Das Büro für Vorahnungen - Sam Knight - E-Book

Das Büro für Vorahnungen E-Book

Sam Knight

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Beschreibung

Der Überraschungsbestseller über die Wissenschaft des Paranormalen.

Im März des Jahres 1967 sagt der Telefonist Alan Hencher einen Flugzeugabsturz im Mittelmeerraum mit 123 oder 124 Toten voraus. Genau 30 Tage später wird eine Bristol Britannia am Flughafen Nikosia, Zypern, in den Boden geflogen. 124 Menschen sterben sofort. Diese wahrgewordene Prophezeiung ist der erste von vielen »Erfolgen« des »Büros für Vorahnungen«, das in den 1960er Jahren unter der Leitung des Psychiaters John Barker Vorahnungen, Prophezeiungen, Träume und Visionen zahlreicher Menschen sammelt, um sie wissenschaftlich nutzbar zu machen. Denn Alan Hencher ist nicht der einzige beunruhigend Begabte unter den Informanten des Büros …

Sam Knights Buch bewegt sich zwischen Schicksal und Zufall, lotet die Grenzen der Wissenschaft und unseres Verstandes aus – und konfrontiert uns mit unserer ureigenen Angst vor dem Paranormalen. 

»Ein fulminantes, beunruhigendes Buch, großartig geschrieben und tiefgründig.« Patrick Radden Keefe.

»Wunderschön geschrieben, menschlich und allumfassend.« Hilary Mantel.

»Ich habe dieses faszinierende Buch geliebt.« Emma Cline.

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Seitenzahl: 301

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Über das Buch

Die Geschichte eines außergewöhnlichen Experiments – eine Reise an die äußeren Grenzen von Wissenschaft und Vernunft. 

»Es ist eine ebenso elegante wie exzentrische Geschichte, die jenen kurzen Moment in den 1960er Jahren einfängt, als die übersinnliche Wahrnehmung an der Schwelle zur Akzeptanz durch den Mainstream stand. Sie ist auch leise erschreckend, eine Erinnerung daran, dass selbst diejenigen, die die Zukunft sehen können, keine Hoffnung haben, ihr aus dem Weg zu gehen.« New York Times 

»Ungeheuer aufschlussreich und in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Ich war überwältigt von dem Verständnis des Buches für unsere tiefsten Ängste und unserem unerbittlichen Versuch, sie zu kontrollieren.« Andrew O'Hagan 

»Großartig. Ich habe das Gefühl – man könnte es sogar als Vorahnung bezeichnen –, dass dieses Buch vielen Leuten wirklich gefallen wird.« Daily Mail 

»Man nehme die fesselnde Erzählweise von Patrick Radden Keefe und mische sie mit dem absurden Stoff eines Jon Ronson-Podcasts, und man erhält das erste Buch von Sam Knight, das man unbedingt lesen muss.« Evening Standard 

»Knights glasklare Prosa ... scheint die Freiheit der Fiktion zu haben.« The Times 

»Gelegentlich beunruhigend, absolut fesselnd und wunderschön geschrieben – Sam Knight nimmt Sie mit auf eine unvergessliche Reise in die Geschichte der Zukunftsvorhersage.« Anil Seth

Über Sam Knight

Sam Knight wuchs in London auf und arbeitete nach seinem Studium für die Times, die er 2007 verließ. Danach erschienen seine journalistischen Arbeiten in Harper's, der Financial Times, der New York Times und dem Guardian. Heute ist er Mitarbeiter des New Yorker. Für seine journalistische Arbeit stand er auf der Shortlist für den Orwell Prize 2018. 

Regina M. Schneider ist Amerikanistin und Literaturübersetzerin aus dem Englischen (darunter Werke von Anita Desai und Slavoj Žižek und Biografien u. a. von Michael Moore, Rose McGowan und dem Dalai Lama). Für ihre Arbeit erhielt sie mehrere Stipendien und Auszeichnungen. Daneben ist sie Dozentin für deutsche Sprache.

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Sam Knight

Das Büro für Vorahnungen

Die Geschichte eines außergewöhnlichen Experiments

Aus dem Englischen von Regina M. Schneider

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

I.

II.

III.

IV

Epilog

Dank

Abbildungsverzeichnis

Endnoten

Impressum

Für Polly

I.

Die Musikschule. Ein einfaches Reihenhaus mit einer Fassade aus Kieselrauputz an einer der Hauptstraßen, die aus London hinaus nach Norden führen. Mit Vorhängen aus Spitze und schön gepflegten Rosensträuchern unterhalb der Erkerfenster, ein Blendbogen aus rotem Backstein umrahmt die Eingangstür. Links daneben prangt ein schwarzes Schild mit goldenen Lettern in einer bunten Mischung an Schriftarten:

Miss Lorna Middleton

Teacher of Pianoforte &

Ballet  Dancing

69 Carlton Terrace – New Cambridge Road

Kaum einer nannte sie Lorna. Ihr bevorzugter Vorname war Kathleen, ihre Briefe unterschrieb sie mit Kathy oder Kay. Und für fast alle, die sie kannten, war sie ohnehin Miss Middleton. Sie spielte wunderschön Klavier, mit ihren kleinen Händen, hatte dunkle, wellige Haare, vorstehende Zähne, dazu einen ausgeprägten New England-Akzent sowie ein gewisses Maß an natürlicher Ausstrahlung, womit sie im Edmonton der Nachkriegszeit auf viele eine eigentümliche Faszination ausübte. Die Schülerinnen und Schüler begannen schon im Alter von drei bis vier Jahren mit dem Unterricht bei ihr. Und viele behielten sie ihr Leben lang als eine einzigartige Persönlichkeit in Erinnerung.

Miss Middleton kam nie einfach nur so in einen Raum oder stand gewöhnlich herum. Alles war Bewegung. Alles war Pose. Das Konzept ihrer Schule, so ihr erklärter Anspruch, hatte vieles gemein mit dem Unterricht am renommierten Trinity College, an der Guildhall und der Royal Academy. Jede ihrer Übungsstunden begann damit, dass sie den Teppich im vorderen Salon aufrollte und sämtliche Stühle aus dem Weg schob, während sechs Mädchen und ab und zu auch ein Junge hereindefilierten, sich einen Platz suchten, um, auf ein Bücherbord gestützt, ihr Port de Bras zu üben. Miss Middleton saß dabei am Klavier, mit dem Rücken zu ihren Schülern, griff in die Tasten und wiegte sich im Takt der Musik. Das Mobiliar ringsum war dunkel und recht gediegen. Unter dem Fenster stand ein Ledersofa mit Zierbeschlägen aus Messing, ein Hinweis auf ererbten Reichtum, der nicht so recht passen wollte zu den billigen Fotoabzügen an der Wand, mit Kavalieren und genierlichen Schönheiten aus dem 18. Jahrhundert. Auch der Papieraushang, der an der Vitrine klebte und vor Fehlstunden oder Zahlungsverspätungen warnte, brach das Bild. Draußen im Flur wartete stets bereits die nächste Klasse, saß auf der Treppe, um Miss Middletons kleiner, grimmiger Mutter Annie nicht im Weg herumzugehen, die einst wohl eine wahre Schönheit gewesen war und, so munkelte man, eine Kurtisane in Paris.

Miss Middleton nannte ihre Schüler die »Merry Carltons«. Mehrmals im Jahr inszenierte sie ambitionierte Schulaufführungen, die sie jedes Mal in nervöse Anspannung versetzten. Annie nähte die Kostüme, während Miss Middleton mit bis zu 40 Kindern probte, Musikstücke sowie ein Ensemblespiel einstudierte, das von allen zusammen aufgeführt werden sollte – eine musikalische Komödie etwa. Dafür hegte sie eine große Leidenschaft. Während der Proben zu diesen Aufführungen bekamen die »Merry Carltons« mehr als einmal zu hören, dass Miss Middleton selbst einst eine große Karriere als Tänzerin gehabt hatte. Der vordere Salon hing voll mit alten Auftrittsprogrammen, auf denen jeweils sämtliche Datumsangaben sorgsam entfernt worden waren. Darunter war ein Zeitungsausschnitt aus der Zeit, als sie an den Theatern rund um den Boston Common Park getanzt hatte, vor fünfzigtausend Zuschauern. Und auch das Foto einer jungen Frau, die ein Grand Jeté springt, aufgenommen von einem »Bruno von Hollywood«.

Aber all das verlor sich im Nebulösen. Miss Middletons Schülerinnen und Schüler teilten deshalb lediglich das diffuse Gefühl von etwas Großem, das nie geschehen war, und von verborgenen Ambitionen ihrer Lehrerin, die ihre eigenen weit übertrafen. Oft trennte sich Miss Middleton von ihren Schülerinnen und Schülern, sobald sie ins Teenager-Alter kamen und anfingen, den Unterricht weniger ernst zu nehmen. Was ihren Eleven auch auffiel, war, dass sie ihre Lehrerin außerhalb von Hausnummer 69 kaum je zu Gesicht bekamen. Sie schien nicht einmal einkaufen zu gehen. Dafür schnappten sie allerlei Gerede über sie auf, wonach ihr amerikanischer Akzent eventuell nur vorgespielt oder aufgesetzt sei. Miss Middleton war nicht alt (wie alt genau, wusste niemand so recht), und dennoch war offensichtlich, dass ihre großen Hoffnungen der Vergangenheit angehörten, dass ihre wahren Träume unerfüllt geblieben waren.

In späteren Jahren stellte Miss Middleton eine Liste mit musikdidaktischen Anleitungen zusammen. Für wen sie diese schrieb, blieb unklar. Regel No. 5 ist an Lernende gerichtet: »Nicht nach Gehör spielen.« Regel No. 7 an Lehrende: »Möglichst früh mit der Oktavenlehre beginnen.« Unter Regel No. 9 stand nichts. Viele dieser Regeln waren keine wirklichen Regeln, sondern beschrieben Miss Middletons Erfahrungen und persönliche Ansprüche:

12. Möglichst präzise spielen und dabei auch immer daran denken, dass Lehrer wie Schüler Kopfschmerzen bekommen und die Geduld verlieren können.

22. Es gab mal einen Schüler, der beim Üben Handschuhe trug.

26. Nicht ständig alles wiederholen.

*

An einem kalten Wintertag, als Miss Middleton ungefähr sieben Jahre alt war, kam sie zum Mittagessen von der Schule nach Hause und sah zu, wie ihre Mutter am Herd stand und Spiegeleier briet. »Nach etwa zwei Minuten, aus heiterem Himmel, stieg eines der Eier in die Luft, wie von selbst, schwebte nach oben, immer höher, bis fast an die Decke«, schrieb Miss Middleton in ihren selbstpublizierten Memoiren, die 1989 erschienen. Sie geriet ganz aus dem Häuschen und rannte zurück in die Schule, um ihren Freund:innen davon zu erzählen. »Nachdem ich die Geschichte tausendmal erzählt hatte, warteten alle förmlich darauf, dass auch ich gleich abheben und in die Wolken fliegen würde«, schrieb sie. Ihre Mutter Annie hingegen bekam es mit der Angst zu tun. Sie wandte sich an eine Wahrsagerin, von der sie erfuhr, dass ein Ei, das der Pfanne entschwebt, für den Tod eines geliebten Menschen steht. Wenige Wochen später starb eine von Annies besten Freundinnen, die frisch verheiratet war und in ihrem Brautkleid zu Grabe getragen wurde.

Plötzliche Ahnungen oder Eingebungen, in der ein oder anderen Form, hatte Miss Middleton zeitlebens. »Wie sich das genau anfühlte oder auch heute noch anfühlt, kann ich nicht sagen«, schrieb sie, verglich es aber mit dem Gefühl, bereits im Vorhinein die Antworten zu einer Klausur zu kennen. Namen oder Zahlen tauchten einfach vor ihr auf. »Ich werde gleichsam hineingesogen in diese Dinge, wie von einem gleißend hellen Licht, einer Glühbirne.« Einmal, als Elfjährige, verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, ihren Klavierlehrer anzurufen, einen jungen Deutschen, der unlängst erst wegen psychischer Probleme in einer Klinik gewesen war. Sie gab keine Ruhe, bis ihre Eltern schließlich nachgaben und es ihr erlaubten. Sie erfuhr, dass er sich in seiner Wohnung vergiftet hatte. »Kann sein, dass das Schicksal zugeschlagen hatte und seine Zeit gekommen war«, sinnierte sie. »Aber ich wurde den Gedanken nicht los, dass, hätte ich ihn noch erreicht, er wie immer zum Abendessen bei uns gewesen wäre, und wir hätten alle Probleme besprechen können.«

Miss Middleton war ein Einzelkind mit der Gabe, andere Welten zu erfühlen, die ihr in besonderer Weise zugänglich und verständlich waren. »Alles passiert immer genau so, wie ich es vorhersehe«, schrieb sie an eine Cousine. Ihre Mutter war davon jedoch nicht sehr angetan und bat sie, doch endlich damit aufzuhören, irgendwelche Vorhersagen zu machen.

Miss Middleton betrachtete ihre Kindheit als die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie erzählte gerne von dem »großen Haus mit seinen zwölf Zimmern«, in dem sie als Kind gewohnt hatte, und davon, wie ihr Vater »eine Stelle in Amerika angeboten bekam«. Die Wahrheit aber war weit weniger rosig. Annie und Henry, ihr Vater, waren beide aus England. Henry stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus. Seine Familie besaß eine Möbeltischlerei sowie 30 Liegenschaften in den Bezirken Islington und Hackney im Norden von London. Annie wuchs mit fünf Geschwistern in Liverpool auf. Kennengelernt hatten sich die beiden in Paris, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Auf einem Schiff namens Bohemia brannten sie von dort nach Amerika durch – ein Skandal geradezu (zumal Annie in Frankreich einen kleinen Sohn zurückließ).

Abb. 1: Miss Middleton und ihre Mutter Annie bei einer Aufführung der »Merry Carltons« in Edmonton, im Norden von London, in den 1950er Jahren.

In Boston, wo auch Miss Middleton 1914 geboren wurde, arbeitete Henry auf den North Docks, als Maschinist in einem Konserven-Lagerhaus, das für seinen »Teufelsschinken« bekannt war. Die Familie lebte in Dorchester, am Rande der Stadt. Auf Annies Betreiben erhielt Miss Middleton Klavier-, Tanz- und Sprechunterricht. Sie hatte eine russische Ballettlehrerin und besuchte eine fortschrittliche High School, wo sie in Schneiderei unterrichtet wurde, aber auch lernte, wie man Autos und Radios repariert. Sie hatte dort eine gute Freundin, Gloria Gilbert, die es später bis nach Hollywood schaffte, wo sie als der »Menschliche Kreisel« Berühmtheit erlangte. Doch irgendwann versiegte Henrys Arbeitsquelle. Und so reiste die Familie 1933 über den Atlantik wieder zurück, einen Berg Schulden im Gepäck.

Die Rückkehr nach England war demütigend. Carlton Terrace, die Straße, in der sie ihr weiteres Leben lang wohnen sollte, war voll von Kürschnern, Papierschneidern und Tischlern – ein ruhiges Vorstadtreich, fernab von Paris, Hollywood und dem Rest der Familie Middleton. Henry, schon fünfzig, fand eine Arbeit als Dreher. Die Familie musste überall Abstriche machen. Miss Middleton nahm zwar am Vortanzen an der Ballettschule am Sadler’s Wells teil, der führenden Londoner Bühne für modernes Tanztheater, konnte sich die erforderlichen Schulgebühren dann aber nicht leisten.

Als der Zweite Weltkrieg begann, arbeitete sie als Tanzlehrerin an der Prince’s Dance Hall in Palmers Green, ebenfalls ein Stadtteil im Norden von London, zweieinhalb Kilometer entfernt von Zuhause. Abends, bei Kerzenschein, nahm sie Klavierstunden im Haus eines älteren Organisten namens E. A. Crusha, wo bei einem Luftangriff sämtliche Fensterscheiben aus dem Rahmen geflogen waren.

An einem Samstagabend im März 1941 machte sich Miss Middleton zurecht, um zum ersten Mal seit »The Blitz«, dem Beginn der deutschen Luftangriffe im vergangenen Herbst, wieder auszugehen. In der Prince’s Dance Hall fand nämlich eine große Party zum St. Patrick’s Day statt, und jede Menge alte Bekannte würden da sein. Draußen heulten die Sirenen, und man hörte das dumpfe Dröhnen herabfallender Bomben. Die Party aber wollte sie sich auf gar keinen Fall entgehen lassen. Eine Freundin holte sie ab, zögerte aber zu gehen, da es da draußen viel zu gefährlich sei. Aber Miss Middleton war nicht umzustimmen, und die beiden zogen los.

Doch dann, kaum auf dem Weg, überkam sie eine Ahnung, »ein höchst merkwürdiges Gefühl«. Sie zog ihre Freundin am Arm, und die beiden machten doch wieder kehrt. Daheim angekommen, sie saßen mit Annie gerade beim Kartenspielen, passierte es: Um Viertel vor neun wurde ein deutscher Bomber vom Flakfeuer getroffen und entlud seine hochexplosive Bombenlast über Palmers Green. Die Prince’s Hall war zu diesem Zeitpunkt voller Menschen, die ausgelassen feierten. Darunter auch ein 16‑jähriges Mädchen namens Wyn, die in fröhlicher Runde mit ihren Freundinnen den wirbelnden Tanzpaaren auf dem Parkett zuschaute, als sie plötzlich eine gewaltige Druckwelle spürte, die eine Außenwand einstürzen ließ. »Du hörst nichts, gar nichts. Und dann fällt sie, die Bombe«, erzählte sie der BBC später in einem Interview. »Es wurde stockdunkel. Und irgendwer schrie durch die Menge, man solle sich an eine Innenwand stellen.« Wyn wurde aus den Trümmern gezogen und neben andere Verletzte auf den Gehsteig gelegt. Nur zwei Menschen waren zu Tode gekommen. Vor der Halle, mitten auf den Green Lanes, hatte die Explosion einen Oberleitungsbus in Brand gesetzt. Ein Feuerwehrmann, George Walton, eilte zu Hilfe und sprang in den brennenden Bus, der in Richtung Southgate Town Hall unterwegs gewesen war. 43 Fahrgäste, halbtot, hatten eben noch sitzend oder stehend, zum Teil in ihre Zeitung vertieft, auf ihre Haltestelle gewartet.

*

Während der Zeit des Blitz war es nicht ungewöhnlich, zu glauben, das eigene Leben wäre durch eine Ahnung gerettet oder verändert worden. Die zerschundenen Straßenlandschaften und die allgegenwärtige Gefahr von Tod machten die Stadt zu einem unheimlichen Ort, an dem es nicht unbedingt einfach war auseinanderzuhalten, was real existierte und was nur im eigenen Kopf. Während so gut wie jede Nacht Bomben auf London fielen, suchten die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Sinn und Trost, wo immer sie konnten. Ein Wachtfeuermann, der eingesetzt war, um nach herabfallenden Bomben Ausschau zu halten und kleinere Brände zu ersticken, bemerkte, dass scheinbar jedes Mal, wenn er seine Gummistiefel reinigte, eine schlimme Nacht folgte. Also ließ er sie schmutzig.

Die britische Sozialforschungsorganisation Mass Observation (»Massen-Beobachtung«), die zum Ziel hatte, das alltägliche Leben in Großbritannien zu dokumentieren, startete im Frühjahr 1942 eine Studie, im Rahmen derer die teilnehmenden Personen nach ihrem Glauben an das Übernatürliche befragt wurden. Rund ein Viertel aller Befragten glaubten an irgendeine Art von okkulten Phänomenen, und in etwa der gleiche prozentuale Anteil glaubte an ein Weiterleben nach dem Tod. Viele kritisierten die Fragestellung an sich, wollten wissen, wie man unterscheiden wolle zwischen dem, was übernatürlich sei und dem, was erst noch erforscht und verstanden werden müsse. »Ich weiß nicht, wo das ›Übernatürliche‹ beginnt und das ›Unbewusste‹ endet«, äußerte eine 51‑jährige Lehrerin aus Barnet.

Kategorisch betrachtet, gehörten spukhafte Dinge wie Geister oder paranormale Phänomene zweifellos in den Bereich des Übernatürlichen. Doch wie lassen sich Dinge wie Telepathie oder scheinbar alltägliche Vorkommnisse wie Vorahnungen einordnen, die genauso gut auf unentdeckte Bereiche der Physik und des Geistes hindeuten könnten? Über solche Fragen herrschte in Großbritannien Mitte des 20. Jahrhunderts weit weniger Einigkeit als heute. Ein Teilnehmer an der Mass Observation-Studie schrieb:

Ich habe manchmal das sehr starke Gefühl, dass bestimmte Ereignisse stattfinden werden. Ohne erkennbaren Grund, ich weiß es einfach. Mal hat das Gefühl einen logischen Hintergrund, mal überhaupt keinen. Bis vor Kurzem habe ich so ein Gefühl gar nicht groß wahrgenommen oder beachtet, bis das Ereignis dann eintrat. Inzwischen schenke ich dem Gefühl im jeweiligen Moment Beachtung und stelle fest, dass sich die Ahnungen tatsächlich bewahrheiten.

Im Sommer 1944 wurden die gewissermaßen vorhersehbaren Schrecken der meist nächtlichen Blitz-Luftangriffe durch den willkürlichen Beschuss mit deutschen V1- und später auch V2‑Raketen – das »V« steht hierbei für »Vergeltung« – zu jeder Tages- und Nachtzeit ersetzt. Für viele Londoner, gezeichnet von fünf Jahren Krieg, waren diese neuen sogenannten »Fliegenden Bomben« grauenvoller als alles, was sie zuvor erlebt hatten. Um deutsche Spione und auch die Soldaten an den Abschussrampen in Nordeuropa zu verwirren, wurden den Zeitungen Falschinformationen über die Einschlagzeiten übermittelt.

Es war auf allen Seiten schwer zu verstehen, was da gerade passierte. Die Bürger stellten Spekulationen darüber an, welche Teile der Stadt sicher waren und welche nicht, ob die Raketen zielgerichtet kamen oder breit gestreut in Clustern fielen. »Kriegsangst hatte ich keine, bis die Raketen plötzlich auch zu uns herüber gefeuert wurden«, sagte Wyn, das Mädchen, das die Bombardierung der Tanzhalle überlebt hatte, in ihrem Interview mit der BBC. Eine V2‑Rakete zerstörte eine Fabrik für Militäruniformen in Edmonton, nicht weit von dort, wo sie und Miss Middleton wohnten. »Zum Glück war es Nacht«, sagte Wyn. »Die Bombe hat alles plattgemacht.«

Roland Clarke, Statistiker bei der Prudential Assurance Company, der während des Krieges als Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes V1‑Raketen analysiert hatte, veröffentlichte 1946 ein einseitiges Papier, in dem er deren Einschläge und örtliche Verteilung im Stadtgebiet London kartiert und beschreibt. Er zeigte auf, dass die meisten der V1‑Raketen im Süden der Stadt niedergingen, wo sie, über eine Fläche von 144 qm2 verteilt, nahezu vollkommen zufällig einschlugen. Dieses Muster entsprach einer mathematischen Wahrscheinlichkeitsformel namens Poisson-Verteilung, die in gleicher Weise bereits 1898 eingesetzt worden war, um die wahrscheinliche Zahl der preußischen Soldaten zu berechnen, die durch Pferde per Zufall zu Tode getrampelt würden.

*

Mitte der 1960er Jahre unterrichtete Miss Middleton im vorderen Salon der Hausnummer 69 schon seit fast einem Vierteljahrhundert. Als Henry und Annie in ihren Siebzigern waren, erbten sie vier Häuser in Holloway, einem benachbarten Arbeiterviertel im Norden von London, und starben kurze Zeit später. Miss Middleton lebte nun mit ihren Katzen zusammen, die sich munter vermehrten. Irgendwann zog dann Les Bacciarelli ein, ein polnischer Emigrant, der bei der Post arbeitete. Bacciarelli war Miss Middletons alter Schwarm aus Kriegszeiten. Und er wurde zu einem lebenslangen Begleiter. Sie bezeichnete ihn als ihren Untermieter.

Vorahnungen bestimmten weiterhin die Richtung ihres Lebens und durchdrangen es. Nach dem Tod ihrer Mutter ging Miss Middleton endlich einer Ahnung nach, die sie zum ersten Mal als kleines Mädchen gehabt hatte: dass Annies vor langer Zeit zurückgelassener Sohn in einem hübschen Haus an einem Fluss in Frankreich lebte. 1962 fand Miss Middleton mit Hilfe der US‑amerikanischen Botschaft in Paris dann tatsächlich heraus, dass ihr Halbbruder Alexander in einem alten Haus in einer kleinen Stadt an den Ufern der Sarthe lebte, südwestlich von Paris. Ihre alte Ahnung hatte sich bestätigt.

Miss Middleton arbeitete nie als Hellseherin, und ihre Empfindungen und Ahnungen schienen sie auch nie groß zu beunruhigen. »Ich sehe keinerlei Grund, weshalb diese Gabe beängstigender sein sollte als ein Talent für Mathematik zu haben«, pflegte sie zu sagen. Sie brachte Skizzen von ihren jüngsten Visionen mit in den Ballettunterricht, um sie ihren Schülerinnen und Schülern zu zeigen, und klagte gelegentlich über die ganzen Informationen, die ungefragt auf sie einstürmten. »Sie sagte dann, ›Ich blende einfach alles aus. Ich bin ja beschäftigt. Ich bin viel zu beschäftigt‹«, erinnert sich Christine Williams, eine ehemalige Schülerin. »Und sie winkte ab.«

*

Muster wahrzunehmen, wo gar keine sind, wird als Apophänie bezeichnet. Bedeutungen zu erkennen, wo es gar keine gibt, ist eine schöne Definition von Wahn-Sinn. (Der Begriff Apophänie wurde 1958 von dem deutschem Neurologen Klaus Conrad geprägt, als er die Ursprünge der Schizophrenie beschrieb.) Doch Verbindungen herzustellen in allem, was wir sehen, hören oder träumen, ist auch schlicht eine Form des Denkens an sich, das definiert ist als eine höhere kognitive Funktion.

Und ein Muster zu finden, das niemand zuvor erkannt hat, in der theoretischen Physik oder in der Musik, ist das, was wir Genie nennen – solange auch andere dieses Muster sehen oder fühlen können. »Alle, die bei Tage träumen, wissen von vielen Dingen, die denen entgehen, die nur den Traum der Nacht kennen«1, schrieb Edgar Allan Poe 1875. »Visionen lassen sie den Glanz der Ewigkeiten schauen, und in ihr Wachsein nehmen sie das erschütternde Bewusstsein mit, an der Schwelle der Erkenntnis des großen Rätsels gestanden zu haben.« Etwas mehr als ein Jahrhundert später beschrieb Barbara Brundage, eine Krankenpflegerin für psychische Erkrankungen in Minnesota, wie sie bei sich selbst beginnende psychotische Schübe erkannte: »Ich empfinde alles viel lebhafter, klarer und bedeutsamer; die einströmenden Reize sind fast mehr, als ich ertragen kann. Es gibt eine Verbindung zu allem, was passiert – keine Zufälle. Ich fühle mich ungeheuer kreativ.«

*

Am Abend des 20. Oktober 1966, sie war zweiundfünfzig, beschloss Miss Middleton, die Nacht in der Crescent Road in Hornsey zu verbringen, in einem der ererbten Häuser ihrer Eltern. Sie quartierte sich in einem der Gästezimmer im ersten Stock ein, war aber unruhig und fand schlecht in den Schlaf. Am nächsten Morgen, gegen sechs Uhr, überkam sie das starke Vorgefühl einer Ahnung. »Ich wachte würgend und keuchend auf, hatte das Gefühl, die Wände würden einstürzen«, schrieb sie kurz darauf. Irgendwann kam Bacciarelli von seiner Nachtschicht zu ihr und traf sie völlig aufgelöst und niedergeschlagen an. Sie erzählte ihm von ihrer düsteren Ahnung, und obwohl sie morgens fast nie etwas zu sich nahm, hatte sie um acht Uhr nichts gegen eine Tasse Tee einzuwenden.

Eine gute Stunde später, auf einer riesigen Abraumhalde einer Zeche in South Wales, legte eine Gruppe von Bergwerkern ebenfalls eine Teepause ein. Zu diesem Zweck begaben sie sich in ihre Hütte, in der es eine Kohlenfeuerstelle gab, und die sich mühelos umhertragen ließ, immer dorthin, wo sie gerade arbeiteten. Es war Freitag – ein heller, windstiller, herbstlicher Morgen. Das Tal unterhalb der Halde war von einer dichten Nebeldecke verhangen, durchstoßen nur vom hohen, viereckigen Schornstein der Zeche Merthyr Vale Colliery. Seit dem Ersten Weltkrieg wurden die Flächen oberhalb des Tals zur Verkippung von Grubenaushub aus der Kohlemine im Tal genutzt, der über einen Haldenzug den Merthyr-Berg hinaufgezogen wurde. Die Abfälle aus Verbrennungsasche, Grubenschutt, Kohlerückständen, Schlämme (feinkörniges Gemisch aus Kohleteilchen und Wasser) und Abfallerzen (feinste Rückstandspartikel aus einem chemischen Filtrationsprozess) wurden mittels eines Zugseils in zehn offenen, auf Schienen laufenden Kipploren aus Stahlblech nach oben geschafft. Sobald sie oben im Fördergebäude einliefen, wurden sie auf ein separates Gleis umgelenkt und glitten sacht hinab zur Abraumkante, wo sogenannte »Anschläger« jede Lore an einem Krankopf festmachten, den der Kranführer dann über die Halde schwenkte, um das Schüttgut auszustürzen. Stunde um Stunde, Lore um Lore türmten sich die Halden, dunkel und kegelförmig, höher und höher über dem Tal. Sobald eine Halde zu hoch wurde oder hangwärts Probleme bereitete, suchten die Bergwerkingenieure einen neuen Platz zur Verkippung. Abraumhalde Nummer sieben, wo die Männer an jenem Morgen arbeiteten, war an Ostern 1958 begonnen worden, nachdem ein örtlicher Bauer sich beschwert hatte, dass Halde Nummer sechs seinen Feldern bedrohlich nahekam. Daraufhin trafen sich ein Bergwerkingenieur und der Zechenbetreiber zur Begehung des Merthyr-Bergs, und wählten, ohne eine Karte des Areals dabeizuhaben, einen neuen Ort für Halde Nummer sieben.

1963 hatte es schon zweimal Abrutschungen gegeben, und im November 1963 waren zusätzlich Teile der Halde in ein knapp 80 Meter breites Loch abgesackt. Im Herbst 1966 erhob sich Halde Nummer sieben schon 35 Meter hoch über dem Hang. Schlämme, Abfallerze und Grubenschutt dieser Halde hätten die St. Paul’s Cathedral in London gut anderthalb Mal füllen können. Wochenlange schwere Regenfälle hatten die Hügel völlig durchnässt und die aufgetürmten Grubenabfälle gefährlich instabil gemacht. Als die Anschläger und der Kranführer am Morgen des 21. Oktober kurz vor halb acht oben ankamen, stellten sie fest, dass die Oberfläche über Nacht um gut drei Meter abgesackt war und ein Loch ausgebildet hatte, in das die Transportschienen gefallen waren, die normalerweise nach oben zur Abkippkante führten. Einer der Anschläger, Dai Jones, wurde den Hang hinuntergeschickt, um dem Zechenbüro im Tal die Bewegungen zu melden. Auf der Halde selbst nämlich gab es kein funktionierendes Telefon, da die Kabelleitungen vor Jahren gestohlen worden waren. Inzwischen setzte Kranführer Gwyn Brown den Kran ein Stück zurück. Als Jones gegen neun Uhr in Begleitung des Aufsichtsleiters Leslie Davies zurückkehrte, war die Spitze der Halde um gut drei weitere Meter abgesackt. Und dieser Anblick gefiel den Männern gar nicht. Die Bergwerkingenieure, so vermeldete Davies seiner Truppe, würden in der folgenden Woche eine neue Verkippungsstelle aussuchen. Abraumhalde Nummer sieben war passé. Dann schlug er noch eine kurze Teepause vor, ehe alle wieder an die Arbeit gingen, um Kran und Schienen zu versetzen, und er sich zusammen mit den Anschlägern hinauf zum Fördergebäude begab.

Brown blieb am Kran und schaute den Hang hinab. Das Tal war noch immer nebelverhangen und verdeckte die Sicht auf die dichten Häuserreihen, Kirchen und Lädchen von Aberfan. Das kleine Bergarbeiterdorf im Tal war zwar einsam gelegen, aber keinesfalls ländlich oder gar alt. Vor der Mine hatte es hier nur ein einziges Gehöft gegeben, umrahmt von Feldern voller Schafe, durchzogen vom glitzernden Wasser des River Taff auf seinem Weg ins Meer. Im 19. Jahrhundert kamen Männer aus England, Irland und Italien, um im südwalisischen Aberfan Kohle abzubauen. Sie brachten ihre Familien mit und bauten die kleine Ortschaft auf. Seither hatte der Kohlebergbau sie durch alle Höhen und Tiefen des Lebens begleitet.

Brown, der Kranführer, stand also oben am Hang und schaute hinunter, als die Halde sich plötzlich zu bewegen schien – und zwar nach oben. Es ergab überhaupt keinen Sinn. »Zuerst nur ganz langsam«, sagte er später. »Nein, dachte ich, das bilde ich mir bloß ein. Doch dann wuchs sie rasch höher und höher, in einem Höllentempo.« Und dann verstand er: Weit unten, am Fuß der Halde, hatten sich tausende Tonnen, vom Wasser gesättigter Grubenabfälle verflüssigt und waren abgesackt. Dann, urplötzlich, brach eine dunkle, gleißende Welle aus dem Hang heraus, ergoss sich bergab und riss die restliche Halde mit sich. »Sie schoss irgendwo aus der Senkung hervor, wurde zu einem gewaltigen Strom – ich kann es nicht anders beschreiben«, sagte Brown. »Nichts wie runter vom Berg! … Runter ins Dorf, nach Aberfan! … Rein in den Nebel und durch!«, schrie Brown der Truppe zu. Die Männer kamen aus der kleinen Hütte, sahen, was los war, stürmten den Hang hinunter, Warnungen schreiend. Umstürzende Bäume, Loren, Schlacke und Schlamm versperrten ihnen den Weg. Das Getöse war ohrenbetäubend. Abrutschungen von ein paar hundert Metern hatten die Männer alle schon erlebt. Aber das hier war eine gewaltige Lawine. Die Bewohner von Aberfan verglichen den Höllenlärm der abrutschenden Halde später mit dem Dröhnen eines Tieffliegers oder einem krachenden Donnerschall.

Schafe, Umzäunungen, Vieh sowie ein Bauernhaus mit drei Menschen darin wurden niedergemäht, einfach so.

Die westlichste Straße des Dorfes, die Moy Road, verlief am unteren Saum des Berghangs. Dort befanden sich die beiden Schulen von Aberfan, die Pantglas Junior School (Grundschule) und die Pantglas Secondary School (Mittelschule). Wie jeden Tag begann der Unterricht in der Junior School um neun Uhr, in der Secondary School um halb zehn. Um Viertel nach neun raste die Welle auf die Junior School zu, erfasste sie und begrub sie unter sich. Zu diesem Zeitpunkt war die Schule voller Kinder, die gerade zur Anwesenheitskontrolle nacheinander aufgerufen wurden, den Regenmesser ablasen, das Wort P‑a‑r-a‑b-e‑l buchstabierten, ihr Essensgeld bezahlten, Schulsportberichte ablieferten oder sich auf den Zeichenunterricht vorbereiteten. Dann krachten Loren und Felsbrocken durch die Wände. Der hintere Teil der Schule wurde unter einem zehn Meter hohen dunklen Trümmerhaufen begraben, nur die Giebelseiten des Daches ragten heraus. Die Senior School wurde nur teilweise erfasst. Howard Rees, ein 14‑jähriger Junge auf dem Weg zum Unterricht, sah, wie die Welle sich an einem alten Bahndamm oberhalb des Dorfes brach, »ganz schnell rollte, so schnell wie ein Auto auf dem Weg in die Stadt«, drei seiner Freunde niederwalzte, die auf einer Mauer saßen, ebenso wie acht Häuser dahinter. George Willams, ein Friseur, sah den Druck der Lawine laut krachend ganze Mauern samt Türen und Fenster in die Gebäude auf der Moy Road schieben. Ziegel flogen. Er selbst wurde unter einem Stück Wellblech eingeklemmt. Irgendwann hörte der Höllenlärm auf, und es war so, erzählte er später, wie wenn man das Radio ausschaltet. »Eine Stille, in der nichts zu hören war, nichts, kein Vogel, kein Kind.« Der erste Notruf aus dem Mackintosh Hotel, einem Pub ein Stück weiter die Moy Road hinunter, ging um 9:25 Uhr ein. Bergleute, die Gesichter kohlschwarz, die Helmlampen angeschaltet, stiegen aus den Gruben unter dem Tal und waren innerhalb von 20 Minuten am Ort des Geschehens. Wasser aus geborstenen Rohren flutete die Straßen, reichte den Rettern bis an die Knie. Der Haldenabrutsch von Aberfan riss 144 Menschen in den Tod, darunter 116 Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren.

Um 10:30 Uhr unterbrach die BBC ihr Programm für eine Eilmeldung. In den Mittagsnachrichten, aus denen Harold Wilson von der Katastrophe erfuhr, wurde die Opferzahl mit 26 angegeben. Zu diesem Zeitpunkt war der kleine Ort Aberfan, versteckt im Tal zwischen Merthyr Tydfil und Cardiff, bereits verstopft mit Pressefahrzeugen, Krankenwagen, mobilen Küchenwagen und schwerem Räumgerät. Aus nahegelegenen Minen wurden alle möglichen Arten von Schaufeltraktoren, Bulldozern, Erdbaggern und Lastwagen geschickt, um Trümmer wegzuräumen, doch der enge, verwinkelte Schulhof sowie die leise Hoffnung, unter dem Schlamm noch Überlebende zu finden, ließen meist gar nichts anderes zu, als einfach mit bloßen Händen zu graben. Jedes Mal, wenn ein Retter glaubte, auf ein Opfer gestoßen zu sein, ertönte eine Trillerpfeife, und alles andere wurde still. Nach elf Uhr an jenem Morgen wurde niemand mehr lebend aus den Trümmern gezogen. Ein totes Mädchen wurde geborgen, einen Apfel in der Hand. Ein Junge, vier Pence fest umkrallt. Einige Körper waren grausam entstellt.

Alle Helfer arbeiteten in dem verzweifelten Willen zu retten, das gerade Geschehene ungeschehen zu machen. Jeder wollte sich nützlich machen, auch wenn das unmöglich war. Im Krankenhaus von Merthyr standen die Menschen Schlange, um Blut zu spenden, obwohl gar kein Bedarf bestand. Die Telefonzentrale des Kohlebergwerks war völlig überlastet mit Anrufern, die Hilfe in allen Bereichen anboten, was es unmöglich machte, eine freie Amtsleitung nach draußen zu bekommen. Zwischen ein- und zweitausend Menschen eilten herbei, um sich den Grabungen in der Moy Road anzuschließen. Männer schnitten sich an scharfkantigen Trümmern, und Blut tropfte in den Schlamm. Oben auf der Abraumhalde standen Menschen und brachten sie einmal mehr ins Rutschen, was die Rettungsarbeiten verzögerte. Der Fahrer eines Bulldozers schlief mittendrin vor Erschöpfung über seinen Steuerknüppeln ein. Auf dem Hang oberhalb des Dorfes waren Bergleute und Ingenieure zugange, den Rest von Abraumhalde Nummer Sieben mit Sandsäcken zu stabilisieren, die sie mit dem Schlamm und Schlick befüllten, in dem sie standen. Nahe der Schule hielten sich rund einhundert Krankenwagenfahrer bereit, die dienstfrei hatten, aber gar nicht daran dachten, nach Hause zu gehen. Am Nachmittag wurden Glühlampen mit höherer Wattstärke in die Straßenlaternen von Aberfan eingesetzt, Flutlichter wurden aufgestellt und die Grabungsarbeiten fortgeführt. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde es kalt. Der Premierminister reiste an und wieder ab. Lord Snowdon, der Schwager der Königin, traf gegen drei Uhr morgens ein, mit einem kleinen Koffer und einer Schaufel. Er wurde in die Bethania-Kirche geführt, der größten Kirche im Dorf, wo die Leichen auf dunklen Holzbänken aufgebahrt waren – jeweils versehen mit einer Kreidemarkierung: »M« für male (männlich), »F« für female (weiblich), »J« für juvenile (jugendlich) –, und wo eine Gruppe Kriminalbeamter ihre Arbeit aufgenommen hatte. Vor der Kirche standen rund 50 Eltern, hauptsächlich Väter, harrten stundenlang aus, um ihre toten Kinder zu identifizieren.

Am nächsten Morgen, einem Samstag, war der Himmel bedeckt. Es sah nach Regen aus. Kaum einer im Dorf hatte mehr als ein oder zwei Stunden geschlafen. »Überall nichts als Grau«, hieß es im Merthyr Express. »Grau die Gesichter von Ermüdung und Angst; grau die Häuser und Straßen vom triefnassen Schlamm der Halden.« Es gab etwas mehr Ordnung im Chaos an diesem Morgen, dafür weniger Hoffnung, die fieberhafte Tatkraft vom Tag zuvor jedoch war ungebrochen. Durch das ganze Dorf zogen sich Kolonnen von Lastwagen, um Schutt und Dreck abzutransportieren. Innerhalb von 24 Stunden hatte sich die Nachricht von der Katastrophe wie ein Lauffeuer verbreitet, und alle Welt kannte den Namen Aberfan und seine Bedeutung: Es war der Ort, wo Kinder unter Kohleschutt, aufgehäuft von ihren Vätern, lebendig begraben worden waren. Das Rote Kreuz verteilte zehntausend Zigaretten.

Die Tierschutzvereinigung RSPCA (Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals) entsandte eine mobile Truppe sowie fünf tierärztliche Beschauer, die von Haus zu Haus gingen, um nach verstörten und hilfsbedürftigen Haustieren zu suchen. (Fehlanzeige.) Was auch immer benötigt wurde, war prompt und in rauen Mengen verfügbar. Kaum wurden Rufe nach Handschuhen laut, waren sie schon da. Die Polizei orderte ein Grabungsgerät mit der Bezeichnung »955 shovel« und erhielt stattdessen 955 shovels (Schaufeln). Lastwagen, die keiner angefordert hatte, fuhren auf das Zechengelände, brachten Fleischkonserven, Hemden und tonnenweise Obst. Kaugummi, Seifen, Suppen und Schnapsflaschen stapelten sich in jeder freien Ecke.

*

Eine Straßensperre wurde eingerichtet, um den Zugang zum Unglücksort zu kontrollieren, doch mehr oder weniger jeder in einer Uniform oder einem offiziell wirkenden Fahrzeug schaffte es irgendwie durchzukommen. Am Morgen des 22. Oktober schob sich ein dunkelgrüner Ford Zephyr in das Dorf. Am Steuer John Barker, ein 42 Jahre alter Psychiater mit einem ausgeprägten Interesse an ungewöhnlichen Geisteszuständen. Barker war groß und breit gebaut, trug Anzug und Krawatte. In seinen Dreißigern war er stark übergewichtig gewesen. Seitdem er regelmäßig Sport trieb und sich von Zwieback ernährte, schlackerte ihm die Kleidung nun um den Körper, und er sah älter aus, als er war. Er hatte Tränensäcke unter den Augen, fleischige Lippen und dunkles Haar, das er in die Stirn gekämmt trug. Barker war leitender Facharzt am Shelton Hospital, einer psychiatrischen Anstalt außerhalb von Shrewsbury, rund 160 Kilometer östlich des Merthyr-Tals, auf der anderen Seite der Grenze zu England. Er schrieb damals gerade an einem Buch über die Frage, ob es möglich sei, sich zu Tode zu ängstigen.

Abb. 2: Schadenskarte 21. Oktober 1966 aus dem Bericht des ernannten Tribunals zur Untersuchung der Katastrophe von Aberfan.

Aus ersten Meldungen über die Katastrophe von Aberfan hatte Barker erfahren, dass ein Junge heil und unversehrt aus der Schule entkommen, später aber an einem Schock verstorben war. Er wollte den Fall genauer recherchieren, merkte aber schnell, dass er damit viel zu früh dran war. Als er das Dorf erreichte, wurden noch immer Verschüttete ausgegraben. »Mir war rasch klar, dass es ziemlich unangebracht gewesen wäre, Recherchen über diesen Jungen anzustellen«, schrieb er danach. Was er sah, setzte ihm schwer zu. Barker war verheiratet und selbst Vater von drei kleinen Kindern. »Die Erfahrung ging mir richtig unter die Haut«, schrieb er. Die Verwüstung erinnerte Barker an den Blitz, den er als Teenager im südlichen London erlebt hatte, wo er aufgewachsen war. Doch der Verlust an Menschenleben in Aberfan war schlimmer, mit so vielen und so jungen Toten an einem einzigen Flecken Erde. »Eltern, die ihre Kinder verloren hatten, standen auf der Straße, benommen, hoffnungslos, weinend. Fast jeder, dem ich begegnete, hatte jemanden verloren.«

Schaulustige und Außenstehende, die ohne triftigen Grund nach Aberfan kamen, waren leicht auszumachen. Sie pöbelten Polizisten an, die herumstanden und Tee tranken, und irgendwer ging auf einen Fotografen los, bewarf ihn mit einer Tabakdose und zerschlug seinen Kamerablitz. Im Laufe des Tages setzte leichter Regen ein, spülte noch mehr Schlamm auf die Straßen, durchnässte Hunderte von Rettern, die ohnehin schon zentimetertief im Dreck standen, und schürte die Angst, die Abraumhalde könne erneut schlagartig ins Rutschen geraten und die nächste Tragödie auslösen. Das ganze Dorf stand unter schrecklicher Anspannung. Erste-Hilfe-Stationen am Fuß des Hügels zogen langsam ab. Ein Signalhorn wurde vorbereitet, um jeden Moment Alarm schlagen zu können.

Barker jedoch stieg nicht wieder in sein Auto und fuhr davon. Er interessierte sich schon lange für Themen, die anderen unheimlich oder unerklärlich erschienen. Er war, von außen betrachtet, in jeglicher Hinsicht ein konventioneller Arzt für Psychiatrie. Er hatte an der Cambridge University und an der Londoner St. George’s Medical School studiert. Aber er kratzte auch an den Grenzen seines Wissenschaftsgebiets. Barker glaubte, dass die Psychiatrie um eine »neue Dimension« erweitert werden könnte, die nur darauf wartete, in die derzeitige etablierte Wissenschaft integriert zu werden, sofern Ärzte sich nur davon überzeugen lassen wollten, (psychische) Störungen oder Zustände zu erforschen, die gemeinhin als randständig oder übernatürlich galten.