Kein Tag zum Verlieben - Rachel Gibson - E-Book

Kein Tag zum Verlieben E-Book

Rachel Gibson

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Beschreibung

Lexie soll vor Millionen von Zuschauern heiraten, doch in letzter Sekunde flieht sie vom Set der Fernsehserie »Hafen der Ehe«. Noch im Brautkleid steigt sie in einen Flieger nach Kanada, in der Hoffnung, dort für ein paar Wochen untertauchen zu können. Neben ihr sitzt aber ausgerechnet Sean Knox, Star der berühmten Eishockeymannschaft Seattle Chinooks – deren Coach Lexies Vater ist. Kurz darauf taucht ein Foto der beiden im Internet auf, und das Chaos ist perfekt. Die Presse zieht Lexie gnadenlos durch den Schmutz, bis die beiden auf die Idee kommen, der Welt vorzuspielen, sie wären schon lange ein Liebespaar …

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Seitenzahl: 398

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Buch

Lexie Kowalsky dachte, sie wäre bereit für die Ehe, und wollte einem nahezu Unbekannten vor Millionen von Zuschauern das Jawort geben. Doch in allerletzter Sekunde packt sie die Panik, und sie flieht Hals über Kopf vom Set der erfolgreichen Reality-Fernsehserie »Im Hafen der Ehe«. In ihrem Tüllungetüm von einem Brautkleid ergattert sie einen Platz in einem Flieger nach Kanada, wo sie für ein paar Wochen untertauchen will. Doch neben ihr sitzt ausgerechnet der große Seattle-Chinooks-Star Sean Knox. Und Lexie ist nicht nur eine bekannte TV-Persönlichkeit, sondern auch noch Tochter des Coachs der berühmten Eishockeymannschaft. Als ein Foto der beiden im Internet auftaucht, bricht das Chaos aus. Die Presse stellt Lexie als Luder dar, die einen Mann sitzen ließ, um sich mit dem nächsten zu vergnügen. Bis beide gemeinsam auf die Idee kommen, der Welt vorzuspielen, dass sie schon lange ein Liebespaar sind …

Weitere Informationen zu Rachel Gibson

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Rachel Gibson

Kein Tag zum Verlieben

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Nicole Hölsken

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Running in Heels« bei Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
Copyright © der Originalausgabe by Rachel GibsonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: © FAVORITBÜRO, MünchenUmschlagmotiv: © Caiaimage/GettyImagesRedaktion: Susann HarringMR · Herstellung: kwSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachISBN: 978-3-641-23628-1V002www.goldmann-verlag.de
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»Eigentlich bist du ganz okay für eine Braut, die sich nicht traut.«

»Da bin ich aber froh.« Es hatte sarkastisch klingen sollen, kam aber eher atemlos heraus, als fände sie ihn auch ganz okay – vielleicht sogar noch etwas mehr als nur okay.

Er fuhr mit dem Daumen über ihre Unterlippe. »Wie froh?«

»Ein klein wenig.« Sie brandete ihm entgegen, ihre Brüste pressten sich an seinen Oberkörper. Ihre Hände wanderten zu seinen Schultern empor, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen.

Wie schon am Tag zuvor gab er ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. Seine Zunge berührte die ihre und erkundete ihren Mund, heiß und so intensiv, dass sich ihre Zehen in den Stiefeln krümmten. Der Kuss fing Feuer, und sie klammerte sich an ihn, den einzig Beständigen in ihrem aus den Fugen geratenen Leben.

»Wenn ich gehen soll, dann sagst du es am besten jetzt.«

»Willst du denn gehen?« Sie leckte sich die Lippen.

»Nein.«

Mary Reed.

Passable Köchin. Meine Schneiderin.

Wundervolle Mutter.

Prolog

Simply Irresistible (Robert Palmer)

»Ooooh, das war übel.« John Kowalsky pfiff durch die Zähne und zuckte zusammen. Man hörte einen Pfiff aus der Soundbar, die an der gegenüberliegenden Wand des Schlafzimmers unter einem 55-Zoll-Fernseher hing. »Georgie, Schatz, hast du die Fernbedienung gesehen?«

Ohne den Blick von der Zeitschrift auf ihrem Schoß abzuwenden, streckte Georgeanne Kowalsky die Hand zum Nachttisch aus. Ihre Finger glitten über das glatte Eichenholz, eine Kleenex-Schachtel, ein Handy, einen Krug mit Eiswürfeln und fanden schließlich die Fernbedienung. »Hier«, sagte sie und reichte sie dem Mann, der neben ihr im Bett lag.

»Danke.« Ein weiterer Pfiff, gefolgt vom Klatschen der Hockeyschläger und dem schmatzenden Geräusch aufeinanderprallender Körper, erfüllte das Schlafzimmer in ihrem Haus an der Südspitze von Mercer Island.

»Dieser Kelly skatet, als hätte er ’nen Stock verschluckt.«

Georgeanne überflog ein Keksrezept, das in der Southern Living abgedruckt war, während ihr Mann sein allabendliches Ritual genoss, Hockeyspieler zu beschimpfen und sich durch die Sender zu zappen.

Dies war Georgeanne die liebste Stunde des Tages: wenn sie keinen Alltagspflichten mehr nachkommen musste, wenn John neben ihr lag und nicht unterwegs war, wenn sie durchatmen konnte, weil sie wusste, dass ihr Mann und ihre drei Kinder in Sicherheit und genau da waren, wo sie sein sollten. Dann konnte sie sich entspannen, sich von der wohligen Wärme des Abends einlullen lassen, sich an ihren Schatz, besten Freund und Geliebten kuscheln.

»Ach du Scheiße! Nun mach hinne und überhol diesen Hurensohn schon. Was ist nur los mit diesen jungen Burschen?« Er deutete mit der Fernbedienung auf das TV-Gerät und gab sich die Antwort selbst. »Denen ist ihre Haarpracht wichtiger als die Punkte, die sie ergattern können.«

Georgeanne kicherte. John lebte jetzt seit dreißig von seinen sechsundfünfzig Jahren in den Vereinigten Staaten. Er sprach und ging wie ein Einheimischer und neckte sie oft wegen ihres texanischen Akzents, der ihr wie Frischhaltefolie anhaftete. Aber wenn er sauer wurde, klang John noch immer wie ein waschechter Kanadier mit seinen »ous« und »übas«. Gelegentlich warf er sogar ein paar »ehs« ein.

»Die sind dermaßen weichgespült, dass sie keine Eier mehr in der Hose haben und schießen wie Mädchen.«

Georgeanne sah von ihrer Zeitschrift auf. John hatte die Arme vor der nackten Brust verschränkt. Diese Leier hörte sie jetzt schon seit Jahren. Zum ersten Mal im Jahr 1996, als er sich über Jaromír Jágr und dessen »Mädchenlocken« ausgelassen hatte, die unter seinem Helm dahinwehten.

»Gott, was für eine Schwuchtel.«

Sie sah zum Bildschirm hinüber, just als ein New York Ranger die fragliche Schwuchtel gegen die Bande schleuderte. Seine schwarzen Strähnen, die von der Anstrengung schweißnass waren, sahen wie große, lockige Kommata unter seinem Helm hervor. »Habt ihr Pittsburgh nicht zwölf Millionen Dollar für Knox geboten?«

»Ich nicht. Ich bin nicht dafür verantwortlich.« John deutete mit der Fernbedienung auf seine Brust. »Ich hasse den Typen.«

Bevor Georgeanne John »The Wall« Kowalsky gekannt hatte, hatte sie nur wenig über Eishockey gewusst. Aber im Verlauf der letzten einundzwanzig Jahre hatte sie ein, zwei Dinge darüber gelernt. Sie wusste, was ein Sniper und ein Snapshot waren – trotz des ähnlichen Klangs nämlich zwei vollkommen verschiedene Dinge. Sie hatte den Unterschied zwischen einem Restricted Agent und einem Unrestricted Free Agent gelernt, und sie wusste, dass zu Beginn einer jeden Spielsaison die wildesten Gerüchte über Spielerverkäufe und Teamwechsel kursierten. Es war November, und der war dieses Jahr ihrer Ansicht nach nicht anders als sonst. »Ist Pittsburgh darauf eingegangen?«

»Noch nicht, aber das werden sie.« John legte die Hand auf seinen rechten Oberschenkel. »Er hat die letzte Saison mit neunundachtzig Punkten abgeschlossen.«

Sie wusste, dass ihr Mann das Eis und das Spiel, das er liebte, vermisste. Sie befeuchtete ihren Daumen mit der Zunge und blätterte eine Seite in ihrer Zeitschrift um. Er vermisste das Rumalbern mit dem Bully, während er auf den Einwurf des Pucks wartete.

Sie waren berechenbar geworden, sie und John. Ein altes, verheiratetes Paar in den Fünfzigern mit drei Kindern, von denen zwei bereits aus dem Haus waren. Ihre älteste Tochter, Lexie, war auf Shoppingtour in Stockholm, wo sie einige der besten Showrooms der gesamten Modebranche besuchte. Es war verrückt, aber ihre Boutique für Hundemode florierte. Ihre zweite Tochter war mittlerweile im letzten Jahr auf der Villanova University und studierte Politikwissenschaften. Ihr Sohn Jon Jon schlief am anderen Ende des Flures in seinem Bett.

Berechenbar. Der Trost und die Leichtigkeit eines solchen Lebens hatten viel für sich. Die wohlige Wärme, die einen durchflutete, weil man einen Mann so sehr und schon so lange Zeit liebte, dass man sich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wie es vor ihm gewesen war. Einen Mann, den man durch und durch kannte und der einen ebenfalls über alles liebte. Einen Mann, der ihr Fels in der Brandung war – und sie war sein sicherer Hafen.

»Hast du das gesehen?«

»Nein«, antwortete sie, ohne von der Abbildung eines perfekt in Szene gesetzten Picknicks aufzublicken. Das Lifestyle-Programm, das Georgeanne 1996 in einer kleinen Seilbahnstation in Seattle ins Leben gerufen hatte, hatte mittlerweile einige Kapitalgeber und war landesweit bekannt. Sie war vielleicht keine Martha Stewart, aber Life With Georgeanne hatte einen respektablen …

»Der kann noch nicht mal einen Scheiß-Schlag einstecken«, rief John, nur um sich gleich darauf zu entschuldigen. »Sorry«, sagte er. Doch sie bezweifelte, dass ihm seine Wortwahl tatsächlich leidtat. Er deutete mit der Fernbedienung auf den Fernseher. »Unerträglich, wie weibisch der Kerl ist. Das kann ich mir nicht länger ansehen.«

Ein Lächeln umspielte Georgeannes Lippen, während sie erneut umblätterte. John wurde von den verschiedensten Leuten ganz unterschiedlich wahrgenommen. Für Hockeyfans war er John »The Wall« Kowalsky, Stanley Cup Champion und einer der großartigsten NHL-Spieler aller Zeiten. Für die Menschen aus Seattle war er der Head Coach der Chinooks. Für seine Freunde war er der Typ, den man auf seiner Seite haben wollte. Für seine Kinder war er der beste Dad der Welt, und für sie war er John. Beschützend und loyal denen gegenüber, die er liebte. Abweisend und grob zu denen, die er nicht liebte. Er konnte einen manchmal zur Verzweiflung bringen, war bei anderen Gelegenheiten aber wiederum die Ruhe selbst, aber immer war er berechenbar. Vielleicht auch nur für sie, weil sie ihn kannte. Sie kannte sein Herz, seine Seele und sein Abendritual. Er schaute so lange Hockey, bis er die Spieler als Schwuchteln oder Schlimmeres beschimpfen konnte. Dann zappte er weiter, bis er irgendeine Wissenschaftssendung gefunden hatte. »Irgendwas für die Birne«, wie PBS oder National Geographic oder – wie heute Abend – Nova.

»Die Astronomen der Zukunft werden nicht mehr behaupten können, dass unser Universum durch den Big Bang entstanden ist …« Die Fernbedienung blieb lange genug unberührt, dass man ein paar Brocken Wissen aufschnappen konnte. »… die Dunkle Energie selbst wird die Dunkle Energie zerstören …« Als er genug vom Bildungsfernsehen hatte, zappte er weiter, bis er seinem heimlichen Laster frönen konnte: dem Reality-TV. Dabei konnte er nach Herzenslust ablästern.

»Bei dieser ersten Folge unserer Serie Im Hafen der Ehe haben wir zwanzig wunderschöne junge Frauen aus dem ganzen Land hier in unserem Hafen-Haus versammelt, in dem es zur Ehestiftung kommen soll. Alle aufgebrezelt und alle megagespannt auf den heutigen Bachelor … Pete Dalton!«

»Wo kriegen die nur immer ihre Leute her?« Er lehnte sich gegen die Kissen und ließ die Fernbedienung aufs Bett neben sich fallen, während die Heiratskandidatinnen begannen, sich vorzustellen.

»Ich bin Mandy Crumb aus Wooster, Ohio. Ich liebe Chili-Kochwettbewerbe und die Cleveland Indians!«

»Schau dir diese Mandy an. Sieht aus wie ein nuttiges Landei«, höhnte John.

»Ich bin Cindy Lee Melton aus Clearwater, Florida.«

»Diese Shorts müssen doch gehörig kneifen, Cindy Lee.«

»Ich liebe heiße Sommerabende und Jazz.«

Georgeanne warf einen Blick auf den Bildschirm. Eine Frau in winzigen, abgeschnittenen Shorts und einem roten Gingham-Shirt, dessen Enden zwischen ihren Brüsten zusammengeknotet waren, kletterte gerade von einem großen Traktor hinunter. Wie gut, dass die Frau kleine Brüste hatte, sonst wären sie aus dem knappen Hemd glatt rausgefallen. Georgeanne hätte so ein Shirt nie tragen können. Jedenfalls nicht mehr, seit sie zwölf war.

»Ich bin Davina Gerardo aus Scottsdale, Arizona.«

»Ich wette, dein Daddy ist mächtig stolz auf dich, Davina Gerardo aus Arizona.« John schüttelte in genüsslichem Ekel den Kopf.

»Ich liebe Golf und den Geruch von frisch gemähtem Gras im We-Ko-Pa-Golfclub.«

Georgeanne richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Keksrezept und antwortete auf Johns erste Frage. »Ich glaube, diese Mädels holen sie sich aus Stripclubs.«

»Ich bin Jenny Douglas aus Salem, Oregon. Ich liebe Regenpfützen und Karaoke.«

»Stripperinnen sind nicht so verzweifelt.« Er schlug auf das Kissen in seinem Rücken und machte es sich wieder bequem. »Nicht dass ich wüsste, jedenfalls.«

»Natürlich.«

»Kaum zu glauben, dass sie so einen Scheiß im Fernsehen senden«, beklagte er sich, schaltete aber nicht um, und Georgeanne lächelte.

»Ich bin Summer Williams aus Bell Buckle, Tennessee. Ich liebe den Blues von Muddy Waters und Schleichwege.«

»Zu leicht. Da fehlt mir die Herausforderung, Summer«, antwortete John gedehnt, ihren Akzent imitierend. »Du hast mir direkt in die Arme geschossen, aber mit deinem beschissenen Tor hab ich nichts zu tun.«

»Ich bin Whitney Sue Allen aus Paducah, Kentucky.«

»Du bist so bleich. Das sieht nach Inzucht aus.«

»John …« Georgeanne seufzte.

»Ich liebe Yoga und Daddys Pfirsichwein.«

»Natürlich tust du das. Dein Daddy ist dein eigener Opa.«

»Das ist nicht nett, John. Vergiss nicht, dass ich aus Texas stamme. Nur weil sie auch aus dem Süden stammt, ist sie noch lange kein Produkt von Inzucht.«

»Aber das würde erklären, warum sie bei dieser Show mitmacht.« Er machte eine Pause, als sei er tief in Gedanken versunken. »Auf jeden Fall Inzucht. Und außerdem ist sie mit Bleifarbe aus giftigen Babyfläschchen gefüttert worden.«

Im Fernsehen sah Georgeanne ein barfüßiges Mädchen vom Traktor hinunterklettern und sich zu den anderen hinzugesellen. »Wahrscheinlich hatten sie einfach alle kein richtiges Elternhaus.« Sie wandte die Aufmerksamkeit wieder ihrem Mann zu, dessen Blick unverwandt auf die Reality-Show gerichtet war. »Die armen Dinger.«

»Ihre Mütter sollte man mit einem Schläger durchprügeln.« Ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, griff John nach einer Flasche Wasser auf dem Nachttisch. »Und den Vätern sollte man die Eier abschneiden.« Er gluckste. Niemand lachte herzhafter über seine eigenen Scherze als er selbst. »Mein Gott.« Er setzte sich auf, als hätten ihm die Kissen einen Stoß nach vorn versetzt, und die Flasche schoss quer durchs Zimmer.

»John …«

»Ich bin Lexie Kowalsky aus Seattle, Washington.« Georgeanne spürte, wie ihre Augenbrauen bis zum Haaransatz hinaufschossen, und ihr Kopf wirbelte herum. »Ich liebe die Chinooks und meinen Hund, Yum Yum.«

Beim Anblick ihrer ältesten Tochter, die gerade vom Traktor kletterte, musste Georgeanne blinzeln. Das konnte doch unmöglich wahr sein! Ihre Arschbacken waren unter ihren Shorts deutlich zu erkennen, ihre großen Brüste drohten, ihr gleich aus dem Top zu hüpfen, und das alles in Ultra HD-Auflösung.

Lexie richtete sich auf, warf das blonde Haar in den Nacken und der Kamera jenes große weiße, strahlende Lächeln zu, das ihre Eltern einst Tausende von Dollar für die kieferorthopädische Behandlung gekostet hatte.

Georgeanne schnürte es die Kehle zu, sie brachte keinen Ton heraus. Sie sah ihren Mann an und deutete auf ihre Tochter, die sie beide in Stockholm vermutet hatten.

John blickte fassungslos drein, aber immerhin hatte es ihm noch nicht die Sprache verschlagen: »Was zum Teufel …?«

1

Love is a Hurricane (Boyzone)

Unter dem ombréfarbenen Himmel hing ein orange glühender Feuerball genau über den Wolkenkratzern Seattles und überzog die smaragdgrüne Stadt mit einem goldenen Schimmer, der vereinzelt mit tief violetten Schatten verschmolz.

Der frühe Januarwind kräuselte die Wasseroberfläche des Lake Union und fuhr unter den Kragen von Sean Knox’ schwarzem Mantel. Feuerräder aus weißem Licht tanzten über die silbernen Ränder seiner Pilotensonnenbrille, und durch die entspannende Wärme des Grey Goose war sein Blick dahinter schläfrig. Der Wodka ließ alles ein wenig verschwimmen und beruhigte sein Magengrummeln. Vor Ende der Nacht wollte er noch viel schläfriger werden. Sean trank nicht besonders viel, insbesondere nicht während der Saison. Damit sein Körper weiterhin Höchstleistungen erbrachte, mied er jedes Junkfood, und niemals vergiftete er sich mit Schnaps. Außer heute Abend.

Er hob einen durchsichtigen Plastikbecher an die Lippen und atmete den Geruch von Seewasser und kaltem Holz ein. Unter gesenkten Lidern hervor beobachtete er, wie die luxuriösen Jachten und die Fischtrawler die orangefarbene Spur durchschnitten, die zu dem unter Seans Lederschuhen wogenden Landungssteg führte. Er sog einen Eiswürfel ein. Ein paar Meter weiter ritt die Sea Hopper über die goldgesäumten Wellen wie ein Frosch auf einem schimmernden Seerosenblatt.

Sean schob den Eiswürfel in seine Wange und fragte über seine Schulter hinweg: »Wie lange noch?«

Ohne den Blick von der zerfledderten Checkliste in seinen Händen zu heben, antwortete Jimmy Pagnotta, der Besitzer des Amphibienflugzeuges: »Zehn Minuten.« Sean nahm Jimmys Dienste nun schon wiederholt in Anspruch. Der Typ trug stets einen Helm aus dem Zweiten Weltkrieg samt Schutzbrille über dem Männerdutt. Durch seinen Will Forte-Bart sah er immer aus wie eine Kreuzung aus Charles Lindbergh und dem Last Man on Earth. »Spätestens um Viertel vor acht«, fügte er hinzu.

Sean sah auf seine schwarze Titanuhr am linken Handgelenk, während er den Eiswürfel zerbiss. Sie hatten bereits fünfzehn Minuten Verspätung, denn eigentlich hatten sie um Viertel nach sieben losfliegen sollen. Sean hasste die Warterei, insbesondere auf Leute, die so undiszipliniert waren – oder besser noch, so gedankenlos, dass es sie gar nicht kümmerte, was für ein Chaos sie anderen durch ihre Unpünktlichkeit zumuteten.

»Auf wen warten wir noch mal, hast du gesagt?«

»Ich habe gar nichts gesagt.« Jimmy öffnete die Cockpit-Tür und schob die Checkliste in eine Seitentasche.

Dann sagte er nichts mehr, und Sean wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Kajakfahrern zu, die – allesamt in Patagonia-Klamotten – an der Sea Hopper vorbei und auf die Hausboote zu paddelten, die weiter oben an der Ostküste vertäut lagen.

Das Amphibienflugzeug war in leuchtendem Grün gestrichen, mit großen roten Augen über dem Cockpit und mit orangefarbenen Schwimmhäuten an der Seite. Wenn es wärmer war, füllte sich das viersitzige Wasserflugzeug normalerweise mit Touristen, die einen zwanzigminütigen Rundflug über die Stadt gebucht hatten. Stündlich, immer um halb, konnten die am Boden Gebliebenen hoch oben in der Luft einen fliegenden Laubfrosch beobachten, der an der Space Needle vorbeiflog oder um Bill Gates’ Villa in Medina herumsurrte. Das Anwesen des Multimillionärs war ein großer Publikumsmagnet und eine Geldmaschine für die Tourismusbranche. Die meisten Menschen waren von dem riesigen Besitz und dem herrlichen Gelände schwer beeindruckt und erstarrten förmlich in Ehrfurcht vor dem wahnsinnigen Reichtum. Außerdem waren sie natürlich fasziniert von dem technischen Schnickschnack, der dort seinen Ursprung hatte.

Aber Sean Knox war nicht wie die meisten Menschen. Es gab nicht allzu viel, was ihn beeindrucken konnte, von Ehrfurcht ganz zu schweigen. Kein herrlicher Sonnenuntergang und auch kein über sechstausend Quadratmeter großes Anwesen. Früher war er arm gewesen, und jetzt war er reich. Er zog es vor, reich zu sein, trotzdem empfand er keine Ehrfurcht davor, und mit seinem Geld ging er stets sorgsam um. Manche hätten ihn vielleicht sogar als Geizkragen bezeichnet, doch er selbst betrachtete sich eher als praktisch. Dem Piloten der Sea Hopper beispielsweise hatte er die dreifache Summe des Normalpreises bezahlt, weil es sinnvoll war. Das gecharterte Amphibienflugzeug ersparte ihm die üblichen elf Stunden Reisedauer in die kleine Stadt, in der er sein erstes Lebensjahrzehnt verbracht hatte. In Sandspit, British Columbia, steppte nicht gerade der Bär, und er fragte sich, warum irgendjemand außer ihm es eilig haben sollte, um diese Jahreszeit dort hinzufliegen.

Dies war das zweite Mal, dass er das Wasserflugzeug gechartert hatte, seitdem er bei Seattle unter Vertrag war, und das war nun erst ein Monat. Er hatte gar nicht vorgehabt, diese Reise so schnell noch einmal anzutreten, und trotz des Chaos, das ihn wieder einmal erwartete, würde er gewiss nicht länger bleiben als die geplanten zwei Tage. Er hatte nur eine kleine Dufflebag gepackt, dazu eine Flasche Grey Goose und ein Six-Pack Schweppes Tonic.

»Die zehn Minuten sind vorbei.« Er leerte den Becher und sah Jimmy an. »Vielleicht taucht dein Passagier gar nicht auf.«

»Sind noch keine fünf um.« Der Pilot zog ein Handy aus der Tasche seiner Bomberjacke und studierte es ein paar Sekunden lang. »Ich hätte mich nicht auf einen zweiten Passagier eingelassen, wenn es sich nicht um einen Notfall gehandelt hätte.« Er wandte die Aufmerksamkeit wieder der Küste zu, als erwarte er irgendeine Form von Signal.

Notfall oder nicht, Sean hoffte inständig, dass die Person, auf die sie warteten, nicht versuchte, von irgendeinem Ort, der sich in einem Zwanzigmeilen-Radius um die Innenstadt Seattles herum befand, mit dem Auto hierherzugelangen. Denn wenn doch, dann steckte der andere Passagier mit Sicherheit im Verkehrschaos fest. Das war dieser beschissenen Fernsehserie Im Hafen der Ehe zu verdanken. Der Mob belagerte das Fairmont Hotel, um einen Blick auf das frischgebackene Ehepaar aus der Reality-Show zu werfen und zu jubeln, als ob die Seahawks wieder den Superbowl ergattert hätten. Die NBC hatte in der Stadt sogar Großbildschirme aufgestellt, damit die Fans Zeugen davon wurden, wie das glückliche Paar sich das Jawort gab – live im Fernsehen vor den Augen des ganzen Landes.

Sean hatte sich diese Sendung nie angesehen, aber er konnte ihr dennoch nicht entkommen. Das Hafen-der-Ehe-Fieber hatte sich in den USA schneller ausgebreitet als ein Virus in der Grippesaison, und wie es schien, waren alle infiziert außer ihm selbst. Selbst die Jungs in der Chinooks-Umkleide hatten jede Folge dermaßen eindringlich besprochen, als ob sie für ihre persönliche Zusammenfassung und Kritik bezahlt würden. Sie hatten über die Intrigen und Machenschaften diskutiert und jede Woche Wetten abgeschlossen, welches Mädchen wohl dieses Mal nach Hause geschickt würde. Natürlich hatte ihr Interesse viel mit Lexie Kowalsky zu tun. Einige der Jungs kannten Lexie, und ihre Fähigkeit, die anderen Junggesellinnen zu täuschen und aus der Show zu drängen, erfüllte sie mit Stolz. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass die Tochter von John Kowalsky den Mumm und die Entschlossenheit besaß, jedes andere Mädchen niederzuwalzen und dann so weit zu kommen, dass sie vor laufender Kamera heiraten konnte.

Sean hatte Lexie nie kennengelernt. Sie waren schon bei der dritten von zehn Folgen angelangt, als er bei den Chinooks eingestiegen war. Aber er wusste, wie sie aussah, und zwar durch Werbespots, Zeitschriftencover sowie von den mobilen Werbeplakaten, die in Seattle herumfuhren – Pixel für Pixel gephotoshoppt, mit blendend weißen Zähnen, noch strahlenderen blauen Augen und einer vollkommenen Erscheinung vom Scheitel ihrer blonden Haare bis hin zu den pink lackierten Fußnägeln. Sie wirkte überlebensgroß, wie sie da auf einem Traktor saß und einen Mann hinter sich herzog, der in Erntegarn gewickelt war. Der Typ trug ein dümmliches Lächeln zur Schau, wodurch er wie ein waschechter Schlappschwanz wirkte. Unter gar keinen Umständen hätte Sean so etwas je mit sich machen lassen. Und wenn das tausendmal ein Vorurteil war: Diese beiden hatten sich schließlich darauf eingelassen, dann mussten sie auch damit leben, dass man sie verurteilte. Sein Schuldspruch: Die Braut war wahrscheinlich so blöd wie die Reklametafeln, der Bräutigam mutmaßlich ein Schlappschwanz, und beide waren so falsch wie ihre beschissene Show.

Sean spürte, wie der Wodka die behagliche Wärme noch um ein paar Grad steigerte. Lexie Kowalsky war in Wirklichkeit vermutlich gar nicht so hübsch wie auf den Bildern, und diese Titten, die ihr auf jedem Bild praktisch aus dem Shirt fielen, waren vielleicht sogar vom Geld ihres Vaters gekauft. Wenn Coach Kowalsky nicht so ein Arschloch gewesen wäre, hätte der Kerl ihm glatt leidgetan.

Es war kein Geheimnis, dass Kowalsky Kessel und Stamkos nicht gegen Sean hatte austauschen wollen, und bei der Vorstellung, wie John »The Wall« mit Smoking verkleidet gezwungen sein könnte, in Im Hafen der Ehe aufzutreten, musste Sean unwillkürlich grinsen.

Sean wandte seine Aufmerksamkeit vom Parkplatz ab und sah Jimmy an. »Was für ein schrecklicher Notfall kann das schon sein, wenn jemand es so eilig hat, ausgerechnet nach Sandspit zu kommen?« Er nahm die Sonnenbrille ab und schob sie in eine Jackentasche. »Ein Kunst-Happening oder ein Banküberfall.«

»Was?« Jimmy warf Sean einen Blick zu, dann sah er wieder zur Küste hinüber. »Nicht unbedingt schrecklich, aber ich …« Jimmys Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Ach du Scheiße. Jetzt geht’s los.«

Sean folgte Jimmys Blick, als ein silberfarbener MINI Cooper mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz zum Stehen kam. Die Tür flog auf, und ein weißer Bausch brach aus dem Wagen hervor wie eine altmodische Dose Jiffy Pop. Der Bausch kämpfte ein paar Sekunden lang, breitete sich aus, knurrte, dann fiel er praktisch aus dem Auto, wobei er noch größer wurde. Die ganze Szenerie war so unwirklich, dass Sean sich nicht gewundert hätte, wenn auch noch ein paar Clowns herausgesprungen wären, einer nach dem anderen, trötend und allerlei Possen treibend. Ja, Sean war ein wenig betrunken. Vielleicht sogar mehr als nur ein wenig, aber er war nicht sturzbesoffen. Er halluzinierte noch nicht. Nur um sicherzugehen, sagte er: »Sag mir, dass du das Gleiche siehst wie ich.«

»Jep.« Der Fahrer streckte die Hand aus dem Fenster und winkte, als wolle er ihnen ein Zeichen geben. Jimmy winkte zurück, und der MINI Cooper raste davon und ließ den weißen Bausch dort stehen. Die untergehende Sonne spiegelte sich in dem Bausch und ließ lauter funkelnde Lichter entstehen, und der kalte Wind verfing sich in dem Schleier und peitschte ihn um den Kopf einer Frau. Zumindest nahm Sean an, dass es eine Frau war, die jetzt nach dem Schleier schlug, als werde sie von einem Bienenschwarm angegriffen. In diesem übertriebenen Schaum und Glitzer hätte es sich genauso gut um eine Drag-Queen handeln können, fand er. Plötzlich wirbelte das Wesen erst nach rechts, dann nach links, beugte sich dabei vor, packte jeweils einen Arm voll des Kleides und sprintete auf sie zu.

»Einsteigen. Wir starten.«

»Was?«

Satin und durchsichtiger Schleier wirbelten um sie herum und wehten hinter ihr her, während sie über den Parkplatz rannte und den lang gezogenen Landungssteg betrat. Sean hob die Hand, um die Augen vor den nadelstichartigen Blitzen zu schützen, die dieses entsetzliche Kleid in der Sonne aussandte. »Wir warten die ganze Zeit auf das da?«

Ohne eine Antwort kletterte Jimmy ins Cockpit der Sea Hopper und startete den Motor. Das stetige Tap-tap-tap der Heels dieser Frau auf dem schwankenden Steg wurde von dem dreiblättrigen Propeller übertönt, der sich langsam zu drehen begann.

»Einsteigen!«, wiederholte Jimmy, als er wieder auf den Kai sprang. Er hielt zwei Kopfhörer fest, von denen er einen Sean in die Hand drückte. »Wir müssen los«, rief er, und seine Stimme klang so drängend wie die eines Schmugglers, dem die Polizei dicht auf den Fersen ist.

Sean nahm die Kopfhörer entgegen, konnte den Blick aber nicht von diesen langen Beinen und den glitzernden Pumps abwenden. Der Landungssteg schwankte auf den Wellen, und Sean befürchtete fast, dass sie mit den hohen Absätzen ins Straucheln geraten, sich den Knöchel verstauchen oder gleich in den See fallen würde.

»Einsteigen«, rief Jimmy ein drittes Mal. Sean warf einen letzten Blick auf die Frau, trat auf die Kufen und kletterte in die kleine Kabine. Jimmy hatte die erste Sitzreihe entfernt, damit es bequemer war, aber trotzdem war das Flugzeug noch ziemlich eng. Zumindest für einen eins zweiundachtzig großen Mann, der fast hundert Kilo auf die Waage brachte. Er setzte sich auf den Steuerbord-Sitz und legte sich den Bluetooth-Kopfhörer um den Nacken. Er erinnerte ihn an die Monster Beats, die er beim Sport trug, nur dass diese hier technisch noch ausgefuchster und mit einem kleinen Mikrophon ausgestattet waren. Er duckte den Kopf, um aus dem Doppelfenster zu blicken, während er den Kopfhörer aufsetzte. Sean hatte in seinem Leben durchaus schon viel Verrücktes gesehen, aber das hier stand ganz oben auf der Liste, zusammen mit singenden Hunden, sprechenden Fischen und Basketball spielenden Elefanten.

Einige Augenblicke vergingen, bevor die weiße Erscheinung vor dem Fenster auftauchte. Das Propellergeräusch wurde lauter, die Propellerblätter peitschten das Wasser und ließen den Schleier wie wahnsinnig um das Gesicht der Frau herumwirbeln. Jimmy kämpfte gegen den duftigen Schaum an, dann konnte Sean sie plötzlich nicht mehr sehen. Er fragte sich, wie sie diesen ganzen Stoffberg in die Sea Hopper kriegen wollte. Er stopfte sich die kleinen Gelknöpfe der Kopfhörer in die Ohren und adjustierte das Mikro am linken Mundwinkel. Ein paar Sekunden verstrichen, dann wurde der Berg aus Gaze mit dem Kopf vorneweg durch die Tür geschoben. Über den Kopfhörer hörte er den Befehl einer weiblichen Stimme: »Schieb mich rein, Jimmy!«

Sean hätte ja durchaus seine Hilfe angeboten, wenn er gewusst hätte, wo er hätte anpacken sollen. Doch er konnte nur das Obere einer Strass-Krone, eine Masse blonden Haars und meterweise Schleier erkennen. Am Haar konnte er sie wohl schlecht hereinziehen. Schließlich war er ja eigentlich ein netter Kerl.

»Reinschieben, wie denn?«, fragte Jimmy.

»Keine Ahnung. Stoß mich einfach!« Eine Hand griff nach dem Metallgestänge des Pilotensitzes, dann explodierte der Bausch wie ein Champagnerkorken mit einem atemlosen »Uff«.

Sean starrte die Explosion aus Weiß an. Das Kleid bedeckte seine Füße und war aus der Nähe sogar noch hässlicher. Die ganze Szenerie wurde mit jeder Minute verrückter. Vielleicht hätte er weniger von dem Grey Goose trinken sollen.

Jimmy machte die Sea Hopper los und kletterte ins Cockpit. Er trug das Headset über seinem Helm und schloss die Tür hinter sich. Er drückte Knöpfe und legte Schalter um und lenkte das Flugzeug vom Landungssteg fort. »Anschnallen«, befahl er übers Mikrofon, während das Wasserflugzeug auf die rote Boje inmitten des Sees zufuhr. Die kleine Maschine schaukelte, und die Frau zu Seans Füßen kam in diesem Ungetüm von einem Kleid mühsam auf die Knie. Er hörte ein »Rums!« und erlebte dann den totalen Zusammenbruch. Sie lag ein paar Sekunden lang mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, bevor es ihr gelang, sich auf den Rücken zu drehen. Die Sea Hopper bog nach rechts ab und gewann an Tempo.

Die Augen der Frau waren geschlossen, und ein winziges Mikrofon befand sich neben ihren vollen roten Lippen. Ein roter Mund, der einen starken Kontrast zu all dem Weiß bildete. Ihre Lippen bewegten sich, und er glaubte, sie flüstern zu hören: »Ich habe ein Riesen-Riesen-Problem.« Während das Flugzeug über den Lake Union schoss, gab sie irgendetwas zwischen Stöhnen und Wimmern von sich. Das Oberteil ihres Kleides hatte sich nicht ganz mit ihr umgedreht, und ihre rechte Brust sah aus, als würde sie gleich ins Freie springen. Eine große, perfekte Brust, die sich gegen die auf den Satin aufgenähten Strass-Steine drängte. Vielleicht sollte er ihr helfen, das Kleid wieder richtig anzuziehen und ihre Titten für sie geradezurücken. Darin war er ein Meister.

Sie schob sich den Schleier aus dem Gesicht und fummelte eine Haarsträhne aus ihrem Mund. Ihre dunkelblauen Augen öffneten sich, ein wilder, fast irrer Blick, umrahmt von langen schwarzen Wimpern. Nicht, dass Sean normalerweise besonders auf weibliche Wimpern achtete, aber ihre konnte man kaum übersehen. Ihre Wangen waren beinahe genauso weiß wie ihr Kleid. Sie atmete tief, wobei sich ihre Brust hob und senkte. Der Stoff über ihren Brüsten spannte sich derartig, dass die Strass-Steine fast abgeplatzt wären. Das Wasserflugzeug erhob sich in die Lüfte, und diesmal verstand er sie ganz deutlich, als sie sagte: »Ich kann kaum glauben, dass ich das gerade getan habe. Die werden mich alle umbringen.«

Sean gluckste und ließ den Gurt über seinem Schoß einschnappen. Sein Glucksen verwandelte sich schon bald in markerschütterndes Gelächter, das von dem Dreihundert-PS-Motor übertönt wurde. Anscheinend war da gerade jemand durchgebrannt.

2

Always have an escape plan (aus: James Bond – Die Welt ist nicht genug)

Alexis Mae Kowalsky legte eine Hand auf ihren Magen und schloss die Augen. Über die Kopfhörer, die ihr Jimmy mühsam über die Ohren geschoben hatte, hörte sie jemanden lachen. Es war nicht Jimmy, aber das war ihr in diesem Augenblick egal. Der Boden unter ihr schwankte und schaukelte, aber es war nicht die Sea Hopper, derentwegen sich ihr der Magen drehte. »Mir wird schlecht«, flüsterte sie. Es war der Gedanke an ihren Vater, der im Saal des Fairmont Hotels auf sie wartete, um sie zum Altar zu führen. Ihre Eltern waren gegen ihre Hochzeit mit Peter Dalton gewesen. Ihre Mutter hatte gemeint, dass sie noch etwas warten sollte, und ihr Vater hielt Peter für ein Weichei. Beide hatten nicht glauben können, dass sie tatsächlich jemanden heiraten wollte, den sie in einer Reality TV-Show kennengelernt hatte. Und sie hatten in jeder Beziehung recht gehabt, aber Lexie war viel zu sehr vom Im-Hafen-der-Ehe-Fieber infiziert gewesen, um auf sie zu hören.

Doch jetzt hatte sie es getan.

Auch schon während der Show hatte sie innegehalten und nachgedacht. In diesen seltenen klaren Augenblicken hatte ihr gesunder Menschenverstand ihr die guten und einleuchtenden Gründe vor Augen gehalten, warum sie diese Hochzeit abblasen sollte. Der wichtigste Grund von allen war:

1.Sie liebte Pete nicht.

a.Nicht im Geringsten.

Da war ihr bewusst gewesen, dass es Wahnsinn wäre, ihn zu heiraten. Die Angst hatte sich in ihren Eingeweiden eingenistet und ihr die Luft abgeschnürt, und sie hatte das Gefühl gehabt, lauthals losschreien zu müssen: »Ich kann Pete nicht heiraten!«

Doch dann hatte der Selbstbetrug wieder das Ruder übernommen und sie beruhigt wie ein warmes Bad mit Rosenblüten. Dieses Gefühl hatte sie genossen. Der Selbstbetrug hatte ihr tröstliche Lügen eingeflüstert und ihr genau das gesagt, was sie hatte hören wollen.

1.Pete schien ein netter Kerl zu sein.

a.Er hatte gute Manieren und öffnete ihr jede Menge Türen.

2.Sie würde ihn mit der Zeit schon lieben lernen.

a.Er war gut aussehend und hatte sie zwanzig anderen Frauen vorgezogen.

3.Sie hatte eigentlich bei der Wahl ihrer Männer immer Pech gehabt.

a.Sie hatte echt kein Händchen gehabt, wie man an ihren früheren Freunden deutlich sah:

(1)Tim

(2)Rocky

(3)Dave

4.Millionen von Menschen hielten sie und Pete für ein Traumpaar.

a.Das ganze Land erwartete eine rauschende Hochzeit.

Aber trotz dieser meisterlichen Argumentation hatte sie eins nicht verleugnen können: Sie hatte sich auf diese übereilte Hochzeit mit Pete eingelassen, weil

1.sie keine Ahnung hatte, wie sie aus der ganzen Sache wieder rauskommen sollte.

Je länger sie es hatte laufen lassen, umso größer war es geworden. Es war wie ein großer Felsbrocken, der ihr bergab hinterherrollte, und sie hatte sich machtlos gefühlt, hatte ihn nicht aufhalten können.

Der einzige Mensch, dem sie sich anvertraut hatte, war ihre beste Freundin Marie. Sie kannte Marie nun schon fast ihr ganzes Leben lang, und sie war auch die Einzige gewesen, die ihre Panikattacke im Wirtschaftsraum des Fairmont Hotels mitbekommen hatte.

Eine Viertelstunde, bevor sie zum Altar schreiten sollte, hatte die Angst ihr die Kehle zugeschnürt und ihr die Luft zum Atmen genommen. Sie war stärker gewesen als ihre Fähigkeit zum Selbstbetrug, sodass es aus ihr herausgeplatzt war: »Ich kann das nicht.«

Der Regisseur von Im Hafen der Ehe hatte die beiden in den kleinen Wirtschaftsraum geschafft, während die Filmcrew sich darauf vorbereitete, einen Schnappschuss von ihrem Vater zu machen, wenn er sie zum ersten Mal im Brautkleid sah. Der Gedanke daran, dass sie ihren Vater in ihre Scharade hineinzog, hatte sie hinzufügen lassen: »Das ist alles so verkehrt!« Dann hatte sie sich die zitternde Hand vor den Mund gehalten, um ihre wahren Gefühle für sich zu behalten, aber sie waren trotzdem herausgekommen. »Ich muss, aber ich kann nicht! Er hat hässliche Zehen, Marie. Wirklich ekelhaft!«

»Und eine Vokuhila«, hatte ihre beste Freundin hinzugefügt.

»Unsere Kinder werden also hässliche Zehen und Vokuhilas haben!« Sie hatte gestöhnt. »Aber ich muss ihn heiraten.«

Marie hatte ihre Hände auf Lexies Schultern gelegt und ihr in die Augen gesehen. »Liebst du Pete?«

»Nein, aber ich muss das durchziehen! Mein Gesicht prangt auf sämtlichen Werbeplakaten und Titelseiten der Zeitschriften. Die Dreharbeiten zu Im Hafen der Ehe – Die Flitterwochen fangen übermorgen an, und in ein paar Wochen gibt es auch noch eine Reunion! Alle Mädchen werden dorthin kommen. Ich muss einfach da sein. Verheiratet.« Ihre Wangen waren heiß, und ihr war schwindelig geworden. »Da komm ich jetzt nicht mehr raus!«

Jemand hatte an die Tür geklopft, und Lexie wäre fast aus ihrem dämlichen Kleid gefahren. »Noch fünfzehn Minuten.«

»Du musst es ihnen sagen.«

Das wäre das Richtige gewesen, aber gleich vor dem Regisseur und dem Produzenten zu stehen und beiden zu sagen, dass sie die Hochzeit nicht durchziehen konnte, für die sie jetzt schon Unsummen ausgegeben hatten – und das nur, weil sie bei der zeremoniellen Scheunenverbrennung Ja gesagt hatte –, bei dieser Vorstellung war ihr prompt schwarz vor Augen geworden. »Ich kann nicht.«

Ihre beste Freundin hatte ihr die Hand entgegengestreckt. »Lass uns abhauen.«

»Wie?« Marie war immer schon die Tatkräftigere von ihnen beiden gewesen. Lexie war eher die Planerin. Sie hatte schon vor Jahren die Erfahrung gemacht, dass es nach hinten losging, wenn sie impulsiv handelte. Manchmal mit gefährlichen Konsequenzen.

»Ich sage ihnen, dass du ins Bad musst.« Marie hatte einen Augenblick geschwiegen, und Lexie hatte förmlich sehen können, wie sich der Plan in ihrem Hirn zu formen begann. »Du wirst Geld brauchen. Ich habe nur zwanzig Dollar dabei.«

Lexie hatte ihre linke Brust getätschelt. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie keine Handtasche mitnehmen konnte, war Körbchengröße E meist recht praktisch. »Ich habe meine Visa-Karte dabei.«

»Was sonst noch?«

»Den Führerschein und Pfefferminz-Tic Tacs.«

»Mein Wagen steht direkt an den Aufzügen im Parkhaus.«

»Du hast einen MINI Cooper!«

»Niemand wird dahinter ein Fluchtauto vermuten.« Marie hatte ein Stück Papier und einen Stift an einer Restaurant-Karte gefunden und beides an Lexie weitergereicht. »Wir müssen nur hingelangen, ohne Verdacht zu erregen.«

»Und dann was?«

Ohne zu zögern, hatte die Meisterintrigantin gesagt: »Rufe ich Jimmy an. Hoffen wir mal inständig, dass er nicht gerade Touristen um die Space Needle fliegt und dich so schnell wie möglich hier wegschaffen kann.«

Es war verrückt, aber die Heirat mit einem Mann, den sie erst seit zehn Wochen kannte, mit dem sie, wenn es hochkam, insgesamt zwölf Stunden verbracht hatte und den sie nicht liebte, war das schließlich auch. Es war impulsiv. Sie handelte nicht gern so spontan, aber es schien der einzige Ausweg zu sein. Sie hatte den Stift genommen, bevor sie es sich anders überlegen konnte, und ihren Eltern eine kurze Nachricht sowie eine Entschuldigung an Pete geschrieben. »Das ist womöglich der größtmögliche Schlamassel, in dem eine von uns bislang gesteckt hat.«

Marie hatte gegrinst wie damals mit fünfzehn, als sie vor dem Platzwart in Broadmoor davongelaufen waren. »Mitgehangen, mitgefangen.«

Das Produktionsteam hatte stets alles im Blick. Lexie war beinahe sicher gewesen, dass ihr Plan scheitern würde, aber glücklicherweise hatten sie es bis zu den Aufzügen geschafft, ohne entdeckt zu werden. Ihre Glückssträhne hatte auch dann noch angehalten, als Marie Jimmy angerufen hatte, der gerade vom Lake Union Kai abfliegen wollte.

»Wo will er hin?«, hatte Lexie gefragt.

»Nach Kanada.« Marie hatte ihr Handy in den Becherhalter gelegt. »Er hat nicht gesagt, wohin genau. Ich denke, irgendwo nach Vancouver. Wahrscheinlich zu einem dieser protzigen Häuschen oder an einen See oder eine Hütte mit Uferblick.«

Wieder war das Glück auf Lexies Seite gewesen. Ihr Vater war Kanadier, und sie besaß die doppelte Staatsbürgerschaft. Ihr Führerschein war auch in Kanada gültig, und eine schicke, kleine Hütte am See war ihr einfach himmlisch vorgekommen.

Die schwierigste Aufgabe hatte dann aber darin bestanden, sich in Maries MINI Cooper zu zwängen. Jetzt war sie ihrer Freundin echt etwas schuldig. Und Jimmy auch.

Das Amphibienflugzeug hob vom Lake Union ab, und Lexie versuchte nicht einmal aufzustehen. Sie starrte das Deckenlicht über ihrem Kopf an, und ihr wurde bewusst, dass sie nicht allein war. Außer Jimmy war noch jemand an Bord. Jemand mit großen Lederschuhen und ohne Socken. Sie machte sich nicht mal die Mühe, sich umzudrehen, um zu dem Mann aufzublicken, dem die Schuhe gehörten. Immerhin hatte sie alle Hände voll damit zu tun, sich nicht zu übergeben.

»Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gemacht habe.«

Sie zog die Hand unter dem dreilagigen, meterlangen Schleier hervor und legte sie sich auf die Stirn. Alles bei Im Hafen der Ehe war geplant, organisiert und kontrolliert gewesen. Alles, angefangen bei der Anzahl der Anrufe, die sie von dem schweineförmigen Telefon im Hafen-Haus aus hatte tätigen dürfen, bis hin zu ihrem megaprotzigen Prollo-Hochzeitskleid. Die Produzenten hatten alles möglichst geschmacklos haben wollen. Wenn Lexie nicht so aufs Gewinnen versessen gewesen wäre, wäre ihr klar gewesen, dass es auf eine stereotype Bauernhochzeit hinauslief, und wenn sie nicht vor lauter Konkurrenzdenken im Tunnelblick gefangen gewesen wäre, hätte sie irgendetwas unternommen, um schon nach der dritten Folge hinausgeworfen zu werden.

Wenn es nämlich eins gab, was Lexie mied, dann war es Kitsch. Geschmacklosigkeit war ihr von Geburt an ausgetrieben worden. Der Auffassung ihrer Mutter nach war Geschmacklosigkeit gleichzusetzen mit einer Bandana um den Kopf und unrasierten Achselhöhlen. Oder schlimmer noch: weiße Schuhe noch vor Ostern. So etwas machte man einfach nicht.

Das Flugzeug hatte sich langsam eingependelt, und ihr Magen beruhigte sich. Mühsam versuchte sie, sich aufzusetzen und musste sich dabei erst auf die eine, dann auf die andere Seite rollen – wie ein Käfer, der hilflos auf dem Rücken liegt.

»Alles klar, Lex?«, fragte Jimmy über die Kopfhörer.

»Ging mir schon besser.« Es gelang ihr, sich aufzurichten und sich an den Flugzeugrumpf zu lehnen. Die Korsettstäbe ihres Kleides stachen ihr in die Rippen und quetschten ihre Brüste zusammen, und ihre Louboutin Stilettos aus Satin und Strass taten an ihren Füßen weh. Sie hatte Glück gehabt, dass sie sich nicht den Knöchel verstaucht hatte, als sie auf die Sea Hopper zugesprintet war. Aber sie war eine Expertin darin, in zehn Zentimeter hohen Absätzen zu rennen, und hielt das für eine Kunst. Seit einigen Jahren schon war sie bei Heels for Meals mitgelaufen, einem Ein-Meilen-Rennen zugunsten der örtlichen Tierheime. Außerdem war sie in Italien einem Taschendieb hinterhergerannt, aber nie hatte sie es auf einem schwankenden Landungssteg versucht.

Das verdammte Diadem auf ihrem Haar ziepte und zog an ihrer Kopfhaut, als ihr nun mit einem Schlag die ganzen Folgen ihres Tuns zu Bewusstsein kamen. Tränen brannten hinter ihren Augen. Mittlerweile hatte ihre Familie wahrscheinlich entdeckt, dass sie verschwunden war. Sie war vor dem Chaos, das sie angerichtet hatte, geflohen und hatte auch noch Marie mit hineingezogen. Und den Scherbenhaufen hatte sie ihrer Familie überlassen.

1.Weil sie ein Feigling war.

»Brauchen Sie einen Drink?«

Lexie wandte den Kopf nach links und sah den Besitzer der großen Schuhe endlich an. Tränen vernebelten ihren Blick, aber sie musste nicht klar sehen können, um zu erkennen, wie gut er aussah. Er gehörte zu der Art von Mann, bei dem eine Frau froh war, dass sie kürzlich ihren dunklen Ansatz hatte nachfärben lassen, damit er zum Rest ihres blonden Haars passte, und dass sie sich auch die Wimpernverlängerungen hatte erneuern lassen. In diesem Augenblick jedoch war sie gegen jegliche Männer immun. Sogar gegen gut aussehende Männer mit dunkler Haut und atemberaubenden grünen Augen.

»Was haben Sie denn da?« Sie wischte sich die Tränen ab. Der Typ hatte dunkelbraunes Haar, das ihm bis auf den Kragen seiner Jacke herabfiel. Der Bartschatten an seinem kantigen Kinn ließ seine Haut sogar noch dunkler wirken. Und er war kräftig. Nicht nur von Natur aus, sondern auch durch regelmäßiges Workout. Wahrscheinlich waren die Muskeln unter seiner schwarzen Jacke eisenhart, die Brust gemeißelt, der Bauch ein Sixpack. Diesem Typ von Mann hatte sie nach ihrer letzten Beziehung ein für alle Mal abgeschworen. Na ja, nach der letzten Beziehung vor Pete. Der Kerl verströmte Testosteronwolken wie Kohlenmonoxyd. Unsichtbar und tödlich.

»Grey Goose mit Tonic.« Er zog eine Dreiviertelliterflasche Wodka aus einem YETI-Kühler zwischen den Sitzen.

»Zitrone?« Seine Körpergröße hätte einige Frauen vielleicht eingeschüchtert. Nicht so Lexie. Sie selbst war fast eins achtzig groß und liebte es, sich an die Brust eines großen Mannes zu schmiegen.

Er gluckste, und zarte Linien umkränzten seine Augenwinkel. »Nein, Prinzessin.«

»Ich bin keine Prinzessin.« Normalerweise trank Lexie eher Wein, aber in der Not fraß der Teufel Fliegen, und ein oder zwei Shot Wodka würden ihre angespannten Nerven beruhigen.

Er deutete mit der Flasche auf ihren Kopf. »Aber Sie tragen eine Krone.«

»Ja.« Sie hob die Hände und zog die erste von vielen Haarnadeln aus ihrer Frisur. Lexie war unter Hockeyspielern aufgewachsen. Riesige Männer mit harten Muskeln und breiter Brust. In jungen Jahren war sie einem geradezu toxischen Maß an Testosteron ausgesetzt gewesen. Sie war gegen das alles immun: gegen riesige Männer, harte Muskeln und toxisches Testosteron.

»Ist das ein Ja, weil Sie eine Krone tragen? Oder ein Ja, weil Sie einen Drink wollen?«

»Beides.« Sie zog noch mehr Haarnadeln heraus, bis sie sich endlich den Schleier vom Kopf reißen konnte. »Mehr Tonic als Wodka.« Als Kind hatte sie es geliebt, mit ihrem Dad und den Seattle Chinooks abzuhängen. Aber in den vergangenen Jahren hatte sie dem Eisstadion immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Sie hätte es ihrem Dad nie gesagt, aber in dieser Saison hatte sie kein einziges Spiel gesehen. Sie hatte sich vornehmlich auf die Expansion ihrer Firma konzentriert und darauf, ihrem Businessplan weitere Abschnitte und Unterkapitel hinzuzufügen, zu dem jetzt auch die Eröffnung ihres eigenen Ladens gehörte.

»Hey, Lex.« Jimmy warf ihr über die Schulter hinweg einen Blick zu, und das Armaturenbrett tauchte sein Profil in grünes Licht. »Diese Aktion war der Hammer. Erinnert mich an die Zeit, als ich dich und Marie von Tony Brunos Hausboot retten musste.«

Das war eines der wenigen Male gewesen, als sie impulsiv gehandelt hatte, und es erinnerte sie erneut daran, dass ihre spontanen Aktionen meist schlimme Folgen hatten. Aber Highschool-Streiche waren im Vergleich zu dem heutigen Spektakel ein Witz. »Danke, dass du mir geholfen hast.« Jimmy war ein verlässlicher Fels in der Brandung und, was noch wichtiger war, wollte nach Kanada.

»Ist schon eine Weile her, seit ich euch beide das letzte Mal gerettet habe.«

Beschämt musste Lexie sich eingestehen, dass sie und Marie, abgesehen von zwei Gelegenheiten, immer nur so getan hatten, als müssten sie gerettet werden. In neunundneunzig Prozent der Fälle hatten sie Jimmy angerufen, weil er ein Auto besessen hatte, weil seine Eltern nie zu Hause waren und er sie irgendwo hinfahren sollte. Sie hatten ihr Verhalten vor sich selbst damit gerechtfertigt, dass es okay war, weil der nerdige Jimmy dadurch auch mal vor die Tür kam. Heute, als erwachsene Frau, hatte sie deshalb ein schlechtes Gewissen und es insgeheim wiedergutzumachen versucht, indem sie, wann immer es ging, Jimmy Kunden zuschusterte – egal, welchen Job er gerade ausübte.

»Ich glaube, das letzte Mal war, als jemand Maries Geldbörse gestohlen hatte und ihr beiden kein Geld für ein Taxi von der Mall nach Hause hattet.«

Damals war Lexie eine ausgekochte Lügnerin gewesen. Aber heute war sie eine erwachsene Frau mit ihrem eigenen Geschäft. Sie war für ein Dutzend Angestellte verantwortlich. Sie musste ihr Image schützen. Deshalb log sie heute nicht mehr … aber ab und zu verschwieg sie Dinge, um die Gefühle eines anderen nicht zu verletzen:

1.Maries Kampfstiefel.

2.Jimmy und seine Pilotenkappe.

Auf ihre Wahrheitsliebe bildete sie sich durchaus etwas ein. Sie hatte jetzt schon seit sieben oder acht Jahren keine Lügengespinste mehr erfunden.

Bis heute. Oder besser gesagt bis zu dem Tag, an dem sie sich für Im Hafen der Ehe beworben hatte. Dieser eine verrückte Impuls hatte sie letztlich hier in die Sea Hopper geführt, angetan mit einem Kleid, das wie ein Sahnebaiser aussah.

»Ich habe eine neue Geschäftsidee, in die du vielleicht investieren willst.«

Jimmy hatte ständig neue Geschäftsideen. In der zehnten Klasse hatte er Gras verkauft, das er im Gewächshaus seiner Eltern in Medina angebaut hatte. In der zwölften Klasse hatte er ein Wettbüro betrieben. Jimmys Geschäfte blühten, bis die Cops auftauchten. Obwohl sie Jimmy für die Lügen der Vergangenheit und die Sünden der Gegenwart etwas schuldig war, hatte sie so gar keine Lust, seinen neuesten Plänen zu lauschen.

Aber er berichtete ihr trotzdem davon. »Es nennt sich Scooter Subs. Ich habe drei Kuriere, die Sandwiches und Pommes auf roten Vespas ausliefern, auf deren Rücksitz Kühlboxen aus Metall nachgerüstet wurden. Essenslieferungen sind die Zukunft. Du und Marie, ihr solltet in dieses Geschäft investieren.«

Nein, danke.

»Geht Marie mit irgendjemandem?«

Auf der Mittelschule hatte Jimmy sich tief und dauerhaft in ihre beste Freundin verliebt. Dummerweise hatte Marie diese Gefühle nie erwidert. Damals nicht, und heute genauso wenig. »Momentan nicht.«

Er lächelte, und sie fürchtete schon, sie habe ihm falsche Hoffnungen gemacht. »Wie lang dauert der Flug?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

»Dreieinhalb Stunden.« Er wandte die Aufmerksamkeit wieder den Instrumenten vor sich zu.

Dreieinhalb Stunden? Es konnte doch nicht so lange dauern, um irgendwo in die Umgebung von Vancouver zu fliegen.

»Wo geht es hin?«

»Moresby Island.«

Lexie hatte noch nie von Moresby Island gehört und wiederholte: »Wohin?«

»Sandspit«, antwortete der Mann mit den riesigen Schuhen und ebensolchen Muskeln.

Lexie sah zu ihm auf, während er Eis in einen durchsichtigen Becher füllte. »Sand was?«

»Genau.« Er gluckste, aber diesmal gelangte die Belustigung nicht bis zu seinen Augenwinkeln, als ob ihn das Ziel nicht gerade vergnüglich stimmte. Er öffnete eine kleine Flasche Wasser, das prompt zischend über seine Finger blubberte.