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REPORTAGEN AUS DEUTSCHLAND 1931-1932 Ende 1931 traf die bekannte US-amerikanische Journalistin Dorothy Thompson (1893–1961) Adolf Hitler in Berlin zum Interview. Ihr Buch I Saw Hitler! (1932), in dem sie den zukünftigen Diktator Deutschlands als die Karikatur des ‚Kleinen Mannes‘ beschreibt, führte nach der Machtergreifung dazu, dass die Autorin spektakulär aus Deutschland ausgewiesen wurde. Im Anschluss an die deutsche Erstausgabe Ich traf Hitler!, die 2023 bei DVB erschien, versammelt der Band Das Ende der Demokratie die Reportagen aus den Jahren 1931 und 1932, in denen Dorothy Thompson hellsichtig und verblüffend aktuell anmutend zugleich den Untergang der Weimarer Republik und das Heraufziehen der NS-Diktatur beschreibt. Ihre Texte erschienen als illustrierte Serie in der auflagenstarken amerikanischen Saturday Evening Post und werden hier erstmals seit ihrem Erscheinen wieder zugänglich gemacht. Ausführlich kommentiert und mit einem Nachwort von Prof. Dr. Oliver Lubrich von der Universität Bern. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Johanna von Koppenfels. „Sie gehörte zu den einflussreichsten Frauen Amerikas, zählte Sigmund Freud und Bertolt Brecht zu ihren Bekannten: Die große Journalistin und Exzentrikerin Dorothy Thompson wird wiederentdeckt.“ – Wolfgang Paterno, PROFIL „Sie bietet einen Einblick in das, was Ernst Bloch das ‚Dunkel des gelebten Augenblicks‘ nannte.“ – Felix Stephan, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
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Seitenzahl: 419
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sie hört Joseph Goebbels im Sportpalast und durchschaut die Propaganda der Nationalsozialisten. Sie spricht mit Reichskanzler Heinrich Brüning kurz vor seinem Sturz, aber auch mit Rechtsextremisten, Künstlern und Jugendlichen. Die US-amerikanische Journalistin Dorothy Thompson (1893–1961) berichtet 1931 und 1932 aus Deutschland vom Ende der Demokratie. Sie erlebt das Land in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, aber sie erkennt auch, dass weitere Faktoren hinzukommen, die den Verfall der Republik beschleunigen. Thompson beschreibt eine doppelte Krise – eine wirtschaftliche und eine psychologische, die eine verhängnisvolle Eigendynamik entwickelt: Gefühle der Erniedrigung und Enttäuschung, Wut und Angst, die Sehnsucht nach vergangener Größe und der Glaube an Verschwörungserzählungen bilden den Nährboden für Agitation, Hysterisierung und Gewalt. Gegensätze zwischen Stadt und Land, West und Ost, Reich und Arm spitzen sich zu. Eine länderübergreifende Welle des Rechtspopulismus rollt durch Europa. Das Syndrom der Zeit ist die Abwehr von allem Fremden, die Abschottung durch Zölle und das Bedürfnis nach Autorität. Nachdem im Verlag DAS VERGESSENE BUCH bereits Dorothy Thompsons Interview-Essay »Ich traf Hitler!« wiederentdeckt worden ist, werden nun erstmals ihre pointierten und hellsichtigen Reportagen aus der amerikanischen Saturday Evening Post auf Deutsch zugänglich gemacht.
DOROTHY THOMPSON
Reportagen aus Deutschland 1931–1932
Herausgegeben von Oliver Lubrich
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Johanna von Koppenfels
Die hier erstmals auf Deutsch versammelten Reportagen erschienen zwischen 1931 und 1932 in der US-amerikanischen Zeitschrift Saturday Evening Post.
1. Auflage 2025
Das vergessene Buch | www.dvb-verlag.at
Dorothy Thompson’s articles from The Saturday Evening Post licensed by Curtis Licensing Indianapolis, IN.
All rights reserved.
Copyright © by DVB Verlag GmbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Das Portraitfoto von Dorothy Thompson auf der folgenden Seite hat in ihrem Nachlass in der Syracuse University Library den Vermerk »1938 or earlier«.
Umschlaggestaltung: Lukas Spreitzer, Wien
Satz: Moritz Ahrens, philotypen
ISBN 978-3-903244-46-7
DOROTHY THOMPSON (1893−1961) war eine Pionierin des US-amerikanischen Journalismus. Mit 26 Jahren ging sie nach Europa, um als Reporterin vom irischen Unabhängigkeitskampf und von der zionistischen Bewegung zu berichten. Sie interviewte Leo Trotzki, Kemal Atatürk und Sigmund Freud. Als erste Frau wurde sie leitende Korrespondentin in Wien und anschließend in Berlin. Dort gelang es ihr Ende 1931, ein Interview mit Adolf Hitler zu führen, von dem sie in ihrem Buch »I Saw Hitler!« (1932) berichtet. Zwischen 1931 und 1934 schrieb Dorothy Thompson eine Reihe von Reportage-Essays für die Saturday Evening Post in Philadelphia. Wegen ihrer kritischen Berichterstattung wurde sie 1934 spektakulär aus Deutschland ausgewiesen. In den USA avancierte Thompson zur Star-Kolumnistin, die vor der Gefahr des Faschismus warnte (Let the Record Speak, 1939). Das Time Magazine brachte Dorothy Thompson auf das Cover der Ausgabe vom 12. Juni 1939 und erklärte sie zur einflussreichsten Frau in den USA – neben der Gattin des Präsidenten. In dem Film Woman of the Year (1942) verkörpert Katharine Hepburn eine Figur nach ihrem Vorbild. Während des Krieges wandte sie sich im Radio auf Deutsch an Hörer in Europa (Listen, Hans, 1942). Verheiratet war Dorothy Thompson unter anderem mit Sinclair Lewis (1885−1951), dem ersten US-amerikanischen Nobelpreisträger für Literatur (1930).
Armut de luxe 2. Mai 1931
Armut de luxe – II 9. Mai 1931
Es muss etwas geschehen 23. Mai 1931
Der Staat diktiert 6. Februar 1932
Der Grauhörnchenkomplex 20. Februar 1932
›Wasser unter der Brücke‹ 9. April 1932
Werden Gangs die Welt beherrschen? 16. Juli 1932
Warum »Nachkriegszeit«? 23. Juli 1932
»Alle Pferde des Königs« 6. August 1932
Eine Gangway zum Mars! 20. August 1932
Der Kämpfer ohne Waffen 17. September 1932
Nachwort
Editorischer Bericht und Erläuterungen
Verzeichnis der Originalabbildungen
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Zeittafel
Kurzbiographien
Dank
Kolophon
Joseph Goebbels hetzt gegen den Vertrag von Versailles, aber Dorothy Thompson erkennt einen Widerspruch zwischen der gefühlten und der tatsächlichen Situation der deutschen Gesellschaft.
Die deutsche Jugend ist enttäuscht von Demokratie, Moderne, Kapitalismus und dem Westen und hofft auf radikale Veränderung.
Die Notverordnungen des Reichskanzlers Heinrich Brüning sollen die Demokratie verteidigen, indem sie die Demokratie außer Kraft setzen.
Es gibt eine internationale Welle von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Abschottungsdenken.
Die Reporterin besucht die österreichische Ex-Kaiserin Zita im Exil – seit ihrer ersten Begegnung 1921 ist viel Wasser unter der Zugbrücke hindurch geflossen, und Österreichs abgesetzte Dynastie geistert wie ein Gespenst durch Europa.
Vor seinem Sturz interviewt Thompson Reichskanzler Brüning, der – mit Karl Marx – zyklische Krisen von katastrophalen Krisen unterscheidet, in denen wirtschaftliche und psychische Faktoren einander verschärfen.
Der Versailler Vertrag hat ethnische Konflikte geschaffen und dazu geführt, dass der Kriegszustand latent andauert und man in ganz Europa um die Revision der Friedensordnung streitet.
Die Zerschlagung der Donaumonarchie hat viele Probleme verursacht, aber Österreich-Ungarn kann ebenso wenig wie »Humpty Dumpty« im Kinderreim durch »alle Pferde des Königs« wieder aufgerichtet werden.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen ist explosiv und eine Versöhnung so unrealistisch wie eine Brücke zum Mars, denn am Danziger »Korridor« droht sich ein Krieg zu entzünden.
Deutschland wurde zum Abrüsten gezwungen und strebt gerade deshalb die Aufrüstung an.
2. Mai 1931
Fünfzehntausend Menschen drängen sich im Berliner Sportpalast. Die Türen sind bereits seit einer Stunde geschlossen, obwohl noch zwei- oder dreitausend Menschen vergeblich gegen die Tore drücken. Dabei ist der Anlass kein Sechs-Tage-Radrennen, sondern eine politische Versammlung. Der Berliner Faschistenführer, der verhutzelte, klumpfüßige und frenetische Dr. Goebbels, Adolf Hitlers rechte Hand in Berlin, wird eine Rede halten, und wo immer er auftaucht, versammeln sich solche Menschenmengen und zahlen ihre 25-Cent-Eintrittsgebühr. Nur Hitler selbst, der unbeholfene Österreicher mit dem Charlie-Chaplin-Schnurrbart, kann eine noch größere Menschenmenge anziehen als Goebbels, der mit seinem Hauptquartier in Berlin – Hitler ist in München – der Anführer des deutschen Faschismus im Norden ist.
Die Halle ist mit Bannern behängt – das schwarze Hakenkreuz in weißem Kreis auf roter Flagge; Rot, Weiß, Schwarz, die alten Reichsfarben, und das Hakenkreuz, Symbol jener eigentümlichen Mischung aus nordischer Mythologie, Antisemitismus, militaristischer Tradition, Desperado-Nationalismus und Sozialismus für Deppen, welche die Philosophie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ausmachen, die allgemein mit dem Wort Nazi bezeichnet wird.
Transparente verkünden, wenn schon kein Programm, so doch eine Hoffnung: »Adolf Hitler führt uns in eine bessere Zukunft.« »Deutschland erwache!« »Lasst euch nicht zu Gewalt verleiten. Bleibt diszipliniert!«
Militärmusik ertönt. Gruppen uniformierter Jugendlicher, die Stoßtrupps der Partei, sind im Saal verteilt, um für Ordnung zu sorgen, oder marschieren unter wehenden Fahnen durch die Gänge. Vor der Rednertribüne stehen ein Verstärker und ein Lautsprecher.
Die Militärmusik wird lauter und bricht dann plötzlich ab, als die Lichter gedimmt werden und fünfzig junge Männer in weißen Hemden mit offenen Kragen aufstehen und zum Taktstock eines Dirigenten ein Rezitativ anstimmen. Ihre Stimmen schwellen an und ab, pathetisch und mitreißend im Bann des schwingenden Zauberstabs:
»Wir müssen diese Tage hinter uns lassen;
Klagt nicht!
Aus unseren Mühen
Wird ein neuer Tag heraufziehen.«
Und mit bewegter Stimme, im schummrigen Licht, wenden sie sich vor einem atemlosen Publikum an die Toten:
»Wir schwören euch, unsere Toten,
Wir werden niemals aufgeben!
Wir werden frei sein, wie unsere Väter es waren.
Freiheit und Brot!
Lieber der Tod als diese Ketten!«
Applaus brandet durch den Saal – Applaus, der durch leere Bierfässer verstärkt wird, die mit Absicht über die Galerien gerollt wurden, denn die Deutschen haben, so wie die Russen, einen angeborenen Sinn fürs Theatralische und überlassen nichts dem Zufall. Und als das Licht angeht und die Band losschmettert, hört man das Stampfen marschierender Füße. Weitere Stoßtruppen erscheinen, ihre Uniformen ordentlich und streng, ihr Schritt präzise und militärisch, und in ihrer Mitte der kleine Mann, der den Fuß nachzieht, den Kopf erhoben, mit arrogantem Gesichtsausdruck. Der Nietzsche-Verdreher, der Vorkämpfer der blonden Bestie, ist klein und dunkelhaarig. Doch auch Napoleon war ein Zwerg, der Kaiser* hatte einen verkümmerten Arm. Und als Goebbels eintritt, springen 15.000 Menschen auf, strecken die rechte Hand zum faschistischen Gruß, und aus 15.000 Kehlen wird »Heil!« gerufen. Er schreitet zur Tribüne. Er wird nicht vorgestellt. Er steht erhöht hinter einem Wald aus Radiomikrophonen und beginnt zu sprechen, scharf, schnell, die Worte abgehackt. Das Publikum, das sich nach vorne lehnt, um jede Formulierung zu verstehen, besteht keineswegs nur aus Korpsstudenten. Die jungen Leute sind in der Überzahl, aber es gibt auch Tausende einfach aussehende Männer und Frauen im Saal, alle ordentlich und respektabel gekleidet, die meisten von ihnen zwar abgewetzt, aber dennoch elegant. 90 Prozent des Publikums kommen aus der Mittelschicht – der unteren Mittelschicht, nach den Gesichtern und der Kleidung zu urteilen.
Was Dr. Goebbels sagt, interessiert mich außerordentlich, denn genau solche Reden wie die, die ich gerade höre, haben bei der letzten Wahl mehr als 6.000.000 Stimmen gewonnen, haben 107 Abgeordnete anstelle von zwölf in den Reichstag gebracht und haben Europa, insbesondere Frankreich, mit der Aussicht auf eine faschistische Diktatur schockiert.
Reden wie jene, die er gerade hält, ziehen Woche für Woche ein Publikum zu Veranstaltungen in überfüllten Sälen an. Was Goebbels sagt, wird von anderen Rednern in ganz Deutschland wiederholt, die dasselbe Spektakel aufführen. Als er fertig ist, gehen junge Männer durch das Publikum und verteilen Karten für eine Mitgliedschaft in jener Partei, die nach dem völligen Fiasko des Putsches von 1923 wiederbelebt wurde.
Goebbels spricht zwei Stunden lang und hat nur ein Thema: Deutschlands geistige und finanzielle Versklavung durch die Siegermächte und Deutschlands Ruin durch Reparationszahlungen. Seine Angriffe auf die gegenwärtige Regierung sowie auf alle früheren Regierungen seit dem Krieg laufen auf eine Anklage gegen die sogenannte Erfüllungspolitik hinaus. »Unser Kampf«, wiederholt er immer wieder, »richtet sich gegen die Regierung des Young-Plans, die sich mit unseren Feinden verbündet hat.« Der Young-Plan wird als Sklaverei beschrieben, »und um unsere Ketten abzuwerfen, sind wir bereit, unser Leben zu geben.« »Fünf Millionen verzweifelte Arbeiter und Angestellte sind die Todeszeichen einer Politik, die in den letzten Zügen liegt.« Goebbels hämmert den Leuten das Thema ein: Deutschland liege in Trümmern, und nur die radikale Zurückweisung der Reparationen könne die Nation vor der Vernichtung bewahren.
Es ist ein seltsames Gefühl, aus dem riesigen Saal, in dem 15.000 Menschen einem Wortgespinst über ihren Ruin lauschten, in die Straßen Berlins hinauszugehen; durch die breiten und glitzernden Straßen des westlichen Teils der Stadt zu fahren, mit seinen Cafés und Theatern, seinen Kinopalästen, seinen Feinschmeckerrestaurants; mit der vielleicht neuesten U-Bahn zu fahren, diesem Inbegriff einer Untergrund-Bahn, die seit meinem letzten Besuch in Berlin vor drei Jahren fertiggestellt wurde – hoch und taghell, mit Verzierungen an den Wänden der Bahnhöfe.
Wie konnte ein so ruiniertes Volk das größte Luftfahrtsystem Europas entwickeln und das erfolgreichste Luftschiff konstruieren? Wie hat dieses ruinierte Volk die schnellsten und luxuriösesten Schiffe der Welt gebaut? Aus welchem finanziellen Ruin heraus konnte es die schönsten und modernsten Krankenhäuser, die großartigsten Radiosender und Ausstellungszentren, die größte Zahl an öffentlichen Schwimmbädern und Sportpalästen errichten? Wie kann ein ruinierter Staat die prächtigsten Theater Europas unterhalten? Welche finanzielle Katastrophe stellen die prachtvollen Industrieanlagen dar, die sich von Schlesien bis zum Ruhrgebiet und von Hamburg bis zu den Alpen erstrecken?
Es ist erst zwölf Jahre her, als ich zum ersten Mal nach dem Krieg ein schäbiges, heruntergekommenes und entmutigtes Deutschland besuchte. Und heute, egal ob man aus dem Osten oder Westen, von Norden oder Süden in dieses Land kommt, überall fällt einem die sichtbare Umsetzung eines großen Wiederaufbaus ins Auge. Hier, so denkt man, besucht man eine Nation von Arbeitern, eine Nation von Bauarbeitern. Hier steht ein mächtiger Staat, dessen technische Ausstattung neu, effizient und praktisch ist. Unbestreitbar haben wir es hier mit der am besten ausgestatteten, am besten aufgebauten und am großzügigsten verwalteten Nation in Europa, wenn nicht gar der Welt zu tun. Aber sobald ich diesen Eindruck gegenüber einem Deutschen vorsichtig andeute, erwidert dieser nur düster: »Ja, wir sind das am besten ausgestattete Armenhaus der Welt!«
Wenn nur die Nazis vom Ruin Deutschlands sprechen würden, könnte man dies als unverantwortlichen Chauvinismus abtun. Ich habe aber mit Dr. Hjalmar Schacht, dem ehemaligen Präsidenten der Reichsbank, zusammengesessen, der sagt: »Es steht natürlich außer Frage, dass Deutschland die Zahlungen des Young-Plans leisten kann.« Geheimrat Kastl vom Reichsverband der Deutschen Industrie, der einer der deutschen Vertreter bei der Young-Plan-Konferenz war, sagt dasselbe in vorsichtiger gewählten Worten, während seine Organisation als Ganzes auf eine sofortige Revision drängt.
Vertreter der Regierung seufzen und sagen: »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um unseren Verpflichtungen nachzukommen, aber das Land befindet sich in einer äußerst prekären Lage.« Als triftigen Grund für eine Revision führen sie den enormen Preisverfall in der ganzen Welt an, eine Entwicklung, die zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des Young-Plans nicht vorhersehbar war und die die Zahlungen, in realen Werten gerechnet, viel höher ausfallen lässt, als beabsichtigt war. Sie werfen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich vor, ihren Teil der Abmachung nicht eingehalten zu haben und keine neuen Wege für weltweite Exporte zu eröffnen, an denen Deutschland teilhaben könnte. Zudem werfen sie die Frage auf, ob die Lage der Weltwirtschaft nicht durch eine einschneidende Änderung bei den Reparationen verbessert werden könnte. Dieser Gedanke ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, und Deutschland steht mit dieser Idee keineswegs allein da.
Mit Ausnahme der Sozialisten macht jede Partei in Deutschland in erster Linie die Reparationen für die gegenwärtige Lage Deutschlands verantwortlich. Selbst die Kommunisten nutzen die Reparationen als Wahlpropaganda, und nicht ohne Erfolg. Sie können wahrheitsgemäß sagen, dass das kommunistische Russland als einziges Land seine Schulden vollständig zurückgewiesen hat und damit durchgekommen ist!
Es steht außer Frage, dass die Krise, die über die ganze Welt gekommen ist, Deutschland besonders hart getroffen hat. Am Ende des Winters 1930/31 schätzten die Zeitungen die Zahl der Arbeitslosen auf über 5.000.000. Die Zahlen des Arbeitsministeriums rechtfertigen eine so hohe Schätzung nicht, es ist aber wohl kaum übertrieben zu sagen, dass jeder sechste Erwerbstätige im heutigen Deutschland arbeitslos ist. Die Gesamtzahl ist im Verhältnis höher als in jedem anderen europäischen Land, und die Last dieser schrecklichen Arbeitslosigkeit trifft zudem eine Nation, die über wenig Währungsreserven verfügt und die von der Notwendigkeit geplagt wird, kurzfristige Kredite in Millionenhöhe zurückzahlen zu müssen.
Und die Arbeitslosigkeit ist nicht das einzige Anzeichen der Krise. Nur Mussolinis Italien, dieses Musterland des Faschismus, kann eine noch größere Zahl von Konkursen vorweisen. Italien hatte unter seinem Cäsar im vergangenen Jahr ein Viertel mehr Konkurse als Deutschland. Und in Deutschland gab es 2000 mehr als 1929.
In Berlin macht derzeit ein Witz die Runde: In der Börse soll ein Denkmal für den unbekannten Zahlungsfähigen errichtet werden.
Privatinsolvenzen sind weniger wichtig als der finanzielle Zusammenbruch zahlreicher deutscher Gemeinden. Breslau, Köln, Duisburg an der Ruhr und Frankfurt am Main sind alle hoch verschuldet, und sie sind nicht die einzigen.
Bis Mitte letzten Jahres waren deutsche Gemeinden mit 1.800.000.000 $ verschuldet, davon 1.000.000.000 $ in kurz- und mittelfristigen Darlehen. Man darf vor allem nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild urteilen. Die schönsten Städte sind oft besonders pleite*. Wenn Sie in Deutschland leben, werden Sie dieses Wort lernen. Es bedeutet Bankrott.
Was die Finanzen des Reiches selbst betrifft, so stimmen inzwischen alle in Parker Gilberts Zeter und Mordio-Geschrei ein. Die Regierung unter der Führung von Reichskanzler Brüning steht vor der Notwendigkeit, einen Haushalt in Ordnung zu bringen, der seit 1928 ein Defizit angehäuft hat, welches sich mittlerweile auf rund 300.000.000 US-Dollar beläuft.
Dies liegt außerhalb des sogenannten Sonderhaushalts, welcher Ausgaben umfasst, die als Investitionen betrachtet werden können und deren Finanzierung in die Zukunft vertagt werden kann. Dieser Haushalt beinhaltet zusätzliche Schulden, von denen die meisten durch langfristige Darlehen gedeckt sind – zwei interne Darlehen, die unter verschiedenen Finanzministern aufgenommen wurden, und eines vom schwedischen Millionär Kreuger, der durch Vorschüsse an Regierungen in Not, die ihm im Gegenzug ein Zündholzmonopol gewährten, die Kontrolle über die meisten Streichhölzer der Welt erlangt hat. Deutschland steht, wie verschiedene andere Nationen auch, teilweise auf Streichhölzern. Parker Gilbert, der den Dawes-Plan verwaltete, bestand darauf, dass zumindest ein Teil der Schulden dieses außerordentlichen Haushalts als echtes Defizit gewertet werden müsse. Doch selbst wenn man dies außer Acht lässt, wie es die deutsche Regierung tut, ist das normale Haushaltsdefizit bereits schlimm genug.
Blickt man jedoch aufs Land, ist die Situation noch beunruhigender als in den Industriezentren. Seit 1923, als die Inflation alle Schulden der Landwirtschaft in Luft auflöste, sind neue Schulden in Höhe von etwa 2.000.000.000 $ aufgelaufen, und man schätzt, dass mehr als die Hälfte davon völlig unproduktiv sind und aus Darlehen bestehen, die zur Zahlung von Zinsen und Steuern aufgenommen wurden.
Die ersten 250.000.000 $ an Schulden entstanden dadurch, dass das gesamte Betriebskapital durch die Inflation vernichtet und die Ernte von 1924 zu Inflationspreisen verkauft wurde – das heißt, praktisch umsonst. In der Zeit nach der Inflation hatten die Landwirte und Großgrundbesitzer keine andere Kreditquelle als die Reichsbank, die kurzfristige Darlehen gewährte – eine katastrophale Situation für eine Branche mit einem so langsamen Umsatz wie die Landwirtschaft – und Steuern wurden eben nicht aus dem Einkommen, sondern aus dem Kapital gezahlt.
Der deutsche Landwirt, der unter seinen Schulden ächzt, wandte sich an das Reich, um Hilfe zu erhalten, und der derzeitige Zustand des Haushalts ist größtenteils auf die Last der Unterstützung der Landwirtschaft zurückzuführen. Der Preis für Roggen wurde so festgesetzt, dass sich Kosten in Millionenhöhe ergeben. Weitere Millionen gingen an die Winzer in Form von Subventionen und Bürgschaften. Ein Vermögen wurde nach Ostpreußen gepumpt, und der deutsche Haushalt sieht vor, dass diese deutsche Provinz, die durch den polnischen Korridor vom Rest des Landes abgetrennt ist, in den nächsten zehn Jahren weitere 250.000.000 Dollar in Form von Hilfsgeldern verschlingen wird.
Doch auch all diese staatliche Unterstützung hat die Landwirtschaft nicht auf die Beine gebracht. Die Großgrundbesitzer sind verschuldet, und die Bauern haben nichts als ihre Armut. Ganze Dörfer in Thüringen leben nur von Kartoffeln und Speck. Die Landwirtschaft hat es nicht geschafft, ihre Produktion zu rationalisieren. Es besteht ein Überangebot an Roggen (der bevorzugt erzeugt wird), ebenso wie an Kartoffeln. Es werden jedoch nicht genügend Eier und Butter erzeugt. Ohne die enormen Zölle und staatlichen Subventionen könnte die deutsche Landwirtschaft auf ihrem eigenen Heimatmarkt nicht mit Importen konkurrieren. Die Feindseligkeit zwischen Stadt und Land nimmt zu, und die politischen Folgen sind schwerwiegend. Die nationalsozialistische Bewegung ist zu einem großen Teil ein Ausdruck der Revolte von Bauern gegen die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in den Städten. Und die Krise wird sich wahrscheinlich 1932 noch zuspitzen, wenn der Großteil der ersten Hypotheken fällig wird.
Schließlich darf man bei der Aufzählung der Gründe, warum sich die Masse des deutschen Volkes ruiniert fühlt, einen der wichtigsten Faktoren nicht übersehen. Es handelt sich dabei um die Verschiebung bei den Eigentumsverhältnissen und der Einkommensverteilung seit dem Krieg. Mitte des letzten Jahrhunderts schrieb ein deutscher Ökonom und Revolutionär ein Buch, das für die sozialistische revolutionäre Bewegung fortan als Lehrbuch dienen sollte. In Das Kapital sagte Karl Marx voraus, dass die unvermeidliche Folge der industriellen Entwicklung die Bereicherung einiger weniger auf Kosten vieler sein würde. Das Kapital, schrieb er, würde sich in immer weniger Händen konzentrieren, während immer mehr Menschen proletarisiert würden, bis die gesamte Gesellschaft aus Millionären und Proletariern bestünde. Marx’ Theorie hat sich nicht überall auf der Welt bewahrheitet, am allerwenigsten in den Vereinigten Staaten, sie ist allerdings seit dem Krieg in seinem Heimatland fast zur Realität geworden.
Der große Anstoß in diese Richtung ging von der Inflation aus, die in wenigen Monaten das Vermögen der deutschen Mittelschicht zunichte machte. Dieses Vermögen wurde nie wiederhergestellt. Tatsächlich gehört heute die Masse des deutschen Volkes, mit Ausnahme einer winzigen Gruppe, wirtschaftlich zur proletarischen Klasse. Die starke Mittelschicht der Vorkriegszeit unterscheidet sich heute von der Arbeiterklasse nur noch durch ihre Traditionen, ihre Erinnerungen und ihre Ansichten – nicht durch ihr Einkommen.
Die Steuerunterlagen belegen diese Fakten. Die Einkommensteuer beginnt bei einem Einkommen von über 300 $ pro Jahr. Von den 32.000.000 Erwerbstätigen sind etwa 23.000.000 einkommensteuerpflichtig, bei einem Durchschnittseinkommen von etwa 400 $. Der Rest hat natürlich noch weniger. Wenn man die Mittelschicht auf der breitestmöglichen Basis betrachtet, sodass alle mit einem Einkommen von 600 bis 9000 US-Dollar mit eingeschlossen sind, alles darunter als proletarisch und alles darüber als Reichtum gilt, umfasst die Mittelschicht immer noch nur 10 Prozent der Bevölkerung, verglichen mit 25 Prozent dieser Klasse in England. Wenn man jedoch 4000 Dollar als das Mindesteinkommen ansieht, das ein Mitglied der Mittelschicht als auskömmlich empfindet – und das ist eine vernünftige Schätzung, die sich an den Lebenshaltungskosten in Deutschland orientiert –, dann gibt es insgesamt nur 77.000 Menschen in dieser Klasse.
Fügen Sie die 30.000 Reichen mit einem Einkommen von mehr als 9.000 Dollar pro Jahr hinzu, die in der Bevölkerungspyramide bis zu den Multimillionären reicht, dann kommen sie zu dem überraschenden Schluss, dass nur etwa 100.000 Menschen von den 64.000.000 Einwohnern Deutschlands wirklich frei von finanziellen Sorgen sind und ein angenehmes bürgerliches Leben führen.
Das Bild ist düster. Warum also der Titel dieses Artikels? Armut ja – aber warum de luxe?
Natürlich ist das nicht die ganze Geschichte. Zählen wir einmal die Vermögenswerte zusammen, denn schließlich besitzt Amerika Anteile an Deutschland. Die Vereinigten Staaten von Amerika erhalten von Deutschland auf dem Umweg über Zahlungen für Kriegsschulden etwa 300.000.000 US-Dollar pro Jahr. Darüber hinaus schuldet uns Deutschland etwa 250.000.000 US-Dollar an jährlichen Zinsen für lang- oder kurzfristige Darlehen, die seit 1924 zu hohen Zinssätzen aufgenommen wurden.
Amerikanische Industrieunternehmen sind stark an zahlreichen deutschen Firmen beteiligt. Ein amerikanischer Automobilkonzern besitzt beispielsweise 80 Prozent des Aktienkapitals eines der führenden deutschen Automobilwerke. Ein amerikanischer Elektrokonzern besitzt 16 Prozent des Aktienkapitals von Osram, Berlin. 50 Prozent der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft gehören internationalen Investoren, deren Kapital hauptsächlich amerikanisch ist. Amerikanische Versorgungsunternehmen haben Interessen in Dortmund und Leipzig, und amerikanische Elektrizitätsunternehmen halten Beteiligungen am mächtigen Siemens-Konzern. Und 30 Prozent aller deutschen Einfuhren stammen aus der Neuen Welt, die 40 Prozent der deutschen Lebensmittelimporte und 30 Prozent der Rohstoffimporte liefert.
Glücklicherweise gibt es bei der Bewertung der deutschen Situation vieles, was auf der Habenseite verbucht werden kann. Obwohl die Zahlen zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung in der Einkommensklasse der Proletarier zu finden ist, gibt es keine Anzeichen dafür, dass der nationale Wohlstand des Landes selbst stark zurückgegangen ist. Preisschwankungen machen Vergleiche so schwierig, dass Deutschland seit 1913 keine offizielle Schätzung seines Volksvermögens mehr vorgenommen hat, mit der Begründung, dass die Zahlen mit Sicherheit irreführend wären.
Das Nationaleinkommen, das sich leichter bestimmen lässt, wurde 1913 auf 50.000.000.000 Mark geschätzt und 1926 auf 56.000.000.000 Mark. Im Jahr 1929 wurde es auf 69.000.000.000 bis 71.000.000.000 bemessen – den höchsten Stand seit dem Krieg. Das Reichswirtschaftsministerium schätzte es auf 62.000.000.000 Mark für das vergangene Jahr, in dem Deutschland, ebenso wie der Rest der Welt, Rückschläge erlitt. Obwohl Deutschland heutzutage über weniger Territorium verfügt als vor dem Krieg, ist die Bevölkerung heute fast so groß wie damals. Preisschwankungen machen Gewinne zum Teil aussichtslos, aber eine Steigerung von 12.000.000.000 auf 20.000.000.000 Mark ist ein erheblicher Ausgleich.
Was die industrielle Infrastruktur betrifft, so ist Deutschland führend in Europa und in mancher Hinsicht allen Nationen der Welt voraus. Es ist wohl kaum übertrieben zu sagen, dass die deutsche Industrie seit dem Krieg dreimal neu strukturiert wurde – zuerst, um Kriegsverluste auszugleichen, dann in einem umfassenden Rationalisierungsprogramm und schließlich erneut in Anpassungen, wo die Rationalisierung zu weit gegangen war. Heute sind die Fabriken technisch vollständig ausgestattet; in dieser Hinsicht hat Deutschland die anderen europäischen Industrieländer überholt und muss nur noch die üblichen Erneuerungen und Reparaturen durchführen.
Trotz all jener widrigen Umstände ist der deutsche Außenhandel stetig gestiegen, bis zu dem Punkt, an dem er England überholt hat und den Vereinigten Staaten die stärkste Konkurrenz bietet. Selbst während der Krise der letzten zwölf Monate hat der deutsche Warenexport keinen solchen Einbruch erlitten wie der aller anderen Exportländer, einschließlich unseres eigenen.
In den Jahren 1929 und 1930 war die Handelsbilanz positiv. Nach dem Wert von 1929 berechnet, stiegen die Exporte in den ersten sechs Monaten des Jahres 1930 tatsächlich an, und am Ende des Jahres wurde ein Exportüberschuss von 1.600.000.000 Mark verzeichnet, der fast für die Reparationsrechnung von 1.700.000.000 Mark ausreicht, während die Dividenden aus Beteiligungen an Firmen im Ausland und der Verkauf deutscher Dienstleistungen in etwa weitere 500.000.000 einbringen, die gegen die 1.000.000.000 Mark Zinsen aufgerechnet werden können, welche Deutschland für geliehenes Geld zahlen muss. In den letzten zwei oder drei Jahren ist die Tendenz zu beobachten, dass die Exporte deutlich schneller steigen als die Darlehenszinsen, und obwohl Deutschland Reparationen bisher mit geliehenem Geld gezahlt hat, rückt der Zeitpunkt immer näher, an dem es sie aus Exportüberschüssen bezahlen kann.
Dieser Exportüberschuss wurde jedoch durch die rücksichtslose Verfolgung einer Politik erreicht, welche derjenigen ähnelt, die, wenn sie von Russland betrieben wird, das Fish Committee auf den Plan ruft und unsere Presse dazu veranlasst, vor der Bedrohung durch den Roten Handel zu warnen. Russland steigert seine Exporte auf Kosten des Wohlstands seiner eigenen Bevölkerung, und genau das tut Deutschland auch. Deutschlands Anteil am Welthandel ist jedoch weitaus größer als der Russlands, und Deutschland ist ein weitaus stärkerer Konkurrent, als die Sowjets es in naher Zukunft wahrscheinlich sein werden, selbst wenn der Fünfjahresplan die Hoffnungen der Bolschewisten übertreffen sollte. Die günstige deutsche Handelsbilanz wurde durch eine Politik der Aufrechterhaltung hoher Preise im Inland bei gleichzeitiger Senkung der Exportpreise und durch eine drastische Verringerung der Importe, insbesondere von Lebensmitteln, erreicht. Die gewaltigen Zölle auf landwirtschaftliche Produkte hatten bereits schwerwiegende Folgen für die mitteleuropäischen Agrarländer und führten zu Protesten von sechzehn Nationen, die mit Vergeltungsmaßnahmen gegen deutsche Industrieprodukte drohen. Die Politik der Begrenzung von Lebensmittelimporten beunruhigt Jugoslawien und Rumänien so sehr – nachdem sie in Deutschland bislang ihren besten Absatzmarkt gefunden hatten –, dass sie trotz ihrer Abhängigkeit von Frankreich in die österreichisch-deutsche Zollunion hineingezogen werden könnten, sollte diese Union zustande kommen.
Diese Vergeltungsmaßnahmen sind also logischerweise unhaltbar. Deutschlands Lage unterscheidet sich von jener Russlands, denn solange es Reparationen zahlen muss, die es nur durch ausländische Kredite oder Exportüberschüsse bedienen kann, können seine Gläubiger all die Maßnahmen, die Deutschland ergreift, um eine günstige Handelsbilanz zu erzielen, ehrlicherweise nicht kritisieren, und sie werden auch von keinem Teil seiner Bevölkerung ernsthaft in Frage gestellt werden, außer von den extremen Radikalen, die für eine Zurückweisung des Young-Plans eintreten.
Selbst die Sozialisten, die bei vergleichsweise niedrigen Löhnen normalerweise gegen überhöhte Zölle auf Lebensmittel kämpfen würden, leisten angesichts der Reparationen nur halbherzigen Widerstand.
Amerikanische Landwirte mögen sich darüber beschweren, dass Deutschland einen Zoll auf Weizen eingeführt hat, der mehr als doppelt so hoch ist wie der Weltmarktpreis, doch sie werden sich wohl mit dem Anteil begnügen müssen, den sie zusammen mit den anderen Bürgern der Vereinigten Staaten aus den Reparationen in Form der Tilgungen erhalten.
Zudem werden Vergeltungsmaßnahmen kaum ihre volle Wirkung entfalten, solange deutsches Geld in riesigen Mengen ins Ausland fließt, um die Zahlungen im Rahmen des Young-Plans zu leisten. Die Zahlungen selbst erfolgen zwar in Fremdwährungen, diese müssen jedoch mit deutschen Mark gekauft werden, welche letztlich als Bezahlung für deutsche Waren ihren Weg zurück nach Deutschland finden.
Die Energie und Arbeitskraft des deutschen Volkes, die von keiner Nation der Welt übertroffen wird, die hervorragende und vollständig moderne Ausstattung der deutschen Industrie und schließlich die Reparationen selbst rechtfertigen in den Augen der Deutschen und anderer, dass Deutschland eine rücksichtslose Exportpolitik verfolgt, und lassen die meisten Beobachter zu dem Schluss kommen, dass Deutschland seine Position im Welthandel durch die gegenwärtige Krise halten und sogar verbessern wird.
Ich habe in diesem Artikel versucht, einige Zeichen anzuführen, an denen sich Deutschlands wirtschaftliche Lage ablesen lässt. Wir sind damit aber noch nicht zum Kern der Sache vorgedrungen. Wir haben zwar festgestellt, dass Deutschland über beträchtliche Vermögenswerte verfügt, sein Wirtschaftsleben aber dennoch nicht solide ist. Wir wissen zudem, dass die Masse des deutschen Volkes quer durch alle Parteien die nationale Notlage auf die Reparationen zurückführt. Doch je länger man sich mit der Situation befasst, desto klarer sieht man, dass die Krise nicht auf die Reparationen zurückzuführen ist, die nur eine untergeordnete Rolle spielen, sondern vielmehr auf die Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik, die Deutschland in den letzten Jahren verfolgt hat.
Diese Aussage muss präzisiert werden. Die Reparationen sind schließlich Teil einer internationalen Politik beziehungsweise eines Mangels an Politik, da man es versäumt hat, den Krieg politisch oder wirtschaftlich zu beenden. Insofern sind sie verantwortlich, denn die Situation in Deutschland ist das Ergebnis eines noch nicht beendeten Krieges.
Ein Besucher aus den Vereinigten Staaten, der irgendein europäisches Land bereist, wird schockiert sein, wenn er feststellt, dass der Krieg in den Köpfen der Menschen immer noch so präsent ist, als hätte er sich erst vor wenigen Monaten ereignet.
Der Krieg ist wesentlich verantwortlich für die besondere Form, die der deutsche Staat angenommen hat. Der Krieg hatte bereits zu Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft geführt, er hatte den gesamten Ablauf der Wirtschaft in den Dienst des Staates gestellt und dem Staat untergeordnet. Nun kamen die Alliierten und verlangten eine Revolution in Deutschland, die Ludendorff selbst anordnete, in der Hoffnung auf einen günstigeren Frieden. Doch die Alliierten wollten nur eine kleine Revolution – die Abdankung des Kaisers und die Errichtung einer Republik. Eine Revolution im russischen Sinn hätte eine Intervention und weiteren Krieg bedeutet.
Ohne die Sozialdemokraten konnte keine Republik errichtet werden, und sie waren an einer Republik nicht interessiert, sofern sie nicht sozialistische Ideen umsetzte. Eine Republik im amerikanischen Sinn hätte sie nicht zufriedengestellt. Zudem hatte der Krieg den Boden für ein sozialistisches Programm bereitet, und Massen von Arbeitern traten den Spartakisten bei, entschlossen, Lenin zu folgen.
Der Bolschewismus hätte nicht abgewendet und eine gemäßigte Republik nicht aufrechterhalten werden können, wenn sich die Parteien der Rechten nicht beteiligt hätten. Aber die Parteien der Rechten wollten noch nie eine Republik, und als der Vertrag von Versailles vorgelegt wurde, wollten sie sie noch weniger. Ihre Mitwirkung musste daher erkauft werden durch große Zugeständnisse an die überkommene Tradition.
Während dieser Artikel in Druck geht, kommt aus Berlin die Nachricht, dass die Regierung für Präsident Hindenburg besondere Notstandsbefugnisse gemäß Artikel 48 der Verfassung geltend gemacht hat, die es ihm erlauben, ein Versammlungsverbot zu erlassen, mit der Begründung, dass radikale Agitation eine ernsthafte Bedrohung für den Staat darstelle. Nach diesem Erlass scheint sich der Faschismus in seine revolutionären und konservativeren Elemente aufzuspalten.
9. Mai 1931
Was in Deutschland in den zehn Jahren seit dem Versailler Vertrag entstanden ist, ist ein seltsames Mischgebilde, das nur durch den unnatürlichen Druck erklärt werden kann, unter dem es geschaffen wurde und unter dem es seitdem steht. Ein Land mit der fortschrittlichsten demokratischen Verfassung in Europa – allgemeines Wahlrecht für Männer und Frauen über 20, Einkammersystem – ein Reichsrat mit streng begrenzten Befugnissen – Verhältniswahlrecht, Volksbegehren und Volksentscheid; ein Land, das von einem Präsidenten geführt wird, der seinem Land gegenüber loyal ist, aber ganz sicher nicht gegenüber republikanischen Prinzipien! Ein Reichstag, in dem zwei Parteien, die Nazis und die Kommunisten, absolut gegen die Verfassung sind; erstere ist zudem die zweitstärkste Partei im Haus. Es wird eine nationale Politik verfolgt, die einerseits weit in Richtung Sozialismus gegangen ist und andererseits den Staat nutzt, um die Klasse der feudalen Großgrundbesitzer unverändert am Leben zu erhalten.
Dieser Staat versuchte, sich zwischen den Fraktionen im Inneren, die sich bekriegten, zu behaupten und die Sozialisten zu beschwichtigen, indem er seine Leistungen auf den Teil der Arbeiterklasse ausweitete, der politisch mächtig war – die organisierten, sozialdemokratischen Mitglieder der Gewerkschaften. Der Lohn war die Unterstützung der Sozialisten, die in den ersten Jahren den Bolschewismus abwendete und im vergangenen Jahr das Land vor dem Faschismus bewahrte. Der Preis dafür war die ungeheure Belastung der Haushalte von Reich, Ländern und Gemeinden nicht nur durch Beiträge zu Sozialversicherungen für Kranke und Arbeitslose und gewaltige Ausgaben für die Armenfürsorge, sondern auch in Form von Sozialwohnungen, ausgedehnten Parkanlagen, Volkssportpalästen, Hallenbädern, subventionierten Theatern und Opern – Maßnahmen, die man als »Brot und Spiele« kennt.
Auf diese Weise hat natürlich der Staat die Industriellen von erheblichen Verantwortungen entlastet, und das, obwohl gerade die meisten der Industriellen die Sozialversicherungen und Fördermaßnahmen bekämpften und für den beklagenswerten Zustand der Reichsfinanzen verantwortlich machten.
Aber die Versicherungen und Verbesserungen ermöglichten es den Arbeitgebern, deutsche Arbeitslöhne zu zahlen, die erst kürzlich das Vorkriegsniveau im Verhältnis zur Kaufkraft wieder erreicht haben. Die Industriellen wandten sich ihrerseits an das Reich, genauso wie die Arbeiter, und forderten Subventionen und Bürgschaften für ihre Industrien, die sie auch erhielten.
Die Junker, die vor allem von der Deutschnationalen Volkspartei vertreten werden, nutzten ihre Partei, mächtige außerparlamentarische Organisationen wie den Landbund, aber auch die Bedrohung durch Monarchismus oder Faschismus, um das Reich zu Subventionszahlungen, günstigen Krediten und außerordentlichen Agrarzöllen zu bewegen.
Sobald eine Partei oder Gruppe von Parteien an die Macht kam – stets unsicher, denn die Geschichte der letzten zehn Jahre ist eine von Regierungen, deren Amtszeit jeweils von nur wenigen Stimmen am Rand abhing –, versuchte sie, ihre Position abzusichern, indem sie eigene Mitglieder in den großen Beamtenapparat aufnahm, der Deutschland eigentlich regierte und zusammen mit der Reichswehr und der preußischen Polizei in Zeiten von Aufruhr und Unruhe das Zentrum der Macht bildete.
So haben sie einen Apparat ausgebaut, der unmittelbar nach dem Krieg bereits durch die Aufnahme ehemaliger Offiziere zugenommen hatte.
Schon aus politischen Gründen war es erforderlich, einen Platz für die entlassenen Anführer einer Armee zu finden, die verkleinert werden musste, und der öffentliche Dienst war dafür der einfachste Weg.
Das Ergebnis ist ein Deutschland, das bereits vor dem Krieg durch und durch bürokratisiert war und jetzt, mit einem erheblich kleineren Staatsgebiet, über 30 Prozent mehr Beamte verfügt als 1914. Sie kosten den Staat 10 Milliarden Mark pro Jahr – ein Sechstel bis ein Siebtel des gesamten Volkseinkommens.
Wenn die Nazis sagen, dass die Hälfte der Beamten morgen entlassen werden könnte, ohne die Verwaltung des Landes zu beeinträchtigen, übertreiben sie wahrscheinlich nicht. Manche Beamte arbeiten für Dienststellen, die es gar nicht mehr gibt – wie zum Beispiel für die Wohnungskommission, die bereits vor einiger Zeit abgeschafft wurde, aber immer noch besetzt ist. In jeder Regierungsabteilung wimmelt es von Laufburschen. Jeder zweite Mann in Berlin scheint eine amtliche Aktentasche zu tragen. Die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes hat fast genügend Mitarbeiter, um eine kleine Gemeinde zu verwalten.
Kein Beamter kann entlassen werden. Jede Partei befürchtet, dass ihr Nachfolger an der Macht die Verwaltung verschlanken könnte. Die rechten Parteien glauben, die Sozialisten könnten Herren mit fragwürdiger republikanischer Loyalität entlassen; die Sozialisten wiederum befürchten, die rechten Parteien könnten während einer Amtszeit, wie kurz sie auch sein mag, einen Putsch gegen die Demokratie vorbereiten, indem sie Sozialisten entfernen.
Daher das Gesetz zum Schutz der sogenannten »wohlverdienten Rechte von Beamten«. Diesem Gesetz zufolge kann kein Beamter entlassen werden, es sei denn, er hat eine Straftat begangen. Er kann höchstens auf die Warteliste gesetzt werden, bis seine Dienste wieder gefragt sind. Und während der Wartezeit erhält er 80 Prozent seines Gehalts. Mit fünfundsechzig Jahren wird er in den Ruhestand versetzt und erhält für den Rest seines Lebens 40 bis 60 Prozent seines früheren Gehalts.
Die Regierung unterhält nicht nur diese riesige Zahl an aktiven, pensionierten und ruhenden Beamten, sondern hat seit 1927 etwa 300.000.000 US-Dollar in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt, um Erwerbslose zu unterstützen. Die deutsche Arbeitslosenhilfe begann, wie die englische, als Versicherungsidee. Jeder Arbeiter musste ein Prozent seines Lohns als Beitrag für eine Arbeitslosenversicherung zahlen, und der Arbeitgeber steuerte ein weiteres Prozent bei. Der Fonds ging von einer normalen Arbeitslosenzahl von 800.000 Personen aus. Doch bereits im Gründungsjahr wurde deutlich, dass die Versicherung nicht ausreichen würde, um die Arbeitslosen zu unterstützen, und die Regierung wurde aufgefordert, sie aufzustocken. Dann kam die Wirtschaftskrise in Amerika mit ihren Auswirkungen auf die ganze Welt. In Deutschland gab es 1.000.000 Arbeitslose, dann 2.000.000, dann 3.000.000, dann 4.000.000 und mehr. In den Jahren 1928, 1929 und 1930 zahlte die Regierung 1.260.000.000 Mark in den Versicherungsfonds ein, von denen die Hälfte abgeschrieben und aus den Büchern gestrichen wurde. Natürlich schrumpfte der Fonds mit zunehmender Arbeitslosigkeit automatisch, da immer weniger Arbeitnehmer Beiträge einzahlten.
Aber die Versicherung mit ihren staatlichen Zuschüssen ist nicht die einzige Belastung, welche die Arbeitslosigkeit für den Staat darstellt. Der arbeitslose Arbeiter erhält 26 Wochen lang Unterstützung von der Versicherung. Wenn er nach Ablauf dieser Zeit immer noch arbeitslos ist, wird er durch die sogenannte Nothilfe versorgt. Das Reich zahlt vier Fünftel dieses Fonds, die Gemeinden das letzte Fünftel, um die Arbeitslosen für weitere 32 Wochen zu versorgen. Anfang 1930 unterstützte dieser Fonds 130.000 Arbeiter, Mitte Januar 1931 waren es 780.000, die Regierung rechnet für das laufende Jahr mit durchschnittlich 700.000 in dieser Kategorie und hat weitere 100.000.000 $ für ihren Unterhalt bereitgestellt.
Wenn ein Arbeitnehmer nach achtundfünfzig Wochen immer noch arbeitslos ist, fällt er in die Kategorie »Empfänger von Armenunterstützung« und wird damit zu einer Belastung für seine Gemeinde. In Klasse 1 erhielt er als durchschnittlicher Arbeiter etwa achtzig Mark im Monat, in Klasse 2 etwa sechzig Mark im Monat, in Klasse 3 ist die Ausbeute ziemlich mager, denn die Gemeinden durchkämmen die Listen der Antragsteller gründlich und weisen alle zurück, die Ersparnisse haben, die Verwandte haben, die sie unterstützen können, oder die jede ihnen angebotene Arbeit ablehnen. Und der Antragsteller in Klasse 3 erhält einen Teil der Zahlung in Form von kostenloser Suppe, Kohle und Unterkunft. Die 400.000 Menschen, die so leben, werden nicht fett, aber das System macht es wahrscheinlich schwieriger, in Deutschland zu verhungern als anderswo auf der Welt. Die soziale Gefahr in der Arbeitslosenunterstützung ergibt sich aus der Tatsache, dass das deutsche Wirtschaftsleben denjenigen, die arbeiten, so wenig Anreiz bietet.
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Für die Mittelschicht versprechen die sogenannten freien Berufe – wie zum Beispiel Medizin, Recht, Journalismus, Ingenieurwesen –, die alle schrecklich überlaufen sind, entmutigend geringe Einkünfte. Die Ärztekammer veröffentlichte kürzlich Zahlen, aus denen hervorgeht, dass 55 Prozent der deutschen Ärzte weniger als fünfzig Dollar im Monat verdienen. Den anderen Berufen geht es kaum besser. Die Universitäten und der öffentliche Dienst bieten den Wenigen, die dort eine Stelle bekommen, Sicherheit, aber bei einem niedrigen Lebensstandard. Die Löhne der Arbeiter liegen in absoluten Zahlen unter denen in Großbritannien und Skandinavien.
Am wichtigsten jedoch ist das wachsende Gefühl in der gesamten Bevölkerung und insbesondere in der Jugend, dass die Chancen, durch persönliches Talent, Initiative, Energie und Ehrgeiz aufzusteigen, minimal sind. Auf jeden, der sich ins Bürgertum hocharbeitet, kommen sechsundneunzig andere, die auf einem proletarischem Niveau verharren müssen. Das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte hat in Deutschland keine Chance mehr. Es ist absolut unmöglich, die deutsche Lage zu verstehen, ohne dies ständig im Hinterkopf zu behalten. Deutschland ist bereits auf dem besten Weg, wenn nicht zum echten Sozialismus, dann mindestens zu einem planwirtschaftlichen Staatskapitalismus. Es ist unwahrscheinlich, dass sich dieser Trend radikal ändern wird, egal welche Regierung an die Macht kommt. Ich habe mit zahlreichen Menschen in Deutschland gesprochen, deren Aufgabe es ist, Entwicklungen in ihrem Land zu untersuchen, und ich habe buchstäblich niemanden gefunden, der glaubte, dass die Lösung in einer Rückkehr zum freien Wettbewerb liegt.
Etwa 2000 Kartelle kontrollieren Industrie und Handel – die Produktion, die Zwischenhändler und die Konsumgüterindustrie. Der Spielraum des geschäftstüchtigen Unternehmers wird von allen Seiten eingeschränkt. Er muss eine inländische Produktionsquote und eine Verkaufsquote akzeptieren. Seine Inlands- und Exportpreise sind festgelegt. Wenn er versucht, sich dem System zu widersetzen, wird er eine Kamarilla gegen sich haben. Er wird Schwierigkeiten mit Rohstoffen bekommen, wird wahrscheinlich nicht in der Lage sein, von den Banken die gleichen Zinssätze wie seine organisierten Konkurrenten zu erhalten, und darf möglicherweise nicht in der Abteilung seiner Branche auf den Handelsmessen ausstellen. Seine Position ist die eines Streikbrechers unter Gewerkschaftern oder eines Nepmann [Geschäftemachers] in Sowjetrussland.
»Warum sollten wir arbeiten?«, fragen sich immer mehr junge Menschen im heutigen Deutschland. »Sollen wir acht Stunden am Tag in einem Büro oder einer Fabrik verbringen, um in fünfzehn Jahren vielleicht fünfzig Dollar im Monat zu verdienen? Lieber geh’ ich stempeln.*«
Der Satz »Lieber geh’ ich stempeln« bezieht sich auf die Art und Weise, wie Arbeitslosengeld ausgezahlt wird, er ist in Deutschland weit verbreitet und sorgt in jedem Kabarett für Gelächter. Es ist allgemein bekannt und wird auch offen zugegeben, dass Tausende sich in die Reihen der Stempelnden eingeschlichen haben, die dort eigentlich nichts zu suchen haben. So vereinbart ein Bauer mit einem Nachbarn, seinen Sohn für ein paar Wochen zu beschäftigen und ihn dann wieder auf den Hof seines Vaters zu schicken, damit der junge Mann danach Arbeitslosenunterstützung beziehen kann.
Saisonarbeiter – zum Beispiel Angehörige des Baugewerbes –, die es nie gewohnt waren, mehr als acht Monate im Jahr beschäftigt zu sein, und deren Löhne aus diesem Grund über dem allgemeinen Lohnniveau festgelegt sind, beziehen nun während der vier Monate, in denen sie normalerweise untätig wären, Arbeitslosengeld.
Die Leistungen erstrecken sich auf eine große Zahl von Menschen, die in absehbarer Zukunft arbeitslos bleiben werden. Die Weltwirtschaftskrise ist nicht allein für die Arbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich. Drei weitere Faktoren tragen dazu bei: Veränderungen infolge des Krieges – insbesondere der Eintritt von Frauen in die Industrie –, die Mechanisierung der Industrie in gigantischem Ausmaß und die Demobilisierung der Armee. Das Statistische Reichsamt schätzt, dass zwischen 1925 und 1929 durch die Mechanisierung der Produktion 2.000.000 Arbeiter entlassen wurden und dass ein Produkt von 1925 heute mit einem Zehntel weniger Arbeitern als vor fünf Jahren hergestellt werden kann.
Das Programm der Regierung Brüning besteht darin, die Last der Arbeitslosen der Klasse 1 von den Schultern des Staates zu nehmen und die Arbeitslosenunterstützung in dieser Klasse zu einer echten Versicherung zu machen. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die früher jeweils ein Prozent des Arbeitnehmerlohns in den Arbeitslosenfonds einzahlten, sollen nun mit jeweils 3,25 Prozent belastet werden. Daher rechnet die Versicherungskasse damit, Ende 1931 einen Überschuss zu haben und an den Notfallfonds überweisen zu können, der sich um diejenigen Arbeiter kümmert, welche nach 26 Wochen immer noch arbeitslos sind und weiterhin eine Belastung für die Behörden darstellen werden. Das Programm der Regierung Brüning zielt darauf ab, den Staat radikal von den Lasten zu befreien, die in den letzten drei oder vier Jahren zu Defiziten geführt haben.
Aber obwohl jede Gruppe ablehnt, was der Staat für die jeweils anderen tut, wünscht sich keine Gruppe eine umfassende Reform. Die Menschen sind verarmt und beklagen sich über ihre Steuern, aber zugleich betrachten sie den Staat als den reichen Onkel.
Die Industriellen, die sich bitter über die Forderungen der Gewerkschaften beklagen, sind selbst nicht besser. Sie verlangen, dass der Staat in wirtschaftliche Angelegenheiten eingreift, um ihre Interessen zu schützen. Als die Reichsbahn beschloss, einen Reisefilm zu drehen, um Touristen anzulocken, forderte die Filmindustrie lautstark ein Gesetz, um solche Verstöße gegen ihr Monopol zu unterbinden.
Die Industrien bezogen und beziehen vom deutschen Staat riesige Summen in Form von Bürgschaften – der Staat bürgt für ihre Aufträge oder Kredite – oder in Form von Subventionen, die eigentlich Geschenke sind.
Die Lufthansa zum Beispiel erhält 15.000.000 Reichsmark pro Jahr. Deutschland verfügt daher über das eindrucksvollste gewerbliche Luftfahrtsystem der Welt. Man kann in hervorragenden Metallflugzeugen hinter adrett gekleideten und erfahrenen Piloten in jeden Teil Deutschlands und fast jeden Winkel Europas fliegen, und zwar vom Tempelhofer Flugfeld in Berlin aus, das über ein eigenes schickes Hotel, ein überdachtes Restaurant für den Winter und blumengeschmückte Außenterrassen verfügt, auf denen man im Sommer zu Mittag oder zu Abend essen kann.
Die Verluste aus Bürgschaften oder Subventionen an einzelne Branchen belaufen sich auf Millionen. Der Staat hat den Mannesmann-Werken, Eisenherstellung, mit 9.500.000 Reichsmark aus der Klemme geholfen; die Schichau-Werke, Schiffsbauer, haben 3.250.000 Reichsmark erhalten; die Stock-Werke erhielten 4.000.000 Reichsmark; der Reichs-Landbund, der daran interessiert ist, den Brotpreis zu stützen, bekam 5.000.000 Reichsmark.
Kultur kostet den deutschen Staat ein hübsches Sümmchen. Die Theater verschlingen mehr als 100.000.000 Reichsmark. Wenn man darüber die Stirn runzelt, wird jeder Deutsche sagen: »Wir sind kein Volk von Kulis. Wir sind ein kultiviertes Volk.« Und das ist wahr.
Da die privaten Einkommen niedrig sind und die Löhne etwa auf Vorkriegsniveau liegen, fordert das deutsche Volk einen Ausgleich durch ein erfülltes gesellschaftliches Leben. Wenn der deutsche Arbeiter kein Badezimmer hat, kann er in eine öffentliche Badeanstalt gehen, wo er für ein paar Pfennige in künstlichen Wellen schwimmen, sich auf künstlich erwärmtem Sand sonnen und in mosaikverkleideten Kammern schwitzen kann. Er kann Theater besuchen, die von Gewerkschaften oder vom Staat unterhalten werden, und Eintrittskarten im Abonnement oder nach dem Plan eines Clubs zu stark ermäßigten Preisen erwerben. In zahlreichen Gemeinden kann er eine Wohnung in einem Haus finden, das mit einem günstigen staatlichen Kredit gebaut wurde.
Wenn er krank ist, zahlt die Krankenkasse* – die obligatorische Krankenversicherung, die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt und vom Staat bezuschusst wird – für seinen Krankenhausaufenthalt, seine Medikamente, seine verordnete Ruhepause und seine Genesung in einer angenehmen Einrichtung. Etwa 20 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – wenden sich mit ihren gesundheitlichen Beschwerden an die Krankenkasse*.
Das Reich hat jährlich mehrere Millionen Dollar in die Krankenkassen eingezahlt, um Frauen bei der Geburt zu versorgen. Im Jahr 1928 waren die Mitglieder der Krankenkasse* durchschnittlich dreizehn Tage im Jahr krank. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Angestellte aller Klassen, vom Zimmermädchen bis zum Büroangestellten, regelmäßig eine jährliche Kur über die Krankenkassen machen.
Tatsächlich hat die Angewohnheit, schon bei den geringsten Wehwehchen in die Klinik zu laufen, die Krankenkasse dazu veranlasst, auf einer Zahlung von fünfzig Pfennigen – zwölf Cent – pro Besuch zu bestehen.
Mit staatlicher Unterstützung oder ohne, die Versicherungskassen sichern den deutschen Arbeiter im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit, im Alter und bei Unfällen ab. Etwa neun Prozent seines Lohns oder Gehalts gehen an Versicherungen, zu denen der Arbeitgeber acht Prozent dazugibt, und der Staat leistet, wie wir gesehen haben, oft zusätzliche Zahlungen.
Öffentliche Maßnahmen und das allzu rasante Wachstum der Privatwirtschaft wurden in den letzten Jahren durch eine erleichterte Kreditaufnahme im Ausland ermöglicht.
Die Zinssätze waren zwar hoch – sieben Prozent galten als billiges Geld. Aber Mittel waren reichlich vorhanden, bis Amerikas eigene Wechselfälle dem Geldfluss unvermittelt und verstörend ein Ende bereiteten. Heute ist es für Deutschland oder andere Länder schwierig, bei uns Kredite aufzunehmen, und Deutschland kann es sich ohnehin nicht leisten, noch mehr Zinsen zu zahlen. Aber reichlich geliehenes Geld und die Einstellung, die sich natürlich aus der Inflationszeit ergab, als es lohnender war, Geld auszugeben als zu sparen, haben zu einem verzerrten Verständnis von Wirtschaft und einer ganz unbewussten Verschwendungssucht geführt.
Unter den öffentlichen Körperschaften waren die Gemeinden die größten Verschwender. Sie haben im Ausland Milliarden geliehen, theoretisch für einen leistungsfähigen Wiederaufbau. Tatsächlich ist ein ungewisser Teil des Geldes – vielleicht ein Drittel der Gesamtsumme – für unproduktive Zwecke verwendet worden. Einem Amerikaner, der durch eine westdeutsche Stadt geführt wurde, zeigte man das neue Stadion, das Schwimmbad und den öffentlichen Park, die alle mit amerikanischen Krediten finanziert worden waren. Auf seine Frage: »Haben Sie das gesamte Darlehen für diese Zwecke verwendet?«, antwortete der Stadtbeamte, der ihn begleitete: »Nein, wir haben einen Teil davon zurückgelegt, um die Zinsen zu bezahlen.«
Als Reichskanzler Brüning kürzlich die kleine Landeshauptstadt einer verarmten Provinz im Norden besuchte, bemerkte einer seiner offiziellen Gastgeber: »Aus der Tatsache, dass wir noch kein öffentliches Hallenbad haben, können Sie ersehen, wie schlecht es uns wirklich geht.«
Private Unternehmen zeigen die gleiche Einstellung. Ein pommerscher Gutsbesitzer versicherte mir eine Stunde lang, dass er, wie alle anderen Landbesitzer, die er kenne, ruiniert sei. Als wir jedoch das Haus des Freundes verließen, bei dem wir uns getroffen hatten, um in das teure amerikanische Auto unseres Gastgebers zu steigen, sagte der Landbesitzer ganz unwillkürlich: »Ich sehe, wir haben den gleichen Geschmack, was Autos betrifft. Ich würde keine andere Marke fahren. Ich habe drei davon.« Es war gut möglich, dass er mehr Schulden als Vermögen hatte, doch er ging davon aus, dass seine Bank ihn dennoch weiter unterstützen würde. Eine Geschäftsauflösung, eine spürbare Senkung seines Lebensstandards, kam für ihn erst in Betracht, wenn die Hypotheken endgültig zwangsvollstreckt würden.
Max Reinhardt, der große Theatermacher, sagte mir, dass er in dem Vierteljahrhundert, in dem er mit dem deutschen Theater zu tun hatte, noch nie eine solche Krise erlebt habe.
»Ich spreche nicht nur vom goldenen Zeitalter vor dem Krieg«, sagte er, »sondern auch vom Krieg, der Inflationszeit und der Zeit danach, den ersten Jahren der Stabilisierung, alles hat das Theater überstanden. Aber heute steht fast jeder Produzent kurz vor dem Bankrott.«
Dennoch hat Professor Reinhardt selbst kürzlich einen Vertrag für ein weiteres Theater abgeschlossen und konkurriert dadurch mit einem seiner eigenen Häuser, das fast nebenan liegt. Er hat die Bühne für geschätzte 65.000 Dollar umgebaut, und nirgendwo habe ich eine aufwendigere Inszenierung gesehen als die von Bourdets »Das schwache Geschlecht«. Die Pariser Inszenierung desselben Stücks war im Vergleich dazu geradezu schäbig. Reinhardts Schauspielerinnen bewegten sich in Kleidern auf der Bühne, die an eine Modenschau im Frühling erinnerten, und tatsächlich stammten die Kleider aller Hauptdarstellerinnen aus einem der angesagtesten Pariser Modehäuser, da deutsche Kleidung offensichtlich nicht gut genug war. Das Theater, in dem dieses Stück aufgeführt wurde, hat ein berühmter Innenarchitekt neu gestaltet. Die Wände sind mit bemaltem Samt verkleidet, die Kronleuchter aus Kristall und das Restaurant und die Foyers mit feinsten modernen Möbeln ausgestattet.
Seit ich vor drei Jahren in Berlin war, wurde die Staatsoper für mehr als 3.000.000 Dollar vollständig umgebaut. Sie ist eines von drei Berliner Häusern und eines von 212 im ganzen Reich, in denen Opern gespielt werden, unterstützt aus öffentlichen Mitteln. Und in jedem der Berliner Häuser sah ich Inszenierungen alter und neuer Opern, bei denen alle Details von der Bühnenausstattung bis zu den Kostümen völlig neu waren.
Nirgends waren Anzeichen von Sparmaßnahmen zu sehen. Es gibt eigentlich kein heruntergekommenes Theater in Berlin. Ich erkannte das Renaissance-Theater kaum wieder, als ich es betrat. Die Wände waren mit hellem Seidendamast neu bezogen oder mit intarsienverzierten Paneelen aus den teuersten Hölzern getäfelt worden.
Das Berliner Theater ist nicht nur das beste der Welt, was Dramaturgie, Schauspiel und Inszenierung betrifft; in keiner anderen Metropole sind die Theater auch so aufwendig gestaltet und technisch so hervorragend ausgestattet. Sie lassen die Bühnen in New York wie die eines Provinznests aussehen. Die Drehbühne ist bei uns immer noch etwas Neues, während der Berliner Regisseur sich in seiner Kreativität eingeschränkt fühlt, wenn er immer noch mit einer Drehbühne arbeiten muss, anstatt mit der neueren Technik, bei der die Bühne sich wie im Film von einer Seite zur anderen bewegt.
