Frisch getraut / Darf's ein Küsschen mehr sein? - Rachel Gibson - E-Book

Frisch getraut / Darf's ein Küsschen mehr sein? E-Book

Rachel Gibson

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Beschreibung

Zwei spannende, herrlich romantische Romane in einem Band.

Frisch getraut: Am Tag nach der Hochzeit ihrer besten Freundin erwacht Clare mit einem mörderischen Kater in einem fremden Hotelzimmer. Sie hat keine Ahnung, wie sie dort hingekommen ist, aber sie weiß, wer unter der Dusche steht: Sebastian, der Albtraum ihrer Kindheit und nun ein Traum von einem Mann ...

Darf’s ein Küsschen mehr sein: Als Maddie nach Jahren zurück in ihren Heimatort Truly kommt, hätte sie mit allem gerechnet, aber nicht mit dem unwiderstehlichen Charme von Mick Hennessy, dessen Vater schon das Herz ihrer Mutter gebrochen hat ...

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Frisch getraut

Clare Wingate ist verzweifelt – sie ist Brautjungfer auf der Hochzeit ihrer besten Freundin, aber seit sie kurz zuvor ihren Verlobten mit dem Waschmaschinenmonteur im Bett erwischt hat, ist ihr gar nicht mehr zum Feiern zumute. Das Fest wird ein Desaster für Clare, sie betrinkt sich sinnlos und erwacht am nächsten Morgen in einem fremden Hotelzimmer. Sie kann sich an nichts erinnern, aber sie sieht, dass in der Tür zur Dusche ein verdammt attraktiver Mann steht, der ihr dunkel bekannt vorkommt. Es ist Sebastian Vaughan, der Albtraum ihrer Kindheit, mit dem sie offensichtlich die Nacht verbracht hat. Und obwohl Clare wirklich genug von Männern hat, muss sie bald feststellen, dass sie statt der Hassliebe aus Kindertagen inzwischen ganz andere Dinge für Sebastian empfindet …

Darf’s ein Küsschen mehr sein?

Der Ort Truly ist für Maddie Jones ein düsteres Kapitel: Vor vielen Jahren kam dort ihre Mutter Alice gewaltsam ums Leben. Doch als sie Alice’ Tagebuch findet, wird Maddie klar, dass sie sich dieser Familientragödie stellen muss. Sie macht sich auf in die Stadt ihrer Kindheit, wo ihre Mutter als Kellnerin in einer Bar arbeitete. Geführt wird diese nun von Mick Hennessy, einem stadtbekannten Herzensbrecher, der die dramatischen Geschehnisse von damals keinesfalls wieder ausgraben will. Doch Maddie hat nicht vor, sich aufhalten zu lassen – schon gar nicht von einem schwarzhaarigen Schönling mit zugegebenermaßen unwiderstehlich blauen Augen. Denn schon Micks Vater brach damals das Herz ihrer Mutter …

Inhaltsverzeichnis

Frisch getraut
EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnEpilogDanksagung
Darf’s ein Küsschen mehr sein?
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18
Rachel GibsonVon Rachel Gibson bei Goldmann lieferbar:Copyright

Frisch getraut

Herzlichen Dankden Liebesromanleserinnen, die michseit der Veröffentlichung meines allerersten Buchestreu unterstützt haben.Das hier ist Ihnen gewidmet.

Eins

Als Clare Wingate sich das erste Mal in einem fremden Bett wiederfand, war sie einundzwanzig und einer schlimmen Trennung und zu vielen Jelo Shooters zum Opfer gefallen. Die Liebe ihres Lebens hatte sie für eine blonde Kunststudentin mit imposantem Vorbau sitzen lassen, und Clare hatte den ganzen Abend im Humpin’ Hannah’s an der Theke verbracht und ihren Kummer in Alkohol ertränkt.

Am nächsten Morgen war sie in einem Bett aufgewacht, das nach Patschuli-Öl roch, und hatte auf ein Bob-Marley-Poster an der Decke gestarrt, während das Schnarchen des Typs neben ihr das Hämmern in ihrem Kopf übertönte. Sie hatte keinen Schimmer, wo sie war oder wie der Typ hieß, und war auch nicht lang genug geblieben, um ihn nach seinem Namen zu fragen.

Stattdessen hatte sie sich ihre Klamotten geschnappt und sich aus dem Staub gemacht. Während sie im unbarmherzigen Morgenlicht nach Hause fuhr, hatte sie sich eingeredet, dass es im Leben Schlimmeres gab als spontanen Sex mit Unbekannten. Zum Beispiel vom College zu fliegen oder in einem brennenden Gebäude eingeschlossen zu sein. Das war echt schlimm. Trotzdem waren One-Night-Stands nichts für sie. Die Sache hatte sie verstört und angewidert. Doch bis sie zu Hause ankam, hatte sie den Zwischenfall als wichtige Erfahrung verbucht. Als etwas, das viele junge Frauen taten. Etwas, woraus man für die Zukunft lernen konnte. Etwas, das ihr, wie sie sich schwor, nie wieder passieren würde.

Clare war nicht dazu erzogen worden, nach einem Schnapsglas und einem warmen Körper zu greifen, um sich zu trösten. Man hatte ihr eingebläut, sich zu zügeln und ihre Gefühle hinter einer perfekten Fassade zu verbergen, die aus einem herzlichen Lächeln, freundlichen Worten und tadellosen Manieren bestand. Eine Wingate trank nicht zu viel, sprach nicht zu laut und trug weiße Schuhe nur am Memorial Day. Sie neigte nicht zu Offenherzigkeit und hüpfte schon gar nicht mit Wildfremden ins Bett.

Doch trotz dieser Erziehung zur Selbstbeherrschung war Clare die geborene Romantikerin. Tief im Herzen glaubte sie an Liebe auf den ersten Blick und spontane erotische Anziehung und hatte die schlechte Angewohnheit, sich kopfüber in Beziehungen zu stürzen, weshalb ihr Liebeskummer, schmerzhafte Trennungen und ab und zu ein betrunkener One-Night-Stand vorbestimmt zu sein schienen.

Mit Ende zwanzig hatte sie zum Glück endlich gelernt, die ihr eingebläute Selbstbeherrschung auch in die Praxis umzusetzen, und als sie einunddreißig war, hatte das Schicksal es gut mit ihr gemeint, und sie hatte Lonny getroffen. Die Liebe ihres Lebens. Den Mann, den sie auf einer Degas-Ausstellung kennengelernt und der sie total umgehauen hatte. Er war schön und romantisch und ganz anders als die Herzensbrecher, mit denen sie vorher ausgegangen war. Er vergaß nie ihren Geburtstag oder Jahrestage und hatte ein Händchen für Blumenarrangements. Clares Mutter liebte ihn, weil er mit einem Tomatenvorlegelöffel umgehen konnte, und Clare, weil er Verständnis für ihre Arbeit aufbrachte und sie in Ruhe ließ, wenn sie einen Abgabetermin hatte.

Nach einem Jahr zog Lonny bei Clare ein, und sie verlebten das folgende Jahr in totaler Symbiose. Er mochte ihre antiken Möbel, und sie teilten eine Schwäche für Pastelltöne und eine Leidenschaft für Stoffe. Sie stritten nie, nicht mal über Lappalien. Mit Lonny gab es keine emotionalen Dramen, und als er ihr einen Heiratsantrag machte, nahm sie ihn an.

Lonny war wirklich der perfekte Mann. Abgesehen von seinem schwach ausgeprägten Sexualtrieb … Manchmal wollte er monatelang keinen Sex, aber schließlich waren nicht alle Männer geile Böcke.

Glaubte sie jedenfalls bis zu dem Moment, als sie am Hochzeitstag ihrer Freundin Lucy überraschend zurück nach Hause eilte und ihn in flagranti mit dem Servicetechniker von Sears ertappte. Sie war so fassungslos, dass sie eine Weile brauchte, um zu begreifen, was da auf dem Boden ihres begehbaren Wandschranks vor sich ging. Wie gelähmt vor Entsetzen, hatte sie mit der Perlenkette ihrer Urgroßmutter in der Hand dagestanden, während der Mann, der am Vortag ihren Maytag-Kühlschrank repariert hatte, ihren Verlobten ritt wie ein Cowboy. Die Szene kam ihr vollkommen unwirklich vor, bis Lonny aufblickte und sein schockierter Blick auf ihren traf.

»Ich dachte, du fühlst dich nicht wohl«, hatte sie gestammelt, ohne ein weiteres Wort den Saum ihres Brautjungfernkleids aus Seide und Tüll hochgerafft und war aus dem Haus gestürzt. Die Fahrt zur Kirche nahm sie nur verschwommen wahr, und den Rest des Tages hatte sie in dieser rosafarbenen Quaste von Kleid rumlaufen und lächeln müssen, als sei ihr Leben nicht gerade völlig aus den Fugen geraten und komplett zusammengebrochen.

Als Lucy ihr Ehegelübde ablegte, brach es Clare das Herz. Sie hatte vorn in der Kirche gestanden und gelächelt, während ein Gefühlssturm in ihr wütete, bis sie sich vollkommen leer fühlte und außer dem heftigen Schmerz in ihrer Brust nichts mehr spürte. Während des Hochzeitsempfangs hatte sie krampfhaft die Mundwinkel nach oben gezogen und auf das Glück ihrer Freundin angestoßen. Sie hielt es für ihre Pflicht, einen angemessenen Toast auszubringen, was sie auch tat. Sie wäre lieber gestorben, als Lucys Ehrentag mit ihren Problemen zu verderben. Sie durfte nur nicht zu viel trinken, obwohl ein Gläschen Champagner nicht schaden könnte. Es war ja nicht so, als würde sie sich puren Whisky hinter die Binde kippen.

Sie hätte nicht auf sich hören dürfen.

Bevor sie am Morgen nach Lucys Hochzeit mit hämmerndem Kopf die Augen aufschlug, beschlich sie ein Déjà-vu-Gefühl, das sie seit Jahren nicht mehr gehabt hatte. Durch verquollene Augenlider blinzelte Clare in das Morgenlicht, das durch einen breiten Spalt in den schweren Vorhängen auf das goldbraune Federbett fiel, das schwer auf ihr lag. Panik schnürte ihr die Kehle zu, und sie fuhr entsetzt hoch. Ihr Puls hämmerte in ihren Ohren. Das Federbett glitt von ihren nackten Brüsten auf ihren Schoß.

Im helleren Teil des Raums fiel ihr Blick auf das riesengroße Bett, einen Hotelschreibtisch und zwei Wandlampen. Im Fernsehschrank ihr gegenüber liefen gerade die Sonntagmorgen-Nachrichten, die so leise gedreht waren, dass man den Ton kaum hörte. Das Kissen neben ihr war leer, doch die schwere silberne Armbanduhr auf dem Nachttisch und das Rauschen laufenden Wassers hinter der geschlossenen Badtür verrieten ihr, dass sie nicht allein war.

Sie stieß das Federbett weg und sprang aus dem Bett. Zu ihrer Bestürzung trug sie vom Tag zuvor nichts mehr außer dem Spritzer Escada und dem pinkfarbenen String-Tanga. Sie schnappte sich das pinkfarbene Bustier vom Boden und schaute sich hastig nach ihrem Kleid um. Es lag neben einer verblichenen Levi’s über einer kleinen Couch.

Kein Zweifel, sie hatte einen Rückfall gehabt, und genau wie bei den wenigen Fehltritten vor Jahren konnte sie sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr an die wichtigen Details erinnern.

An Lucys Hochzeit in der St. John’s Cathedral und den anschließenden Empfang im Double-Tree-Hotel erinnerte sie sich noch. Auch daran, dass ihr der Champagner noch vor der ersten Trinkspruchrunde ausgegangen war und sie sich mehrmals hatte nachschenken lassen müssen. Und dass sie ihr Champagnerglas gegen ein herkömmliches mit Gin Tonic eingetauscht hatte.

Doch danach erinnerte sie sich nur noch bruchstückhaft. Durch einen alkoholisierten Dunstschleier meinte sie sich zu entsinnen, auf dem Empfang getanzt zu haben, und sie hatte eine vage, beschämende Erinnerung daran, »Fat Bottomed Girls« gesungen zu haben. Irgendwo. Bilder von ihren Freundinnen Maddie und Adele blitzten auf, die im Hotel ein Zimmer für sie gemietet hatten, damit sie ihren Rausch ausschlafen konnte, bevor sie nach Hause fahren und Lonny gegenübertreten musste. Die Hotel-Minibar. Hatte sie noch unten in der Bar gesessen? Vielleicht. Dann nichts mehr.

Clare schlang sich das Bustier um die Taille und mühte sich ab, die Haken zwischen ihren Brüsten zu schließen, während sie sich durch den Raum auf die Couch zubewegte. Auf halber Strecke stolperte sie über eine pinkfarbene Satinsandale. Ihre einzige glasklare Erinnerung war die an Lonny und den Handwerker.

Ihr Herz zog sich zusammen, doch sie hatte keine Zeit, länger über den Schmerz und ihre totale Fassungslosigkeit nachzudenken. Lonny würde sie sich später vorknöpfen, doch zuerst musste sie raus aus diesem Hotelzimmer.

Das Korsett zwischen ihren Brüsten nur halb zugehakt, griff sie nach dem pinkfarbenen Etwas von Brautjungfernkleid. Sie warf es sich über den Kopf, kämpfte sich durch meterweise Tüll und wand und schlängelte sich, bis es endlich um ihre Taille hing. Völlig außer Atem schob sie die Arme durch die Spaghetti-Träger und griff nach dem Reißverschluss und den kleinen Knöpfen auf ihrem Rücken.

Das Wasser wurde abgedreht, und Clares Blick schoss zur geschlossenen Badtür. Sie schnappte sich ihre Clutchbag von der Couch und raste mit einem Rascheln aus Tüll und Satin durch den Raum. Dabei hielt sie mit einer Hand das Kleid vorne zu und schnappte sich mit der anderen die Schuhe. Es gab Schlimmeres, als in fremden Hotelzimmern aufzuwachen. Und wenn sie erst mal zu Hause war, würde ihr auch noch was einfallen.

»Willst du schon gehen, Claresta?«, fragte eine raue Männerstimme hinter ihr.

Clare blieb wie angewurzelt vor der geschlossenen Tür stehen. Niemand außer ihrer Mutter nannte sie Claresta. Ihr Kopf fuhr herum, und ihre Handtasche und ein Schuh fielen mit einem dumpfen Knall zu Boden. Ein Träger ihres Kleids rutschte an ihrem Arm herab, während ihr Blick auf einem weißen Handtuch verharrte, das um die untere Reihe eines harten Sixpacks aus Bauchmuskeln geschlungen war. Ein Wassertropfen glitt an der dunkelblonden Linie aus Haaren auf seinem braun gebrannten Bauch herab, und Clare hob den Blick zu den definierten Brustmuskeln unter straffer brauner Haut, auf der sich kurze nasse Locken ringelten. Um den Hals hatte er sich ein zweites Handtuch geschlungen, und sie ließ den Blick über sein stoppeliges Kinn zu einem Paar Lippen schweifen, die zu einem frechen Lächeln verzogen waren. Sie schluckte und schaute in tiefgrüne Augen mit dichten Wimpern. Sie kannte diese Augen.

Er lehnte sich mit einer Schulter an den Rahmen der Badtür und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Guten Morgen.«

Seine Stimme klang anders als bei ihrer letzten Begegnung. Tiefer, da sie von einer Jungen- zu einer Männerstimme geworden war. Dieses Lächeln hatte sie über zwanzig Jahre nicht gesehen, doch auch das erkannte sie wieder. Es war dasselbe Lächeln, das er auf den Lippen gehabt hatte, wenn er sie zu irgendwelchen Wettkämpfen, Doktorspielen oder Mutproben überredete. Jedes dieser Spiele hatte unweigerlich damit geendet, dass sie etwas verlor. Ihr Geld. Ihre Würde. Ihre Kleider. Und manchmal alles zusammen.

Dabei hatte er sie gar nicht lange überreden müssen. Sie hatte schon immer eine Schwäche für dieses Lächeln gehabt. Und für ihn. Doch sie war jetzt kein einsames kleines Mädchen mehr, das für schmeichelnde Jungs mit frechem Lächeln empfänglich war, die jeden Sommer in ihr Leben schneiten und ihr Herz zum Schmelzen brachten. »Sebastian Vaughan.«

In seinen Augenwinkeln erschienen Lachfältchen. »Du bist groß geworden, seit ich dich das letzte Mal nackt gesehen habe.«

Sie hielt ihr Kleid mit einer Hand zusammen, drehte sich zu ihm und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. In der Lücke des offenen Reißverschlusses spürte sie das kühle Holz auf ihrer Haut. Sie strich sich ihr zerzaustes dunkelbraunes Haar hinters Ohr und bemühte sich um ein Lächeln, nach dem sie ziemlich tief graben musste, bis in den Teil von ihr, der die guten Manieren verinnerlicht hatte. Der Teil, der sie zwang, zu Dinnerpartys Geschenke mitzubringen und eine Dankeskarte abzuschicken, sobald sie wieder zu Hause war. Der Teil, der für jeden ein freundliches Wort oder einen wohlwollenden Gedanken übrig hatte. »Wie geht’s dir?«

»Gut.«

»Toll.« Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Vermutlich besuchst du deinen Vater?« Wurde auch Zeit.

Er stieß sich vom Türrahmen ab und griff nach einem Ende des Handtuchs um seinen Hals. »Das haben wir schon gestern Nacht abgehakt«, sagte er und rubbelte sich die Haare an der Seite trocken. Im Kindesalter war sein Haar hell wie die Sonne gewesen. Jetzt war es dunkler.

Offensichtlich hatten sie so einiges abgehakt, woran sie sich nicht erinnerte. Dinge, an die sie nicht mal denken wollte. »Ich hab das mit deiner Mutter gehört. Mein Beileid.«

»Auch das haben wir abgehakt.« Er ließ die Hand sinken.

Ach so. »Was führt dich hierher?« Als sie das letzte Mal von Sebastian gehört hatte, war er bei den Marines im Irak, in Afghanistan oder Gott weiß wo »eingebettet« gewesen. Bei ihrer letzten Begegnung war er elf oder zwölf gewesen.

»Auch das.« Er runzelte die Stirn und betrachtete sie genauer. »Du erinnerst dich nicht an gestern Nacht, oder?«

Sie zuckte mit einer nackten Schulter.

»Ich wusste zwar, dass du stinkbesoffen warst, aber ich hätte nicht gedacht, dass du sogar einen Filmriss hattest.«

Es war typisch für ihn, sie darauf hinzuweisen. Statt Bauchmuskeln hätte er sich lieber bessere Manieren aneignen sollen. »Den Ausdruck hab ich sowieso nie ganz verstanden, aber ›stinkbesoffen‹ war ich bestimmt nicht.«

»Du hast schon immer alles zu wörtlich genommen. Es bedeutet, dass du sturzbesoffen warst, und das warst du tatsächlich!«

Ihr Lächeln verrutschte zu einer sorgenvollen Miene, die sie nicht einmal zu verbergen versuchte. »Ich hatte meine Gründe.«

»Die hast du mir dargelegt.«

Sie hoffte, nicht alle Details preisgegeben zu haben.

»Dreh dich um.«

»Was?«

Er machte mit einem Finger eine Drehbewegung. »Dreh dich um, damit ich den Reißverschluss deines Kleids zuziehen kann.«

»Warum?«

»Zwei Gründe. Wenn mein Vater mitbekäme, dass ich dich hier halb nackt rausrennen lasse, würde er mich umbringen. Und wenn wir uns unterhalten wollen, würde ich lieber nicht hier stehen und mich die ganze Zeit fragen, ob du aus dem Rest des Kleids auch noch rausfällst.«

Sie starrte ihn entgeistert an. Vielleicht sollte sie seine Hilfe annehmen, das wäre bestimmt besser, als mit einem halb offenen Kleid aus dem Raum zu stürzen. Andererseits hatte sie wirklich keine Lust, noch dazubleiben und mit Sebastian Vaughan zu plaudern.

»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, trage ich nur ein Handtuch. In etwa zwei Sekunden wird es nicht mehr zu übersehen sein, wie sehr ich hoffe, dich nackt zu sehen.« Er lächelte und zeigte dabei eine perfekte Reihe gerader weißer Zähne. »Noch mal.«

Ihre Wangen fingen Feuer, als bei ihr der Groschen fiel, und mit einem Rascheln aus Satin und Tüll drehte sie sich zur Tür. Es lag ihr auf der Zunge, ihn zu fragen, was genau sie in der vergangenen Nacht angestellt hatten, doch eigentlich wollte sie keine Details. Sie fragte sich auch, was sie ihm über Lonny erzählt hatte, doch auch das wollte sie lieber nicht wissen. »Ich muss mehr getrunken haben, als ich wollte.«

»Du hattest ein Recht darauf, mal richtig zu tanken. Seinen Verlobten auf allen vieren vorzufinden wie einen wilden Mustang, würde jeden in den Suff treiben.« Seine Fingerspitzen streiften ihren Rücken, als er nach dem Reißverschluss griff. Er lachte leise und sagte: »Der Maytag-Mann ist wohl doch nicht der einsamste Kerl in der Stadt.«

»Das ist nicht lustig.«

»Mag sein.« Er strich ihr Haar beiseite und zog langsam den Reißverschluss über ihren Rücken hoch. »Aber du solltest es wirklich nicht so schwer nehmen.«

Sie drückte die Stirn gegen die Holztür. Das konnte alles nicht wahr sein.

»Es ist nicht deine Schuld, Clare«, fügte er hinzu, als wäre das ein Trost. »Du hast einfach nicht die richtige Ausrüstung.«

Ja, es gab Schlimmeres, als in einem Hotelzimmer mit einem Fremden aufzuwachen. Eine dieser Katastrophen war, die Liebe seines Lebens mit einem Kerl zu erwischen. Die andere war gerade dabei, ihr den Reißverschluss zuzuziehen. Sie schniefte und biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen.

Er ließ ihre Haare los und befestigte die zwei Haken oben am Reißverschluss. »Du weinst doch jetzt nicht, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie zeigte in der Öffentlichkeit nie übermäßig viel Gefühl, wenigstens bemühte sie sich darum. Erst später, wenn sie Lonny zur Rede gestellt hätte und allein wäre, würde sie zusammenbrechen. Andererseits, überlegte sie, wenn sie je einen guten Grund zum Weinen gehabt hatte, dann heute. Sie hatte ihren Verlobten verloren und mit Sebastian Vaughan geschlafen. Von einer auszehrenden Krankheit mal abgesehen, konnte ihr Leben nicht schlimmer werden als jetzt.

»Ich kann nicht glauben, dass ich mit dir geschlafen habe«, stöhnte sie. Hätte ihr Kopf nicht sowieso schon gedröhnt, hätte sie mit der Stirn gegen die Tür geschlagen.

Er ließ die Hände sinken. »Viel geschlafen haben wir nicht.«

»Ich war betrunken. Sonst hätte ich mich nie auf Sex mit dir eingelassen.« Sie sah ihn über die Schulter hinweg an. »Du hast mich ausgenutzt.«

Sein Blick verengte sich. »Glaubst du das wirklich?«

»Das ist doch offensichtlich.«

»Du hast dich nicht beschwert.« Er zuckte mit den Schultern und ging zur Couch.

»Ich erinnere mich nicht!«

»Tja, das ist echt schade. Du hast gesagt, es wäre der beste Sex deines Lebens gewesen.« Er lächelte und ließ das Handtuch fallen. »Du konntest nicht genug kriegen.«

Offensichtlich war er der Angewohnheit, die Hosen runterzulassen, nicht entwachsen, und sie richtete den Blick krampfhaft auf das Vogelgemälde an der Wand hinter seinem Kopf.

Er wandte ihr den Rücken zu und griff nach seiner Jeans. »Einmal warst du so laut, dass ich dachte, der Sicherheitsdienst würde gleich die Tür aufbrechen.«

Sie war beim Sex noch nie laut gewesen. Nie. Aber sie wusste, dass sie nicht in der Position war zu widersprechen. Sie hätte wie ein Pornostar schreien können und wüsste es nicht mehr.

»Ich war ja schon mit so einigen aggressiven Frauen zusammen …« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Wer hätte gedacht, dass die kleine Claresta als Erwachsene so hemmungslos im Bett werden würde?«

Sie war nie hemmungslos im Bett gewesen. Klar, sie schrieb über heißen Sex, hatte jedoch noch nie genug die Kontrolle verloren, um selbst welchen zu haben. Sie hatte es zwar ein paar Mal versucht, aber sie war zu verklemmt, um zu schreien und zu stöhnen und …

Sie verlor den Kampf, und ihr Blick glitt an den glatten Ebenen seines Rückens und der leichten Krümmung seines Rückgrats hinab, während er sich seine Levi’s über den nackten Hintern zog. »Ich muss hier raus«, murmelte sie und bückte sich, um ihre Handtasche vom Boden aufzuheben.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er, den Kopf nach unten gebeugt.

Nach Hause. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und ihr Kopf hämmerte, als sie sich wieder aufrichtete. Was sie zu Hause erwartete, war ein noch größerer Albtraum als der, der ihr hier im Zimmer gegenüberstand. Der mit den steinharten Bauchmuskeln und dem echt knackigen Hintern. »Nein. Danke. Du hast mir schon genug geholfen.«

Er drehte sich wieder um, und seine Hände hielten über dem zugeknöpften Hosenschlitz inne. »Ganz sicher? Wir müssen erst um zwölf auschecken.« Ein Mundwinkel verzog sich nach oben, und sein freches Lächeln war wieder da. »Lust, ein paar Erinnerungen zu schaffen, die du garantiert nicht vergisst?«

Clare öffnete die Tür hinter ihr. »Keine Chance«, murmelte sie und verließ den Raum. Sie war etwa drei Meter weit gekommen, als er ihr nachrief.

»Hey, Aschenputtel.«

Sie sah über die Schulter, als er ihre pinkfarbene Sandale aufhob und sie ihr zuwarf. »Vergiss deinen Ballschuh nicht.«

Sie fing den Schuh mit einer Hand auf und eilte ohne einen Blick zurück durch den Flur, dann rannte sie die Treppe hinab und stürzte durch das Foyer, weil sie Angst hatte, Hochzeitsgästen von außerhalb in die Arme zu laufen, die im Hotel übernachtet hatten. Wie um Himmels willen sollte sie ihre Anwesenheit Lucys Großtante und Großonkel aus Wichita erklären?

Die Hoteltüren öffneten sich zischend, und Clare lief im blendenden Licht der grellen Morgensonne barfuß über den Parkplatz und dankte Gott, dass ihr Lexus LS genau an der Stelle stand, wo sie ihn ihrer Erinnerung nach am Vortag abgestellt hatte. Sie raffte ihr Kleid hoch, warf sich in den Wagen und startete den Motor. Als sie den Rückwärtsgang einlegte, fiel ihr Blick im Rückspiegel kurz auf ihr Gesicht. Beim Anblick von schwarzer Mascara unter blutunterlaufenen Augen, zerzausten Haaren und blasser Haut musste sie entsetzt nach Luft schnappen. Sie sah aus wie der Sensenmann. Sebastian dagegen hatte ausgesehen, als wäre er einer Levi’s-Reklametafel entstiegen.

Als Clare rückwärts aus der Parklücke setzte, griff sie in die Konsole und tastete nach ihrer Sonnenbrille. Falls sie Sebastian in diesem Leben je wieder zu Gesicht bekäme, dachte sie, wäre es in jedem Fall zu früh. Vermutlich war sein Angebot, sie nach Hause zu fahren, nett gemeint gewesen, doch dann hatte er es auf typische Sebastian-Art wieder verdorben. Sie legte den ersten Gang ein und schützte ihre Augen mit ihrer goldenen Versace-Sonnenbrille.

Wahrscheinlich besuchte er seinen Vater, genau wie früher als Junge, wenn seine Mutter ihn den Sommer über von Seattle nach Idaho schickte. Da Clare nicht vorhatte, ihre eigene Mutter in nächster Zeit zu besuchen, wusste sie, dass kein Risiko bestand, Sebastian wiederzusehen.

Sie fuhr vom Parkplatz und über den Chinden Boulevard in Richtung Americana.

Sebastians Vater, Leonard Vaughan, hatte fast dreißig Jahre lang für ihre Familie gearbeitet. Solange Clare denken konnte, hatte Leo in dem umgebauten Kutschenhaus auf dem Besitz ihrer Mutter an der Warm Springs Avenue gewohnt. Das Haupthaus war 1890 erbaut worden und inzwischen als denkmalgeschützt bei der Idaho Historical Society registriert. Das Kutschenhaus stand auf dem hinteren Teil des Besitzes, halb verborgen von alten Weidenbäumen und blühendem Hartriegel.

Clare konnte sich nicht erinnern, ob Sebastians Mutter je gemeinsam mit Leo im Kutschenhaus gelebt hatte, aber sie glaubte nicht. Es schien, als hätte Leo dort schon immer allein gewohnt, sich um das Haus und die Gartenanlagen gekümmert und ab und zu den Chauffeur gespielt.

Die Ampel, die über der Americana hing, der Verbindungsstraße zwischen dem Ann-Morrison-Park und dem Katherine-Albertson-Park, schaltete gerade auf Grün, als Clare durchraste. Sie war schon über zwei Monate nicht mehr im Haus ihrer Mutter gewesen. Nicht seit dem Vormittag, als Joyce Wingate ihren versammelten Freundinnen vom Wohltätigkeitsverein erzählt hatte, dass Clare Liebesromane schrieb, nur um sie, Joyce, zu ärgern. Clare hatte schon immer gewusst, was ihre Mutter von ihrer Schreiberei hielt, doch bisher hatte Joyce ihre Karriere stets ignoriert und so getan, als würde sie »Frauenliteratur« verfassen – bis zu dem Tag, an dem der Idaho Statesman in der Rubrik Unterhaltung einen großen Artikel über Clare gebracht hatte und das schmutzige Geheimnis der Wingates ans Tageslicht gekommen war. Clare Wingate, Absolventin der Boise State University und des Bennington College, schrieb unter dem Pseudonym Alicia Grey historische Liebesromane. Und sie schrieb sie nicht nur, sondern hatte auch noch Erfolg damit und dachte gar nicht daran aufzuhören.

Schon seit Clare alt genug war, um Sätze zu bilden, hatte sie Geschichten erfunden. Geschichten über einen Fantasiehund namens Chip oder eine Hexe, die ihrer Meinung nach auf dem Dachboden der Nachbarn hauste. Es dauerte nicht lange, bis sich Clares romantische Ader und ihre Liebe zum Schreiben vereinten und Chip eine Freundin fand, die Pudeldame Suzie, und die Hexe auf dem Dachboden der Nachbarn einen Hexer ehelichte, der Billy Idol in seinem White Wedding-Video wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Vor vier Jahren war ihr erster historischer Liebesroman erschienen, und ihre Mutter hatte sich bis heute nicht von dem Schock und der Schande erholt. Bis zu dem Statesman-Artikel hatte Joyce den Leuten noch weismachen können, dass Clares Berufswahl nur eine vorübergehende Phase war und dass sie irgendwann, wenn sie ihre Faszination für »Schund« überwunden hatte, »richtige Bücher« schreiben würde.

Literatur, die der Wingate-Bibliothek würdig wäre.

Im Becherhalter zwischen den Autositzen klingelte Clares Handy. Sie nahm es in die Hand, sah, dass ihre Freundin Maddie anrief, und legte es wieder zurück. Sie wusste, dass Maddie sich wahrscheinlich Sorgen um sie machte, hatte aber keine Lust zu reden. Jede ihrer drei engsten Freundinnen war die beste Gesellschaft, die man sich vorstellen konnte, und später würde sie auch mit ihnen sprechen, nur jetzt nicht.

Sie wusste nicht, wie viel Maddie über den Vorabend wusste, aber Maddie schrieb über wahre Verbrechen und witterte immer irgendwo einen psychotischen Killer. Adele meinte es genauso gut. Sie schrieb Fantasy-Romane und hatte die Neigung, andere mit bizarren Geschichten aus ihrem Privatleben aufzuheitern, doch Clare hatte im Moment keine Lust, sich aufheitern zu lassen. Dann war da noch Lucy, die gerade geheiratet hatte. Vor Kurzem hatte ein großes Filmstudio die Rechte an der Verfilmung von Lucys neuestem Krimi erworben. Und Clare wusste, dass Lucy es jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte, wenn sie sie durch ihre eigenen Probleme auch nur um einen Hauch ihres Glücks brachte.

Sie bog in den Crescent Rim Drive ein und fuhr an Häusern mit Blick auf die Parks und die Stadt vorbei. Je näher sie ihrem Haus kam, in dem sie mit Lonny wohnte, desto schlechter wurde ihr. Als sie in die Auffahrt zu dem hellblau-weißen Haus im viktorianischen Stil bog, in dem sie seit fünf Jahren lebte, konnte sie die schmerzlichen Gefühle nicht länger zurückhalten. Tränen schossen ihr in die Augen.

Obwohl sie wusste, dass es mit Lonny aus war, liebte sie ihn. Zum zweiten Mal an diesem Morgen legte sich ein Déjà-vu-Gefühl wie ein Schraubstock um ihren Schädel und ließ sich schwer auf ihrer Brust nieder.

Wieder hatte sie sich in den falschen Mann verliebt.

Wieder hatte sie ihr Herz an einen Mann verschenkt, der sie nicht so lieben konnte wie sie ihn. Und wie bei den anderen Malen in der Vergangenheit hatte sie sich einem Fremden an den Hals geworfen, als die Beziehung in die Brüche ging. Auch wenn Sebastian genau genommen kein Fremder war – aber das spielte keine Rolle. Es machte das, was sie getan hatte, sogar noch schlimmer.

Wieder hatte sie sich selbstzerstörerisch verhalten und war von sich selbst angewidert.

Zwei

Sebastian Vaughan zog sich sein weißes T-Shirt über den Kopf und stopfte es in seine Jeans. So viel zu guten Taten, dachte er, als er seinen BlackBerry von der Couch nahm. Er schaute auf das Display und sah, dass er sieben E-Mails und zwei Anrufe in Abwesenheit hatte. Er schob das Gerät in die Gesäßtasche seiner Levi’s und nahm sich vor, das später zu erledigen.

Er hätte es besser wissen müssen und Clare Wingate nicht helfen sollen. Das letzte Mal, als er ihr geholfen hatte, hatte er ganz schön in der Patsche gesessen.

Sebastian ging zum Nachttisch, schnappte sich seine Seiko und schaute auf das schwarze Zifferblatt mit dem integrierten Kompass und Kilometerzähler. Wegen des Zeitzonenwechsels musste er die Uhr aus rostfreiem Stahl noch umstellen. Er drehte die Zeiger eine Stunde vor und dachte an seine letzte Begegnung mit Clare zurück. Sie musste etwa zehn gewesen sein und war ihm zu einem Teich ganz in der Nähe des Kutschenhauses gefolgt, in dem sein Vater wohnte. Er hatte ein Netz dabei, um Frösche und Kaulquappen zu fangen, und sie stand am Ufer unter einer riesigen Pappel, während er ins Wasser watete und sich an die Arbeit begab.

»Ich weiß, wie Babys gemacht werden«, hatte sie stolz verkündet und durch dicke Brillengläser, die ihre hellblauen Augen vergrößerten, zu ihm herabgeschaut. Ihr dunkles Haar war wie immer auf dem Hinterkopf zu festen Zöpfen geflochten. »Der Dad küsst die Mom, und dabei kommt ein Baby in ihren Bauch.«

Sebastian hatte bereits zwei Stiefväter und diverse Freunde seiner Mutter hinter sich und wusste genau, wie Babys gemacht wurden. »Wer hat dir das denn erzählt?«

»Meine Mutter.«

»Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe«, hatte er sie informiert und Clare prompt über alles aufgeklärt, was er wusste. Mithilfe von Fachausdrücken hatte er ihr erläutert, wie Sperma und Eizelle im Körper der Frau zusammenkamen.

Hinter ihrer Brille hatten sich Clares große Augen mit Entsetzen gefüllt. »Das ist nicht wahr!«

»Ist es wohl.« Dann hatte er noch seinen eigenen Senf dazugegeben. »Sex ist laut, und Frauen und Männer machen es oft.«

»Nie im Leben!«

»Und ob. Sie tun es ständig. Sogar, wenn sie keine Babys wollen.«

»Warum?«

Er hatte mit den Schultern gezuckt und ein paar Kaulquappen gefangen. »Es fühlt sich anscheinend gut an.«

»Igitt!«

Im Jahr zuvor hatte er das auch noch ziemlich eklig gefunden. Doch seit er vergangenen Monat zwölf geworden war, hatte er seine Meinung über Sex geändert und war eher neugierig als angewidert.

Er erinnerte sich, dass die Zeichen auf Sturm gestanden hatten, als Mrs. Wingate von seinem Aufklärungsunterricht erfahren hatte. Er hatte seine Sachen packen müssen und war mit Schimpf und Schande früher als geplant nach Washington zurückgeschickt worden. Seine Mutter war über diese rüde Behandlung so außer sich gewesen, dass er nicht mehr nach Idaho hatte fahren dürfen. Von da an war sein Vater gezwungen gewesen, ihn in der Stadt zu besuchen, in der seine Mutter und er gerade lebten. Doch das Verhältnis seiner Eltern hatte sich immer weiter verschlechtert, bis zwischen ihnen nur noch Verbitterung herrschte. Daher hatte es in seinem Leben Jahre gegeben, in denen sein Vater gar nicht präsent gewesen war, riesige Zeitlöcher, in denen er Leo überhaupt nicht zu Gesicht bekommen hatte.

Wenn er sein aktuelles Verhältnis zu seinem alten Herrn beschreiben sollte, würde er sagen, dass es so gut wie nicht vorhanden war. In seinem Leben hatte es sogar Phasen gegeben, in denen er Clare die Schuld an der ganzen Misere gegeben hatte.

Sebastian ließ die Uhr an seinem Handgelenk zuschnappen und schaute sich nach seiner Brieftasche um. Er sah sie auf dem Boden liegen und bückte sich, um sie aufzuheben. Er hätte Clare gestern Abend auf dem Barhocker sitzen lassen sollen, sagte er sich. Sie hatte drei Plätze weiter gesessen, und wenn er nicht gehört hätte, wie sie dem Barkeeper ihren Namen nannte, hätte er sie gar nicht erkannt. Als Kind hatte er immer gefunden, dass sie mit den großen Augen und dem riesigen Mund aussah wie eine Karikatur. Gestern Abend hatte sie keine große, dicke Brille getragen, doch als er in ihre hellblauen Augen geschaut und die vollen Lippen und das dunkle Haar gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass sie es war. Der Kontrast zwischen hell und dunkel, der bei einem Kind außergewöhnlich gewesen war, hatte sie zu einer atemberaubenden Frau gemacht. Die Lippen, die an einem Mädchen zu voll gewirkt hatten, verleiteten ihn jetzt zu der Frage, was für Kunststücke sie als Erwachsene damit anstellen konnte. Sie war zu einer wunderschönen Frau herangewachsen, doch in der Sekunde, in der er sie erkannte, hätte er sie, weinerlich und traurig wie sie war, sich selbst überlassen sollen. Oder irgendeinem anderen Trottel. Verdammter Mist. Auf so was konnte er echt verzichten.

»Da versucht man nur ein einziges Mal, das Richtige zu tun …«, murmelte er verärgert und schob die Brieftasche in seine Gesäßtasche. Er hatte Clare bis zu ihrer Hotelzimmertür gebracht, damit sie dort auch ankam, und sie hatte ihn hineingebeten. Er war geblieben, während sie noch eine Runde geflennt hatte, und als sie umkippte, hatte er sie ins Bett gesteckt. Wie ein verdammter Heiliger, dachte er. Doch dann hatte er einen taktischen Fehler begangen.

Es war gegen halb zwei morgens, und als er Clare zudeckte, wurde ihm klar, dass er sich ein paar Dos-Equis-Bier und Tequila aus ihrer Minibar zu viel hinter die Binde gekippt hatte. Statt eine Übernachtung im Kittchen von Boise zu riskieren, hatte er beschlossen, noch zu bleiben und ein bisschen fernzusehen, bis er wieder nüchtern war. Immerhin hatte er sich schon eine Höhle mit Guerilla-Führern und einen Abrams-Panzer mit Marineinfanteristen geteilt. Er war zahllosen Storys nachgejagt und von aufgebrachten Polygamisten durch die Wüste von Arizona gehetzt worden. Da würde er doch wohl noch mit einer bewusstlosen, voll bekleideten, nach Gin stinkenden Besoffenen fertig werden. Kein Problem. Wär ja gelacht.

Also hatte er seine Schuhe von sich gekickt, sich ein paar Kissen in den Rücken gestopft und nach der Fernbedienung gegriffen. In letzter Zeit schlief er kaum, und er war hellwach, als sie plötzlich aufstand und anfing, mit ihrem Kleid zu kämpfen. Ihr dabei zuzusehen, war viel unterhaltsamer als der Golden Girls-Marathon im Fernsehen, und er hatte die Vorführung genossen, als sie sich bis auf einen pinkfarbenen String-Tanga und ein beigefarbenes Verhütungspflaster auszog. Wer hätte gedacht, dass das Mädchen mit der dicken Brille und den unerbittlich festgezurrten Zöpfen als Erwachsene im Stripper-Geschirr eine so gute Figur machen würde?

Er durchquerte den Raum und setzte sich auf die Couch. Seine Schuhe lagen auf dem Boden, und er quetschte die Füße hinein, ohne die Schnürsenkel aufzubinden. Als er das letzte Mal auf die Uhr geschaut hatte, war es Viertel nach fünf gewesen. Irgendwann während der vierten Staffel der Golden Girls musste er eingenickt sein, und als er ein paar Stunden später aufwachte, lag Clare mit ihrem kleinen nackten Hintern eng an seinem zugeknöpften Hosenschlitz und mit dem Rücken an seiner Brust, während seine Hand sich um ihre nackte Brust schmiegte, als wären sie ein Liebespaar.

Er war mit einem schmerzhaft harten Ständer aufgewacht, zu allem bereit, doch hatte er sich ihr unsittlich genähert? Die Situation ausgenutzt? Nein, verdammt! Sie hatte einen tollen Körper und einen Mund, der für die Sünde gemacht war, doch er hatte sie nicht angerührt. Tja, abgesehen von ihrer Brust, aber das war nicht seine Schuld. Er hatte im Schlaf erotische Träume gehabt. Doch im Wachzustand hatte er sie nicht angefasst. Stattdessen hatte er kalt geduscht, um wieder runterzukommen, und was hatte er davon? Sie hatte ihn trotzdem beschuldigt, Sex mit ihr gehabt zu haben. Klar, er hätte sie in jeder nur denkbaren Position vögeln können, bis der Arzt kam. Hatte er aber nicht. So einer war er nicht. War er noch nie gewesen; nicht mal, wenn die Frau ihn anbettelte. Er mochte seine Frauen lieber zurechnungsfähig, und es gefiel ihm gar nicht, dass sie ihm unterstellte, die Situation ausgenutzt zu haben. Daher hatte er sie mit voller Absicht in dem Glauben gelassen. Er hätte die Sache sofort klarstellen können, hatte es aber vorgezogen zu lügen, damit sie sich mies fühlte. Und er hatte deshalb kein schlechtes Gewissen. Nicht mal ansatzweise.

Sebastian stand auf und sah sich ein letztes Mal im Raum um, warf noch einen Blick auf das große Bett und die zerknitterten Laken. Im hereinströmenden Sonnenlicht erregte ein Funkeln seine Aufmerksamkeit. Er ging zum Bett und nahm einen Diamantohrstecker von Clares Kissen. Auf seiner Handfläche glitzerten mindestens zwei Karat, und einen kurzen Moment fragte er sich, ob der Stein echt war. Dann lachte er spöttisch und ließ ihn in die Hosentasche seiner Levi’s gleiten. Klar war der echt. Frauen wie Clare Wingate trugen keine Imitate. Er war in seinem Leben weiß Gott mit genug reichen Weibern ausgegangen, um zu wissen, dass sie sich lieber die Kehle durchschneiden würden, als Fakes zu tragen.

Er schaltete den Fernseher aus, räumte das Zimmer und verließ das Hotel. Er wusste noch nicht, wie lange er in Boise bleiben würde. Verdammt, bis zu dem Moment, als er anfing zu packen, hatte er gar nicht vorgehabt, seinen Vater zu besuchen. Gerade noch hatte er seine Notizen für einen Artikel für Newsweek über einheimische Terroristen geordnet, und plötzlich war er aufgesprungen und hatte nach seinem Koffer gegriffen.

Sein schwarzer Landcruiser parkte gleich neben dem Eingang, wo er ihn am Abend zuvor abgestellt hatte, und er stieg ein. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Er hatte beim Schreiben einer Story noch nie Probleme gehabt. Nicht in diesem Stadium. Nicht, wenn seine Notizen geordnet waren und er das verdammte Ding nur noch runterhämmern musste. Doch jeder Versuch endete damit, dass er totalen Unsinn schrieb und die Löschtaste drückte. Zum ersten Mal überhaupt hatte er Angst, einen Abgabetermin nicht einhalten zu können.

Auf dem Armaturenbrett lag seine Ray-Ban, und er griff danach. Er war nur müde. Er war fünfunddreißig und so verdammt müde. Er setzte die Sonnenbrille auf und ließ den Motor des Geländewagens an. Er war jetzt seit zwei Tagen in Boise, nachdem er von Seattle nonstop durchgefahren war. Wenn er nur mal genug Schlaf kriegen würde – acht Stunden am Stück sollten reichen … Doch noch während er sich einredete, dass das alles war, was er brauchte, wusste er, dass es Quatsch war. Er war schon mit viel weniger Schlaf ausgekommen und hatte seine Arbeit trotzdem erledigt; selbst bei Sandstürmen oder Unwettern (einmal, im Südirak, hatte er sogar beides gleichzeitig erlebt) war es ihm immer gelungen, seine Arbeit fertigzukriegen und seine Termine einzuhalten.

Es war noch nicht mal Mittag, und die Temperatur in Boise betrug schon neunundzwanzig Grad, als er vom Parkplatz fuhr. Er stellte die Klimaanlage an und richtete das Gebläse auf sein Gesicht. Letzten Monat hatte er sich von Kopf bis Fuß durchchecken lassen. Von Grippe bis HIV war er auf alles untersucht worden. Er war vollkommen gesund. Körperlich fehlte ihm nichts.

Auch mental hatte er keine Probleme. Er liebte seinen Beruf. Er hatte sich den Hintern aufgerissen, um dahin zu kommen, wo er jetzt war. Hatte sich jeden Zentimeter erkämpft und war einer der erfolgreichsten Journalisten des Landes. Es gab nicht viele Kerle wie ihn. Männer, die es nicht durch ihre Herkunft, die richtigen Beziehungen oder einen Abschluss in Columbia oder Princeton an die Spitze geschafft hatten, sondern allein durch ihre Leistung. Klar, sein Talent und seine Leidenschaft für den Journalismus hatten auch eine Rolle gespielt, doch vor allem hatte er es durch seine Zähigkeit und die hundertprozentige Entschlossenheit geschafft, die durch seine Adern floss. Man hatte ihm schon vorgeworfen, ein arrogantes Arschloch zu sein, was wahrscheinlich sogar stimmte. Am meisten ärgerte seine Kritiker jedoch, dass diese Wahrheit ihn nicht um den Schlaf brachte.

Nein, ihn hielt etwas anderes wach. Etwas, das ihn aus dem Hinterhalt getroffen hatte. Er hatte die ganze Welt bereist und lebte in ständiger Verblüffung über das Erlebte. Er hatte über so vielfältige Themen wie prähistorische Kunst in den Höhlen von Ostborneo bis hin zu Lauffeuern in Colorado berichtet. Er hatte die Seidenstraße bereist und auf der Chinesischen Mauer gestanden. Er hatte das Privileg gehabt, gewöhnliche und außergewöhnliche Menschen zu treffen, und jede Minute genossen. Wenn er einen Moment innehielt, um sein Leben Revue passieren zu lassen, war er immer wieder aufs Neue erstaunt.

Klar, er hatte auch so manche üble Situation erlebt. Er war beim Ersten Bataillon des Fünften Marineinfanterie-Regiments eingebettet gewesen, als es dreihundert Meilen in den Irak und bis nach Bagdad vorgedrungen war. Er war mit einem vorgehaltenen Speer bedroht worden und kannte die Geräusche kämpfender Männer, die vor seinen Augen starben. Er kannte den Geschmack von Angst und Kordit in seinem Mund.

Er kannte den Geruch von Hungersnot und Gewalt, hatte die Flammen des Fanatismus in den Augen von Selbstmordattentätern brennen sehen und die Hoffnungen tapferer Männer und Frauen, die entschlossen waren, für sich selbst und ihre Familien einzutreten. Verzweifelte Menschen, die ihn ansahen, als könnte er sie retten, doch das Einzige, was er für sie tun konnte, war, ihre Geschichte zu erzählen. Darüber zu berichten und die Welt darauf aufmerksam zu machen. Doch das reichte nicht. Es reichte nie. Wenn es hart auf hart kam, war es der Welt scheißegal, es sei denn, es geschah vor der eigenen Haustür.

Zwei Jahre vor dem 11. September hatte er einen Artikel über die Taliban und die strenge Auslegung der Scharia unter der Führung von Mullah Muhammad Omar geschrieben. Er hatte von den öffentlichen Exekutionen und Auspeitschungen unschuldiger Zivilisten berichtet, während die mächtigen Nationen – die Verfechter der Demokratie – dabeistanden und tatenlos zusahen. Er hatte ein Buch mit dem Titel Zersplittert: Zwanzig Jahre Krieg in Afghanistan über seine Erfahrungen und die daraus folgenden Konsequenzen für eine Welt geschrieben, die wegschaute. Das Buch war von den Kritikern gelobt worden, doch die Verkaufszahlen waren bescheiden gewesen.

All das hatte sich an einem klaren, blauen Septembertag geändert, als Terroristen vier kommerzielle amerikanische Verkehrsflugzeuge entführten, und plötzlich richteten die Menschen ihre Aufmerksamkeit auf Afghanistan und die Gräueltaten, die von den Taliban im Namen des Islam begangen wurden.

Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Buches erreichte es die Nummer eins der Bestseller-Listen, und plötzlich war er ein gefragter Mann. Alle Medien vom Boston Globe bis zu Good Morning America rissen sich um ein Interview mit ihm. Ein paar hatte er gegeben, die meisten Anfragen jedoch abgelehnt. Er machte sich nichts aus dem Scheinwerferlicht, auch nichts aus Politik und Politikern. Er war im Wählerverzeichnis als Unabhängiger registriert und ein typischer Wechselwähler. Ihm lag am Herzen, die Wahrheit aufzudecken und sie der Welt zu zeigen. Das war sein Job. Er hatte sich, manchmal mit Hauen und Stechen, an die Spitze gekämpft, und er liebte seine Arbeit.

Doch in letzter Zeit fiel sie ihm nicht mehr so leicht. Seine Schlaflosigkeit laugte ihn physisch und psychisch aus. Er merkte, wie ihm alles, wofür er so hart gearbeitet hatte, entglitt. Wie das Feuer in ihm schwächer wurde. Je heftiger er dagegen ankämpfte, desto schwächer wurde es, und das ängstigte ihn zutiefst.

Für die Autofahrt vom Double-Tree-Hotel, für die ein Einheimischer fünfzehn Minuten gebraucht hätte, brauchte er eine Stunde. Er bog falsch ab und gurkte orientierungslos in den Gebirgsausläufern umher, bis er sich seine Niederlage eingestand und die Koordinaten in das Navigationssystem des Geländewagens eingab. Er benutzte das GPS nur ungern und tat lieber so, als würde er es nicht brauchen. Navigationssysteme waren was für Waschlappen. Genau wie anhalten und nach dem Weg fragen. Er fragte nicht mal im Ausland gern nach dem Weg. Es war zwar ein Klischee, aber eins, das auf ihn zutraf. Genau, wie er es hasste, einzukaufen und Frauen weinen zu sehen. Er würde so gut wie alles tun, um eine Frau vom Weinen abzuhalten. Manche Sachen waren Klischees, dachte er, weil sie eben doch meist zutrafen.

Es war so gegen elf, als er in die Zufahrt zum Herrenhaus der Wingates bog und an dem dreistöckigen Haus vorbeifuhr, das vorwiegend aus Kalkstein bestand, der von Sträflingen aus dem alten Gefängnis ein paar Meilen weiter oben an der Straße gehauen worden war. Er erinnerte sich noch an das erste Mal, als er das imposante Gebäude gesehen hatte. Damals war er etwa fünf gewesen und hatte geglaubt, in den dunklen Steinmauern müsse eine riesige Familie leben. Entsetzt hatte er zur Kenntnis genommen, dass dort nur zwei Menschen wohnten: Mrs. Wingate und ihre Tochter Claresta.

Sebastian fuhr weiter bis hinters Haus und parkte vor der steinernen Garage. Joyce Wingate und sein Vater standen im Garten und deuteten auf Reihen aus Rosenbüschen. Sein Vater trug wie immer ein gestärktes beigefarbenes Hemd, eine braune Hose und einen hellbraunen Panamahut, der sein dunkles, langsam grau werdendes Haar bedeckte. Urplötzlich hatte er eine deutliche Erinnerung daran, wie er seinem Vater in diesem Garten geholfen hatte. Wie er im Dreck gewühlt und mit einem kleinen Spaten Spinnen totgeschlagen hatte. Es hatte einen Riesenspaß gemacht. Damals hatte er zu ihm aufgesehen wie zu einem Superhelden, hatte jedes seiner Worte aufgesogen, ob er nun über Mulch, übers Fischen oder darüber gesprochen hatte, wie man einen Drachen steigen ließ. Doch all das hatte abrupt geendet, und lange Jahre waren Bitterkeit und Enttäuschung anstelle der Heldenverehrung getreten.

Nach seinem Highschool-Abschluss hatte sein Vater ihm ein Flugticket nach Boise geschickt. Er hatte es nicht genutzt. In seinem ersten Studienjahr an der University of Washington hatte er ihn besuchen wollen, doch Sebastian hatte abgelehnt. Er hatte keine Zeit für einen Vater, der keine Zeit für ihn gehabt hatte. Als er die Uni abschloss, war das Verhältnis seiner Eltern so vergiftet gewesen, dass er Leo gebeten hatte, nicht an der Feier teilzunehmen.

Nach dem Studium war er mit dem Aufbau seiner Karriere beschäftigt gewesen. Viel zu beschäftigt, um innezuhalten und sich Zeit für seinen Vater zu nehmen. Er hatte ein Praktikum bei der Seattle Times gemacht, mehrere Jahre für die Associated Press gearbeitet und Hunderte Artikel in freier Mitarbeit geschrieben.

Sebastians Leben als Erwachsener war stets ungebunden gewesen. Frei. Er war ohne jede Bindung durch die Welt gezogen, die ihn hätte einschränken oder behindern können. Er hatte sich den armen Trotteln immer überlegen gefühlt, die gelegentlich eine Pause machen mussten, um über Satellitentelefon zu Hause anzurufen. Ihn hatte nie irgendetwas abgelenkt. Er war beharrlich, entschlossen und hoch konzentriert gewesen.

Seine Mutter hatte ihn bei allem, was er tat, unterstützt. Sie war sein größter Fan gewesen. Er hatte sie zwar nicht so oft gesehen, wie er gewollt hätte, doch sie hatte das immer verstanden. Wenigstens hatte sie das behauptet.

Sie war seine Familie gewesen. Sein Leben war ausgefüllt. Sein Vater und er hingegen kannten sich nicht wirklich, und er hatte auch nie den Wunsch verspürt, ihn wiederzusehen. Sollte er irgendwann in der Zukunft das Bedürfnis haben, den Kontakt zu seinem Vater wiederaufzunehmen – vielleicht mit Ende vierzig, wenn es Zeit war, einen Gang zurückzuschalten –, hätte er schließlich noch Zeit genug dafür.

All das änderte sich an dem Tag, an dem er seine Mutter beerdigte.

Er war in Alabama gewesen, in Recherchen vertieft, als er den Anruf erhielt, dass sie tot war. Sie war nachmittags beim Beschneiden ihrer Klematis von einem Tritthocker gestürzt. Keinerlei Fraktur, Schnitt- oder Schürfwunde. Nur ein Bluterguss am Bein. Noch in derselben Nacht war sie allein in ihrem Bett an einer Embolie gestorben. Sie war erst vierundfünfzig gewesen.

Er war nicht bei ihr gewesen. Hatte nicht mal von dem Sturz gewusst. Zum ersten Mal im Leben fühlte er sich wirklich allein. Jahrelang war er durch die Welt gezogen und hatte sich frei von jeder Bindung gewähnt. Der Tod seiner Mutter hatte seine Leinen wirklich gekappt, und zum ersten Mal im Leben wusste er, wie es war, tatsächlich ungebunden zu sein. Er wusste auch, dass er sich selbst etwas vorgemacht hatte. Er war nicht ohne Bindung durch die Welt gezogen. Sie war da gewesen. Die ganze Zeit. Hatte seinem Leben Stabilität gegeben. Bis jetzt.

Er hatte noch einen lebenden Verwandten. Nur einen. Einen Vater, den er kaum kannte. Verdammt, sie kannten sich eigentlich gar nicht. Daran war niemand schuld, es war einfach so. Aber vielleicht war es Zeit, das zu ändern. Zeit, ein paar Tage mit seinem alten Herrn zu verbringen und wieder Kontakt zu knüpfen. Es würde bestimmt nicht allzu lange dauern. Er erwartete keine kitschige Versöhnungsszene. Nur ein ungezwungenes Miteinander, frei von den Spannungen, die zwischen ihnen herrschten.

Er stieg aus dem Landcruiser und lief über den dichten grünen Rasen zum Blumengarten mit seinem Feuerwerk aus Farben. Sebastian dachte an den Diamantohrstecker in seiner Tasche. Er erwog, ihn Mrs. Wingate zu überreichen, damit sie ihn an Clare zurückgab. Dazu müsste er erklären, wo er ihn gefunden hatte, und beim Gedanken daran musste er grinsen.

»Hallo, Mrs. Wingate«, begrüßte er die ältere Dame, als er näher kam. Als Jugendlicher hatte er Joyce Wingate gehasst. Er hatte ihr die Schuld an seiner sporadischen und unbefriedigenden Beziehung zu seinem Vater gegeben. Diese Phase hatte er etwa zur gleichen Zeit überwunden, als er aufhörte, Clare die Schuld zuzuschieben. Nicht, dass er inzwischen Zuneigung für Joyce empfand. Er empfand überhaupt nichts für sie. Bis zu jenem Morgen hatte er auch nichts für Clare empfunden. Jetzt schon, aber es waren keine positiven Empfindungen.

»Hallo, Sebastian«, antwortete sie und legte eine rote Rose in einen Korb, der in ihrer Armbeuge hing. Mehrere Rubin- und Smaragdringe schlackerten an ihren knöcherigen Fingern. Sie trug eine cremefarbene Hose, eine lavendelblaue Bluse und einen riesigen Strohhut. Joyce war schon immer extrem dürr gewesen. Die Art von Dürre, die davon herrührte, dass sie alles in ihrem Leben unter Kontrolle hatte. Ihre scharfen Gesichtszüge dominierten ihr großes Gesicht, und ihr breiter Mund war normalerweise missbilligend verkniffen. War er zumindest immer gewesen, wenn er in der Nähe war, und ihm drängte sich die Frage auf, ob es an ihrem säuerlichen Charakter oder ihrer herrschsüchtigen Art lag, dass Mr. Wingate immer schön an der Westküste geblieben war.

Wahrscheinlich an beidem.

Joyce war noch nie eine attraktive Frau gewesen, auch nicht, als sie jünger war. Doch wenn jemand eine Pistole an Sebastians Schläfe drücken und ihn zwingen würde, etwas Nettes über sie zu sagen, könnte er vorbringen, dass ihre Augen von einem interessanten Hellblau waren. Wie die Schwertlilien, die am Rand ihres Gartens wuchsen. Wie die Augen ihrer Tochter. Die harten Gesichtszüge der Mutter waren im Gesicht der Tochter weniger ausgeprägt und viel weiblicher. Clares volle Lippen machten die Linien ihres Mundes weicher, und sie hatte eine zierlichere Nase geerbt, doch die Augen waren dieselben.

»Ihr Vater sagt, Sie wollen ihn bald schon wieder verlassen«, bemerkte sie. »Es ist schade, dass Sie sich nicht überreden lassen, noch länger zu bleiben.«

Sebastian schaute von der Rose in Joyces Korb auf in ihr Gesicht. In Augen, die in seiner Kindheit blaue Flammen auf ihn abgefeuert hatten. Eine riesige Hummel schaukelte auf einer leichten Brise vorbei, und Joyce wedelte sie fort. Das Einzige, was er heute in ihren Augen sah, war höfliches Interesse.

»Ich versuche, ihn dazu zu überreden, wenigstens noch die nächste Woche zu bleiben«, erklärte sein Vater, zog ein Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. Leo Vaughan war ein paar Zentimeter kleiner als Sebastian, und sein einst braunes Haar verfärbte sich zu einem zweifarbigen Grau. Um seine Augenwinkel hatten sich tiefe Falten eingegraben. Seine Augenbrauen waren in den letzten Jahren buschig geworden, und seine »Zwanzig-Minuten-Nickerchen« dauerten jetzt eher eine Stunde. Ende der Woche wurde Leo fünfundsechzig, und Sebastian fiel auf, dass sich sein Vater im Garten der Wingates nicht mehr so mühelos bewegte wie in seiner Erinnerung. Nicht, dass er viele Erinnerungen an seinen Vater gehabt hätte. Ein paar Monate hier und ein Wochenende da legten nicht gerade den Grundstein für zahlreiche Kindheitserinnerungen, doch eines, woran er sich ganz klar erinnerte, waren die Hände seines Vaters. Sie waren groß und stark genug gewesen, um kleine Äste und Bretter durchzubrechen, und sanft genug, um seinem Jungen die Schulter zu tätscheln und über den Rücken zu streicheln. Trocken und rau, die Hände eines fleißigen Mannes. Doch jetzt waren sie vom Alter und der harten Arbeit fleckig, und die Haut über seinen verdickten Fingerknöcheln war schlaff.

»Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich noch bleibe«, sagte er, unfähig, sich auf irgendetwas festzulegen. Stattdessen wechselte er das Thema. »Gestern Abend bin ich Clare über den Weg gelaufen.«

Joyce bückte sich, um noch eine Rose abzuschneiden. »Ach ja?«

»Wo denn?«, erkundigte sich sein Vater, während er das Taschentuch wieder einsteckte.

»Ich hab mich mit einem alten Studienfreund in der Bar im Double Tree getroffen. Er war dort, um über eine Spendenaktion für Kinderdörfer zu berichten, und Clare sagte, sie wäre auf einem Hochzeitsempfang gewesen.«

»Ja, ihre Freundin Lucy hat gestern geheiratet.« Joyce nickte, und ihr großer Hut senkte sich. »Es dauert nicht mehr lange, bis auch Clare ihren jungen Mann heiratet. Lonny. Sie sind sehr glücklich zusammen. Sie planen, die Hochzeit nächsten Juni hier im Garten abzuhalten. Die Blumen werden in voller Blüte stehen, und es wird zu dieser Jahreszeit einfach herrlich sein.«

»Ja, ich glaube, sie hat Lonny erwähnt.« Offensichtlich war Joyce nicht ganz auf dem neuesten Stand. Es folgte ein betretenes Schweigen, aber vielleicht empfand auch nur er es so, weil er wusste, dass es keine Hochzeit im Juni geben würde. »Ich hatte keine Gelegenheit, Clare zu fragen, was sie beruflich macht«, sagte er, um das Schweigen zu überbrücken.

Joyce wandte sich ihren Rosen zu. »Sie schreibt Romane, aber anders als Ihr Buch.«

Er wusste nicht, was ihn mehr schockierte: dass Mrs. Wingate so gut über ihn informiert war, dass sie wusste, dass er ein Buch geschrieben hatte, oder dass Clare Schriftstellerin war. »Wirklich?« Er hätte gedacht, sie sei beruflich im Wohltätigkeitsbereich unterwegs, wie ihre Mutter, doch er hatte eine vage Erinnerung daran, dass sie ihm langweilige Geschichten über einen Fantasiehund erzählt hatte. »Was schreibt sie denn? Frauenliteratur?«, fragte er.

»So was Ähnliches«, antwortete Joyce, und die alten blauen Flammen, die er so gut kannte, loderten wieder in ihren Augen auf …

Erst später, als Sebastian und sein Vater allein zu Abend aßen, fragte er ihn: »Was macht Clare denn nun wirklich beruflich?«

»Sie schreibt Romane.«

»Das hab ich schon kapiert. Was denn für Romane?«

Leo schob Sebastian eine Schüssel mit grünen Bohnen hin. »Liebesromane.«

Seine Hand hielt in der Bewegung inne, als er nach der Schüssel griff. Die kleine Claresta? Das Mädchen, das glaubte, man würde vom Küssen schwanger? Die merkwürdig aussehende Kleine mit der dicken Brille, die zu einer wunderschönen Frau geworden war? Die wunderschöne Frau, die einen knappen pinkfarbenen Tanga trug und darin verdammt gut aussah? Autorin von Liebesromanen? »Ohne Quatsch?«

»Joyce ist nicht glücklich darüber.«

Er nahm die Schüssel hoch und fing an zu lachen. Ohne Quatsch.

Drei

»Er hat gesagt, es hätte nichts zu bedeuten«, jammerte Clare und nahm einen Schluck Kaffee. »Als wäre es in Ordnung, weil er den Sears-Servicetechniker nicht liebt. Das ist dieselbe Entschuldigung, die mein dritter Freund vorgebracht hat, als ich ihn mit einer Stripperin erwischte.«

»Scheißkerl!«, fluchte Adele und rührte Milchpulver mit Mandelgeschmack in ihre Tasse.

»Ob schwul oder hetero«, lautete Maddies Gesprächsbeitrag, »alle Männer sind Schweine.«

»Das Schlimmste daran ist, dass er Cindy mitgenommen hat«, jammerte Clare weiter und meinte den Yorkshire-Terrier, den sie und Lonny sich letztes Jahr gemeinsam angeschafft hatten. Während Lonny seine Sachen packte, hatte sie geduscht und sich endlich des bekloppten Brautjungfernkleids entledigt. Einige der Gegenstände im Haus gehörten einzig und allein ihm oder waren gemeinsam erworben worden. Die konnte er alle haben; sie legte keinen Wert auf Erinnerungsstücke. Aber dass er warten würde, bis sie unter der Dusche war, um sich mit Cindy aus dem Staub zu machen, war ihr nicht im Traum eingefallen.

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