Ein Mann für alle Nächte - Rachel Gibson - E-Book
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Ein Mann für alle Nächte E-Book

Rachel Gibson

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Beschreibung

"Miss Vivien ... lange nicht gesehen." Bei diesen Worten bekommt Vivien Leigh Rochet weiche Knie. Henry Whitley-Shuler, der Albtraum ihrer Kindheit, steht vor ihr. Sie war das Mädchen, das sein Haus putzte, er war der unerträgliche Sohn reicher Eltern. Damals hatte Vivien sich geschworen, etwas aus sich zu machen und aus Charleston rauszukommen. Sie hat es geschafft – als Hollywoodstar kehrt sie in ihre Heimatstadt zurück. Sie ist eine glamouröse, erwachsene Frau, Henry sollte sie nicht aus der Ruhe bringen können. Warum nur fühlt Vivien sich dann wieder genauso wie das unbedarfte Mädchen von damals?

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Seitenzahl: 376

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Buch

Vivien Leigh Rochet hat Henry Whitley-Shuler seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie war ein schüchternes Mädchen, das Häuser putzte, er war der unerreichbare Sohn reicher Eltern. Sie kamen aus verschiedenen Welten. Damals hatte Vivien sich geschworen, aus Charleston herauszukommen, etwas aus sich zu machen. Und sie hat ihre Ziele erreicht. Als großer Hollywoodstar kehrt die Südstaatenschönheit in ihre Heimatstadt zurück. Aber warum fühlt sich ihr glamouröses Leben so leer an?

Und auch Henry hat sich an der Wall Street einen Namen gemacht, doch ein dramatisches Ereignis zwang ihn, New York den Rücken zu kehren. Das Letzte, was er braucht, ist wieder der Frau zu begegnen, die er damals schon nicht ausstehen konnte. Er sucht nicht nach Liebe – aber der erwachsenen Vivien zu widerstehen stellt sich als schwierig heraus …

Weitere Informationen zu Rachel Gibson

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

RACHEL GIBSON

Ein Mann

für alle Nächte

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Antje Althans

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Just Kiss Me« bei Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
Die Übersetzerin dankt dem Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen für die Unterstützung der übersetzerischen Arbeit.
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Rachel Gibson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München Redaktion: Sigrun Zühlke MR · Herstellung: Str. Satz: omnisatz GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-19508-3 V003
www.goldmann-verlag.de
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WIDMUNG

Ein Riesendankeschön an meine Leserinnen, die mich in den letzten achtzehn Jahren unterstützt haben. Ich kann nicht alle Mails beantworten, aber Ihr sollt wissen, dass ich es zu schätzen weiß, dass Ihr Euch die Zeit nehmt, mir zu schreiben. Ihr seid fantastisch!

Mein besonderer Dank gilt Lucia Macro und Claudia Cross, die quer durchs Land geflogen sind, um mir Beistand zu leisten. Eure Hilfe und Unterstützung kennen wirklich keine Grenzen.

Und an HHH – du weißt schon warum.

Dies ist ein Roman. Personen, Orte und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

KAPITEL 1

Tagebuch von Vivien Leigh Rochet

Finger weg! Lesen bei Todesstrafe verboten!

Liebes Tagebuch!

Jetzt ist es offiziell!!!! Ich hasse Ms. Eleanor Whitley-Shuler. Alle nennen sie Nonnie. Außer mir. Ich nenne sie die Gottesanbeterin, weil sie lang und dünn ist und vorstehende Insektenaugen hat. Mr. Shuler starb in dem Jahr, nachdem Mama und ich ins Kutschenhaus gezogen waren. Er hieß Fredrick, aber ich erinnere mich nicht an ihn oder daran, wie er gestorben ist. Ich war noch ein Baby, aber ich wette, die Gottesanbeterin hat ihm den Kopf abgebissen. Jedenfalls weiß ich, dass sie ihn mir am liebsten abbeißen würde. Mama behauptet, die Whitley-Shulers wären unsere Freunde, aber ich sage, sie sind es nicht. Wir arbeiten für sie und wohnen in ihrem Kutschenhaus. Mama sagt, ich muss lieb sein, aber ich will nicht. Mama sagt, ich darf niemanden hassen, aber die Gottesanbeterin hat zu Mama gesagt, ich wäre so dick wie eine Dampfnudel und sollte nicht so viel Eis essen. Als sie weggeguckt hat, hab ich so eine doofe Hundefigur umgestoßen. VOLLMITABSICHT!!

Liebes Tagebuch!

Ich hasse die Schule!!! Die Lehrer sprechen jedes Jahr meinen Nachnamen falsch aus. Sie sagen Vivien Ro-schett. Dann muss ich ihnen sagen, dass man Ro-shay sagt. Ich geh schon seit dem Kindergarten auf die Charleston Day School, und seit acht Jahren sprechen die Lehrer jedes Jahr am ersten Tag meinen Namen falsch aus. (Okay, an den ersten Tag im Kindergarten erinnere ich mich vielleicht nicht mehr.) Meine Mitschüler lachen mich aus und nennen mich Klosett. Ich hasse sie, aber eines Tages, wenn ich ein berühmter Filmstar bin, wird es ihnen noch leidtun. Dann wollen sie alle mit mir befreundet sein, aber ich nicht mit ihnen. Ich werde ihnen meine Filme nicht zeigen und sie nicht in das große Haus lassen, das ich meiner Mama irgendwann kaufen werde. Außer Lottie und Glory. Die dürfen kommen. Das sind meine Freundinnen, und wir essen mittags zusammen. Glory darf in diesem Jahr einen BH tragen. Mama sagt, ich brauche noch keinen BH. FIES!!!

Liebes Tagebuch!

Tod der Gottesanbeterin!!! Als ich und Mama heute das Herrenhaus saubergemacht haben, hat die Gottesanbeterin gesagt, ich müsste staubsaugen, weil sie mir Staubwischen nicht zutraut. Sie sagt, mir würden zu viele Missgeschicke passieren. Sie sagt, ich wäre ungeschickt, und sie hätte Angst, dass ich wieder die Bilder von ihren superdoofen Söhnen Henry und Spence umwerfe. Ich bin zwölf – fast dreizehn. Ich bin nicht ungeschickt, und mir passieren keine Missgeschicke. Mir passiert das mit Absicht, und wen kümmern schon Henry und Spence? Sie gehen woanders zur Schule und kommen nur in den Ferien heim. Sie sind Arschgesichter. Vor allem Henry. Er lacht oder lächelt nie oder so. Ich nenne ihn Grusel-Henry oder Arschgesicht-Henry. :-) Er ist fünf Jahre älter als ich, tut aber viel älter. Seine schwarzen Augen starren in meine, als könnte er meine Gedanken lesen. Er sieht mich an, als wüsste er, dass ich absichtlich Gegenstände umwerfe und deshalb lüge. Aber er sagt nie was. So wie letzten Sommer, als irgendwer den blöden Rasenjockey umgeworfen hat und sein dämlicher Arm abgebrochen ist. Die Gottesanbeterin hat gesagt, dass er echt alt war und schon seit der Zeit vor dem Krieg im Familienbesitz und dass es wahrscheinlich meine Schuld wäre. Sie sagte, ich hätte mich bestimmt daran zu schaffen gemacht und ihn umgeworfen, aber ich habe alles abgestritten. Henry hat mich mit seinen schwarzen Augen angestarrt wie eine Lügnerin, und Spence hat gelacht, weil … Spence verrückt ist und über alles lacht. Ich hab superlaut geheult und bin ins Kutschenhaus gerannt, bevor die Gottesanbeterin mir noch den Kopf abbeißen konnte. Wen kümmert schon ein dämlicher Rasenjockey? Der ist so schwer, der könnte ein Kind erschlagen! Das Kind kann nicht schuld daran sein, dass er umkippt, wenn man sich auf seine Schultern stellt, um sich ein Vogelnest auf dem Baum anzusehen. Falls das jemand findet und liest, ich bin unschuldig!!!

Liebes Tagebuch!

Ich bin den ganzen Weg von der Schule nach Hause gerannt, weil Mama mir versprochen hatte, mich zu den Sandburgen in Folly Beach mitzunehmen. Als ich zur Tür reinkam, wusste ich, dass wir nicht fahren würden. Mama lag mit der Patchworkdecke, die Oma ihr gemacht hat, auf dem Sofa. Sie strich abwesend mit den Fingern darüber und starrte an die Zimmerdecke, wie sie es immer tut, wenn sie eine traurige Phase hat. Diesmal rufe ich Oma Roz nicht an, damit sie kommt und mich abholt. Ich bin fast dreizehn (in sieben Monaten) und kann auf mich selbst aufpassen. Ich kann jetzt auch auf Mama aufpassen. Ich hasse ihre traurigen Phasen. Ich hoffe, diese hält nicht allzu lang an. :-( !!!

Liebes Tagebuch!

Heute sind ich und Mama zum Laden gegangen, um uns Erdbeer-Moon-Pies und Coca-Cola zu holen. Mama war heute wieder fröhlich, und wir sind auch in den Waterfront Park gegangen. Wir haben uns am Ananasbrunnen nasse Füße geholt und uns die Boote im Hafen angesehen. Mama sagt, eines Tages segeln wir einfach los. Sie hat auf eine große Yacht gezeigt und die Orte aufgezählt, zu denen wir fahren würden. Aruba, Monaco, Sansibar. Sie sagt, eines Tages würde es wahr, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Auf dem Heimweg hat Mama gesagt, eines Tages würde sie sich ein Haus in der Rainbow Row kaufen, weil die so lecker aussähen. Wie eine Kette aus pastellfarbenen Zuckerröllchen, die es am Kiosk zu kaufen gibt. Sie meinte, in einem leckeren Haus könnte sie für immer glücklich sein. Wenn ich ein reicher Filmstar bin, kaufe ich ihr das rosafarbene, damit sie für immer glücklich sein kann. :-) !!

Liste der Dinge, die ich kaufe, wenn ich reich bin

1) Rosa Zuckerhaus

2) Meine eigene Eisdiele

3) Einen Piepser – Mama sagt, nur Drogendealer haben Piepser – von wegen!

4) Einen Pool

5) Einen tollwütigen Affen, der Henry beißt

KAPITEL 2

Unter der breiten Krempe ihres schwarzen Strohhutes legte Vivien Leigh Rochet die Hand an die Stirn und stöhnte leise.

»Ein paar Appletinis zu viel gestern Abend?«

»Ein paar.« Vivien griff nach der Wasserflasche in der Konsole zwischen ihr und Sarah, die seit fünf Monaten ihre Assistentin war. Die zwei saßen auf dem Rücksitz eines schwarzen Cadillac Escalade, der über den Interstate 26 nach Charleston brauste, über dessen historischer Altstadt sich Gewitterwolken auftürmten. »Christian hat behauptet, sie passten zu meinen Augen.« Christian Forsyth (echter Name Don Smith) war Viviens aktueller Filmpartner, und, wenn man den Boulevardblättern Glauben schenkte, ihr neuster Hollywood-Liebhaber.

»Ihr Teint hat heute einen hübschen Appletini-Ton.«

Vivien trank einen großen Schluck und drückte auf den Knopf in der Armlehne. »Sagen Sie nicht Appletini.« Als das Fenster nach unten glitt, hielt sie das Gesicht in den Wind, der über den Rand der Scheibe wehte. Die Gewitterluft brachte ihre Hutkrempe zum Flattern und roch nach den hohen Kiefern und dem Gestrüpp am Rand des Interstate Highway und nach Magnolien und Sonnenschein. Nach Regen und leichtem Wind von der See. Nach Chaos und Geborgenheit. Nach Heimat.

Neben ihr tippte Sarah auf dem Bildschirm ihres iPad, und vorne sprach der Fahrer in sein Handy, während er die Spur wechselte. Wenn er nicht aufhörte, das Lenkrad so ruckartig herumzureißen, würde Vivien schlecht – schade um die schwarzen Ledersitze. Die feuchte Luft glitt über den spitzen Knochen von Viviens nackter Schulter und ihr Schlüsselbein und spielte mit den Haarspitzen des lockeren Pferdeschwanzes, der auf dem Chiffonoberteil ihres Zac-Posen-Bandeaukleids ruhte. Die leichte Brise wehte den Rollsaum ihres geblümten Rocks hoch und strich über ihre Schenkel.

Es war drei Jahre her, seit sie zuletzt zu Hause gewesen war, und damals war sie nur sechsunddreißig Stunden geblieben. Auf dem Weg zur New Yorker Premiere von End Game, ihrem dritten und letzten Film der Raffle-Trilogie, hatte sie einen Kurzbesuch eingeschoben. Die unglaublich beliebten dystopischen Filme, die auf den gleichermaßen populären Büchern beruhten, hatten Vivien Leigh aus dem Niemandsland der Statistenrollen zu großem Starruhm katapultiert. Mit zweiundzwanzig war sie unter Tausenden von hoffnungsvollen Schauspielerinnen auserwählt worden, Dr. Zahara West zu spielen, die Archäologin, Attentäterin und Revolutionsführerin in der Blockbuster-Reihe. Vor drei Jahren, als jener dritte und letzte Film herausgekommen war, hatte Vivien einen Lebenslauf mit sechs wichtigen Filmrollen und vielfachen Fernsehauftritten vorzuweisen gehabt. Ihr Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood lag etwas weiter unten als der von Charlie Sheen, was wohl ganz gut passte, da sie im wahren Leben auch etwas weiter unten in derselben Straße wohnte wie er.

Als sie vor drei Jahren in die Stadt gefahren war, war sie ein bisschen großkotzig gewesen, ritt auf einer Welle des Erfolges und schwamm im Geld. Sie war für einen Publikumspreis nominiert und hatte gerade erfahren, dass von ihrer achtzehn Zentimeter großen Zahara-Actionfigur (in der Metallbikini-Edition) allein mehr Exemplare verkauft worden waren als von den anderen Raffle-Figuren zusammen. Damals war sie nach Charleston zurückgekehrt, um ihrer Mama bei der Ausrichtung ihrer Einweihungsparty zu helfen und hatte sich wie eine heiße Nummer gefühlt. Diesmal fühlte sie sich nur zum Kotzen. Diesmal kam sie nach Hause, um die Beerdigung ihrer Mutter zu organisieren.

»Sie sind wieder auf dem Titelblatt des Enquirer. Anscheinend wurden Sie bei einer Sex-Orgie ertappt.«

Wen kümmerte das? Viviens perfekte Augenbrauen zogen sich zusammen und erinnerten sie an ihre Kopfschmerzen. Sarah machte nur ihren Job. Aber vielleicht versuchte ihre Assistentin auch, Vivien von den schrecklichen Details der letzten zwölf Stunden abzulenken, in denen ihr Leben zerstückelt worden war wie Zelluloid auf dem Schneideraumboden.

Vor zwölf Stunden hatte sie noch auf einer noblen Party am Mulholland Drive Appletinis geschlürft und Interesse am neusten Hollywood-Klatsch geheuchelt. Einladungen zu solchen Events zu ergattern und auf den Partys der Reichen und Schönen gesehen zu werden gehörte zum Geschäft. Für die Fotografen zu lächeln und sich am Arm von Männern wie Christian Forsyth fotografieren zu lassen war gut für Viviens Karriere, auch wenn er der langweiligste Mann auf Gottes Erdboden war und sie null romantisches Interesse an ihm hatte.

Noch vor zwölf Stunden hatte sich ihr Leben um die richtigen Filmrollen gedreht und darum, sich mit den richtigen Leuten sehen zu lassen. Vor zwölf Stunden hatte sie noch die Rolle der glamourösen Vivien Leigh Rochet gespielt. Schauspielerin, Filmstar, heiße Nummer.

Kamera ab. Sarahs unerwartetes Erscheinen auf der Party hätte Vivien darauf hinweisen müssen, dass etwas nicht stimmte, aber sie hatte zu viele Cocktails auf leeren Magen getrunken, um sich Gedanken darüber zu machen. Wäre sie nicht betrunken gewesen, wäre ihr die Sorge in den blauen Augen ihrer Assistentin vielleicht aufgefallen. Dann wäre sie vorgewarnt gewesen, als Sarah zu ihr trat und ihr das Unfassbare ins Ohr flüsterte.

Ihre Mama war tot. Auch zwölf Stunden danach wusste Vivien nichts Genaueres. Man hatte ihr gesagt, dass die Sanitäter noch zu Hause mit den Wiederbelebungsversuchen begonnen hatten, sie jedoch auf dem Weg zur Notaufnahme gestorben sei. Alles deutete auf einen natürlichen Tod hin. Natürlich? Nichts von dem, was sich in den letzten zwölf Stunden ereignet hatte, kam ihr natürlich vor, und Vivien bekam kaum Luft vor Schmerz und Schuldgefühlen.

»Das verkauft sich vermutlich besser als die üblichen Magersucht-Storys.«

Macy Jane Rochet war tot, da kamen ihr die Lügengeschichten der Klatschpresse so ungeheuer trivial vor. So ungeheuer dumm. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als Vivien Rochet niemandem so wichtig gewesen war, dass er ihren Namen gedruckt hätte, ganz zu schweigen davon, ganze Geschichten über sie zu erfinden. Eine Zeit, in der sie alles dafür getan hätte, um in der Yellow Press erwähnt zu werden und ein Foto von sich auf dem Titelblatt einer Zeitschrift zu sehen. Doch jetzt war Mama tot, und Viviens Leben erschien ihr plötzlich ungeheuer dumm und trivial.

Und vollkommen leer.

Vor Sarahs unerwartetem Erscheinen gestern Abend war in Viviens Leben alles so klar gewesen. So vorgezeichnet. Sie war ein leuchtender Stern gewesen, der sich den Weg zum Mega-Starruhm bahnte. Doch jetzt war alles verschwommen, ihr Hirn umnebelt von Schmerz, Koffein und Alkohol. Sie war so von ihren Gefühlen überwältigt, dass sie kaum einen Gedanken fassen konnte, und in den letzten zwölf Stunden war so viel passiert, dass sie nicht einmal wusste, ob Sonntag oder Montag war.

Es musste Sonntag sein. Vielleicht. »Welchen Tag haben wir?«

Ohne aufzusehen antwortete Sarah: »Den sechsten Juli.«

Vivien griff in ihre rote Kelly Bag und zog eine Sonnenbrille hervor. Sie setzte sich das schwarze Gestell auf und lehnte den Kopf zurück. Das beantwortete ihre Frage nicht, aber es musste Sonntag sein. Auf der Party war sie am Samstagabend gewesen. War das erst gestern Abend gewesen? Ihr schien, als sei mehr Zeit vergangen, seit sie die Sache mit ihrer Mama erfahren hatte.

Ihre Mutter war gütig und liebevoll gewesen, wunderschön und zart. Aber auch anstrengend und schwierig, und ehrlich gesagt manchmal verrückt wie ein zweiköpfiges Huhn. Sie hatte Vivien unzählige Male in Verlegenheit gebracht. Mit ihren unberechenbaren Stimmungshochs und -tiefs. Mit ihrer übertriebenen Euphorie an einem Tag und ihrer abgrundtiefen Verzweiflung am nächsten. Mit ihren großen Träumen von einem Happyend einerseits und ihren Problemen mit Männern andererseits. Die Erde unter ihren Füßen schwankte wie die Gezeiten, wechselhaft, vorhersehbar, und ließ ihre Mitmenschen verunsichert und mitgenommen zugleich zurück. Doch selbst in ihren schwierigsten Phasen war es nicht schwer gewesen, sie zu lieben. Nicht für Vivien, denn trotz aller Höhen und Tiefen und der Unbeständigkeit hatte sie stets gewusst, dass ihre Mutter sie liebte wie sonst niemand auf der Welt. Sie nahm sie, wie sie war, stellte keine Erwartungen an sie und liebte sie von ganzem Herzen.

Macy Jane war nicht perfekt gewesen, aber sie hatte ihr Möglichstes getan, sich um Vivien zu kümmern. Wenn sie nicht konnte, war Viviens Großmutter Roz eingesprungen. Nach Oma Roz’ Tod hatte Vivien für sich selbst gesorgt und sich auch um ihre Mutter gekümmert. Sie beide gegen den Rest der Welt. Eine verschworene Gemeinschaft.

So war es immer gewesen.

Der Escalade nahm eine der letzten Ausfahrten und fuhr ins Herz der »Heiligen Stadt«, wie Charleston oft genannt wurde, dessen Kirchturmspitzen und Kirchtürme in einen Himmel ragten, der – typisch für Juli – voller Gewitterwolken hing. Weiter ging es über die Meeting Street zum Hafen, zu von Palmettopalmen und Tempelbäumen gesäumten Kopfsteinpflasterstraßen, zu der vornehmen Opulenz und der glänzenden Pracht südlich der Broad Street. Vivien war inmitten der gesellschaftlichen Elite aufgewachsen, inmitten alter Familien mit alten Familiennamen, die sich bis zur Gründung der St. Cecilia Society zurückverfolgen ließen und noch weiter bis zu den ursprünglichen dreizehn Kolonien. Sie war inmitten von »guten Familien« aufgewachsen, ohne jemals dazuzugehören. Nach ihren »Leuten« waren keine Städte, Brücken oder Golfplätze benannt. Ihre »Leute« arbeiteten hart, um über die Runden zu kommen, und ihr Familienstammbaum ähnelte eher einem schütteren Strauch als einer stattlichen Lebenseiche.

»Biegen Sie auf der Tradd Street links ab«, wies sie den Chauffeur an. »Dann noch mal links auf der East Bay Street.« Statt zu dem einzigen Zuhause zu fahren, das sie in den ersten achtzehn Jahren ihres Lebens gekannt hatte, brachte der SUV sie zu einer Reihe aus Stadthäusern, von denen jedes in einer anderen fröhlichen Farbe gestrichen war. Ihre Mutter hatte einmal gesagt, die Häuserreihe ähnelte einer Zuckerkette, und dass sie in einem so süßen Haus glücklich sein könnte. Vor drei Jahren hatte Vivien ihr das rosafarbene gekauft, damit sie glücklich sein konnte und nie mehr bei Fremden im Garten wohnen musste.

»Hier vorne ist gut«, wies sie den Fahrer an, und der Cadillac hielt am Straßenrand. Sie steckte die Flasche Tafelwasser in die Handtasche und wartete, bis der Mann ihr die hintere Tür öffnete, bevor sie aus dem Wagen glitt. Unter der Krempe ihres breiten Hutes sah sie zu dem rosa Putz und den drei Stockwerken mit weißen Fensterrahmen und grauen Fensterläden hinauf. Vereinzelte Regentropfen trafen auf ihre nackte Schulter und sprenkelten die Steine um ihre zehn Zentimeter hohen Highheels. Das einzige Mal, als sie in dem Reihenhaus gewesen war, war ihre Mutter ganz aufgeregt und hibbelig gewesen und hatte Floristen und Caterer gleichzeitig dirigiert. Sie hatte tatsächlich glücklich ausgesehen, und Macy Jane in glücklicher Stimmung war immer ansteckend – wenn man den Gedanken an die Traurigkeit, die so sicher wie das Amen in der Kirche darauf folgen würde, verdrängte.

Am Vortag waren mehrere Möbelstücke geliefert worden, und Vivien und ihre Mutter waren herumgerannt wie zweiköpfige Hühner und hatten die Plastiküberzüge von Sofa und Sesseln im prachtvollen Wohnzimmer und von einer kleinen Esszimmergarnitur in der Küche gezogen. Die Möbelpacker luden ein elisabethanisches Himmelbett und einen antiken Aubusson-Teppich aus, den Macy Jane bei einer Haushaltsauflösung erstanden hatte. Vivien wunderte sich nicht darüber, dass ihre Mutter nur sehr wenig unternommen hatte, um das dreihundertneunzig Quadratmeter große Stadthaus vor der Einweihungsfeier mit Möbeln auszustatten. Macys Unentschlossenheit verärgerte sie zwar etwas, überraschte sie jedoch nicht im Geringsten.

»Ich brauche keine Möbel in jedem Raum, um meine Party zu geben«, hatte Macy Jane ihre entspannte Haltung in Bezug auf Wohneigentum und das Leben im Allgemeinen verteidigt.

Womit sie wahrscheinlich recht hatte, weshalb Vivien sich den Einwand geschenkt hatte, dass Sinn und Zweck dieser Party darin bestand, vor ihren Freunden anzugeben und sie mit ihrem Zuhause und ihren »Sachen« zu beeindrucken. Und nicht darin, ein leeres Haus vorzuzeigen.

Aber das hatte auch keine Rolle gespielt. Die Party hatte im privaten Innenhof stattgefunden, und die Caterer hatten von Tischen und Stühlen bis hin zur feinen rosa Tischwäsche alles geliefert.

»Ist es hier immer so schwül?«, fragte Sarah, während der Fahrer ihr Gepäck auslud.

»Ja, Ma’am«, antwortete der Mann, dem die Hitze trotz des schwarzen Anzugs mit der passenden Krawatte nichts auszumachen schien. »Wenn es geregnet hat, wird es besser.«

Vivien zog einen Hausschlüssel aus ihrer Handtasche und trat in den schmalen Eingang. Ihre Hand zitterte, als sie die Tür aufschloss, sie aufschob und dabei fast damit rechnete, ihre Mutter mit weit ausgebreiteten Armen auf sich zukommen zu sehen. »Komm in meine Arme«, hatte sie in ihrem weichen, gedehnten Südstaaten-Singsang immer gerufen. Doch die Diele war dunkel und leer. Ihre Mutter war hier gestorben. Irgendwo.

Eine Träne lief ihr über die Wange, während sie Brille und Hut ablegte. Der Coroner hatte die Todesursache noch nicht endgültig festgestellt. Nur dass ihre Mutter eines natürlichen Todes gestorben zu sein schien. Vivien trat ins Wohnzimmer und blieb abrupt stehen, während sie mit feuchtem Blick den Raum betrachtete. Die Möbel waren mit weißen Laken verhüllt und alles andere von einer dicken Staubschicht überzogen. Der Aubusson-Teppich war vor dem Kamin zusammengerollt, und irgendwer hatte den Mahagoni-Kaminsims abgerissen. Vivien blinzelte, als traute sie ihren Augen nicht. Als sie letzte Woche mit ihrer Mutter gesprochen hatte, hatte sie mit keinem Wort erwähnt, dass die Böden geschliffen werden sollten und der Kaminsims entfernt worden war. Sie hatte überhaupt keine Renovierungsarbeiten erwähnt. Aber sie hatte auch nicht das Geringste davon erwähnt, dass sie sich krank fühlte. Sie hatte überhaupt nicht viel erzählt, außer dass sie sich für einen Zumba-Kurs 50+ angemeldet hatte und hoffte, dabei nicht »ins Schwitzen« zu geraten. Was jedoch der Sinn und Zweck der Übung sein sollte, wie Vivien eingewandt hatte.

Vivien wischte sich die Tränen von den Wangen und stellte ihre Handtasche auf der verhüllten Couch ab. Sie hatte so viele Fragen, und je genauer sie sich umsah, umso mehr fielen ihr ein. Sie lief an der Wendeltreppe vorbei durch das Licht, das von oben durch die Kuppel strömte. Das Esszimmer und die Bibliothek waren noch genauso leer wie das letzte Mal, als sie hier gewesen war. Im Bad hingen keine Handtücher, und der kleine Tisch und die vier Stühle in der Küche standen noch genau dort, wo sie vor zwei Jahren hingestellt worden waren.

Auf der Arbeitsplatte aus Granit lag ein Plastikbeutel mit Äpfeln, und eine Thermoskanne und ein Trinkglas standen verkehrt herum auf einem Geschirrhandtuch, als wären sie vor Kurzem erst gespült und zum Trocknen hingestellt worden.

»Sieht aus, als hätte Ihre Mutter renoviert«, sagte Sarah, als sie in die Küche kam.

»Das ist ja merkwürdig.« Vivien öffnete den Kühlschrank. Leer bis auf eine Dose Coca-Cola und eine Tüte Möhren. Alte, verschrumpelte Möhren.

»Igitt! Wollen Sie auch etwas essen?«, fragte Sarah, während sie Schränke und Schubladen öffnete und wieder schloss. »Ich bin am Verhungern.«

Schon bei dem Gedanken ans Essen drehte sich Vivien der Magen um, ob vom Schmerz oder vom Kater, wusste sie nicht so recht. Vielleicht von beidem. »Irgendwas gefunden?«

Sarah schüttelte den Kopf und trat in die Speisekammer. »Hier drin sind nur ein paar Tassen und eine Schachtel mit verschiedenen Teesorten.« Sie kam zurück und zog ihr Handy heraus. »Ich kann rumtelefonieren und was bringen lassen. Danach brauche ich ein Bad und eine Mütze voll Schlaf.«

Vivien fühlte sich von Sarahs Magen, ihrem Bad und ihrem Nickerchen überfordert. Die Verantwortung war überwältigend. Sie hatte so viel zu erledigen und musste über so vieles nachdenken. Am liebsten hätte sie schreiend auf etwas eingeschlagen. Sich ins Bett ihrer Mama gekuschelt und den Duft ihrer Haare auf dem Kissenbezug gerochen. Sie wollte dicke, fette Tränen weinen, bis sich ihr Kopf so leer anfühlte wie ihre Seele.

»Ich habe eine bessere Idee. Suchen Sie sich ein Hotel in der Nähe und bleiben Sie dort.« Sie wollte weinen, bis sie der Erschöpfung erlag. Sie wollte allein sein und war nicht im Mindesten überrascht, als ihre Assistentin sich nicht damit aufhielt, auch nur pro forma zu widersprechen. Sarah fand nichts genialer als Zimmerservice und eine Poolbar. Vivien reichte Sarah eine American Express und winkte ihrer Assistentin zwanzig Minuten später zum Abschied hinterher, als diese ihren Koffer zu einem wartenden Taxi rollte.

Endlich allein im »Zucker-Haus« ihrer Mutter, trat Vivien an die Glastür und sah hinaus in den gepflasterten Innenhof, der mit Regentropfen besprenkelt war. Das letzte Mal, als sie im Schatten des blühenden Ahorns gestanden und den süßen Duft der Kamelien gerochen hatte, war ihre Mutter voller Energie gewesen, die ihre Augen zum Leuchten brachte und sie geschäftig herumschwirren ließ wie ein Kolibri.

»Mama, du wirst dich noch verausgaben, bevor die Gäste überhaupt da sind«, hatte Vivien sie gewarnt, als sie in den Hof getreten war, nachdem sie geduscht und ein Blümchenkleid sowie dazu passende gelbe Stöckelschuhe und einen gelben Hut angezogen hatte.

Ihre Mutter hatte von einer Flasche Möet & Chandon-Champagner (natürlich Rosé) aufgeblickt. »Wenn alle, die auf die Einladung geantwortet haben, heute auch kommen, sind wir eine sehr illustre Gesellschaft.« Macy Jane trug passend zu ihrem Haus vom Hut bis zu den hochhackigen Schuhen rosa.

»Warum sollten nicht alle kommen?«

»Es ist heiß wie im Hades. Ein paar von den Damen möchten vielleicht lieber in der Kühle ihrer Klimaanlage bleiben.« Der Korken knallte und flog quer über die Backsteine, um in einem Beet mit roten Fleißigen Lieschen zu landen. »Hast du das gesehen? Deine Großmutter hat immer gesagt, knallende Korken bringen Glück. Je lauter der Knall, desto größer das Glück.«

Für Vivien galt eher, je lauter der Knall, desto höher die Wahrscheinlichkeit, von einem fliegenden Korken getroffen zu werden. »Wie viele Gäste hast du denn eingeladen?«

»Mit Nonnie und ihren Jungs insgesamt zwanzig.«

Vivien nahm sich von einer dreistöckigen Etagere ein Krabbenbeutelchen. »Warum lädst du die Whitley-Shulers ein?« Vorsichtig biss sie in das winzige Horsd’œuvre.

Macy Jane blickte von den zwei Champagnergläsern auf. »Sie sind unsere ältesten Freunde.« Sie stellte die Flasche neben eine silberne Vase mit einer prachtvollen Mischung aus Lilien, Hortensien und Rosen.

»Sie waren nie unsere Freunde, Mama.«

»Natürlich waren sie das, Süße.« Kopfschüttelnd schenkte sie den Champagner ein. »Sei nicht albern.«

Manchmal passte Macy Jane die Wahrheit an, bis sie ihrer eigenen Realität entsprach, aber sie log nie direkt. Lügen brachten das Jesuskind zum Weinen, und ihre Mama hatte stets große Angst davor gehabt, in der glühend heißen Hölle zu landen, weil sie das Jesuskind traurig gemacht hatte. Vivien nahm die Champagnerflöte entgegen, die ihre Mutter ihr reichte. Das glatte Kristall kühlte ihre Hand. »Wir haben für sie gearbeitet.«

»Ach das.« Macy Jane tat diese lästige Wahrheit mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Wir haben nur für ein Taschengeld ein bisschen im Haus reinegemacht. Du bist praktisch mit Henry und James aufgewachsen.«

Damit schönte sie die Wahrheit wirklich bis zum Geht-nicht-mehr. Vivien war am anderen Ende der gepflegten Rasenfläche des Shuler-Herrenhauses aufgewachsen. Sie war im umgebauten Kutschenhaus aufgewachsen, doch die zwei Familien hatte mehr getrennt als zu Skulpturen geschnittene Hecken, Springbrunnen und Rosenlauben. Mehr als Geld oder Umgangsformen hatte schon ihr Name sie von Henry und Spence getrennt. Die Jungs besuchten ein exklusives Internat in Georgia, während Vivien von ihrer Haustür fünfzehn Minuten zu Fuß zur Schule lief. Henry und Spence verbrachten die faulen Sommertage in dem großen Haus in Charleston oder im Strandhaus ihres Großvaters in Hilton Head. Sie urlaubten in Paris, Frankreich, während Vivien ihre Sommer an öffentlichen Stränden und die Ferien in Onkel Richies Maisonette in Paris, Texas, verbrachte.

Vivien hob ihr Glas und nippte daran. Sie waren zwar nicht befreundet, aber nur Nachbarn waren sie auch nicht, es war irgendein merkwürdiges Zwischending gewesen. Sie hatte einige Dutzend Mal mit den Whitley-Shuler-Jungs gesprochen. Einmal hatte sie mit Spence Basketball gespielt, während Henry durch die Gegend stolzierte, als hätte er einen Stock im Arsch.

Der sprudelnde Champagner kitzelte in ihrem Hals, und sie ließ das Glas sinken. Da sie in so unmittelbarer Nachbarschaft gewohnt hatten, konnte sie behaupten, dass sie einander kannten, doch sie wusste ganz sicher viel mehr über die Whitley-Shuler-Jungs als diese über sie. Sie verfügte über Wissen, das sie beim jahrelangen Staubwischen in ihren Zimmern und Herumspionieren in ihrem Leben erlangt hatte. Indem sie mit Henrys Stilettkamm und Spence’ Kotzfleck-Scherzartikel gespielt hatte. Sie hatte ihre Taschenmesser angefasst, ihre privaten Briefe gelesen und sich ihre grässlichen Pornohefte angesehen.

»Der ist gut.« Vivien stieß mit ihrer Mutter an.

»Prost!«

»Auf dein Zuckerketten-Haus, Mama.«

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir hier sind.« Macy Jane hob ihr Glas an die lächelnden Lippen. Sie war jetzt fünfzig, und die glänzenden Locken ihrer brünetten Haare waren von silbernen Strähnen durchzogen. Heute leuchteten ihre grünen Augen vor Glück, und ihr schönes Gesicht strahlte Lebendigkeit aus. Vivien hoffte sehr, dass alle, die auf die Einladung geantwortet hatten, heute auch kamen, damit die Stimmung ihrer Mutter nicht kippte. »Weißt du noch, wie oft wir davon geträumt haben, in die Rainbow Road zu ziehen, Vivie?«

Dieser Traum war eher Macy Janes gewesen als ihrer. »Ja.« Ihre eigenen Umzugsträume hatten normalerweise damit begonnen, das Haus der Whitley-Shulers zu kaufen, und damit geendet, dass sie Nonnie hochkant rauswarf – wie bei Tom und Jerry.

»Kommt Ms. Whitley-Shuler denn ganz sicher?«

»Sie hat gesagt, sie hätte eine Besprechung bei der Preservation Society, aber sie gibt sich alle Mühe zu kommen.«

»Hmm.« Vivien trank noch einen Schluck aus ihrer Champagnerflöte. Das hieß, Nonnie hatte nicht vor, auch nur einen Fuß in das Reihenhaus zu setzen.

»Benimm dich, Vivien Leigh.«

Sie ließ das Champagnerglas sinken. »Ich hab doch gar nichts gesagt.«

»Noch nicht, aber die Miene kenne ich. Du schickst dich an, eine hässliche Bemerkung über Nonnie zu machen.« Macy Jane schüttelte den Kopf. »Das hat Jesus nicht gern.«

In Macy Janes Welt gab es viele Dinge, die Jesus nicht gern hatte. Aber Vivien hegte den Verdacht, dass Jesus garstige Weibsstücke noch weniger mochte als hässliche Bemerkungen. Sie griff nach einem Cocktailwürstchen, das auf einen Zahnstocher aufgespießt war, und sagte, bevor sie es sich in den Mund steckte: »Ich kann es gar nicht abwarten, unsere guten Freunde wiederzusehen.« Sie kaute lächelnd.

Falls Macy Jane Viviens sarkastischen Ton bemerkt hatte, beachtete sie ihn nicht. »Die Jungs schaffen es natürlich nicht. Spence ist mit seiner frischgebackenen Ehefrau in Italien. Er hat eine von Senator Colemans Töchtern geheiratet, und Henry arbeitet in einem schicken Büro in New York. Er ist eine große Nummer, aber er hat sich die Zeit genommen, sich zu entschuldigen und abzusagen. Henry hatte schon immer hervorragende Manieren.«

Vivien hatte nur am Rande mitbekommen, dass Spence vor Kurzem geheiratet hatte, und war nicht sonderlich überrascht, dass er sich eine Coleman geangelt hatte. Es wäre schockierender gewesen, wenn er nicht in eine Familie mit altem Namen und politischen Verbindungen eingeheiratet hätte. An Henrys angeblich hervorragende Manieren erinnerte sie sich überhaupt nicht. Sie erinnerte sich sogar recht genau daran, dass er haarsträubende Manieren hatte, und legte keinen Wert darauf, ihn jemals wiederzusehen. Nicht nach dem schrecklichen Kondom-Zwischenfall, als sie befürchtet hatte, dass Henry sie erwürgen könnte.

Jener schreckliche Zwischenfall hatte sich ereignet, als sie dreizehn gewesen war, doch sie erinnerte sich noch an das Feuer in seinen schwarzen Augen, als wäre es erst gestern gewesen.

In jenem Sommer hatte Henry seine noble Privatschule abgeschlossen, und er und Spence hatten wie immer den Sommer verbracht, indem sie die Tage in Hilton Head vertrödelten. Vivien hatte ihren Sommer wie immer in Charleston verbracht, im Herrenhaus gearbeitet und Tische, Regale und massive Schlafzimmermöbel abgestaubt.

Und natürlich spioniert.

Am Tag des Kondom-Zwischenfalls hatte sie ihre neuste *NSYNC-CD in ihren Discman gelegt, sich die Ohrhörer in die Ohren gesteckt und beim Saubermachen abgerockt. Während sie mit dem Staubwedel Henrys Empire-Kommode abwischte, sang sie bei »Tearin’ Up My Heart« mit und übte ihre Tanzbewegungen. Bevor sie die erste Schublade aufzog, hatte sie sich zur Sicherheit noch einmal umgeschaut. Hinter einer Sockenreihe fand sie rein zufällig eine Schachtel mit Kondomen. Die Worte ihres Lieblingssongs erstarben auf ihren Lippen, als sie sich die Schachtel genauer ansah und las: »Verlängerte Lust, ejakulationsverzögerndes Gleitmittel«. Sie hatte keinen Schimmer, was das zu bedeuten hatte. Vivien hatte mitleiderregend wenig Erfahrung mit Jungs. Zumindest sie fand es mitleiderregend. Während *NSYNC von dem Schmerz sangen, der ihre Herzen und Seelen zerriss, zählte Vivien sechs Kondome in der Schachtel, die ursprünglich ein Dutzend enthalten hatte.

Eklig.

»Was machst du denn da?«, tönte es über die Musik hinweg.

Mit einem quietschenden Schrei wirbelte sie herum. Die Kondomschachtel fiel zu Boden, und das Herz hämmerte in ihrer Brust. Ein paar Meter weg stand Arschgesicht Henry, die dunklen Brauen wütend über den furchteinflößenden, dunklen Augen gesenkt.

Sie zog die Ohrhörer heraus und schaltete den Discman aus. »Was machst du denn zu Hause?« Er sollte doch in Hilton Head sein.

»Ich wohne hier.« Er sah kräftiger aus als sonst. Größer. Seine Schultern breiter, und er sah auch besser aus als vorher. Wie ihre Oma Roz immer gesagt hatte: »Er ist so hübsch wie nasse Farbe.« Vivien wusste nicht, was das hieß, aber wenn sie ihn hätte leiden können, auch nur ein kleines bisschen, hätte sie vielleicht in Erwägung gezogen, ihn von Arschgesicht zu Hübscher Henry umzutaufen. Aber sie mochte ihn nicht, und er war sauer. Stinksauer. So sauer, dass er furchteinflößend aussah. So furchteinflößend, dass seine zusammengekniffenen Augen glänzten wie schwarzer Onyx. Seine Wangen waren vor Wut tiefrot, aber wie groß seine Wut auch sein mochte, Henry war ein Südstaatenjunge. Er war mit guter Erziehung und Moralvorstellungen aufgewachsen, die es ihm nie erlauben würden, ein Mädchen zu schlagen. Doch nur weil er sie nicht schlagen würde, hieß das nicht, dass er nicht furchteinflößend war wie nur was.

»Was treibst du in meinem Zimmer, Vivien?«

Sie hielt den Staubwedel hoch. »Abstauben.«

»Meine Unterwäsche?« An seinem Mundwinkel setzte ein besorgniserregendes nervöses Zucken ein.

Nein, körperlich fürchtete sie sich nicht vor ihm, doch das bedeutete nicht, dass sie nicht in Schwierigkeiten steckte. Wenn er sie verpfiff, würde ihre Mama ihr die Hölle heiß machen. »Deine Sockenschublade, um genau zu sein«, verbesserte sie ihn.

Er deutete auf die Schachtel auf dem Boden. »Die lagen in der Sockenschublade ganz hinten.«

In der Mitte, um genau zu sein, aber sie hielt es für besser, jetzt nicht auf Kleinigkeiten herumzureiten. Stattdessen sah sie verstohlen zur leeren Türöffnung hinter ihm und fragte sich, ob sie an ihm vorbeikommen und abhauen könnte.

»Weiß deine Mutter, dass du rumschnüffelst?«

Angriff war immer die beste Verteidigung. »Weiß deine Mutter, dass du Kondome in deiner Sockenschublade hast?« Sie schob sich etwas weiter nach rechts und überlegte, dass ihre beste Chance zur Flucht darin bestand, ihn abzulenken, bis sie an ihm vorbeikam. »Was bedeutet ejakulationsverzögernd?«

Das leichte Zucken wurde noch furchteinflößender. »Frag Macy Jane, wenn du ihr sagst, was du hier oben treibst, wenn dir keiner dabei zusieht.«

»Das erzähle ich meiner Mama nicht.«

»Ich glaube schon.« Drohend trat er einen Schritt vor und überragte Vivien.

Verängstigter, als sie es für möglich gehalten hätte oder sich anmerken lassen wollte, schüttelte sie den Kopf. Das konnte sie auf keinen Fall ihrer Mutter erzählen. Sie würde wütend werden und dann traurig, und dann würde sie eine Woche lang im Bett bleiben. Vielleicht würde sie Vivien sogar »versohlen«, wie sie es ihr immer wieder androhte, und diesmal würde sie es vielleicht sogar tun. »Wenn du mich nicht verrätst, verrate ich dich auch nicht.«

»In meinem Alter kümmert es niemanden, ob ich Kondome habe.« Wie zum Beweis dafür, dass er achtzehn war, hob er die Hand und fuhr über die dunklen Bartstoppeln an seinem Kiefer.

Das stimmte wahrscheinlich. Vivien verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr schwerere Geschütze auf. »Deine Mama wird es aber kümmern, wenn ich ihr von Tracy Lynn Fortner erzähle.«

Er ließ die Hand sinken, und seine Stimme wurde ganz tief. »Was hast du gesagt?«

»Du hast mich gehört.«

Er starrte sie an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Woher weißt du davon?«

Jahrelanges Schnüffeln natürlich.

»Niemand weiß davon.«

»Noch nicht.«

Er trat einen Schritt näher und packte sie mit seinen großen Händen an den Schultern. »Wenn du nur ein Sterbenswörtchen verrätst«, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor, »erwürge ich dich.«

Sie glaubte ihm. Seine schwarzen Augen blickten bohrend in ihre, und sie versuchte den Kloß herunterzuschlucken, den sie plötzlich im Hals hatte. Anscheinend hatte sie sich, was ihn und seine Manieren betraf, doch geirrt, denn sie konnte praktisch spüren, wie sich seine Hände um ihren Hals legten.

Er schüttelte sie. »Hast du mich gehört?«

Ihr Kopf fiel in den Nacken.

»Wenn ich nur ein Wort davon höre, weiß ich, dass es von dir kam.« Er schüttelte sie noch ein letztes Mal und ließ sie los. »Ich jage dich wie einen tollwütigen Köter. Kapiert?«

»Ja.« Als er seinen Griff gelockert hatte, war sie gerannt, als ob der Teufel hinter ihr her wäre, und war nicht stehen geblieben, bis sie im Kutschenhaus war und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte.

Seit dem schrecklichen Kondom-Zwischenfall waren fünfzehn Jahre vergangen, und nach jenem Tag hatte Vivien Henry nicht mehr sehr oft gesehen. Sie hatte sich von ihm ferngehalten. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Nachdem Henry mit dem Studium begonnen hatte, war er nicht mehr sehr oft nach Charleston zurückgekommen.

Vivien schob die Glastüren auf und schleuderte die Schuhe von sich. Der Wind fuhr heftig in die Baumwipfel und verstreute Blätter auf den alten Mauersteinen. Sie hatte nie ein Sterbenswörtchen über Tracy Lynn Fortner verlauten lassen. Nicht aus Angst vor Henrys Zorn, sondern weil sie schon mit dreizehn gewusst hatte, dass Tracy Lynn viel mehr darunter zu leiden gehabt hätte als Henry. Vivien mochte eine freche Göre gewesen sein und wahnsinnig neugierig, aber sie war niemals absichtlich böse und verletzend.

Barfuß trat sie nach draußen in den Innenhof. Die Ziegelsteine waren voller Sand und verwelkter Azaleenblüten. Sie ging an einem Betonengel vorbei, der zum Teil mit Efeu überwachsen war. Sie trat an das Beet mit den Fleißigen Lieschen und kniete sich vor die Backsteinumrandung. Ihre Mutter hatte Fleißige Lieschen geliebt, und Vivien pflückte eine der kleinen roten Blumen.

In den Wolken über ihr donnerte es. Sie spürte die Vibration in der Luft und unter ihren Knien. Als sie an der kleinen Blume riechen wollte, öffnete der Himmel seine Schleusen und ließ große, dicke Tropfen auf sie regnen.

Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie Blumen pflückte und aus ihnen ein zartes Sträußchen arrangierte, wie ihre Mama es ihr beigebracht hatte. Sie legte es neben ihrem Knie ab, beugte sich vor und teilte die Pflanzen. Zentimeter für Zentimeter suchte sie den Boden unter den dichten Blättern ab. Mit jedem Regentropfen, mit jeder Träne, die ihr über die Wange rann, suchte sie fieberhafter. Der Champagnerkorken vor der Party ihrer Mutter war so bedeutungslos gewesen. Damals hatte sie ihn ignoriert und seitdem nicht mehr daran gedacht. Doch jetzt bekam er auf einmal eine Bedeutung, die über einen stinknormalen Korken hinausging. Er wurde zu einer greifbaren Spur, einer Verbindung zu jenem besonderen Tag mit ihrer Mutter. Der Regen durchnässte ihre Haare und ihr Kleid. Ihre Hände waren schlammverschmiert, und die Sandkörner gruben sich in ihre Knie. Es kümmerte sie nicht. Sie beugte sich noch weiter in das durchnässte Blumenbeet, während ihr tief empfundene, schmerzliche Schluchzer über die Lippen kamen. Ihre Suche wurde verzweifelter, als wäre sie kurz davor, einen verlorenen Goldschatz zu finden.

»Was machen Sie denn da?«, übertönte eine Männerstimme den Donner.

Sie holte erschreckt Luft und hatte kurz das Gefühl, ihr Herz bliebe stehen.

»Außer im Schlamm zu wühlen.«

Als sie über ihre Schulter sah, erblickte sie durch den Regen und die Tränen, die ihren Blick trübten, eine dunkle Jeans und Arbeitsschuhe. Ein Regentropfen fiel von ihren Wimpern, während ihr Blick an langen Beinen hinaufglitt, über die Wölbung eines geknöpften Hosenschlitzes bis zu einem grauen, regenbespritzten Henley-Shirt. Sie sah weiter nach oben über einen sonnengebräunten Kiefer und Lippen in dunkle Augen. Dunkle Augen, die einst damit gedroht hatten, Jagd auf sie zu machen wie auf einen tollwütigen Hund und sie zu erwürgen.

»Hallo, Ms. Vivien«, sagte Henry Whitley-Shuler und zog die Vokale in die Länge wie warmes Toffee. »Lange nicht gesehen.«

KAPITEL 3

Das Pfeifen eines huhnförmigen Wasserkessels schrillte durch die abgestandene Luft und übertönte das Prasseln der Regentropfen, die die alten Glasfenster und die kunstvolle Kuppel bespritzten. In dem denkmalgeschützten Reihenhaus in der East Bay Street nahm Henry Whitley-Shuler das kochend heiße Wasser von der hinteren Flamme des Gasherds. Dampfwolken stiegen aus einer angeschlagenen Seladonkanne, als er das Wasser in das rostfreie Sieb goss, das er mit losem Tee vollgestopft hatte. Dabei entging ihm die Ironie des Schicksals nicht, dass er ausgerechnet für das Mädchen Tee zubereitete, das einst in seinen Schubladen herumgeschnüffelt hatte.

Er war erst fünf gewesen, als Macy Jane und Vivien ins Kutschenhaus gezogen waren. Seine Erinnerung an jenen Tag war wie ein altes Puzzle, das ganz unten in einer ebenso alten Truhe lag. Das Motiv war verblasst, und die Hälfte der Teile fehlte, doch er erinnerte sich, wie er im Schatten des alten Magnolienbaums neben seiner Mutter auf der hinteren Veranda gestanden und den intensiven Duft von süßen Limetten gerochen hatte. Er erinnerte sich, wie er zu dem ausdruckslosen Gesicht seiner Mutter aufgeblickt hatte, die Spence auf der Hüfte balancierte. Die Erinnerung an eine dunkelhaarige Frau war in seinem Gedächtnis zu einer hauchzarten Silhouette verblasst, doch er wusste, dass die Frau Macy Jane gewesen war.

Seine Erinnerung an Vivien in den Jahren darauf war viel klarer. Er erinnerte sich daran, wie sie und ihre Mutter Möbel abstaubten und Böden wischten. Er konnte sich an ein oder zwei Weihnachtsfeste erinnern, an denen er in die Küche gekommen war und sie gesehen hatte, wie sie an der Seite ihrer Mutter auf einem Schemel gestanden und das Silber seiner Mutter poliert hatte. Gott wusste, welche Massen an Silber seine Mutter besaß, und er konnte sich deutlich an die Rebellion erinnern, die in ihren grünen Augen aufblitzte, und an die Wut, mit der sie die Lippen aufeinanderpresste, wenn seine Mutter ihre Grammatik berichtigte oder ihr nahelegte, nicht gleich die ganze Packung Oreos zu verdrücken.

Vielleicht hätte er Vivien wegen ihrer Lebenssituation bemitleidet, wenn sie nicht so verdammt nervig gewesen wäre. Vielleicht hätte er ein Auge zugedrückt, wenn sie nicht so massiv in seine Privatsphäre eingedrungen wäre, indem sie jeden einzelnen Raum im Haus durchstöberte. Als Heranwachsender hatte er nicht viel von dem Mädchen mit den großen grünen Augen und der blassen weißen Haut mitbekommen. Er und Spence waren in den Schulferien zwar nach Hause gekommen, hatten den Großteil der Sommermonate jedoch im Strandhaus bei ihrem Großvater Shuler verbracht. Aber er hatte Vivien nicht tagtäglich sehen müssen, um zu wissen, dass sie ein Langfinger war. Er hatte sie nicht in Aktion erleben müssen, um zu wissen, dass sie sein Zimmer und das von Spence durchwühlt hatte. Sein Bruder und er hatten ihre Bücher und Messer in bestimmten Winkeln hingelegt und dünne Fäden an den Griffen ihrer Schränke angebracht. Jedes Mal, wenn sie zurückkamen, waren die Fäden weg, und die Bücher lagen etwas anders da. Einmal hatte Spence eine Mausefalle in seine Sneakers getan, und als er nach Hause kam, fand er sie in seinen Abendschuhen wieder. Ein anderes Mal hatte er scharfe Pfefferkaugummis in ein Päckchen Wrigley’s Doublemint gesteckt. Als sie in den Frühjahrsferien nach Charleston zurückgekehrt waren, hatte einer davon gefehlt. Nur ein einziger. Darüber hatten sie die ganze Woche gelacht.

Henry stellte den Kessel wieder auf den Herd und strich sich die Haare aus der Stirn. Die Schultern seines Shirts waren vom Regenwasser durchnässt, und er schnippte sich ein Dreckklümpchen von der Brust. Seine Unterarme waren schlammverschmiert, und auf seiner Schulter prangte ein matschiger Handabdruck. Wahrscheinlich hatte er auch Matsch an anderen Stellen, die er nicht sehen konnte. In seinem Leben hatte es eine Zeit gegeben, in der er vermutet hätte, dass Vivien ihn absichtlich mit Matsch beschmierte. Eine Zeit, in der ihre Lippen »Entschuldigung« gehaucht hätten, während aus ihren Augen unmissverständliche Schadenfreude sprach.

Er setzte den kleinen Deckel auf die Kanne und ging zur Speisekammer. Wenn er an Vivien dachte, erinnerte er sich vor allem daran, dass sie schon immer eine kleine Schauspielerin gewesen war. Ihm war in seinem Leben noch niemand untergekommen (und er hatte so einige zwielichtige Typen kennengelernt), der es geschafft hatte, so unschuldig auszusehen, während er das Blaue vom Himmel herunterlog. Man hätte sie mit schokoladenverschmiertem Gesicht und der Hand in der Keksdose erwischen können, und trotzdem hätte sie jeden davon überzeugt, dass man ihr eine Falle gestellt hatte und ihr zutiefst unrecht getan worden war und dass sie nicht die geringste Schuld trug.

In der leeren Speisekammer auf einem Regal standen neben leeren Dosen ein paar rosa Teegedecke. Henry selbst war Kaffeetrinker, aber wenn er nicht gewusst hätte, wie man heißen Tee zubereitet, hätte er mit Schimpf und Schande in den Norden ziehen müssen. Was sich als gut herausstellte, weil Ms. Macy Jane ansonsten nicht viel in ihren Schränken hatte. Ein bisschen Geschirr und loser Tee war schon so ziemlich alles, aber Macy Jane hatte ja auch nicht in diesem Haus gewohnt.

Er trug ein Teegedeck durch die Wohnküche zu einem Tischchen an einem Fenster mit Blick auf den Garten. Vivien hatte hier in Charleston viele Fans. Das Mädchen aus der Stadt, das zum Hollywood-Filmstar geworden war. Macy Jane war Viviens größter Fan gewesen und hatte sich nie auch nur die Mühe gemacht, ihren Stolz zu verhehlen. Aber sie hatte auch nie versucht, irgendein Gefühl zu verbergen. Sie war wahnsinnig stolz auf ihr einziges Kind gewesen. Überall waren Fotos von Vivien, und wenn sie von ihrem »süßen Mädchen« sprach, schien es, als strahlte Sternenlicht um sie herum. Trotzdem war Vivien nur selten gekommen, um ihre Mama zu besuchen.