Das Adressbuch der Dora Maar - Brigitte Benkemoun - E-Book

Das Adressbuch der Dora Maar E-Book

Brigitte Benkemoun

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Beschreibung

»Eine kunstvolle Schatzsuche« – L‘Express

Dora Maar, lange Zeit nur als »Muse und Geliebte« von Pablo Picasso bekannt, erhält mit dieser außergewöhnlichen Künstlerbiografie endlich ein eigenes Gesicht. Brigitte Benkemoun rekonstruiert während ihrer zwei Jahre andauernden Recherche anhand eines zufällig entdeckten Adressbüchleins das Leben und Lieben dieser rätselhaften Frau, die zu den großen Fotografinnen ihrer Zeit gehörte. Unterwegs erfährt man nicht nur von Dora Maars ereignisreichem und geheimnisvollen Lebensweg, sondern erhält auch intime Einblicke in eine der spannendsten Epochen der Kunstgeschichte.

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EPUB
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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Zum Buch

Als die Journalistin Brigitte Benkemoun antiquarisch ein Notizbuch ersteht, entdeckt sie ein paar Tage später beim Öffnen des Päckchens zwanzig Seiten voller Telefonnummern und Adressen. Sie kann kaum glauben, was sie liest: COCTEAU, CHAGALL, ÉLUARD, PICASSO – die Namen der größten Maler der Nachkriegszeit. Bald wird klar: Das Büchlein gehörte Dora Maar. Benkemoun macht sich auf Spurensuche und rekonstruiert während einer zwei Jahre andauernden Recherche das Leben und Lieben dieser rätselhaften Frau, bei der jeder Name im Adressbuch eine Rolle spielt. Und die zu den großen Fotografen der Zeit gehört. Wir erfahren nicht nur von Dora Maars spannendem und geheimnisvollen Weg, sondern bekommen auch intime Einblicke in die Leben der großen Maler und Künstler der Zeit.

Zur Autorin

Brigitte Benkemoun, geboren 1959 in Oran /Algerien, ist eine französische Schriftstellerin und Journalistin. Sie war lange Zeit Chefredakteurin eines großen französischen Radiosenders und arbeitet regelmäßig für das französische Fernsehen. Als Autorin beschäftigte sie sich zunächst mit der bewegenden Lebensgeschichte ihres Onkels Albert, bevor ihr aus purem Zufall das Adressbüchlein von Dora Maar in die Hände fiel.

Brigitte Benkemoun

Aus dem Französischen von Alexandra Baisch

Die französische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Je suis le carnet de Dora Maar« beim Verlag Éditions Stock, Paris.

Die Adressangaben in den Überschriften sind ohne Änderung Dora Maars Adressheft entnommen – sie sind daher nicht einheitlich und weisen bisweilen auch Schreibfehler auf.Die Adressangaben in den Überschriften folgen dem Original. Im Text wird »Rue«, »Avenue« etc. allerdings immer groß geschrieben und durch ein Komma von der Hausnummer abgetrennt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe September 2021

Copyright © 2020 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe: © Éditions Stock 2019

Covergestaltung: semper smile, München

Coverabbildung: Dora Maar 1944 / BPK / Estate Brassaï – RMN-Grand Palais; © RMN-Grand Palais (Musée national Picasso-Paris) / Mathieu Rabeau

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

JT · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26035-4V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Thierry, der das Glück hatte, etwas zu verlieren und etwas zu finden

Für meine Eltern, ihr seid von uns gegangen,

Ich suche nicht, ich finde!

Picasso

Ja. Ich glaube daran. Mein Schicksal ist wunderbar, wie es auch aussehen möge. Früher sagte ich, mein Schicksal ist furchtbar, wie es auch aussehen möge.

Vorwort Fundstück

Eingetroffen ist er mit der Post, ordentlich in Luftpolsterfolie verpackt.

Dieselbe Marke, dieselbe Größe, das Leder ebenso glatt, aber etwas röter, weicher und patinierter.

Er wird ihm gut gefallen, habe ich gedacht, vielleicht sogar besser.

Unlängst hatte er seinen kleinen Terminkalender samt Ledereinband von Hermès verloren, der eigentlich neuer war als der hier, aber dadurch, dass er von einer Tasche in die nächste wanderte, hatte er letztlich alterslos ausgesehen. Eine Art Talisman mit eingravierten Initialen, T. D., an dem er sowohl in organisatorischer, physischer als auch sinnlicher Hinsicht sehr hing …

Wie immer, wenn er etwas verloren hat, was sehr häufig vorkommt, braucht er Hilfe bei der Suche. Für gewöhnlich finde ich das Gesuchte sehr schnell – den Pass, die Schlüssel, das Handy … Doch dieses Mal bleibt der kleine Terminkalender unauffindbar. Nach einigen Tagen findet T. D. sich damit ab, sich eine neue Kalenderhülle kaufen zu müssen.

»Ich bedauere, dieses Leder wird leider nicht mehr verwendet«, teilt mir der Verkäufer leicht betrübt, aber überaus zuvorkommend mit. Ein anderer hätte sich nun mit einer Hülle aus genarbtem Leder zufriedengegeben, mit geriffeltem oder mit Krokomuster. Er hingegen gibt niemals auf. Er findet sein Glück schließlich auf eBay, in der Rubrik »Lederwaren vintage«. Für siebzig Euro. Nach wenigen Tagen trifft das Gewünschte ein.

Die Besessenheit ist eine ansteckende Krankheit: Da er nicht da ist, will ich nachsehen, ob das Fundstück denn auch tatsächlich die genaue Nachahmung des verlorenen Lieblingsstückes ist. Also inspiziere ich die Kalenderhülle eingehend. Dann schlage ich sie auf.

Den auswechselbaren Jahreskalender, in dem der ehemalige Besitzer seine Termine, seine Einladungen und vielleicht auch seine Geheimnisse notierte, hat der Verkäufer herausgenommen. Doch im Innenfach steckt noch immer ein kleines Adressheft. Mechanisch blättere ich es durch. Vermutlich nicht sonderlich aufmerksam, denn ich bin schon auf der dritten Seite, ehe ich über einen ersten Namen stolpere: Cocteau! Ja genau, Cocteau: 36, Rue Montpensier! Mich durchzuckt ein Schauer, und mir stockt der Atem, als ich Chagall entdecke: 22, Place Dauphine! Fieberhaft blättere ich weiter: Giacometti, Lacan … Sie geben sich die Klinke in die Hand: Aragon, Breton, Brassaï, Braque, Balthus, Éluard, Leonor Fini, Leiris, Ponge, Poulenc, Signac, Staël, Sarraute, Tzara …

Zwanzig Seiten, auf denen sich in alphabetischer Reihenfolge die größten Künstler der Nachkriegszeit tummeln. Zwanzig Seiten, die man erneut durchlesen muss, um es zu glauben. Zwanzig verblüffende Seiten, wie ein privates Telefonbuch des Surrealismus und der modernen Kunst. Zwanzig Seiten, die von den Blicken fassungslos überflogen werden. Zwanzig Seiten, über die ich mit dem Finger fahre, fast ohne zu atmen, weil ich befürchte, sie könnten sich vor meinen Augen selbst zerstören oder ich könnte sie nur geträumt haben. Und ganz zum Schluss, um den Schatz zeitlich zu verorten, ein Kalenderblatt von 1952, das beweist, dass das Adressheft 1951 gekauft worden sein muss. Niemals mehr werde ich T. D. vorwerfen, etwas verloren zu haben.

Natürlich will ich wissen, wer diese ganzen Namen mit brauner Tinte notiert hat. Wer kannte und hatte Umgang mit diesen Genies des 20. Jahrhunderts? Zweifelsohne ebenfalls ein Genie!

Ehrlicher wäre es zuzugeben, dass ich nichts entschieden habe. Dieses Adressbuch habe nicht ich ausgewählt, es ist aufgetaucht, hat sich aufgedrängt, hat sich mir aufgedrängt …

Ich bin ihm in die Falle gegangen, kann dem Ruf dieser Namen nicht widerstehen, wie ein Polizeihund, dem man den Geruch desjenigen, der verschwunden ist, unter die Nase hält … Such … Such …

Ich lasse mich darauf ein, ohne zu wissen, wer sich hinter dieser Handschrift verbirgt. Fasziniert von seinen Freunden, noch bevor ich von seinem Leben fasziniert bin, jage ich einem Phantom nach. Ich weiß nicht, wer es ist, aber diese Seiten sind wie ein kleines Schlüsselloch, durch das ich einen Blick in eine verschwundene Welt erhasche, für die es kein Pendant gibt.

Michèle S. Hameau de la Chapelle Cazillac

Sollte der Poststempel verbindlich sein, dann kommt das Päckchen aus Brive-la-Gaillarde. Wie gelangen derart pariserische Adressen nach Brive-la-Gaillarde?

Der auf eBay veröffentlichten Annonce entnehme ich, dass es sich bei dem Verkäufer um einen Antiquitätenhändler aus einem etwa dreißig Kilometer von Brive entfernten Weiler handelt: Cazillac, ein charmantes Dorf im Lot, in den grünen Senken des Kalkplateaus von Martel. Cazillac, weniger als fünfhundert Einwohner, bekannt, wenngleich nicht sehr, für seine romanische Kirche, seinen Turm aus dem 12. Jahrhundert, die Waschhäuser, einen Brotofen und das Sauvat-Kreuz, das den nördlichen 45. Breitengrad, den Mittelpunkt der Strecke zwischen dem Nordpol und dem Äquator markiert. Genau von dort kommt dieses Adressbuch! Von einem verlorenen Punkt auf der Erde und doch exakt von der Mitte unserer Hemisphäre.

Ich habe den Namen eines Surrealisten ausfindig gemacht, der aus dieser Ecke stammt. Aber wer kennt schon Charles Breuil? Anscheinend weder Breton noch Braque oder Balthus …

Auch Édith Piaf verweilte häufig auf dem Kalkplateau von Martel. In den Fünfzigerjahren war la Môme, wie sie in Frankreich liebevoll genannt wird, mehrfach in einem Erholungsheim wenige Kilometer von Cazillac entfernt. Bei Einbruch der Dunkelheit ging sie immer zum Beten in eine kleine, marode Kirche, die dort am Felsen klebt. Sie soll sogar die Restaurierung der Fenster finanziert, den Priester aber gebeten haben, das zu ihren Lebzeiten niemandem zu sagen. Was, wenn das hier Piafs Adressbuch ist? Sie war mit Cocteau befreundet, hatte Aragon bei der Libération kennengelernt und wurde von Brassaï fotografiert.

Die rasche Antwort der Verkäuferin von besagter Kalenderhülle auf meine erste Nachricht setzt meinen Spekulationen um Piaf und Cazillac jedoch ein – eher unsanftes – Ende. »Ich habe vor mehreren Jahren gleich zwei solcher Kalenderhüllen von Hermès bei einer schönen Versteigerung in Sarlat, im Périgord, erstanden. Mehr weiß ich davon nicht, aber ich kenne den Verantwortlichen des Auktionssaals und kann ihn fragen, ob er weitere Informationen zu den Verkäufern hat. Natürlich kann ich Ihnen nichts versprechen, aber ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

Einen Monat später löst sie ihr Versprechen ein: Der Verkäufer sei eine aus Bergerac stammende Verkäuferin, die den Terminplaner, zusammen mit weiteren Gegenständen, persönlich beim Auktionator abgegeben habe. Michèle fand auch den genauen Verkaufstag der Auktion heraus: der 24. Mai 2013 in Sarlat.

Sollte ich mehr erfahren wollen, so würde sie mir raten, den Verantwortlichen des Auktionssaals selbst zu kontaktieren. Es stellt sich jedoch heraus, dass dieser schwieriger zu erreichen ist – im Urlaub, beschäftigt –, und ganz eindeutig unempfänglich für das Romanhafte dieses gefundenen Adressheftes. »Ich kenne das Paar, das den Terminkalender verkauft hat, nur wenig, außerdem sind die beiden unlängst sehr weit aus der Region weggezogen. Mir scheint es sehr wahrscheinlich, dass sie tatsächlich gar keinen Bezug zu den Menschen hatten, denen diese Terminkalender gehörten. Oder aber sie möchten nichts davon wissen.«

Ganz offensichtlich möchte er selbst »nichts davon wissen«. In wenigen Sätzen, dann in zwei, drei rasch abgewickelten Gesprächen, müht er sich vor allem damit ab, mir den Zugang zu den einstigen Besitzern zu verwehren.

Um ihn zu besänftigen, erzähle ich ihm, dass auch mein Vater einen Auktionssaal geleitet habe. Und das ist nicht einmal gelogen! Als Kind verbrachte ich ganze Tage damit, zwischen Resopalmöbeln und provenzalischen Schränken zu spielen und verrostete Blechbüchsen und klemmende Schubladen zu öffnen. Stets hoffte ich, einen verborgenen Schatz zwischen den alten Alben, den lose zwischen Schlüsseln herumliegenden Taschenuhren oder unter den gestärkten Stapeln Bettlaken zu finden. Ich kann mich noch gut an den leicht beißenden Geruch von Staub erinnern und an das gelbe Sägemehl, das aus wurmstichigem Holz herausrieselte. Dort hörte ich den Ausdruck »Nachlass ohne Erben«. Und mich bekümmerte das Schicksal der Menschen, die ohne Familie verstarben und deren Möbel sich an einem Samstagvormittag in alle vier Himmelsrichtungen zerstreuten. Ich erinnere mich an Versteigerungen für einen Franc, an Posten für fünf Franc, an meinen Vater, der sich mit seinem Hammer zu amüsieren schien, wenn er »zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten!« rief, und an Käufer, die sich freuten, wenn sie etwas ergattert hatten. Einer der Freunde meines Vaters sagte einmal, das sei »das Casino des armen Mannes«.

Also bleibe ich am Verantwortlichen des Auktionshauses dran. Ich versichere ihm, dass ich mich mit seinem Beruf auskenne, dass ich seine Ethik verstehe … Ich zeige mich mitfühlend, kokettiere … Doch er bleibt unnachgiebig. Es ist unmöglich, ihm die Adresse der Verkäufer zu entlocken, genauso wenig wie ich herausfinden kann, welche anderen Gegenstände sie ihm anvertraut haben. Er ist nur dazu bereit, ihnen einen Brief weiterzuleiten, auf den sie nicht reagieren. Und schließlich sieht auch er davon ab, weiter auf meine Mails zu antworten.

»Das ist eine sehr schwierige Situation, und ›laut Gesetz‹ kann ich nicht darauf drängen, ohne das Risiko einzugehen, mich strafbar zu machen.«

Ich weiß, dass er von der rechtlichen Seite her betrachtet recht hat. Mein Vater bestätigte mir dies: »Der Name des Verkäufers muss vertraulich bleiben.« Ich denke, das war eine unserer letzten ernsthaften Unterhaltungen … Ihn überraschte es nur, dass um ein einfaches Adressheft ein solches Aufheben gemacht wurde. Er hätte sich in einem solchen Fall etwas entgegenkommender gezeigt. Lächelnd fügte er noch hinzu: »Schließlich ist dein Ding da kein Picasso!« Aber warum eigentlich nicht? Ich überprüfe auch das: Leider weisen die beiden Handschriften nicht die geringste Gemeinsamkeit auf.

Durch seine Bemerkung neugierig gemacht gehe ich jedoch die letzte Mail des Verantwortlichen des Auktionshauses noch einmal genauer durch: Warum erzählt er mir, er kenne dieses Paar nicht gut? Er kennt es gut genug, um zu wissen, dass das Paar »unlängst sehr weit aus der Region weggezogen« ist! Und er muss die beiden auch angerufen haben, um so unerschütterlich behaupten zu können, dass sie »tatsächlich gar keinen Bezug zu den Menschen hatten, denen diese Terminkalender gehörten«, und dass sie »nichts mehr davon hören wollen«! Warum sich verstecken? Außerdem hat er keine einzige Frage zum Adressheft gestellt. Er schien vor allem durch meine Fragen verunsichert gewesen zu sein.

Er hat ja keine Ahnung, mit welcher Beharrlichkeit ein hartnäckiger Mensch sich einem Rätsel zuwenden kann, das ihm unvermutet in den Schoß fällt. Er weiß nicht, dass ich da einen Schatz in Händen halte! Und auch wenn sich dieses Tor mit dem Auktionshaus von Sarlat schließt, so stößt mein Adressheft doch eine Tür zu einer der faszinierendsten Welten auf, die man sich vorstellen kann.

Es muss zwingend eine Erklärung und auch einen Grund dafür geben, weshalb jemand eines Tages in Bergerac diese Kalenderhülle aus bordeauxfarbenem Leder aufgestöbert und beschlossen hat, sie zu verkaufen, ohne daran zu denken, den Inhalt zu leeren. Vielleicht reicht es ja schon völlig aus, Bergerac auf einer Landkarte anzusiedeln: die Unterpräfektur der Dordogne, inmitten des purpurnen Périgord, gerade mal hundert Kilometer von Bordeaux, Brive-la-Gaillarde, Cahors und Angoulême entfernt, aber mehr als sechshundert Kilometer von Saint-Germain-des-Pres. Wer hatte möglicherweise in Bergerac gelebt oder war dort gestorben, und kannte doch alles, was in Paris Rang und Namen hatte?

Auf der französischen Wikipedia-Seite wird eine gewisse Zahl von »Persönlichkeiten, die mit der Gemeinde verbunden werden« genannt, die in den Fünfzigerjahren möglicherweise Kontakt zu den Genies dieses Adressheftes hatten:

– Desha Delteil, »amerikanische Balletttänzerin, berühmt für ihre akrobatischen Posen«;

– Hélèn Duc, Schauspielerin;

– Jean Bastia, Regisseur und Drehbuchautor;

– Jean-Marc Rivière, Schauspieler, Theaterregisseur und Leiter einer Music Hall;

– Juliette Gréco.

Aber keines dieser Profile scheint so richtig zum Adressheft zu passen. Nicht einmal das von Juliette Gréco: In ihrem Adressheft von 1951 müssten eher Namen wie Sartre, Vian oder Kosma stehen. Diese Welt hier ist nicht unbedingt die ihre.

Aber ich werde es schon noch herausfinden. Ich will dem Rätsel auf den Grund gehen. Ich will wissen, wem dieses Adressheft gehörte.

Achille de Ménerbes 22 rue Petite Fusterie Avignon

Bergerac vergessen! Die Verkäufer und die Auktionatoren nicht weiter beachten! Da ich dieses Beweisstück vorliegen habe, werde ich es einer Art Befragung unterziehen: es Zeile für Zeile entziffern, Seite für Seite, die prominenten Freunde des unbekannten Genies auflisten, die anderen im Internet ausfindig machen. Ich werde schon dahinterkommen, wer hier noch fehlt.

A–B: Das erste Wort ist unleserlich, weil es von einem schwarzen Tintenfleck überdeckt ist. Das zweite könnte ANDRADE, AYALA sein. In der vierten Zeile ein weiterer bekannter Name: ARAGON! Es folgen ein paar Kontakte, die mir nicht viel sagen: ACHILLE de MÉNERBES, BERNIER, BAGLUM … Dann ein paar Kontakte, von denen »er oder sie« sich die Adresse notiert hat, vielleicht, weil sie etwas enger befreundet waren: BRETON, 44, Rue Fontaine, BRASSAÏ, 81, Rue Saint-Jacques, BALTHUS, Château de Chassy, Blismes, Nièvre.

Beim Buchstaben C, steht als Erstes COCTEAU: 36, Rue de Montpensier, mit der Telefonnummer RIC 5572 oder der Telefonnummer 28 in Milly. Aber sind die Ersten, die vermerkt werden, immer auch die engsten Freunde? Zudem ist dieser Dichter ein solcher Mann von Welt, dass vermutlich ganz Paris seine Nummer hatte. Es folgen die Maler COUTAUD, 26, Rue des Plantes, und CHAGALL, 22, Place Dauphine …

Das Auge gleicht einem Paparazzo, tendiert dazu, die weniger bekannten von oben herab zu behandeln, um seinen Fokus einzig auf die VIPs auszurichten: ÉLUARD, GIACOMETTI, LEONORFINI, NOAILLES, PONGE, POULENC, Nicolas de STAËL … Die meisten Freunde des Adressheftes sind einfach im Internet auszumachen: Lise DEHARME, Schriftstellerin und Muse des Surrealismus, Luis FERNANDEZ, Maler und Freund von Picasso, Douglas COOPER, bedeutender Sammler und Kunsthistoriker, Roland PENROSE, englischer Surrealist, Susana SOCCA, uruguayische Dichterin …

Dieses Adressheft fängt an, einem Who is Who der Nachkriegszeit zu ähneln, einer ausgewählten Gästeliste vor einem Empfang, einem Namensindex, der in der Biografie eines bekannten Künstlers zitiert wird. Es erinnert mich auch an ein Gruppenfoto, bei dem die Abgelichteten durch die Entwicklungsflüssigkeit nach und nach aus dem roten Dämmerlicht einer Dunkelkammer auftauchen.

Indirekt offenbart sich der Besitzer durch seine Kontakte. Er verkehrt mit den größten Dichtern seiner Zeit, häufig Surrealisten, aber nicht ausschließlich: ÉLUARD, ARAGON, COCTEAU, PONGE, André du BOUCHET, Georges HUGNET, Pierre Jean JOUVE … Noch mehr Umgang pflegt er mit Malern: CHAGALL, BALTHUS, BRAQUE, Óscar DOMÍNGUEZ, Jean HÉLION, Valentine HUGO … Sehr viele Surrealisten … Galeristen und ein Leinwandaufzieher … Vermutlich gehörte dieses Adressheft einem Maler! Und da LACAN in seinem Adressbuch steht, hat er sich bestimmt auch auf dessen Diwan ausgestreckt.

Ein gepeinigter Künstler, depressiv, hysterisch oder melancholisch. Aber kein Bohemien und auch kein verfemter Künstler: »Er oder sie« steht mit beiden Beinen im Leben und hat auch die Kontaktdaten eines Klempners, eines Marmorschleifers, eines Krankenhauses, eines Tierarztes und einer Friseurin aufgeführt. Ich bin mir ganz sicher, dass es das Adressheft einer Frau sein muss!

Fassen wir zusammen: eine Frau, eine Malerin, eng mit der surrealistischen Bewegung verbunden, von Lacan analysiert, die zudem mit den Größten ihrer Zeit verkehrte. Will man pedantisch sein, könnte man anführen, dass bei ihren Kontakten die vier oder fünf Bedeutendsten des Jahrhunderts fehlen: Picasso, Matisse, Dalí, Miró und René Char … Aber mehr als die Fehlenden muss man die Fehlende suchen: diejenige, die die Feder in der Hand hält und uns auf zwanzig Seiten ein Abbild ihrer Welt liefert.

Manchmal macht sie Rechtschreibfehler oder verschandelt einen Eigennamen: Sie schreibt Rochechaure statt Rochechouart, Leyris mit einem y statt einem i oder Alice Toklace statt Toklas. Vielleicht ist sie eine Ausländerin oder aber eine Legasthenikerin.

Am Anfang gibt sie sich große Mühe. Jede Seite fängt mit einer Reihe von Namen in Schönschrift an, geschrieben mit ein und demselben Stift, zwangsweise von einem vorherigen Adressheft übertragen. Die Buchstaben sind gleichmäßig, eher rund gehalten, die Striche kräftig, aber dünn. Doch nach ein paar Zeilen wird die Schrift unübersichtlich und chaotisch: Das sind die neuen Kontakte aus dem Jahr 1951, deren Telefonnummern sie später aufgeschrieben hat, hastig, in aller Eile, während eine Hand den Hörer festhält und die andere nach einem herumliegenden Stift greift, oder aber weil sie an jenem Tag genervter, abgespannter oder gehetzter ist.

Bei einem Antiquar stöbere ich ein riesiges Telefonbuch aus dem Jahr 1952 auf. Es wiegt mindestens fünf Kilo, hat einen verschossenen orangefarbenen Stoffeinband, und auf dem Buchschnitt ist Werbung aufgedruckt. Dank seiner kann ich die Namen und Adressen im Adressheft nachschlagen, sie überprüfen und vergleichen.

Die Telefonnummer von Jacques Lacan entspricht der des Adressheftes: LACAN, Arzt, 30, Rue de Lille, LIT 3001. Aber BLONDIN, Avenue de la Grande-Armée, ist ein Homonym des Schriftstellers: Dieser hier ist Chirurg. Deutlich überraschender: TRILLAT, Grafologe. Sie interessiert sich also für andere Formen der Analyse. Von weniger Belang: ein Schönheitsinstitut oder ein Pelzhändler am Boulevard Saint-Germain. Eine adrette Künstlerin nimmt in meinem Kopf Gestalt an. Vielleicht ist sie auch wunderschön … MICOMEX, Rue de Richelieu, Import/ Export: Also verschickt sie ihre Leinwände vermutlich. Ich wechsle zwischen Telefonbuch und Adressheft hin und her. Zwischen Adressheft und Google. Zwischen Google und Wikipedia. Jede winzige Entdeckung gleicht einem kleinen Sieg für mich.

Manche Namen bleiben jedoch unleserlich und ungreifbar. Camille? Katell? Paulette? Lorraine? Madeleine? Vornamen von Frauen, hastig hingekritzelt, um nur von der gelesen zu werden, die sie aufgeschrieben hat und sie so gut kennt, dass der Name unwichtig ist. Mir fallen ein paar Zeilen von Modiano ein, als er auf der Spur von Dora Bruder ist: »Was man von ihnen weiß, kann oft in einer bloßen Adresse zusammengefasst werden. Und diese topographische Angabe steht im Kontrast zu alldem in ihrem Leben, was man nie erfahren wird – dieser weiße Fleck, dieser Block aus Unbekanntem und Schweigen.«1

Achille de MÉNERBES bleibt ebenfalls ein Rätsel. Sie hatte seine Adresse, 22, Rue Petite-Fusterie in Avignon, und seine Telefonnummer, 2258, aufgeschrieben. Doch nach siebzig Jahren ist es, als hätte dieser Mann niemals existiert. Er hat keine Spur hinterlassen. Warum so hartnäckig an diesem Namen hängen bleiben? Vernünftiger wäre es, ich würde einfach mit dem nächsten weitermachen. Aber dieser Achille ist wie ein Pflaster, das an meinem Finger kleben bleibt. Und er hatte so recht damit, kleben zu bleiben! Ganz unvermittelt, unter der Lupe betrachtet, werden die Buchstaben erkennbar. Ich hatte zu schnell gelesen, oder nicht konzentriert genug: Sie hatte gar nicht »Achille de« geschrieben, sondern »Architekt«. »Architekt Ménerbes« … Sie muss in diesem Dorf im Luberon ein Haus besessen und einen Architekten aus Avignon damit beauftragt haben, die Arbeiten zu überwachen.

Meine Finger zittern, als würden sie über die Tastatur meines Computers stolpern. Auf der Wikipedia-Seite von Ménerbes steht, dass nur zwei Maler zu Beginn der Fünfzigerjahre dort residiert haben. Nicolas de Staël schließe ich von vornherein aus, schließlich ist er einer der aufgeführten Kontakte.

Der zweite Name ist der einer Frau … Malerin … Fotografin … Muse der Surrealisten … eng befreundet mit Éluard und Balthus … von Lacan analysiert … Natürlich, sie ist es! Alles passt, alles fügt sich, bis hin zum Fehlen von Picasso beim Buchstaben P. 1951, sechs Jahre nach ihrer Trennung, hat sie natürlich weder seine Adresse noch seine Telefonnummer notiert, in Ermangelung dessen, noch mehr ausradieren zu können. Vielleicht habe ich hier keinen »Picasso« in Händen, doch was ich habe, ist das Adressheft von Dora Maar!

Ich meine mich zu erinnern, dass ich einen Schrei ausgestoßen habe! Einen Schrei wie von einem Fußballspieler, der soeben ein Tor erzielt hat, einen Schrei, die Hände zu Fäusten geballt, begleitet von einem eigentümlichen »Yes!«. Dann habe ich T. D. angerufen. Verfluchtes Handy, an das keiner rangeht. Wem soll ich denn dann ein »Ich hab’s rausgefunden!« entgegenschleudern?

»Ich suche nicht, ich finde!«, sagte einst Picasso. Genau das werde ich tun: versuchen herauszufinden, was dahintersteckt.

Theodora Markovitch 6 rue de Savoie Paris

Dora Maar … Von ihr habe ich nur Klischees im Kopf: Picasso mit nacktem Oberkörper, Picasso im gestreiften Shirt oder Picasso, während er Guernica malt … Und natürlich die ganzen Gemälde, auf denen er sie als Die weinende Frau malt oder beschreibt, auf denen sie entstellt und vom Schmerz niedergerungen dargestellt ist.

Gelobt sei Google: Ich surfe, klicke, verschlinge, was ich da finde. »Dora Maar, französische Fotografin und Malerin, Lebensgefährtin von Picasso«, »Dora Maar, gebürtige Henriette Theodora Markovitch, geboren am 22. November 1907 in Paris«, »einzige Tochter eines kroatischen Architekten und einer aus Tours stammenden Mutter«, »ihre Kindheit verbringt sie in Argentinien, danach kehrt sie wieder nach Frankreich zurück«, »befreundet mit André Breton und den Surrealisten«, »Geliebte von Georges Bataille«. Daten, Städte, Namen. »Dora Maar, eine herausragende Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts«, »ein Stil von einer ausgeprägten Originalität«. Und immer wieder Bezüge zu Picasso: Er hat »andere Frauen leidenschaftlicher geliebt als sie, aber keine hatte einen so starken Einfluss auf ihn«, »Picasso drängt sie dazu, die Fotografie aufzugeben«, »Picasso verlässt sie für die junge Françoise Gilot« … Bruchstücke eines Lebens, Splitter des Leidens: in einer geschlossenen Anstalt, Elektroschocks, Psychoanalyse, Gott, Einsamkeit …

Diejenige, der das Adressheft gehörte, war also knapp zehn Jahre lang die Lebensgefährtin von Picasso, von 1936 bis 1945. Bevor sie ihn kennenlernte, war sie eine großartige Fotografin. Danach eine Malerin, die erst im Wahnsinn, dann im Mystizismus versank und sich schließlich ganz zurückzog.

Ich vertreibe mir die Zeit damit, alle Adjektive aufzulisten, die man ihr zuschreibt, in der Hoffnung, dass sich aus dieser Wortwolke ein Porträt herauskristallisiert: schön, intelligent, wild, eigensinnig, feurig, jähzornig, herablassend, unnachgiebig, übersprudelnd, hochmütig, würdevoll, kultiviert, autoritär, snobistisch, eitel, mystisch, verrückt …

Die meisten sie betreffenden Zeitungsartikel handeln von ihrem Tod im Jahr 1997 und von der Versteigerung ihres Nachlasses: 213 Millionen Euro, aufgeteilt zwischen dem Staat, den Experten, den Auktionatoren, den Erbenermittlern und zwei entfernten Verwandten in Frankreich und Kroatien, die sie nie kennengelernt haben.

Dann notiere ich diesen einen Satz, ohne zu wissen, wem ich ihn zuschreiben soll, so häufig wird er im Internet kopiert und geteilt: »Sie war die Geliebte und die Muse von Pablo Picasso, eine Rolle, die die Gesamtheit ihres Werkes ausblendete.« Grausame Nachwelt, die nur die Geliebte zurückbehält und ein ganzes Werk im Schatten eines Giganten begräbt. Grausam und endgültig. Wer kennt schon das Werk von Dora Maar? Wer erinnert sich daran, dass sie eine der wenigen Fotografinnen war, die Zugang zum Kreis der Surrealisten hatte? Wer weiß, dass sie sechzig Jahre ihres Lebens der Malerei widmete?

Ihre berühmtesten Fotos sind Porträts von Picasso. Am erstaunlichsten sind jedoch die Fotos aus der Zeit davor: in der Traumwelt verankerte Versuche, surrealistische Collagen oder Gesellschaftsfotografie. Bevor sie den spanischen Maler überhaupt kennenlernt, ist sie, mit nicht einmal dreißig Jahren, schon berühmter als ihre Freunde Brassaï und Cartier-Bresson. Noch heute reißen sich Sammler und bedeutende Museen bei Auktionen um die Abzüge ihrer Fotos. Mit ihren Gemälden verhält es sich anders, obwohl sie ihnen eine größere Wichtigkeit beimaß.

Schon mehrere Autoren haben sich über ihr Schicksal gebeugt: ein paar ernsthafte Biografien, Romane, die sich frei von ihrem Leben inspirieren, sowie einige Kunstbücher. Fast alle sind von Frauen geschrieben, die ihr Schicksal faszinierte, wie auch das Rätsel um eine tragische Heldin, die sich, wie Camille Claudel oder Adèle Hugo, aus Leidenschaft hingibt und sich selbst dabei verliert. Und jetzt bin auch ich Teil dieser Gruppe …

Sie muss im Januar 1951 damit angefangen haben, dieses Adressheft zu füllen. In Paris weht ein eisiger Nordwind. An Silvester hat es geschneit. Bestimmt ist es eiskalt in der Rue de Savoie, schließlich neigt sie dazu, die Kohle nur äußerst sparsam einzusetzen. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch aus Mahagoniholz und hat einen der Füllfederhalter, ein Geschenk von Picasso, aus dem ledernen Schreibpult herausgenommen. Nichts hat sich in den letzten sechs Jahren verändert: Sie schläft noch immer in dem Empire-Bett, in dem sie sich geliebt haben, und lebt inmitten seiner Geschenke, seiner Gemälde, seiner Skulpturen und seiner kleinen, quasi aus nichts zusammengebastelten Gegenstände, die sie in ihren Schubladen hortet. Vor allen Dingen aber hat sie die Wände nicht überstrichen: Es wäre ein Sakrileg, die Insekten auszulöschen, die der Meister um des Vergnügens willen in die Risse und Spalten gemalt hatte.

Ich stelle mir vor, wie sie das winzige Heft Seite um Seite sorgsam beschreibt. Sie fängt bei den Namen mit A an, macht dann mit B weiter. Doch sie hält sich nicht sonderlich an die alphabetische Reihenfolge. Sie nutzt diesen Moment vermutlich vor allen Dingen, um etwas auszumisten: Freunde, die einen verraten, sind ihr keine Zeile mehr wert. Manchmal zögert sie: wozu gut? Dann wieder überträgt sie die Kontakte, wie man an einem Foto oder einer Erinnerung festhält. Am schwierigsten ist es, die Toten verschwinden zu lassen, die Phantomen gleich durch ältere Adresshefte geistern. Indem sie ihre Namen streicht, begräbt sie sie ein weiteres Mal …

Dieses Adressheft ist ein Abbild ihrer Welt im Jahr 1951: Schichten von Freunden und Bekannten, die sich über Jahre hinweg angesammelt hatten und natürlich auch ein paar neue. Doch wer von dieser Liste ist wirklich wichtig? Wer ruft an? Welche Nummern wählt sie? Würde jemand heutzutage in einem Handy über unsere Kontakte stolpern, wüsste er sofort um unsere Favoriten, könnte die Chronologie unserer Anrufe rekonstruieren, unsere SMS und Mails lesen und sich unsere Nachrichten anhören. Er würde alles über unser Leben herausfinden …

Doras Adressheft hingegen ist stumm wie ein Grab. Dabei könnte es von den feingliedrigen Händen mit den stets lackierten Fingernägeln erzählen, die es in einer Tasche verstauen oder daraus hervorholen. Es könnte die wahren Freunde benennen. Könnte sich an Unterhaltungen, vertrauliche Gespräche, Gelächter, Streitereien oder an Tränen erinnern, deren einziger Zeuge es war. Es könnte auch Momente der Einsamkeit erwähnen, wenn Doras einzige Gefährten das ungeöffnete Adressheft und die Katze waren.

Der Salon in der Rue de Savoie ist zu ihrem Atelier geworden. Tagelang schließt sie sich dort ein, manchmal sogar über mehrere Wochen. »Ich muss mich in die Wüste zurückziehen«, sagt sie einem Freund. »Ich möchte mein Werk mit einer geheimnisvollen Aura umgeben. Die Menschen sollen sich danach sehnen. Man kennt mich noch zu sehr als Picassos Geliebte, um mich als Künstlerin zu achten.«2 Sie ahnt, dass sie sich neu erfinden muss, dass sie Die weinende Frau vergessen lassen und eine andere Geschichte schreiben muss.

Doch sie muss sich auch dann einschließen, wenn sie nicht mehr kann, wenn sie sich selbst oder das, was sie malt, nicht mehr aushält. Wenn sie weder die Abschottung noch die anderen erträgt. Wenn sie sich weigert, sich weniger schön zu zeigen, mit müden Gesichtszügen, verquollenen Augen. Sie ist ja so unglaublich stolz.

Ich sehe sie vor mir, wie sie die Seiten umblättert, ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, jemanden anzurufen, nur um sich zu vergewissern, die Bestätigung zu haben, dass sie eine Menge Leute kennt! Und die Namen, die vor ihren Augen vorbeiziehen, geben ihr das Gefühl, als begegnete sie ihren Freunden. Manchmal überwindet sie sich, kontaktiert einen Galeristen, ruft ihre Friseurin an, eine Nagelpflegerin oder eine Bekannte.

Früher rief Picasso immer dann an, wenn er beschloss, zum Mittagessen ins Catalan zu gehen, ein spanisches Restaurant auf halbem Weg zwischen ihren beiden Wohnungen. Mit diesem unnachahmlichen spanischen Akzent, den er niemals ablegte, verkündete er dann stets: »Ich gehe los, kommen Sie rrrunter.« Auf dieses Signal hin schnappte sich Dora, die Stolze, Dora, die Hochmütige, ihre Handtasche, hastete die zwei Etagen hinunter und traf sich an der Straßenecke mit ihm. Häufig musste sie warten. War sie einmal etwas später dran, wartete er natürlich nie, aber er hielt ihr einen Platz am Tisch frei.

1951 kommt sie nach wie vor regelmäßig ins Catalan. Aber niemand trägt ihr mehr in diesem gebieterischen Tonfall auf »rrrunterzukommen«. Das würde sie sich nicht mehr bieten lassen! Und wenn, dann höchstens von Gott! Ja, »nach Picasso kann es nur noch Gott geben«, sagt sie.

Bei meinen Internetrecherchen bin ich auf einen Bericht ihres letzten Galeristen gestoßen. Auf der Website La Règle du jeu beschreibt Marcel Fleiss seine erstaunliche Begegnung mit der alten Dame im Jahr 1990 und die Organisation ihrer letzten Ausstellung.3 Seine Mailadresse steht direkt auf der Seite seiner Galerie. Er antwortet mir umgehend: »Kommen Sie mich auf der FIAC besuchen!«

Gleich am nächsten Tag stecke ich das Adressheft von Dora Maar in einen ledernen Umschlag und presse meine Handtasche in der Metro fest an mich, bis ich beim Grand Palais ankomme, wo die FIAC, die internationale Messe für zeitgenössische Kunst in Paris, abgehalten wird. Dabei gebe ich mich so fälschlich unbefangen wie eine Verschwörerin, die inkognito einen Schatz mit sich herumträgt.

Marcel Fleiss 6 rue Bonaparte Paris

Marcel Fleiss steht nicht in diesem Adressheft. 1951 ist er erst 17 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt lebt der Sohn eines Pariser Pelzhändlers in New York, wo er die Jazz-Clubs aufsucht und die größten Musiker der Nachkriegszeit fotografiert. Wie Dora kommt er über die Fotografie zur Malerei. Auf Ratschlag seines Freundes Man Ray eröffnet er 1969 eine erste Galerie und wird innerhalb weniger Jahre zum besten Händler und französischen Spezialisten des Surrealismus. Er hätte durchaus ein Anrecht darauf, blasiert, arrogant oder unnahbar zu sein. Aber der bedeutende Galerist ist ein autodidaktischer und leidenschaftlicher Sammler geblieben, ein liebenswerter Stiller, ein Wortkarger, der mit den Augen lacht. Und obwohl er seit über fünfzig Jahren mit Meisterwerken zu tun hat, sehe ich, dass ihn die Geschichte um das Adressheft amüsiert und neugierig macht.

Schweigend blättert er es rasch bis zum Buchstaben M durch: »Hier fehlt Léo Mallet.« Er rückt seine Brille zurecht, fährt mit dem Zeigefinger langsamer über die vergilbten Seiten, von einer Zeile zur nächsten, nickt dann etwas überzeugter. »Nein, Aragon, Breton, das passt … Brassaï, Balthus, Cocteau, du Bouchet, Éluard, Fini … Das sind genau die Namen, die sie erwähnte!« Stur sucht er weiter nach Léo Malet, wiederholt »eigenartig, dass er nicht drinsteht«. Schließlich sagt er: »Ja, das muss sie sein.« Dann holt er die Fotokopie einer Postkarte hervor, die die Künstlerin ihm geschickt hatte. Auf der Rückseite eines Stilllebensmit Suppenschüssel von Cézanne hatte sie nur vermerkt: »Vielen Dank für die leckeren Pralinen, gutes neues Jahr« und mit »Dora Maar« unterschrieben. Der Vergleich der beiden Handschriften zerstreut seine letzten Zweifel: »Ja, ganz sicher, das ist ihre Handschrift.« Daraufhin zeigt er das Adressheft seiner Frau, seinem Sohn und einem Sammler, der gerade vorbeikommt. »Seht euch an, was sie gefunden hat!« Am liebsten hätte ich ihn geküsst!

Marcel Fleiss hat Dora Maars Weg zufällig und zum ersten Mal 1990 gekreuzt. Er hatte einem Kollegen soeben ein Dutzend ihrer Gemälde abgekauft. Sie hingen noch nicht an der Wand, sondern waren auf dem Boden seiner Galerie in der Rue Bonaparte aufgereiht. Doch sie fielen einem amerikanischen Kunsthistoriker auf, der gerade in Paris war: »Das ist ja eigenartig, ich treffe mich morgen mit ihr … Erlauben Sie mir, dass ich ihr davon erzähle?« So findet Marcel Fleiss heraus, dass sie noch lebt: mit 83 Jahren, 17 Jahre nach dem Tod von Picasso, wohnt sie isoliert von der Welt nach wie vor in der Rue de Savoie.

Am nächsten Tag erhält er einen Anruf von Dora Maar höchstpersönlich. Sie tut so, als wisse sie nicht, woher die Gemälde stammen, zitiert den Galeristen für 15 Uhr zu sich. Er trifft etwas zu früh ein, das ist einer seiner Ticks. Er klingelt bei Markovitch, aber niemand antwortet. Auch fünf Minuten später keine Reaktion. Um Punkt 15 Uhr ertönt eine spitze, harsche Stimme über die Gegensprechanlage: »Junger Mann, wenn ich 15 Uhr sage, dann meine ich auch 15 Uhr.« Herzlich willkommen bei Dora Maar, die eher einer ruppigen Tante Daniele aus Chatillez’ Filmkomödie als der Weinenden Frau gleicht. Im zweiten Stock wartet die alte Dame auf dem Treppenabsatz auf ihn. Ganz offensichtlich beabsichtigt sie nicht, ihn hereinzubitten. Und wütend darüber, dass er nur mit Fotos ihrer Gemälde gekommen ist, behauptet sie, es seien Fälschungen. Der Galerist schlägt vor, tags darauf mit den Gemälden zurückzukommen. Und dieses Mal, nur kein Fauxpas!, trifft er pünktlich ein. Die halb offenstehende Tür hinter der Künstlerin lässt ein unbeschreibliches Chaos erahnen. »Man hätte es für das Refugium einer Obdachlosen halten können. Schon seit Jahren ist dort nicht mehr geputzt worden. Im Spülbecken stapelte sich das dreckige Geschirr.«

Anhand der Ausstellungsetiketten, die noch auf der Rückseite der Gemälde kleben, muss Dora einräumen, dass es tatsächlich ihre Gemälde sind. Doch sie wechselt das Thema, erinnert sich ganz unvermittelt daran, dass ihre damalige Galeristin, Henriette Gomez, sie nie bezahlt habe. Marcel Fleiss rät ihr, sich einen Anwalt zu nehmen. Sie antwortet, sie hasse Anwälte. Er unterbreitet ihr den Vorschlag, ihre Gemälde in einer Ausstellung zu versammeln. Sie ist einverstanden, unter der Bedingung, den Katalogtext vorgelegt zu bekommen. »Über mich wird so viel Unsinn erzählt.«

Am Tag der Vernissage sind ein paar Freunde da, hoffen darauf, sie nach so vielen Jahren endlich wiederzusehen: Michel Leiris, Marcel Jean, Léo Malet. Doch sie warten vergeblich. Sie stattet der Ausstellung erst ein paar Tage später einen Besuch ab, allein und inkognito.

Danach besucht Marcel Fleiss sie ein paarmal, insbesondere um Fotoabzüge zu verhandeln, die sie unter dem Bett aufbewahrt, Überreste aus der Zeit, als sie eine angesagte Fotografin war. Die Verhandlungen verlaufen schleppend, denn sie verlangt einen horrend hohen Preis. Sie erachtet sie für »ebenso gut wie die Fotos von Man Ray und folglich auch ebenso teuer«. Schließlich werden sie sich einig, aber sie stellt noch eine letzte Bedingung: »Ich verkaufe sie Ihnen nur dann, wenn Sie mir schwören, dass Sie kein Jude sind.« Fleiss ist sprachlos. Heute räumt er ein: »Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich durch mein Schweigen gelogen.«

In ihrer Bibliothek entdeckt er daraufhin ein Buch: Mein Kampf. Es ist weder eingeräumt noch versteckt. Es liegt auch nicht nachlässig herum. Es ist nicht etwa vergessen worden. Nein, es wird ausgestellt, wie Nippes auf einem Regalbrett, für alle gut sichtbar … Auch wenn »alle« in Doras Leben nicht mehr sehr viele sind: Mit ihren 83 Jahren lässt sie nurmehr ihre spanische Hausmeisterin, eine englische Nachbarin oder einen Priester ins Haus.

Doch wie ist sie von Guernica zu Mein Kampf gekommen, von der Liebe für Picasso, der Freundschaft zu Éluard, den Petitionen gegen den Faschismus zu diesem widerwärtigen unbändigen Hass? Haben das Leiden, die Bitterkeit, die Misanthropie und die Bigotterie vereint womöglich zu dieser Form des Wahnsinns geführt? Ist sie vielleicht aufgrund ihres Kummers verrückt geworden?

Wenn die Biografen von Dora sich an diesem »Detail« ihrer Geschichte aufhalten, erwähnen sie manchmal eine wiedergefundene Annäherung an ihren kroatischen Vater, ein mürrischer Mensch, der beschuldigt wird, mit dem Nazismus zu liebäugeln. Andere stellen sich vielmehr vor, die Bigotte hätte damit angefangen, das Volk des Gottesmörders zu verabscheuen. Oder dass sie Mein Kampf aus rein intellektueller Neugier gekauft habe, genau wie sie auch die Rote Bibel besaß …

Rein intuitiv sehe ich darin vielmehr eine letzte und überaus geschmacklose Provokation einer alten empörten Dame, die ganz genau weiß, wer dieser junge Galerist ist und ihn einfach nur erniedrigen will, damit er diese Fotos, die sie ihm verkauft, auch noch auf andere Weise bezahlt.

Unentschlossen schwanke ich jedoch … Mein Kampf hat meinem Enthusiasmus einen ziemlichen Dämpfer verpasst. Bin ich bereit, mehrere Monate mit einer bigotten Antisemitin zuzubringen? Kann man über jemanden schreiben, ohne diesen Menschen zu mögen? Ich hoffe, zumindest zu verstehen, warum und wie sie zu der wurde, die sie letztlich geworden ist. Zu verstehen, warum man entgleist, warum man abdriftet, warum man ein solches Buch kauft.

Breton 42 rue Fontaine TRE 8833

Ich habe vor, diese Reise Seite um Seite weiterzuverfolgen. Ich will jeden Namen auf die gleiche Weise hinterfragen. Was hat er in diesem Adressheft zu suchen? Welchen Platz nahm er in ihrem Leben ein? Es gibt durchaus Briefromane, warum also keine Biografie, ausgehend von zwischenmenschlichen Kontakten? Man sagt mir, Dora und ihre surrealistischen Freunde wären über mein Vorgehen amüsiert gewesen: mit dem gefundenen Gegenstand spielen, Nummern ziehen wie am Faden einer Garnrolle, suchen, seiner Intuition folgen, Fragen stellen und, wenn niemand mehr antworten kann, Vermutungen anstellen, sich etwas ausmalen …

Natürlich gibt es Namen, die ohne erkennbaren Grund hier aufgeführt sind. Vornamen, die unleserlich bleiben. Telefonnummern ohne Geschichte. Ich jedoch will die Archive, die Telefonbücher, die Briefe und die Fotos zum Sprechen bringen. Ich will jedem kleinsten Hinweis nachgehen. Ich will mir Zugang zu ihren berühmten oder anonymen Bekannten verschaffen. Indem ich mich von einem zum nächsten hangele, ob mit oder ohne Logik, will ich mit etwas Glück den Cadavre Exquis von Doras Universum abbilden. »Sag mir, wen du triffst, und ich sage dir, wer du bist.«

Aber mit wem soll ich anfangen? Ein Adressheft drängt eine alphabetische Reihenfolge auf: A, wie Aragon, dann Architekt, Ayala … Als ausgewiesener Kenner der surrealistischen Dogmen rät mir Marcel Fleiss genau dazu. Diese Radikalität würde jeder Hierarchie oder Chronologie spotten. Aber dann wäre sie vielleicht auch so langweilig wie ein Wörterbuch.

Ich könnte mich vom Glück leiten lassen, das Adressheft mit geschlossenen Augen durchblättern und mich der Herausforderung des ersten Namens stellen, an dem mein Finger innehält: Éluard, was für ein Zufall …

Doch da ich beschlossen habe, dieses Adressheft zum Sprechen zu bringen, reicht es vielleicht, ihm zuzuhören. Es flüstert mir die Worte Fund, Fundsache, Glück oder Zufall zu … Es führt mich zwangsweise zu Breton, dem großen Theoretiker des objektiven Zufalls.