Der Matarese-Bund - Robert Ludlum - E-Book

Der Matarese-Bund E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Zwei Agenten, die jahrelang gegeneinander arbeiteten, werden gleichzeitig Opfer eines mörderischen Komplotts. Nur zusammen können sie die weltumspannende Verschwörung aufhalten.

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DAS BUCH

Der Amerikaner Brandon Scofield und der Russe Wassili Taleniekov sind erbitterte Feinde. Seit Langem bekriegen sie sich im Auftrag ihrer jeweiligen Geheimdienste. Dabei wurde nicht nur Scofields Frau, sondern auch Taleniekovs Bruder ermordet. Nun sind beide in die Jahre gekommen und wollen sich zur Ruhe setzen – als plötzlich nicht nur ein hoher US-Militär, sondern auch ein bekannter russischer Wissenschaftler ermordet werden. Beide Agenten werden verdächtigt, sind jedoch unschuldig. Sie werden von ihren Auftraggebern verfolgt und haben keine andere Wahl, als sich zusammenzutun. Bald erkennen sie, dass hinter den Morden der Geheimbund der Matarese steckt – ein gefährlicher und scheinbar unbesiegbarer Gegner.

DIE AUTOREN

Robert Ludlum (1927–2001) zählt zu den erfolgreichsten Autoren der Welt, seine Thriller faszinieren seit vierzig Jahren ein Millionenpublikum. Seine beispiellose Schriftstellerkarriere nahm im Jahr 1971 ihren Anfang, als sein Debütroman sozusagen aus dem Stand Platz Eins der Bestsellerliste erreichte. Dieser Erfolg erlaubte es Ludlum, sich fortan nur noch dem Schreiben zu widmen. Inzwischen wurden viele seiner Romane, allen voran die Bestseller um den Agenten Jason Bourne, erfolgreich verfilmt. Allein im deutschsprachigen Raum wurden über 7 Millionen seiner Bücher verkauft.

Lieferbare Titel

Das Matarese-Mosaik · Das Bourne Ultimatum · Das Bourne Imperium · Die Bourne Identität · Das Sigma-Protokoll · Die Paris-Option · Der Janson-Befehl · Das Jesus-Papier · Die Lennox-Falle · Der Altman-Code · Der Tristan Betrug · Der Hades-Faktor · Die Lazarus-Vendetta · Die Ambler-Warnung · Das Moskau Virus · Die Bancroft Strategie · Der Arktis-Plan · Der Cassandra-Plan · Der Bourne Betrug · Das Bourne Attentat · Das Bourne Vermächtnis · Der Bourne Betrug · Das Bourne Ultimatum · Die Bourne Identität · Das Bourne Imperium · Das Osterman-Wochenende · Der Prometheus-Verrat · Die Ares-Entscheidung · Das Kastler-Manuskript · Das Parsifal-Mosaik · Die Matlock-Affäre · Die Scorpio-Illusion · Die Bourne Intrige

ROBERTLUDLUM

Der Matarese-Bund

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Heinz Nagel

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THEMATARESECIRCLEerschien 1997 bei Richard Marek Books

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 04/2012

Copyright © by The Robertmary Company

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-08196-6

www.heyne.de

TEIL I

1

Wir sind drei Könige aus dem Orient,

bringen Myrrhen und Weihrauch…

Die Sänger drängten sich an der Ecke, stampften mit den Füßen und schwangen die Arme. Ihre jungen Stimmen durchdrangen die kalte Nachtluft und übertönten das Plärren der Autohupen, das Schrillen der Polizeipfeifen und den blechernen Klang der Weihnachtsmusik, die aus den Lautsprechern der Kaufhäuser drang. Es fiel dichter Schnee, der Verkehr wälzte sich schwerfällig durch die Straßen. Die Leute, die noch in letzter Minute ihre Weihnachtseinkäufe tätigen wollten, schützten ihre Augen mit den Händen. Trotzdem schafften sie es, einander ebenso auszuweichen wie den gelegentlich rutschenden Autos und den Bergen von Matsch. Reifen drehten auf den nassen Straßen durch, Busse schoben sich zentimeterweise vor und mussten wieder stehen bleiben. Dazu schrillten die Glocken der uniformierten Weihnachtsmänner unablässig.

Von weit her, über Feld und Fluss,

Moor und Be-he-her-ge…

Eine dunkle Cadillac-Limousine bog um die Ecke und kroch an den Sängern vorbei. Ihr Anführer – er trug ein Kostüm, das an eine Figur aus einem Roman von Charles Dickens erinnerte –, trat an das rechte Hinterfenster, die Hand ausgestreckt, das Gesicht dicht an der Scheibe…

Wir folgen dem Ste-he-hem…

Der Fahrer drückte ärgerlich auf die Hupe und winkte den Jungen weg, aber der Passagier auf dem Rücksitz griff in die Manteltasche und holte ein paar Scheine heraus. Er drückte einen Knopf; die Fensterscheibe glitt lautlos herunter, und der grauhaarige Mann schob dem Jungen das Geld in die ausgestreckte Hand.

»Gott möge Sie segnen, Sir«, schrie der Junge. »Der Boys-Club der East Fiftieth Street dankt Ihnen. Frohe Weihnachten, Sir!«

Der fromme Wunsch wäre noch wirksamer gewesen, hätte ihn nicht ein Schwall whiskybeladenen Atems begleitet.

»Frohe Weihnachten«, sagte der grauhaarige Mann und drückte den Fensterknopf, um die Verbindung abzuschneiden.

Der Verkehr kam einen Augenblick lang zum Stocken. Der Cadillac schoss vor, musste aber bereits nach zehn Metern wieder abrupt bremsen. Der Fahrer packte das Lenkrad fester; eine Geste, die an die Stelle eines lauten Fluches trat.

»Ganz ruhig, Major«, sagte der grauhaarige Passagier, und seine Stimme klang gleichzeitig mitfühlend und befehlend. »Es hilft nichts, wenn Sie sich aufregen; auf diese Weise kommen wir auch nicht schneller an unser Ziel.«

»Sie haben recht, Herr General«, antwortete der Fahrer mit einem Respekt, den er in Wirklichkeit gar nicht empfand. Normalerweise war dieser Respekt durchaus vorhanden, aber nicht heute, nicht auf dieser Fahrt. Es gehörten schon Nerven dazu, von seinem Adjutanten zu verlangen, am Weihnachtsabend Dienst zu machen. Noch dazu, um einen gemieteten Zivilwagen nach New York zu fahren, damit der General sich vergnügen konnte. Der Major konnte sich ein Dutzend akzeptable Gründe vorstellen, um an diesem Abend Dienst zu tun, aber dieser Grund gehörte nicht dazu.

Ein Hurenhaus. Wenn man die ganzen verbalen Feinheiten einmal abstreifte, war es das. Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs ging am Weihnachtsabend in ein Hurenhaus! Und weil er vorhatte, sich dort auf höchst vielseitige Art zu vergnügen, musste der persönliche Adjutant des Generals bereitstehen, um nach diesen Vergnügungen das jämmerliche Etwas, das von dem General übrig blieb, wegzuschaffen. Es abholen, wieder zusammensetzen, dafür sorgen, dass es den nächsten Morgen in irgendeinem obskuren Motel überstand und sicherstellen, dass niemand erfuhr, was das für Vergnügungen waren oder wer dieses jämmerliche Etwas war. Morgen Mittag würde dann der Vorsitzende wieder seine militärisch gerade Haltung annehmen, seine Befehle erteilen. Der Abend und das, was zwischen ihm und dem Morgen lag, würde vergessen sein.

Der Major hatte diese Fahrten während der letzten drei Jahre häufig gemacht– seit dem Tag, an dem man den General auf diese Ehrfurcht gebietende Position befördert hatte. Nach diesen Fahrten gab es immer Perioden besonders intensiver Aktivität im Pentagon, oder Augenblicke nationaler Krisen, in denen der General seine ganzen beruflichen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte. Aber nie in einer Nacht wie dieser. Nie am Weihnachtsabend! Wenn der General ein anderer als Anthony Blackburn gewesen wäre, hätte der Major vielleicht Einspruch erhoben, hätte gesagt, dass an den Feiertagen selbst die Familie eines subalternen Offiziers gewisse Prioritäten hätte.

Aber der Major würde nie Einwände gegen irgendetwas vorbringen, solange es den General betraf. »Mad Anthony« Blackburn hatte einen zerbrochenen jungen Leutnant aus einem nordvietnamesischen Gefangenenlager herausgetragen, weg von Folter und Hunger, hatte ihn durch den Dschungel geschleppt, zurück zu den amerikanischen Linien. Das lag Jahre zurück; der Leutnant war inzwischen Major geworden, Chefadjutant des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs.

Militärs pflegten oft einschläfernde Geschichten über bestimmte Offiziere zu erzählen, denen sie auch durch die Hölle folgen würden. Nun, der Major war mit Mad Anthony Blackburn in der Hölle gewesen. Er würde, wenn der General auch nur mit den Fingern schnippte, für ihn wieder zur Hölle zurückkehren.

Sie hatten inzwischen die Park Avenue erreicht und waren nach Norden abgebogen. Der Verkehr war hier weniger dicht, wie es sich auch für den besseren Teil der Stadt gehörte. Noch fünfzehn Blocks; der Ziegelbau lag auf der 71. Straße zwischen der Park und der Madison Avenue.

Der Chefadjutant des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs würde den Cadillac auf einem vorsorglich reservierten Platz vor dem Gebäude abstellen und dem General dabei zusehen, wie er den Wagen verließ und die Treppe zu der verriegelten Eingangstür hinaufging. Er würde kein Wort sagen, aber ein Gefühl der Trauer würde den Major erfassen, während er auf seinen Vorgesetzten wartete.

So lange, bis eine schlanke Frau– in einem dunklen Seidenabendkleid mit einem Diamantencollier– die Tür in dreieinhalb oder vier Stunden wieder öffnete und die Beleuchtung anknipste. Das würde das Signal für den Major sein, hinaufzugehen und seinen Passagier abzuholen.

»Hello, Tony!« Die Frau huschte durch den schwach erleuchteten Korridor und küsste den General auf die Wange. »Wie geht es dir, Darling?«, fragte sie und spielte mit ihrer Halskette, während sie sich zu ihm neigte.

»Recht angespannt«, erwiderte Blackburn und schlüpfte aus seinem Zivilmantel, den ihm ein uniformiertes Mädchen abnahm. Er sah das Mädchen an; sie war neu und lieblich.

Die Frau bemerkte seinen Blick. »Sie ist noch nichts für dich, Darling«, meinte sie und griff nach seinem Arm. »Vielleicht in einem Monat oder in zwei. Komm jetzt, wir wollen sehen, was wir gegen dein Angespanntsein tun können. Wir haben alles, was du brauchst: das beste Haschisch aus Ankara, Absinth aus der besten Destille in Marseille, und dann genau das Richtige aus unserem eigenen Spezialkatalog. Übrigens, wie geht es deiner Frau?«

»Auch angespannt«, sagte der General leise. »Sie lässt dich grüßen.«

»Sag ihr liebe Grüße, Darling.«

Sie gingen durch einen Bogen in einen großen Raum. Weiche, vielfarbige Lichter strahlten aus unsichtbaren Lampen; blaue, grüne und bernsteinfarbene Kreise zogen langsam über die Decke und Wände. Jetzt sprach die Frau wieder.

»Ich hab’ da ein Mädchen, das ich dir schicken will; natürlich auch das Mädchen, das immer bei dir ist. Einfach ein idealer Fall, wie nach Maß für dich gemacht, Darling. Ich wollte es zuerst gar nicht glauben, als sie sich bewarb; es ist unglaublich. Ich hab’ sie gerade aus Athen bekommen. Du wirst sie anbetungswürdig finden.«

Anthony Blackburn lag nackt auf dem riesigen Bett. Winzige Scheinwerfer blitzten von der verspiegelten blauen Glasdecke herunter. Ein aromatischer Duft von Haschischrauch hing in der reglosen Luft des abgedunkelten Raumes; drei Gläser mit klarem Absinth standen auf dem Tischchen neben dem Bett. Der Körper des Generals war mit Streifen und Kreisen aus Wasserfarbe bedeckt, überall Fingerspuren, phallische Pfeile, die auf seine Mannheit wiesen, seine Hoden und der erigierte Penis mit roter Farbe bedeckt, seine Brust schwarz wie das dichte Haar, das sie bedeckte, die Brustwarzen blau und mit einem geraden, fleischig-weißen Strich verbunden. Er stöhnte. Sein Kopf wälzte sich in sexueller Ekstase hin und her, während seine Gespielinnen ihre Arbeit taten.

Die zwei nackten Frauen wechselten sich damit ab, ihn zu massieren und seinen sich windenden Körper mit dicken Farbklecksen zu bedecken. Während die eine ihre Brüste über seinen stöhnenden Mund kreisen ließ, hielt die andere seine Genitalien umfasst, stöhnte bei jeder Bewegung sinnlich und stieß flache, halb erstickte Schreie aus, während der General sich dem Orgasmus näherte– immer wieder von der Frau, die ihr Geschäft verstand, daran gehindert.

Das kastanienhaarige Mädchen an seinem Gesicht flüsterte atemlose, unverständliche Sätze in griechischer Sprache. Einmal beugte sie sich kurz zurück, um nach einem Glas auf dem Tisch zu greifen. Sie hielt Blackburns Kopf und goss ihm die dicke Flüssigkeit zwischen die Lippen. Sie lächelte ihrer Gefährtin zu, worauf diese ihr zuzwinkerte, Blackburns rot bemaltes Glied in der Hand.

Dann glitt das Griechenmädchen vom Bett und wies auf die Badezimmertüre. Ihre Begleiterin nickte, streckte die linke Hand bis zum Kopf des Generals und schob ihm die Finger zwischen die Lippen, um damit die kurze Abwesenheit der anderen zu tarnen. Die kastanienhaarige Frau ging über den schwarzen Teppich ins Badezimmer. Der Raum hallte vom ekstatischen Stöhnen des Generals wider.

Dreißig Sekunden später kam das griechische Mädchen zurück, aber jetzt war sie nicht mehr nackt. Sie trug eine dunkelfarbige Tweedjacke mit Kapuze, die ihr Haar bedeckte. Einen Augenblick lang stand sie im Schatten, dann trat sie ans nächste Fenster und zog leise die schweren Vorhänge zurück.

Das Klirren zersplitternden Glases erfüllte den Raum, als ein plötzlicher Windstoß die Vorhänge blähte. Jetzt war im Fenster die Gestalt eines breitschultrigen, kräftig gebauten Mannes zu sehen; er hatte die Scheiben eingetreten und sprang jetzt durch den Rahmen. Sein Kopf war unter einer Skimaske verborgen. Er hielt eine Pistole in der Hand.

Das Mädchen auf dem Bett fuhr herum und stieß einen erschreckten Schrei aus, als der Killer die Waffe senkte und den Abzug betätigte. Die Explosion wurde von einem Schalldämpfer verschluckt; das Mädchen brach über dem obszön bemalten Körper von Anthony Blackburn zusammen. Der Mann ging auf das Bett zu; der General hob den Kopf, versuchte, sich durch den Nebel von Narkotika zu orientieren, aber seine Augen versagten ihm den Dienst. Seiner Kehle entrangen sich nur gutturale Laute. Der Killer schoss erneut. Und noch einmal– und noch einmal. Die Kugeln bohrten sich in Blackburns Hals, Brust und Unterleib. In das aufspritzende Blut mischten sich die schimmernden Wasserfarben.

Der Mann nickte dem Mädchen aus Athen zu, worauf dieses zur Tür eilte, sie öffnete und auf Griechisch sagte: »Sie ist unten in dem Raum mit den kreisenden Lichtern. Sie trägt ein langes rotes Kleid und Diamanten am Hals.«

Wieder nickte der Mann. Dann rannten sie beide in den Korridor hinaus.

Der Major wurde von den unerwarteten Geräuschen, die irgendwo aus dem Inneren des Gebäudes zu kommen schienen, aus seinen Gedanken gerissen. Er lauschte, hielt den Atem an.

Dann war ein Kreischen zu hören… Jemand schrie. Leute schrien! Er sah zu dem Haus hinüber; die schwere Doppeltür flog auf. Zwei Gestalten rannten heraus, die Treppe hinunter. Ein Mann und eine Frau. Dann sah er es. Ein brennender Schmerz schoss ihm durch den Leib: Der Mann schob eine Waffe in den Gürtel.

O mein Gott!

Der Major schob die Hand unter den Sitz, um seine Automatik herauszuholen, riss sie hoch und sprang aus dem Wagen. Er rannte die Treppe hinauf in den Korridor. Drinnen wurden die Schreie immer lauter; Leute rannten herum, einige die Treppe hinauf, andere hinunter.

Er rannte in den großen Saal mit den verrückten, sich drehenden farbigen Lichtern. Auf dem Boden konnte er die Gestalt der schlanken Frau mit den Diamanten am Hals sehen. Ihre Stirn war eine formlose Masse aus Blut; sie war erschossen worden.

O Gott!

»Wo ist er?«, brüllte er.

»Oben!«, schrie ein Mädchen, das sich in die Ecke gepresst hatte.

Der Major fuhr von Panik erfüllt herum, rannte zurück zu dem prunkvoll geschmückten Treppenhaus, nahm drei Stufen gleichzeitig. Er raste an einem Telefon vorbei, das auf einem kleinen Tischchen auf dem Treppenabsatz stand; das Bild blieb in ihm haften. Er kannte den Raum; es war immer derselbe Raum. In dem schmalen Korridor bog er zur Seite, erreichte die Tür und schoss hindurch.

Jesus! Es überstieg seine schlimmsten Vorstellungen, etwas so Schreckliches hatte er noch nie gesehen. Der nackte Blackburn, mit Blut und aufgemalten Obszönitäten bedeckt, das tote Mädchen über ihm zusammengebrochen, ihr Gesicht auf seinen Genitalien. Es war ein Bild aus der Hölle, wenn die Hölle so schrecklich sein konnte.

Der Major würde wahrscheinlich nie wissen, wo er die Kraft hernahm, die es ihm erlaubte, jetzt ganz ruhig zu bleiben, aber er schaffte es jedenfalls. Er knallte die Türe zu und baute sich mit erhobener Waffe im Korridor auf. Dann packte er eine Frau, die an ihm vorbei auf die Treppe zurannte, und brüllte:

»Tun Sie, was ich sage, sonst bringe ich Sie um! Dort drüben ist ein Telefon. Wählen Sie die Nummer, die ich Ihnen gebe! Und dann sagen Sie, was ich Ihnen sage, ganz genau dieselben Worte!« Er stieß das Mädchen brutal zum Telefon.

Der Präsident der Vereinigten Staaten schritt finster durch die Tür des Oval Office an seinen Schreibtisch. Der Außenminister und der Direktor des Central Intelligence Agency waren bereits vor ihm eingetroffen und erwarteten ihn.

»Ich kenne die Fakten«, sagte der Präsident in seiner vertrauten, gedehnten Redeweise, »der Magen dreht sich mir dabei um. Jetzt sagen Sie mir, was Sie unternommen haben.«

Der Direktor des CIA trat vor. »Die Mordkommission von New York unterstützt uns. Wir haben insofern Glück, als der Adjutant des Generals an der Türe stehen blieb und jeden zu töten drohte, der versuchte, an ihm vorbeizukommen. Unsere Leute waren daher die ersten, die am Schauplatz des Verbrechens eintrafen. Sie haben sauber gemacht, so gut es ging.«

»Das ist doch nur Kosmetik, verdammt noch mal«, sagte der Präsident. »Wahrscheinlich war es notwendig, aber das ist es nicht, was mich interessiert. Was denken Sie? War es einer dieser verrückten, irren New Yorker Morde, oder war es etwas anderes?«

»Nach meiner Ansicht«, antwortete der Direktor des CIA, »war es etwas anderes. Das habe ich schon letzte Nacht zu Paul gesagt. Das war ein gründlich analysierter und vorbereiteter Mord. Brillant ausgeführt. Die Ermordung der Besitzerin des Etablissements mit eingeschlossen. Sie war die Einzige, die irgendwelches Licht auf die Vorgänge hätte werfen können.«

»Wer steckt dahinter?«

»Ich würde sagen, der KGB. Die Kugeln stammten aus einer russischen Graz-Burya Automatik. Das ist eine ihrer Lieblingswaffen.«

»Ich muss widersprechen, Mister President«, sagte der Außenminister. »Ich kann mich Jims Folgerung nicht anschließen; mag sein, dass die Waffe ungewöhnlich ist, aber sie ist in Europa käuflich erhältlich. Ich war heute Morgen eine Stunde beim sowjetischen Botschafter. Er war ebenso erschüttert wie wir. Er hat nicht nur mit Entschiedenheit erklärt, dass es sich hier unmöglich um eine von russischer Seite geplante oder durchgeführte Aktion handle, sondern wies ganz richtig darauf hin, dass General Blackburn den Sowjets viel lieber war als jeder seiner möglichen Nachfolger.«

»Der KGB steht häufig im Widerspruch zu dem diplomatischen Korps des Kreml«, unterbrach der Direktor.

»So, wie die Company zu dem unseren?«, fragte der Außenminister.

»Auch nicht mehr als Ihre eigenen Consular Operations, Paul«, erwiderte der Direktor.

»Verdammt noch mal«, sagte der Präsident, »hören Sie doch mit dem Mist auf. Ich will Fakten. Sie zuerst, Jim. Da Sie Ihrer Sache so sicher sind– was haben Sie denn herausgefunden?«

»Eine ganze Menge.« Der Direktor klappte den Aktendeckel auf, den er in der Hand hielt, entnahm ihm ein Blatt und legte es vor den Präsidenten. »Wir sind fünfzehn Jahre zurückgegangen und haben alles in den Computer eingespeist, was wir über die letzte Nacht in Erfahrung gebracht haben. Wir haben Methode, Ort, Ausgang, Timing und Teamarbeit miteinander verglichen, und das alles mit jedem uns bekannten KGB-Mord während dieser fünfzehn Jahre verglichen. Wir haben dabei drei Profile gefunden. Drei der erfolgreichsten und geschicktesten Killer in der sowjetischen Abwehr. In jedem einzelnen Fall arbeitet der Mann natürlich ganz normal und unter Tarnung, aber es sind alles berufsmäßige Killer. Wir haben sie in der Reihenfolge ihrer Erfahrung aufgelistet.«

Der Präsident studierte die drei Namen:

Taleniekov, Wassilij. Letzter gemeldeter Einsatz:

Südwestliche Sowjetsektoren.

Krylowitsch, Nikolai. Letzter gemeldeter Einsatz:

Moskau, WKR.

Schukowski, Georgij: Letzter gemeldeter Einsatz:

Botschaftsattaché, Ost-Berlin.

Der Außenminister war erregt; er konnte nicht länger still bleiben. »Mr. President, diese Art von Spekulation– die bestenfalls auf höchst vagen Verdächtigungen basiert– kann nur zur Konfrontation führen. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.«

»Augenblick mal, Paul«, sagte der Präsident. »Ich habe Fakten verlangt. Es ist mir völlig gleichgültig, ob jetzt die Zeit für eine Konfrontation ist, oder nicht. Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs ist ermordet worden. Er mag in seinem Privatleben ein kranker Hurenbock gewesen sein, aber er war ein verdammt guter Soldat. Wenn es sich um einen sowjetischen Mord handelt, möchte ich das wissen.« Der Präsident legte das Papier auf den Schreibtisch, ohne dabei den Außenminister aus den Augen zu lassen. »Außerdem«, fügte er hinzu, »wird es keine Konfrontationen geben, solange nicht mehr bekannt ist. Ich bin sicher, Jim hat dafür gesorgt, dass alles streng geheim bleibt.«

»Natürlich«, sagte der Direktor des CIA.

Es klopfte an der Tür des Oval Office. Der Nachrichtenadjutant des Präsidenten trat ein, ohne auf Antwort zu warten.

»Sir, der russische Premierminister ist am Roten Telefon. Wir haben die Sendung bestätigt.«

»Danke«, sagte der Präsident und griff nach dem Telefon hinter seinem Sessel. »Mr. Premier? Hier spricht der Präsident.«

Der Russe sprach schnell und deutlich. Als zum ersten Mal eine Pause eintrat, übersetzte ein Dolmetscher. Dann hielt der sowjetische Dolmetscher, wie es üblich war, inne, und eine andere Stimme– die seines amerikanischen Kollegen– sagte kurz: »Korrekt, Mr. President.«

Das vierseitige Gespräch wurde fortgesetzt.

»Mr. President«, sagte der Premierminister, »ich beklage den Tod– die Ermordung– von General Anthony Blackburn. Er war ein ausgezeichneter Soldat, der den Krieg ebenso verabscheute wie Sie und ich. Er genoss hier großen Respekt, seine Stärke und seine Einsicht in die Probleme der Welt übten auf unsere eigenen militärischen Führer günstigen Einfluss aus. Er wird uns fehlen.«

»Danke, Mr. Premier. Auch wir bedauern seinen Tod. Seine Ermordung. Wir können sie nicht erklären.«

»Das ist der Grund meines Anrufs, Mr. President. Sie müssen wissen, und zwar ohne die geringsten Zweifel, dass der Tod von General Blackburn– seine Ermordung– nie von der verantwortlichen Führung der Sozialistischen Sowjetrepubliken gewünscht worden wäre. Wenn ich so sagen darf– es wäre völlig verfehlt, dieses auch nur in Betracht zu ziehen. Ich hoffe, dass ich mich klar ausdrücke, Mr. President.«

»Ich denke schon, Mr. Premier, und ich danke Ihnen. Aber, wenn Sie gestatten, spielen Sie damit auf die entfernte Möglichkeit an, jemand könnte seine Kompetenzen überschritten haben?«

»Ebenso wenig wie jene Mitglieder Ihres Senates, die ohne Skrupel die Ukraine bombardieren würden. Solche Idioten werden entlassen, wie es sich gebührt.«

»Dann bin ich nicht sicher, ob ich den Sinn Ihrer Formulierung richtig erfasse, Mr. Premier.«

»Ich will noch deutlicher werden. Ihre Central Intelligence Agency hat drei Namen geliefert, von denen sie annimmt, dass sie mit dem Tode von General Blackburn in Verbindung stehen könnten. Das ist nicht der Fall, Mr. President. Sie haben mein feierliches Ehrenwort. Diese drei Männer sind verantwortungsbewusste Männer, die unter der absoluten Kontrolle ihrer Vorgesetzten stehen. Einer von ihnen, Schukowski, ist vor einer Woche ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ein weiterer, Krylowitsch, ist seit elf Monaten an der mandschurischen Grenze stationiert, während der hochgeschätzte Taleniekov praktisch bereits pensioniert wurde. Er hält sich augenblicklich in Moskau auf.«

Der Präsident schwieg und starrte den Direktor des CIA an. Dann sagte er: »Ich danke Ihnen für die Klarstellung, Mr. Premier, und für die Genauigkeit Ihrer Information. Mir ist bewusst, dass es für Sie nicht leicht war, diesen Anruf zu tätigen. Meine Hochachtung vor der sowjetischen Spionageabwehr.«

»Ebenso wie für die Ihre. Es gibt heutzutage immer weniger Geheimnisse; manche Leute sagen, das wäre gut. Ich habe die Fakten abgewogen und mich dazu entschieden, Sie anzurufen. Wir hatten mit der Sache nichts zu tun, Mr. President.«

»Ich glaube Ihnen. Ich wünschte, ich wüsste, wer es war.«

»Ich mache mir Sorgen, Mr. President. Ich glaube, wir sollten beide die Antwort auf diese Frage kennen.«

2

»Dimitri Juri Juriewitsch!«, rief die dralle Frau vergnügt, als sie mit einem Frühstückstablett in den Händen auf das Bett zuging. »Heute ist der erste Morgen deines Urlaubs. Es liegt Schnee, aber die Sonne taut ihn weg. Ehe du dir den Wodka aus dem Kopf schütteln kannst, sind die Wälder wieder grün!«

Der Mann verbarg sein Gesicht im Kissen, rollte sich dann herum und schlug die Augen auf. Er musste blinzeln, weil es in dem Raum so hell war. Vor den großen Fenstern der Datscha bogen sich die Äste der Bäume unter der Last des Schnees.

Juriewitsch lächelte seiner Frau zu. Seine Finger spielten mit den Haaren seines Kinnbartes, der jetzt schon mehr grau als braun war. »Ich glaube, gestern Nacht habe ich mich verbrannt«, sagte er.

»Das hättest du beinahe!«, lachte die Frau. »Zum Glück hat unser Sohn meinen Bauerninstinkt geerbt. Wenn er Feuer sieht, denkt er nicht lange über die Ursache nach. Er löscht es einfach!«

»Ich erinnere mich noch, wie er mich ansprang.«

»Das hat er wohl.« Juriewitschs Frau stellte das Tablett aufs Bett. Dann schob sie die Beine ihres Mannes zur Seite, um Platz zu bekommen. Sie setzte sich und griff nach seiner Stirn. »Du bist ganz heiß, aber du wirst’s überleben, mein Kosake.«

»Gib mir eine Zigarette.«

»Nicht vor dem Fruchtsaft. Du bist ein sehr wichtiger Mann; alle Schränke sind mit Fruchtsaft gefüllt. Unser Leutnant sagt, sie dienen wahrscheinlich dazu, die Zigaretten auszulöschen, mit denen du dir den Bart verbrennst.«

»Die Mentalität von Soldaten wird immer die gleiche bleiben. Wir Wissenschaftler verstehen das. Der Fruchtsaft ist da, damit man ihn mit Wodka mischt.« Dimitri Juriewitsch lächelte wieder, ein Lächeln, das ein wenig verloren wirkte. »Eine Zigarette, Liebste? Du darfst sie sogar anzünden.«

»Du bist unmöglich!« Sie holte ein Päckchen Zigaretten vom Nachttisch, schüttelte eine heraus und schob sie ihrem Mann zwischen die Lippen. »Pass auf, dass du nicht ausatmest, wenn ich das Streichholz anreiße, sonst explodieren wir beide. Man wird mich in Unehren begraben, weil ich den prominentesten Kernphysiker der Sowjetunion getötet habe.«

»Meine Arbeit lebt nach mir fort; sollen die mich mit Rauch begraben.« Juriewitsch inhalierte tief, während seine Frau ihm das Streichholz hinhielt. »Wie geht es unserem Sohn heute Morgen?«

»Sehr gut. Er ist schon früh aufgestanden und hat die Gewehre geölt. Seine Gäste kommen in etwa einer Stunde. Die Jagd fängt gegen Mittag an.«

»Du lieber Gott, das hab’ ich vergessen«, sagte Juriewitsch und stemmte sich im Bett hoch, bis er aufrecht saß. »Muss ich wirklich mitkommen?«

»Du gehst doch mit ihm zusammen. Erinnerst du dich nicht mehr, wie du gestern Abend allen gesagt hast, dass Vater und Sohn das beste Stück schießen würden?«

Dimitri zuckte zusammen. »Das muss wohl mein schlechtes Gewissen gewesen sein. All die Jahre, die ich in den Labors verbracht habe, während er irgendwo hinter meinem Rücken aufwuchs.«

Seine Frau lächelte. »Es wird dir guttun, wenn du an die Luft kommst. Jetzt rauch deine Zigarette zu Ende, iss dein Frühstück und zieh dich an.«

»Weißt du was?«, sagte Juriewitsch und griff nach der Hand seiner Frau. »Ich fange erst langsam an, es zu begreifen. Das ist wirklich Urlaub. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann wir den letzten hatten.«

»Ich weiß gar nicht, ob es je einen gab. Ich habe noch nie einen Mann gekannt, der so viel arbeitet wie du.«

Juriewitsch zuckte die Schultern. »Nett, dass unser Sohn Urlaub bekommen hat.«

»Er hat ihn sich ausgebeten. Er wollte mit dir zusammen sein.«

»Das war schön von ihm. Ich liebe ihn, aber ich kenne ihn kaum.«

»Alle sagen, dass er ein sehr guter Offizier ist. Du kannst stolz auf ihn sein.«

»Oh, das bin ich auch. Es ist nur so, dass ich nicht weiß, was ich zu ihm sagen soll. Wir haben so wenig gemeinsam. Der Wodka hat das gestern Abend leichter gemacht.«

»Ihr habt einander fast zwei Jahre nicht gesehen.«

»Ich hatte meine Arbeit, das weiß jeder.«

»Du bist ein Wissenschaftler.« Sie drückte Dimitris Hand. »Aber heute nicht. Und die nächsten drei Wochen auch nicht! Keine Labors, keine Wandtafeln, keine nächtelangen Sitzungen mit eifrigen jungen Professoren und Studenten, die allen erzählen wollen, dass sie mit dem großen Juriewitsch gearbeitet haben.« Sie nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und drückte sie aus. »Jetzt iss dein Frühstück und zieh dich an. Die Jagd im Schnee wird dir guttun.«

»Meine liebe Frau«, protestierte Dimitri und lachte, »wahrscheinlich werde ich mir den Tod dabei holen. Ich hab’ seit zwanzig Jahren kein Gewehr mehr abgefeuert!«

Leutnant Nikolai Juriewitsch stapfte durch den tiefen Schnee auf das alte Gebäude zu, das früher einmal als Stall der Datscha gedient hatte. Er wandte sich um und blickte auf das riesige dreistöckige Hauptgebäude. Es glitzerte im Licht der Morgensonne, ein kleiner Alabasterpalast in einer Alabasterlichtung, die man aus dem schneebeladenen Wald herausgearbeitet hatte.

Moskau hielt große Stücke auf seinen Vater. Alle wollten etwas über den großen Juriewitsch wissen, den brillanten, reizbaren Mann, dessen bloßer Name schon ausreichte, um den Führern der westlichen Welt Angst zu machen. Es hieß immer, Dimitri Juri Juriewitsch trüge die Formeln für ein Dutzend taktischer Kernwaffen im Kopf; es hieß, wenn man ihn in einem Munitionslager mit angeschlossenem Labor allein ließe, wäre er fähig, eine Bombe zu bauen, die Groß-London, ganz Washington und den größten Teil Pekings vernichten könnte.

Das war der große Juriewitsch, ein Mann, der gegen Kritik und disziplinarische Maßnahmen praktisch immun war, auch wenn er manchmal zu unüberlegten Worten und Handlungen neigte. Nicht, soweit es seine Ergebenheit für den Staat betraf; die stand nie infrage. Dimitri Juriewitsch war das fünfte Kind armer Bauern aus Kurow. Wenn es den Staat nicht gegeben hätte, dann wäre er jetzt Maultiertreiber bei irgendeinem Aristokraten. Nein, er war ein Kommunist bis in die Knochen, hatte aber, wie alle brillanten Männer, nichts übrig für die Bürokratie. Daraus hatte er nie ein Hehl gemacht, und es hatte ihm nie geschadet.

Das war auch der Grund, weshalb so viele ihn kennenlernen wollten. Vermutlich, das nahm Nikolai wenigstens an, weil sie hofften, dass auf diese Weise wenigstens ein Hauch seiner Immunität auf sie fiel.

Der Leutnant wusste, dass dies heute der Fall war, und es war ihm unangenehm. Die »Gäste«, die jetzt zur Datscha seines Vaters unterwegs waren, hatten sich praktisch selbst eingeladen. Der eine war der Kommandeur von Nikolais Bataillon in Wilna, der andere ein Mann, den Nikolai nicht einmal kannte. Ein Freund des Kommandeurs aus Moskau. Der Kommandeur hatte gesagt, es sei jemand, der einem jungen Leutnant einmal einen Gefallen tun könne, wenn es um eine Versetzung ging. Nikolai hielt von solchen Versprechungen nicht viel; er war in erster Linie er selbst und erst in zweiter Linie Sohn seines Vaters. Er würde seinen eigenen Weg gehen; für ihn war das sehr wichtig. Aber zu seinem Kommandeur konnte er trotzdem nicht Nein sagen, denn wenn es in der ganzen Sowjetarmee einen Mann gab, der eine Spur dieser »Immunität« verdiente, dann war das Oberst Janek Drigorin.

Drigorin hatte sich gegen die Korruption ausgesprochen, die im Offizierskorps offen zutage trat. Die Erholungsorte am Schwarzen Meer, die aus Geheimfonds bezahlt wurden, die Lagerhäuser voll Konterbande und die Frauen, die, entgegen allen Vorschriften, mit Militärmaschinen zu ihren Männern geflogen wurden.

Er fiel in Moskau in Ungnade und wurde nach Wilna versetzt, um dort in Mittelmäßigkeit zu versauern. Während Nikolai Juriewitsch ein einundzwanzigjähriger Leutnant war, der auf einem unbedeutenden Posten umfangreiche Verantwortung trug, war Drigorin ein bedeutendes militärisches Talent, das man auf einen unbedeutenden Posten abgeschoben hatte. Wenn ein solcher Mann einen Tag mit seinem Vater zu verbringen wünschte, konnte Nikolai dagegen nichts einwenden. Außerdem war der Oberst ein höchst sympathischer Mann; er war neugierig, wie der andere sein würde.

Nikolai erreichte den Stall und öffnete das große Tor, das zu dem Korridor mit den einzelnen Boxen führte. Die Scharniere waren geölt worden; das alte Tor öffnete sich lautlos. Er ging an den makellos sauber gehaltenen Verschlagen vorbei, in denen früher einmal die besten Vollblüter gestanden hatten. Er versuchte sich vorzustellen, wie jenes andere Russland einmal gewesen war. Fast glaubte er, das Wiehern feurig blickender Hengste zu hören, das ungeduldige Scharren von Hufen, die Rufe von Jägern, die danach gierten, auf die Felder hinausgeschickt zu werden.

Jenes Russland musste etwas ganz Besonderes gewesen sein. Wenn man nicht hinter einem Maultier herlief.

Er erreichte das Ende des langen Korridors, wo eine weitere breite Türe war. Er öffnete sie und ging wieder in den Schnee hinaus. In der Ferne fiel ihm etwas auf; etwas, das nicht hinzugehören schien.

Von der Ecke einer Kornkammer führten Spuren zum Waldrand. Fußabdrücke vielleicht. Aber die beiden Dienstboten, die Moskau der Datscha zugewiesen hatte, hatten das Hauptgebäude nicht verlassen. Und die Waldhüter waren in ihrer Baracke, unten an der Straße.

Andererseits, dachte Nikolai, war es natürlich möglich, dass die Wärme der Morgensonne die Ränder irgendwelcher Eindrücke im Schnee geschmolzen hatte. Vielleicht täuschte das blendende Licht die Augen. Ohne Zweifel handelte es sich um die Spuren irgendeines Tieres. Der Leutnant lächelte bei der Vorstellung, dass ein Tier aus dem Wald hier Korn suchte, hier, in dieser gepflegten Reliquie, als die man die Stallungen der großen Datscha bezeichnen musste. Die Tiere hatten sich nicht verändert, nur Russland.

Nikolai sah auf die Uhr; es war Zeit, zum Haus zurückzugehen. Bald würden die Gäste kommen.

Alles lief so gut, dass Nikolai es kaum zu glauben vermochte. Es gab überhaupt nichts Peinliches. Dies war in hohem Grade seinem Vater und dem Mann aus Moskau zuzuschreiben. Oberst Drigorin schien anfänglich etwas unsicher– ein Kommandeur, der sich einem wohlbekannten und mit guten Verbindungen versehenen Untergebenen aufgedrängt hatte–, aber Juri Juriewitsch verhinderte das Aufkommen einer verlegenen Stimmung. Er nahm den Vorgesetzten seines Sohnes auf wie ein besorgter– wenn auch berühmter– Vater, der nichts anderes im Sinne hat, als den Sohn zu fördern. Nikolai war beinahe amüsiert; sein Vater tat dies sehr auffällig. Mit dem Fruchtsaft und dem Kaffee wurde Wodka serviert. Nikolai hatte ein scharfes Auge auf etwa herunterfallende Zigaretten.

Die große Überraschung war der Freund des Obersten aus Moskau, ein Mann namens Brunov. Ein Parteifunktionär von hohem Rang bei der militärisch-industriellen Planung. Nicht nur, dass Brunov und Nikolais Vater gemeinsame Freunde hatten; bald stellte sich auch heraus, dass ihre Einstellung zum größten Teil der Moskauer Bürokratie dieselbe war– und dazu gehörten natürlich viele jener gemeinsamen Freunde. Nicht lange, und Gelächter erfüllte den Raum. Jeder Rebell versuchte den anderen mit beißenden Bemerkungen über diesen Kommissar, der anstelle eines Kopfes einen Hohlraum trug, und jenen Wirtschaftsbürokraten, der nicht einmal einen Rubel in der Tasche halten konnte, auszustechen.

»Wir sind böse, Brunov!«, rief Nikolais Vater, während es in seinen Augen schalkhaft funkelte.

»Das ist wahr, Juriewitsch!«, pflichtete der Mann aus Moskau ihm bei. »Schade, dass wir recht haben.«

»Aber seien Sie vorsichtig, wir haben Soldaten in unserer Gesellschaft. Die werden uns melden!«

»Dann werde ich ihre Löhnung zurückhalten, und Sie konstruieren eine Bombe, die nach hinten losgeht.«

Dimitri Juriewitschs Gelächter verstummte einen Augenblick lang. »Ich wünschte, man brauchte überhaupt keine Bomben.«

»Und ich, dass man keine so großen Beträge für das Militär ausgeben müsste.«

»Genug«, sagte Juriewitsch. »Die Waldhüter sagen, die Jagd hier sei ausgezeichnet. Mein Sohn hat versprochen, für mich Ausschau zu halten. Ich habe versprochen, das größte Stück Wild zu schießen. Kommen Sie jetzt, wir haben hier alles, was Ihnen fehlt. Stiefel, Pelze… Wodka.«

»Aber nicht während wir schießen, Vater.«

»Weiß Gott, Sie haben ihm wirklich etwas beigebracht«, sagte Juriewitsch und lächelte dem Oberst zu. »Übrigens, meine Herren, es kommt gar nicht infrage, dass Sie heute schon wieder abreisen. Sie bleiben natürlich über Nacht. Moskau ist großzügig; es gibt hier Braten, frisches Gemüse und was das Herz sonst begehrt…«

»Und genügend Wodkaflaschen, hoffe ich.«

»Nicht Flaschen, Brunov, Fässer! Ich sehe es Ihren Augen an. Wir werden beide Urlaub machen. Sie bleiben.«

»Ich bleibe«, sagte der Mann aus Moskau.

Schüsse schallten durch den Wald, hallten in ihren Ohren wider. Auch den Wintervögeln blieben sie nicht verborgen; ihr Kreischen und das Flattern ihrer Flügel vermischten sich mit dem Echo. Nikolai konnte auch erregte Stimmen hören, aber sie waren zu weit entfernt, als dass man sie hätte verstehen können. Er wandte sich seinem Vater zu.

»Wenn sie etwas getroffen haben, sollten wir binnen sechzig Sekunden das Pfeifsignal hören«, sagte er. Sein Gewehr hing nach unten, der Lauf wies in den Schnee.

»Eine Schande ist das!«, erwiderte Juriewitsch in gespieltem Ärger. »Die Waldhüter haben mir geschworen– ganz geheim natürlich–, dass das ganze Wild in diesem Abschnitt des Waldes wäre, nahe beim See. Dort drüben sei nichts! Deshalb habe ich darauf bestanden, dass die dorthin gehen.«

»Du bist ein alter Schurke«, sagte der Sohn und musterte die Waffe seines Vaters. »Du hast entsichert. Warum?«

»Ich dachte, ich hätte dort hinten etwas rascheln gehört. Ich wollte schussbereit sein.«

»Sei mir nicht böse, Vater, aber leg den Sicherungshebel wieder um. Warte, bis du das siehst, was du gehört hast, ehe du eine Waffe entsicherst.«

»Sei mir nicht böse, Soldat, aber dann müsste ich zuviel auf einmal tun.« Juriewitsch sah die Besorgnis im Blick seines Sohnes. »Andererseits, wenn ich es mir richtig überlege, hast du wahrscheinlich recht. Ich könnte fallen und einen Schuss auslösen. Davon verstehe ich etwas.«

»Danke«, sagte der Leutnant und drehte sich plötzlich um. Sein Vater hatte recht; hinter ihnen raschelte tatsächlich etwas. Er hörte das Knacken eines Zweiges, Schnee, der zu Boden fiel.

Er entsicherte die eigene Waffe.

»Was ist das?«, fragte Dimitri Juriewitsch mit erregtem Blick.

»Schsch«, flüsterte Nikolai und spähte in die weißen Korridore, die sie umgaben.

Er sah nichts. Er schob den Sicherungshebel wieder zurück.

»Dann hast du es also auch gehört?«, fragte Dimitri. »Das waren nicht bloß diese fünfundfünfzig Jahre alten Ohren.«

»Der Schnee ist schwer«, meinte sein Sohn. »Die Äste brechen unter seinem Gewicht. Das ist es, was wir gehört haben.«

»Nun, eines haben wir jedenfalls nicht gehört«, sagte Juriewitsch, »und zwar ein Pfeifsignal. Gar nichts haben wir gehört!«

Wieder hallten in der Ferne drei Schüsse.

»Sie haben etwas gesehen«, sagte der Leutnant. »Vielleicht hören wir diesmal das Signal…«

Plötzlich hörten sie es. Ein Geräusch. Aber das war keine Pfeife. Das war vielmehr ein erschreckter, in die Länge gezogener Schrei, schwach, aber ganz deutlich. Ganz entschieden ein schrecklicher Schrei. Und jetzt folgte ihm ein zweiter, der noch hysterischer klang.

»Mein Gott, was ist passiert?« Juriewitsch packte den Arm seines Sohnes.

»Ich weiß…«

Ein dritter Schrei schnitt ihm die Antwort ab, ein Schrei, der ihm durch Mark und Knochen ging.

»Bleib hier!«, schrie der Leutnant seinen Vater an. »Ich laufe zu ihnen.«

»Ich komme mit«, sagte Juriewitsch. »Mach schnell, aber sei vorsichtig!«

Nikolai raste durch den Schnee auf den Ursprungsort der Schreie zu. Sie erfüllten jetzt den ganzen Wald, nicht mehr so schrill, aber umso schmerzlicher. Man merkte, dass die Lebenskraft dessen, der geschrien hatte, verebbte. Der Soldat benutzte sein Gewehr dazu, sich einen Weg durch die schweren, tief hängenden Äste zu bahnen. Der Schnee wirbelte rings um ihn auf. Seine Beine schmerzten, die kalte Luft füllte seine Lungen zum Bersten; Tränen der Erschöpfung trübten seine Sicht.

Dann hörte er das Brüllen, bevor er das sah, was er am meisten fürchtete, etwas, das kein Jäger je sehen wollte.

Ein ungeheuer großer, wilder Schwarzbär, dessen schreckerregendes Gesicht eine einzige blutende Masse war, übte Rache an denen, die seine Wunden verursacht hatten, riss, fetzte, zerfleischte seinen Feind.

Nikolai hob das Gewehr und feuerte, bis keine Patronen mehr in der Kammer waren.

Der riesige Bär fiel. Der Soldat rannte zu den beiden Männern; als er sie untersuchte, stockte ihm der Atem.

Der Mann aus Moskau war tot, die Kehle herausgerissen, sein blutverschmierter Kopf kaum mehr mit dem Körper verbunden. Drigorin hatte noch Spuren von Leben in sich. Nikolai wusste, wenn der andere nicht binnen Sekunden sterben würde, dann würde er seine Waffe nachladen und das zu Ende führen, was das Tier begonnen hatte. Der Oberst hatte kein Gesicht mehr. An seiner Stelle war etwas, was sich dem Bewusstsein des Soldaten einbrannte.

Wie? Wie hatte das geschehen können?

Dann wanderte der Blick des Leutnants zu Drigorins rechtem Arm. Der Schock, den er empfand, überstieg seine wildeste Vorstellungskraft.

Er war halb von seinem Ellbogen abgetrennt. Wie das geschehen war, wurde sofort klar: durch schwerkalibrige Kugeln.

Der rechte Arm des Obersten war abgeschossen worden!

Nikolai rannte zu Brunovs Leiche; er beugte sich hinunter und rollte die Leiche zur Seite.

Brunovs Arm war noch intakt, aber seine linke Hand war zerrissen. Nur die verzerrten, blutigen Umrisse einer Handfläche waren zurückgeblieben. Die Finger waren nicht mehr als Knochenstücke. Seine linke Hand! Nikolai Juriewitsch erinnerte sich an den Morgen, den Kaffee, den Wodka und die Zigaretten.

Der Mann aus Moskau war Linkshänder gewesen.

Brunov und Drigorin waren von jemandem mit einer Waffe verteidigungsunfähig gemacht worden, jemandem, der wusste, was auf ihrem Wege auf sie lauerte.

Nikolai richtete sich vorsichtig auf. Der Soldat in ihm war geweckt, er suchte den unsichtbaren Feind. Und dies war ein Feind, den er mit ganzem Herzen finden und töten wollte. Seine Gedanken rasten zurück zu den Fußabdrücken, die er hinter den Stallungen gesehen hatte. Das waren nicht die Spuren eines Tieres– nicht in dem Sinne, wie er es angenommen hatte– das waren die Spuren eines widerlichen Mörders.

Aber wer? Und darüber hinaus– warum?

Der Leutnant sah etwas Helles aufblitzen. Ein Sonnenstrahl auf einer Waffe.

Er bewegte sich nach rechts, wirbelte dann ruckartig nach links herum, warf sich zu Boden und rollte sich hinter den Stamm einer Eiche. Er stieß das leere Magazin aus der Waffe und ersetzte es durch ein volles. Er kniff die Augen zusammen und suchte nach dem, was er blitzen gesehen hatte. Es war hoch oben auf einer Fichte.

Eine Gestalt saß rittlings fünfzehn Meter über der Erde auf zwei Ästen, sie hielt einen Karabiner mit Zielfernrohr in der Hand. Der Mörder trug ein weißes Schneehemd mit Pelzkapuze. Das Gesicht war hinter einer großflächigen dunklen Sonnenbrille verborgen.

Nikolai dachte, er müsse sich vor Wut und Ekel übergeben. Der Mann lächelte. Der Leutnant wusste, dass er auf ihn herunterlächelte.

Wütend hob er das Gewehr. Schnee wirbelte auf und blendete ihn; gleichzeitig hörte er den lauten Knall eines Hochleistungskarabiners. Ein zweiter Schuss folgte; die Kugel krachte in das Holz über seinem Kopf. Er zog sich in den Schutz des Baumstammes zurück.

Ein weiterer Schuss krachte, diesmal ganz nahe, nicht von dem Killer oben auf dem Baum.

»Nikolai!«

Etwas zersprang in ihm. Jetzt war nichts außer Wut übrig.

Die Stimme, die seinen Namen schrie, war die seines Vaters.

»Nikolai!«

Wieder ein Schuss. Der Soldat sprang auf, feuerte sein Gewehr auf den Baum ab und rannte über den Schnee.

Sein Herz krampfte sich zusammen. Er hörte und spürte nichts, bis er wusste, dass das Gesicht seines Vaters kalt war.

Der Premierminister der Sowjetunion legte die Hände auf den langen Tisch unter dem Fenster, von dem aus man den Kreml sehen konnte. Er beugte sich vor und studierte die Fotografien. Die Wangen seines großflächigen Bauerngesichtes hingen vor Erschöpfung schlaff herunter. Seine Augen waren von Wut und Schreck erfüllt.

»Schrecklich«, flüsterte er. »Dass Menschen so sterben müssen. Das ist Juriewitsch zumindest erspart geblieben– nicht der Tod, aber ein solches Ende.«

Auf der anderen Seite des Raumes saßen zwei Männer und eine Frau um einen anderen Tisch. Ihre finsteren Gesichter musterten den Premierminister. Jeder hatte einen braunen Aktendeckel vor sich liegen. Sie warteten offensichtlich darauf, dass die Konferenz fortgesetzt wurde. Aber sie drängten den Premierminister nicht, drängten sich auch nicht in seine Gedanken. Andeutungen von Ungeduld konnten bei ihm zu Wutausbrüchen führen. Der Premierminister war ein Mann, der schneller als die Anwesenden denken konnte, aber dennoch wägte er bedachtsam alle Möglichkeiten ab. Er war ein Überlebender in einer Welt, wo nur die Klügsten– und die Raffiniertesten– überlebten.

Angst war eine Waffe, die er mit außergewöhnlichem Geschick zu handhaben wusste.

Er stand auf, schob die Fotografien angewidert von sich und ging zum Konferenztisch zurück.

»Alle Raketenstationen sind in Alarmzustand, unsere Unterseeboote nähern sich den Abschusspositionen«, sagte er. »Ich möchte, dass diese Information an sämtliche Botschaften übermittelt wird. Benutzen Sie Codes, die Washington bereits geknackt hat.«

Einer der Männer am Tisch lehnte sich vor. Er war ein Diplomat, älter als der Premier. Offenbar ein langjähriger Begleiter, ein Verbündeter, der etwas offener als die beiden anderen sprechen konnte. »Sie gehen ein Risiko ein, von dem ich nicht weiß, ob es klug ist. Wir sind uns der Reaktion nicht so sicher. Der amerikanische Botschafter war tief erschüttert. Ich kenne ihn; er hat nicht gelogen.«

»Dann war er nicht informiert«, sagte der zweite Mann kurz angebunden. »Ich erkläre im Namen des WKR, dass wir sicher sind. Die Kugeln und die Patronenhülsen sind identifiziert worden: Sieben Millimeter– Spitzen abgezwickt. Laufmarkierungen unverkennbar. Sie sind aus einer Browning Magnum abgefeuert worden. Was brauchen Sie noch mehr?«

»Wesentlich mehr als das. Es ist nicht schwierig, sich eine solche Waffe zu besorgen. Außerdem bezweifle ich, dass ein amerikanischer Attentäter seine Visitenkarte hinterlassen würde.«

»Es ist aber durchaus möglich, wenn es sich um die Waffe handelt, mit der er besonders gut vertraut ist. Wir haben einiges entdeckt.« Der WKR-Mann wandte sich zu der Frau in mittleren Jahren. Ihr Gesicht wirkte wie aus Granit gemeißelt. »Bitte erklären Sie, Genossin Direktor.«

Die Frau klappte ihren Aktendeckel auf und überflog das obenauf liegende Blatt, ehe sie zu sprechen begann. Sie drehte das Blatt um und wandte sich an den Premierminister. Ihre Augen wichen dem Diplomaten aus. »Wie Ihnen bekannt ist, handelte es sich um zwei Attentäter, vermutlich beides Männer. Der eine muss ein Meisterschütze von außergewöhnlichem Geschick sein, der andere besitzt ohne Zweifel dieselben Fähigkeiten, ist aber außerdem auch ein Experte für elektronische Überwachung. Wir haben in den Stallungen Beweismaterial gefunden– Kratzspuren, Abdrücke von Saugnäpfen, Fußabdrücke–, die uns vermuten lassen, dass sämtliche Gespräche in der Datscha abgehört wurden.«

»Das deutet auf den CIA, Genossin«, unterbrach der Premier.

»Oder Consular Operations, Sir«, erwiderte die Frau. »Es ist wichtig, das im Auge zu behalten.«

»O ja«, nickte der Premierminister. »Die kleine Gruppe von ›Unterhändlern‹, die das State Department unterhält.«

»Warum nicht die chinesischen Tao-pans?«, fragte der Diplomat ernsthaft. »Sie gehören zu den effektivsten Mördern auf der ganzen Welt. Die Chinesen hatten von Juriewitsch mehr zu befürchten als sonst jemand.«

»Die kommen aus Gründen des Gesichtsschnittes nicht infrage«, konterte der Mann vom WKR. »Peking weiß, was ihm blühen würde, falls uns einer seiner Leute in die Hände fiele, tot oder lebend.«

»Kommen Sie wieder auf Ihre Entdeckungen zurück«, unterbrach der Premierminister.

Die Frau fuhr fort: »Wir haben alles in die KGB-Computer eingegeben und uns dabei auf amerikanisches Abwehrpersonal konzentriert, von dem wir wissen, dass es sich in Russland aufgehalten hat, unsere Sprache fließend beherrscht und als Killer bekannt ist. Wir sind auf vier Namen gekommen. Hier sind sie, Herr Premierminister. Drei von der Central Intelligence Agency und einer von den Consular Operations des State Department.« Sie reichte das Blatt dem WKR-Mann, worauf dieser sich erhob und es dem Premierminister übergab.

Er sah die Namen an.

Scofield, Brandon Alan. State Department, Consular Operations. Nachgewiesenermaßen für erfolgreiche Attentate in Prag, Athen, Paris und München verantwortlich. Steht unter dem Verdacht, in Moskau selbst gearbeitet zu haben. An mehr als zwanzig Fluchtfällen beteiligt.

Randolph, David. Central Intelligence Agency. Verbirgt sich unter der Position eines Importversandleiters der Dynamax Corporation in West-Berlin. Alle Stufen der Sabotage. Nachgewiesenermaßen an Kraftwerksexplosionen in Kazan und Tagil beteiligt.

Saltzman, George Robert. Central Intelligence Agency. War sechs Jahre lang in Vientiane als diplomatischer Kurier und Meuchelmörder unter dem Deckmantel des AID tätig. Experte für den Orient. Augenblicklich– seit fünf Wochen– im Bereich Taschkent tätig. Deckmantel: Immigrant aus Australien, Verkaufsleiter der Perth Radar Corporation.

Bergstrom, Edward. Central Intelligence Agency–

»Herr Premierminister«, unterbrach der Mann vom WKR. »Mein Kollege wollte erklären, dass die Namen nach Priorität geordnet sind. Nach unserer Meinung deuten alle Anzeichen und Spuren bei der Ermordung von Dimitri Juriewitsch auf den ersten Mann in der Liste hin.«

»Diesen Scofield?«

»Ja, Herr Premierminister. Er verschwand vor einem Monat in Marseille. Er hat mehr Schaden angerichtet und mehr Operationen unserer Seite gestört als irgendein anderer Agent, den die Vereinigten Staaten seit dem Krieg auf uns angesetzt haben.«

»Wirklich?«

»Ja.« Der WKR-Mann hielt inne. Dann fuhr er zögernd fort: »Seine Frau ist vor zehn Jahren getötet worden. In Ost-Berlin. Seitdem war er wie ein Verrückter.«

»Ost-Berlin?«

»Eine Falle. KGB.«

Das Telefon auf dem Schreibtisch des Premierministers klingelte; er ging schnell hinüber und nahm den Hörer ab.

Es war der Präsident der Vereinigten Staaten. Die Dolmetscher standen bereit.

»Wir betrauern den Tod– die schreckliche Ermordung– eines sehr großen Wissenschaftlers, Mister Premier. Ebenso wie das Schreckliche, das seinen Freunden widerfuhr.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Worte dankbar, Mister President, aber, wie Sie wissen, handelt es sich um von langer Hand vorbereiteten Mord oder Terror. Ich bin Ihnen für Ihr Mitgefühl dankbar, aber ich muss mich fragen, ob Sie nicht doch irgendwie erleichtert sind, dass die Sowjetunion ihren führenden Kernphysiker verloren hat.«

»Das bin ich nicht, Sir. Seine Fähigkeiten reichten weit über unsere Grenzen und Meinungsverschiedenheiten hinaus. Er war ein Mann aller Völker.«

»Und doch hat er es vorgezogen, einem Volk anzugehören, oder nicht? Ich muss Ihnen offen sagen, dass meine Besorgnis und unsere Meinungsverschiedenheiten sehr groß sind. Ich muss auf die Sicherheit meines Landes achten.«

»Dann, verzeihen Sie, Mr. Premier, jagen Sie Trugbildern nach.«

»Vielleicht haben wir sie gefunden, Mr. President. Wir haben hier Beweise vorliegen, die mich außerordentlich beunruhigen. So viele, dass ich…«

»Verzeihen Sie mir noch einmal«, unterbrach der Präsident der Vereinigten Staaten. »Die Beweise, die Sie gefunden haben, haben mich dazu veranlasst, Sie anzurufen, obwohl mir das eigentlich widerstrebt. Der KGB hat einen großen Fehler begangen. Vier Fehler, um genau zu sein.«

»Vier?«

»Ja, Mr. Premier. Speziell, was die Namen Scofield, Randolph, Saltzman und Bergstrom angeht. Keiner der vier hat mit dem Vorgang etwas zu tun, Mr. Premier.«

»Sie versetzen mich in Erstaunen, Mr. President.«

»Auch nicht mehr als Sie mich kürzlich in Erstaunen versetzten. Es gibt heutzutage nur noch wenige Geheimnisse, erinnern Sie sich?«

»Worte sind billig; Beweise sind stark.«

»Darum geht es. Lassen Sie mich klarstellen: Zwei der drei Männer von der Central Intelligence Agency sind zum Innendienst versetzt worden. Randolph und Bergstrom sitzen augenblicklich an ihren Schreibtischen in Washington. Mr. Saltzman befindet sich in einem Krankenhaus in Taschkent: Die Diagnose lautet Krebs.« Der Präsident hielt inne.

»Bleibt noch ein Name, nicht wahr?«, sagte der Premier. »Ihr Mann von den berüchtigten Consular Operations. In diplomatischen Kreisen sehr glatt, aber bei uns berüchtigt.«

»Hier komme ich zu dem peinlichsten Teil meiner Erklärung. Es ist unvorstellbar, dass Mr. Scofield in diese Vorgänge verwickelt ist. Offen gestanden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in den Fall verwickelt war, noch geringer als bei den drei anderen. Ich kann Ihnen das sagen, weil es inzwischen ohne Bedeutung ist.«

»Worte kosten wenig…«

»Ich muss deutlich werden. Wir haben seit einigen Jahren detaillierte Akten über Dr. Juriewitsch geführt, die immer auf dem neuesten Stand waren. Nach Ansicht einiger Experten war die Zeit gekommen, an Dimitri Juriewitsch heranzutreten und ihm gewisse Alternativen vorzuschlagen.«

»Was?«

»Ja, Mr. Premier. Flucht. Die beiden Männer, die zur Datscha reisten, um zu Dr. Juriewitsch Kontakt aufzunehmen, taten das in unserem Interesse. Hinter ihnen stand Scofield. Es war seine Operation.«

Der Premierminister der Sowjetunion starrte den Stapel von Fotografien auf dem Schreibtisch an. Dann sagte er leise: »Danke für Ihre Offenheit.«

»Sie müssen woanders suchen.«

»Das werde ich.«

»Das müssen wir beide.«

3

Die Nachmittagssonne hing wie ein glühender Feuerball am Himmel. Ihre Strahlen glitzerten in den Wellen des Kanals. Die Menschen, die sich in westlicher Richtung auf der Kalverstraat von Amsterdam drängten, mussten die Augen zusammenkneifen, waren aber für die Februarsonne und die gelegentlichen Windstöße dankbar, die von den zahllosen Seitenkanälen der Amstel herüberwehten. Nur zu oft brachte der Februar Nebel und Regen, aber das war heute nicht der Fall. Die Bürger der lebendigen Hafenstadt an der Nordsee schienen die klare, beißend scharfe Luft zu genießen, die von der Sonne nur leicht erwärmt wurde.

Ein Mann freilich teilte diese Gefühle nicht. Er war auch kein Amsterdamer und befand sich nicht auf der Straße. Sein Name war Brandon Alan Scofield, Attaché ohne Portefeuille, Consular Operations, United States Department of State. Er stand an einem Fenster, vier Stockwerke über dem Kanal und der Kalverstraat. Durch einen Feldstecher spähte er auf die Menschenmenge hinunter, besonders auf die Stelle, wo die grelle Sonne sich in den Glaswänden einer Telefonzelle spiegelte. Das Licht ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Auf Scofields bleichem Gesicht spiegelte sich Müdigkeit. Seine scharf geschnittenen Züge unter dem oberflächlich hingekämmten, hellbraunen Haar, in das sich schon graue Fäden eingeschlichen hatten, wirkten angespannt und straff.

Er stellte seinen Feldstecher immer wieder nach, das Licht und die schnellen Bewegungen unten verfluchend. Seine Augen waren müde und von dunklen Ringen umgeben, die Folge von zu wenig Schlaf. Über die Gründe wollte Scofield gar nicht nachdenken. Es galt einen Auftrag zu erledigen, und er war Profi; seine Konzentration durfte einfach nicht nachlassen.

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