vor niemandem verantworten, und wenn er seine Kneipen betrat, empfand er einen Besitzerstolz, wie er ihn bisher für nichts anderes empfunden hatte. Seine Kneipen waren laut und chaotisch, doch es war ein Chaos, das er unter Kontrolle hatte.
Aber noch mehr als die flexiblen Arbeitszeiten und der Besitzerstolz sagte Mick das Geldverdienen zu. In den Sommermonaten verdiente er sich an den Touristen und den Leuten aus Boise, die am See in Truly Wochenendhütten besaßen, eine goldene Nase.
Der Münzsortierer stoppte, und Mick ließ die Münzrollen in Papierhüllen gleiten. Plötzlich kam ihm eine dunkelhaarige Frau mit vollen roten Lippen in den Sinn. Er war nicht überrascht, dass Maddie Dupree ihm innerhalb von Sekunden, nachdem er seinen Platz hinter der Theke eingenommen hatte, aufgefallen war. Es hätte ihn eher überrascht, wenn es nicht so gewesen wäre. Mit ihrer wunderschönen glatten Haut und den verführerischen braunen Augen war sie genau der Frauentyp, auf den er flog. Der kleine Leberfleck an ihrem Mundwinkel hatte ihn daran erinnert, wie lange es schon her war, dass er einen Mund wie ihren geküsst und sich weiter nach unten vorgearbeitet hatte. Über ihr Kinn und die Wölbung ihrer Kehle immer weiter nach unten.
Seit er vor zwei Jahren zurück nach Truly gezogen war, hatte sein Liebesleben mehr gelitten, als ihm lieb war. Was echt scheiße war. Truly war ein Kaff, in dem die Menschen sonntags zur Kirche gingen und jung heirateten. Das blieben sie nach Möglichkeit auch, und wenn nicht, versuchten sie, möglichst schnell wieder in den Hafen der Ehe einzulaufen. Mick ließ sich nie mit verheirateten Frauen oder mit Bräuten ein, die auf der Suche nach einem Ehemann waren. Er dachte nicht mal im Traum daran.
Dabei gab es durchaus eine Menge lediger Frauen in Truly. Als Besitzer zweier Bars in der Stadt kam er mit vielen Frauen in Kontakt, die noch zu haben waren. Ein Großteil davon ließ ihn wissen, dass sie an mehr interessiert waren als an seinem Cocktailangebot. Einige davon kannte er schon sein ganzes Leben. Sie kannten die Gerüchte und Klatschgeschichten über ihn und bildeten sich ein, auch ihn zu kennen. Taten sie aber nicht, sonst hätten sie gewusst, dass er lieber mit Frauen zusammen war, die weder ihn noch seine Vergangenheit kannten. Die nicht über jedes schmutzige kleine Detail aus dem Leben seiner Eltern Bescheid wussten.
Mick stopfte die Geldscheine samt den Quittungen in Banktaschen und zog die Reißverschlüsse zu. Die Wanduhr über seinem Schreibtisch zeigte 2:05 an. Auf dem polierten Eichenmöbel stand Travis’ neuestes Schulfoto; Wangen und Nase des Jungen waren mit braunen Sommersprossen übersät. Micks Neffe war fast acht und hatte mehr Hennessy-Blut in den Adern, als ihm guttat. Das unschuldige Lächeln täuschte Mick kein bisschen. Travis hatte die dunklen Haare, die blauen Augen und den ausschweifenden Charakter seiner Vorfahren geerbt. Wenn man sein Temperament nicht zügelte, würde er auch noch ihre Vorliebe für Raufereien, Schnaps und Frauen erben. Diese Eigenschaften waren einzeln genommen und in Maßen nicht unbedingt schlecht, doch Generationen von Hennessys hatten sich einen Teufel um Mäßigung geschert, und diese Kombination hatte sich manchmal als tödlich erwiesen.
Er durchquerte das Büro und deponierte das Geld auf dem obersten Bord im Safe, gleich neben dem Ausdruck mit den abendlichen Einnahmen. Er schwang die schwere Tür zu, schob den Stahlgriff herunter und drehte das Kombinationsschloss. Das Klickklick-Geräusch durchbrach die Stille in dem kleinen Büro im hinteren Teil des Mort’s.
Travis machte Meg die Hölle heiß, so viel war sicher, und Micks Schwester hatte nur wenig Verständnis für Jungs. Sie kapierte einfach nicht, warum Jungs Steine warfen, aus allem, was sie anfassten, Waffen bauten und sich ohne jeden ersichtlichen Grund prügelten. Deshalb blieb es Mick überlassen, in Travis’ Leben der Puffer zu sein und Meg bei seiner Erziehung zu unterstützen. Damit der Junge jemanden hatte, mit dem er reden konnte und der ihm beibrachte, was einen guten Mann ausmachte. Nicht, dass Mick auf diesem Gebiet Experte oder gar ein leuchtendes Beispiel gewesen wäre. Dafür verfügte er über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, was ein Arschloch ausmachte.
Er schnappte sich die Schlüssel vom Schreibtisch und verließ das Büro. Seine Stiefelabsätze schlugen dumpf auf dem Hartholzboden auf und klangen in der leeren Bar übermäßig laut.
Er selbst hatte in seiner Kindheit niemanden zum Reden gehabt, der ihm hätte beibringen können, was es hieß, ein Mann zu sein. Da er von seiner Großmutter und seiner Schwester großgezogen worden war, hatte er es selbst herausfinden müssen, und in den meisten Fällen hatte er es auf die harte Tour gelernt. Das wollte er Travis ersparen.
Mick knipste die Lichter aus und verließ das Gebäude durch die Hintertür. Die kalte Morgenluft strich ihm über Gesicht und Hals, als er einen der Schlüssel in das Riegelschloss steckte und es hinter sich zusperrte. Direkt nach der Highschool war er aus Truly weggegangen, um an der Uni in der Hauptstadt Boise zu studieren. Doch nach drei Jahren Planlosigkeit samt einer katastrophalen Arbeitsmoral war er zur Army gegangen. Die Welt aus einem Panzer heraus zu sehen hatte damals nach einem coolen Vorhaben geklungen.
Neben dem Müllcontainer parkte sein roter Dodge Ram, und er stieg ein. Die Welt hatte er jedenfalls gesehen. Manchmal mehr davon, als ihm lieb war, aber nicht aus einem Panzer heraus, sondern aus Tausenden von Metern über der Erde aus den Cockpits von Apache-Helikoptern. Er hatte Hubschrauber für die US-Regierung geflogen, bevor er die Army verlassen und wieder nach Truly gezogen war. Die Army hatte ihm mehr geboten als eine Superkarriere und die Chance auf ein gutes Leben. Sie hatte ihn auf eine Art gelehrt, ein Mann zu sein, wie das Leben in einem Haus mit Frauen es nicht getan hatte. Wann man sich behaupten und wann man die Klappe halten musste. Wann man kämpfen und wann man sich vom Acker machen musste. Was wichtig war und was reine Zeitverschwendung.
Mick ließ den Pick-up an und wartete kurz, bis das Fahrzeug warmgelaufen war. Als Besitzer zweier Kneipen hielt er es für äußerst hilfreich, gelernt zu haben, wie man mit den verschiedensten streitsüchtigen Besoffenen und Volldeppen fertig wurde, ohne gleich die Fäuste sprechen zu lassen und Schädel einzuschlagen. Ansonsten bekäme er nicht viel anderes auf die Reihe, wäre ständig in irgendwelche Prügeleien verwickelt und würde mit einem blauen Auge und einer kaputten Lippe herumlaufen wie früher als Junge. Damals hatte er noch nicht gewusst, wie man mit den Volldeppen dieser Welt fertig wurde. Damals war er gezwungen gewesen, mit dem Skandal zu leben, den seine Eltern ausgelöst hatten. Er hatte mit dem Getuschel leben müssen, wenn er einen Raum betrat. Mit den schiefen Blicken in der Kirche oder im Supermarkt. Mit den Hänseleien seiner Mitschüler oder, noch schlimmer, mit den Geburtstagspartys, zu denen Meg und er nicht eingeladen wurden. Damals hatte er jede Kränkung mit den Fäusten geregelt, während Meg sich in sich selbst zurückgezogen hatte.
Mick schnipste die Scheinwerfer an und schaltete in den Rückwärtsgang. Die Rücklichter des Ram erhellten die enge Gasse, als er über die Schulter blickend rückwärts vom Parkplatz setzte. In einer größeren Stadt wäre das skandalöse Leben von Loch und Rose Hennessy innerhalb weniger Wochen vergessen gewesen. Einige Tage auf den Titelseiten der Zeitungen und dann von etwas noch Schockierenderem in den Schatten gestellt. Von einem skandalöseren Thema, über das man sich beim Frühstück das Maul zerreißen konnte. Doch in einer Kleinstadt wie Truly, wo der aufsehenerregendste Skandal normalerweise aus Delikten wie Fahrraddiebstahl bestand oder daraus, dass Sid Grimes außerhalb der Jagdsaison wilderte, hatte die Verkommenheit von Loch und Rose Hennessy jahrelang für Gerede gesorgt. Spekulationen anzustellen und jedes tragische Detail immer wieder neu aufzuwärmen war zum beliebten Zeitvertreib geworden. Auf einer Stufe mit den Festzügen, dem Eisskulpturen-Wettbewerb und dem Auftreiben von Geld für die vielfältigen wohltätigen Projekte in der Stadt. Nur dass dabei scheinbar alle vergaßen, oder vielleicht war es ihnen auch egal, dass, anders als beim Dekorieren von Festwagen und bei der Einführung von Anti-Drogen-Freizeitprogrammen, zwei unschuldige Kinder betroffen waren, die einfach nur versuchten, über die Tragödie hinwegzukommen.
Er schaltete in den ersten Gang und rollte aus der Gasse auf eine schwach beleuchtete Straße. Viele seiner Kindheitserinnerungen waren alt und verblasst und zum Glück vergessen. Andere waren so glasklar, dass er sich an jedes Detail erinnerte. Wie an die Nacht, als Meg und er von einem Sheriff des Verwaltungsbezirks aus dem Bett geholt worden waren, der sie aufgefordert hatte, ein paar Sachen mitzunehmen, und sie zu ihrer Großmutter Loraine gebracht hatte. Er erinnerte sich, wie er nur mit einem T-Shirt, Unterwäsche und Turnschuhen bekleidet auf dem Rücksitz des Streifenwagens hockte und seinen Tonka Truck umklammerte, während Meg neben ihm saß und weinte, als wäre die Welt untergegangen. Und so war es ja auch. Er erinnerte sich an die aufgeregten kreischenden Stimmen aus dem Polizeifunk und daran, dass jemand nach dem anderen kleinen Mädchen sehen wollte.
Als er die wenigen Lichter der Stadt hinter sich gelassen hatte, fuhr Mick drei Kilometer durch die tiefe Dunkelheit, bis er auf eine unbefestigte Straße abbog. Er kam an dem Haus vorbei, in dem Meg und er nach dem Tod ihrer Eltern aufgewachsen waren. Seine Großmutter Loraine Hennessy war auf ihre Art liebevoll und zärtlich zu ihnen gewesen. Sie hatte dafür gesorgt, dass Meg und er stets mit Winterstiefeln und Handschuhen ausgestattet waren und nie einen leeren Magen hatten. Doch was sie wirklich brauchten, hatte sie völlig vernachlässigt. Ein Leben, das so normal war wie möglich.
Sie hatte sich geweigert, das alte Farmhaus zu verkaufen, in dem Meg und er mit ihren Eltern gelebt hatten. Jahrelang stand es verlassen am Stadtrand und wurde zu einem Refugium für Mäuse und zu einer ständigen Erinnerung an die Familie, die dort einmal gelebt hatte. Man konnte nicht in die Stadt fahren, ohne es zu sehen. Ohne dass einem das wuchernde Unkraut, die abblätternde weiße Farbe und die schlaffe Wäscheleine auffielen.
Und von Montag bis Freitag, neun Monate im Jahr, waren Mick und Meg gezwungen gewesen, auf dem Schulweg daran vorbeizufahren. Während sich die anderen Kinder im Bus über die neueste Folge von Ein Duke kommt selten allein unterhielten oder ihre Pausenbrote untersuchten, drehten Meg und er die Köpfe vom Fenster weg. Sie bekamen Bauchschmerzen, hielten den Atem an und beteten zu Gott, dass niemand ihr altes Haus bemerkte. Aber Gott hatte sie nicht immer erhört, und dann füllte sich der Bus mit dem neusten Klatsch über Micks Eltern, den die Kinder aufgeschnappt hatten.
Die Busfahrt zur Schule war ein täglicher Höllentrip gewesen. Eine tagtägliche Folter – bis zu einer kalten Winternacht im Jahre 1986, als das Farmhaus in einem riesigen orangefarbenen Feuerball explodierte und völlig niederbrannte. Als Brandursache war Brandstiftung ermittelt worden, und es hatte eine große Untersuchung gegeben. Fast jeder in der Stadt war befragt worden, doch derjenige, der das Haus mit Petroleum übergossen hatte, war nie gefasst worden. Alle in der Stadt glaubten, den Täter zu kennen, doch niemand hatte es mit Sicherheit gewusst.
Nach Loraines Tod vor drei Jahren hatte Mick das Grundstück an die Allegrezza-Jungs verkauft und erwogen, auch die Familienkneipe zu verscherbeln, sich dann jedoch entschieden, wieder nach Truly zu ziehen und die Bar selbst zu betreiben. Meg brauchte ihn. Travis brauchte ihn, und als er nach Truly zurückkam, sprach zu seiner Überraschung niemand mehr über den Skandal. Man verfolgte ihn nicht mehr auf Schritt und Tritt mit Getuschel, und falls doch, hörte er es nicht mehr.
Er fuhr langsamer, bog nach links in eine lange Zufahrtsstraße ab und brauste einen Hügel am Fuße des Shaw Mountain hinauf. Kurz nachdem er wieder nach Truly gezogen war, hatte er sich das einstöckige Haus gekauft. Es hatte einen fantastischen Blick auf die Stadt und die zerklüfteten Berge um den See herum. Er parkte in der Garage neben seinem sechseinhalb Meter langen Wasserski-Boot und betrat das Haus durch die Waschküche. Im Arbeitszimmer brannte das Licht, und er schaltete es im Vorbeigehen aus. Er durchquerte das dunkle Wohnzimmer und stieg, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf.
Normalerweise dachte Mick nicht viel über die Ereignisse nach, die seine Kindheit so sehr beherrscht hatten. In Truly sprach man auch nicht mehr darüber, was eine Ironie des Schicksals war, weil er in letzter Zeit überhaupt nichts mehr darauf gab, was die Leute über ihn sagten und dachten. Er ging in sein Schlafzimmer am hinteren Ende des Flurs und lief durch das Mondlicht, das durch die offenen Stäbe der Holzjalousien strömte. Dunkelheit und gedämpfte Lichtstreifen strichen über sein Gesicht und seine Brust, als er in seine Gesäßtasche griff. Er warf seine Geldbörse auf die Frisierkommode, packte mit zwei Fäusten sein T-Shirt und zog es sich über den Kopf. Aber nur, weil er nichts mehr auf die Vergangenheit gab, hieß das noch lange nicht, dass Meg es verwunden hatte. Sie hatte gute und schlechte Tage. Seit dem Tod ihrer Großmutter wurden ihre schlechten Tage schlechter, und das war kein Leben für Travis.
Mondlicht und Schatten ergossen sich über die grüne Bettdecke und die stabilen Eichenpfosten von Micks Bett. Er ließ das T-Shirt auf den Boden fallen und durchquerte den Raum. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die Rückkehr nach Truly ein Fehler gewesen war. Es war, als würde er auf der Stelle treten, und er wusste nicht, warum er sich so fühlte. Immerhin hatte er eine neue Kneipe dazugekauft und zog in Erwägung, gemeinsam mit seinem Freund Steve einen Helikopterservice aufzuziehen. Er hatte Geld und Erfolg und gehörte zu seiner Familie nach Truly. Der einzigen Familie, die er hatte. Der einzigen Familie, die er wahrscheinlich je haben würde, aber manchmal … manchmal wurde er das Gefühl nicht los, dass er auf etwas wartete.
Die Matratze senkte sich, als er sich auf den Bettrand setzte und sich Stiefel und Socken auszog. Meg war der Meinung, dass er nur eine nette Frau kennenlernen musste, die er heiraten und glücklich machen würde, aber er sah sich einfach nicht als Ehemann. Jetzt noch nicht. Er hatte in seinem Leben ein paar gute Beziehungen gehabt. Gut bis zu dem Punkt, an dem sie es nicht mehr waren. Keine hatte länger als ein Jahr oder auch zwei gedauert. Teils, weil er so viel unterwegs gewesen war. Aber hauptsächlich, weil er keinen Ring kaufen und vor den Traualter treten wollte.
Er stand auf und zog sich bis auf die Unterhose aus. Meg glaubte, dass er Angst vor der Ehe hatte, weil die ihrer Eltern so mies gewesen war, aber das stimmte nicht. In Wahrheit erinnerte er sich gar nicht so richtig an seine Eltern, sondern nur schwach an Familienpicknicks am See und wie seine Eltern auf dem Sofa miteinander kuschelten. An seine Mutter, die am Küchentisch weinte, und an ein altes schweres Telefon, das in den Fernseher geschleudert worden war.
Nein, das Problem waren nicht die Erinnerungen an die verkorkste Beziehung seiner Eltern. Er hatte einfach noch keine Frau so geliebt, dass er den Rest seines Lebens mit ihr hätte verbringen wollen. Was er überhaupt nicht als Problem ansah.