Das Ende der westlichen Weltordnung - Andrea Böhm - E-Book

Das Ende der westlichen Weltordnung E-Book

Andrea Böhm

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jenseits aller Gewissheiten

Frieden und Wohlstand in Europa sind längst nicht mehr selbstverständlich und die Bedeutung des Westens als geopolitische Macht und Norm stiftende Einheit schrumpft rapide. Wir im Westen bestimmen längst nicht mehr den Lauf der Welt - und vielleicht taten wir das auch nie wirklich. Andrea Böhm lässt alte Gewissheiten hinter sich und bereist die Orte jenseits der westlichen Weltordnung, die vielleicht unser aller Zukunft bestimmen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 405

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Jenseits aller Gewissheiten

Frieden, Freiheit und Wohlstand – die große Verheißung des Westens verblasst, seine geopolitische und normative Macht schwindet rapide. Wir in Europa und Nordamerika bestimmen immer weniger den Lauf der Dinge. Unser westlicher Blick verzerrt die Welt statt sie zu erklären. Andrea Böhm lässt alte Gewissheiten hinter sich. Sie bereist die Orte jenseits der westlichen Weltordnung, die vielleicht unser aller Zukunft bestimmen werden, und zeichnet die Geographie einer neuen Epoche.

Zur Autorin

Andrea Böhm, geboren 1961, lebte über zehn Jahre als Journalistin in den USA und arbeitete für die taz, GEO und DIE ZEIT. Ihre Reportagen wurden u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet. 2006 wurde sie Redakteurin im Politik-Ressort der ZEIT, seit 2013 ist sie deren Nahost-Korrespondentin mit Sitz in Beirut.

2011 erschien bei Pantheon ihr Buch Gott und die Krokodile. Eine Reise durch den Kongo, das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war

ANDREA BÖHM

Das Ende der westlichen Weltordnung

Eine Erkundung auf vier Kontinenten

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH.Zweite AuflageOktober 2017Copyright © 2017 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,unter Verwendung eines Fotos von Wissam Nassar© Wissam Nassar/The New York Times/Redux/laifVorsatz und Nachsatz: Fra Mauro, Mappa Mundi, ca. 1449–1460, Biblioteca Marciano, Museo Correr, Venedig, © akg-images/IAMSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-15890-3V002www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Vorwort

KAPITEL 1Bruder Mauro zeichnet die Welt

KAPITEL 2Eine Karte für Somalia

KAPITEL 3Das Land, das es nicht gibt

KAPITEL 4Der Atlas der Demütigung

KAPITEL 5Seidenstraße 2.0

KAPITEL 6In der Mitte der Welt

KAPITEL 7Garten Eden – 31º 0'57'' N, 47º 25' 50'' O

KAPITEL 8Mare Nostrum

KAPITEL 9 Nowa Amerika

Epilog

Dank

Anmerkungen

Auswahlbibliographie

Vorwort

Dieses Buch ist das Ergebnis eines kapitalen Schwindelanfalls. Nach über 20 Jahren als Journalistin mit Stationen in den USA und dem Nahen Osten, mit ausgedehnten Reisen durch Nordamerika, Russland und Zentralafrika habe ich nicht den großen oder größeren Überblick gewonnen, sondern Zweifel an der eigenen Perspektive bekommen. Ich habe die Orientierung verloren. Nicht dass ich allein stünde mit dieser Erfahrung. Inzwischen ist sie ein westliches Lebensgefühl. Was meine Generation für die globale Hausordnung gehalten hat, löst sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf.

Mein Berufsleben begann im Frühling 1989, also in einem Schicksalsjahr, in der Lokalredaktion der taz in West-Berlin. Die Redaktion stellte mich ein, weil ihr eine Reportage von mir über den »Polenmarkt« gefallen hatte. Das war damals eine Brachfläche auf dem Potsdamer Platz. Polnische Bürger, seit 1988 mit größerer Reisefreiheit ausgestattet, verkauften dort billige Produkte aus Osteuropa. Geschmuggelte Zigaretten, Plastikteller, Zwei-Mark-T-Shirts, Schnaps, eingelegte Gurken, Kristallgläser, Schraubenzieher. Der Markt war völlig frei von multikultureller Romantik. Die Berliner fanden die preiswerten Angebote unwiderstehlich und die damit verbundene Anwesenheit der Polen unerhört. Die Polen schätzten die Kauflust der Einheimischen, hassten ihre Arroganz und fuhren mit wertvoller D-Mark und gefestigten anti-deutschen Vorurteilen wieder nach Hause.

Diese neue Durchlässigkeit des »Eisernen Vorhangs« hätte man für ein Zeichen bevorstehender großer Umbrüche halten können. Doch mir erschien der »Polenmarkt« damals wie eine exotische Story, fest eingebettet in das Korsett des Ost-West-Konflikts. Ich ahnte nicht im Geringsten, dass diese berechenbare Welt noch genau ein halbes Jahr Bestand haben würde – bis zum Mauerfall am 9. November 1989.

Nicht dass es vorher langweilig gewesen wäre. Zum Selbstverständnis der taz-Redaktion gehörte es, fast alles aufregend zu finden und sich über fast alles aufzuregen. Wir sahen uns als Kollektiv kritischer Journalisten, die herrschende Meinungen hinterfragten, Machtstrukturen grundsätzlich suspekt fanden und die Welt immer aus der Perspektive der Schwächeren betrachteten.

Was wir auch taten. Aber trotz allen linken Bewusstseins natürlich mit einem westlichen Blick. Denn so leidenschaftlich wir Zustände als reaktionär, unmoralisch und ausbeuterisch geißelten, so gern wir immer wieder den ökologischen oder politischen Untergang beschworen, wähnten wir uns insgeheim doch auf einem festen Fundament. Das bestand aus einer westlichen Wohlstandsgesellschaft; einem stabilen Frieden in Europa, befestigt durch den Eisernen Vorhang; und der Überzeugung, dass der Westen, also wir, im guten wie im schlechten Sinne Tempo und Richtung globaler Entwicklungen vorgibt. All das bildete das Gerüst für meinen Beruf, für mein Berichten über die Welt. Auf meinen realen und imaginären Landkarten blinkten jahrelang die klassischen Schaltstellen der Macht auf: Washington, Paris, Moskau, die Wall Street und die Börsen in Tokio, Frankfurt und London. Die Linien der Landesgrenzen bewiesen in meinen Augen die Unantastbarkeit von Nationalstaaten. Die Ortsmarken der rituellen Gipfeltreffen der UN, der EU, von G8 oder G20 vermittelten den Eindruck der Beherrschbarkeit von Wandel und Krisen – auch wenn ich darüber aus der Warte der Gegendemonstranten berichtete.

Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer und über anderthalb Jahrzehnte nach dem 11. September 2001 ist von diesen Gewissheiten nicht mehr viel übrig geblieben. Der Westen existiert weiterhin als Himmelsrichtung. Als geopolitische Macht und normstiftende Einheit schrumpft er rapide, löst sich womöglich auf, erfindet sich vielleicht neu. Frieden und Wohlstand sind in Europa nicht mehr selbstverständlich – und waren es ja auch nie gewesen. Der Glaube, dass wir den Lauf der Welt bestimmen, hat sich als Hybris erwiesen. Meine mental maps, an denen ich mich orientiert hatte, taugen nicht mehr. Sie haben vielleicht nie getaugt.

Bücher haben viel zu dieser heilsamen Erschütterung beigetragen. Die europäisch-amerikanische Monokultur in der Debatte über Weltordnungen, Werte und Globalisierung ist glücklicherweise zu Ende. Längst mischen sich afrikanische, asiatische und arabische Stimmen ein. Meist drei- oder viersprachig aufgewachsen, ebenso vertraut mit den Klassikern westlicher Philosophie und Geschichtsschreibung wie mit der Geistesgeschichte Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens, demontieren Autoren und Autorinnen wie Achille Mbembe, Cemil Aydin, Teju Cole, Pankaj Mishra, Kamila Shamsie, Arundathi Roy oder Nadeem Aslam die Geographie der herrschenden Weltsicht.

Den endgültigen Anstoß zu diesem Buch gab trotzdem ein Europäer. »Abendländer haben in einmaliger Weise die Weltgeschichte verengt, indem sie das wenige, was sie über die Entwicklung der Menschheit wussten, von den Völkern Israels, Griechenlands und Roms herleiteten«, schrieb der Franzose Henri Cordier, einer der führenden Linguisten und Ethnologen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. »Folglich ignorierten sie all jene Reisende und Entdecker, die in ihren Schiffen das Chinesische Meer und den Indischen Ozean durchquerten oder durch die immensen Weiten Zentralasiens bis zum Persischen Golf ritten. Tatsächlich ist also der größere Teil des Globus mit all den anderen Kulturen, die sich von den Griechen und Römern unterschieden, aber nicht weniger zivilisiert waren, jenen unbekannt geblieben, die die Geschichte ihrer kleinen Welt aufgeschrieben haben in dem Glauben, sie schrieben Weltgeschichte.« Die Lektüre dieser Zeilen fühlte sich an wie ein aufmunternder Schlag auf den Hinterkopf von einem, der schon vor über hundert Jahren erkannt hatte, dass die ausschließlich westliche Perspektive die Sehfähigkeit stark beeinträchtigt.

Dieses Buch ist kein Abgesang auf vergangene, vermeintlich bessere Zeiten. Es ist auch keine Abrechnung mit dem Westen. Es sind Reisen und Recherchen durch Länder und Epochen. In meiner Ratlosigkeit bin ich einfach noch einmal aufgebrochen auf der Suche nach Wegen, Schnittpunkten, Weichenstellungen, die ich vorher nicht gesehen hatte. Und nach Geschichten, die ebenso von der Wahrnehmung des Westens in Asien, Afrika und dem Nahen Osten erzählen wie von unserem Selbstverständnis des Westens als ewigem Hauptdarsteller.

Meine Stationen scheinen willkürlich gewählt. Venedig, Mogadischu, Guangzhou, Bagdad, Alexandria, Słubice – um nur einige zu nennen. Ich hatte in der Tat keinen festen Plan. Ich hatte nur eine faszinierende Weltkarte, die für mein Vorhaben zunächst völlig ungeeignet erschien. Sie stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der amerikanische Kontinent fehlt, weil Europa von dessen Existenz damals noch nichts wusste. Aber sie ist ein herrliches Kunstwerk. Und sie ist ein Bekenntnis zum Zweifel. Der Kartograph, ein venezianischer Mönch namens Frater Mauro, hat sie mit Hunderten von Kommentaren und kurzen Geschichten beschriftet, manche erklärend, manche fragend. Er war vielleicht der erste Kartenzeichner, der zugab, dass die Welt sich permanent verändert, sosehr man sie auch mit Längen- und Breitengraden, mit Ortsangaben und topographischen Details festzuhalten versucht. Diese Karte schien mir ideal, die neue Geographie des Ungewissen zu erkunden und zu entdecken, was mir alte Sicherheiten nimmt. Mauro ist der Grund, warum diese Reise durch Raum und Zeit in Venedig beginnt.

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, war ich längst nicht mehr Redakteurin bei der taz, sondern Nahost-Korrespondentin der ZEIT mit Sitz in Beirut. Ich bin Ende 2013 in den Libanon gezogen, mitten hinein in eine Region, die noch nie eine Oase des Friedens war. Jetzt ist sie zu einem expandierenden Katastrophengebiet geworden und wird es für einige Zeit bleiben. Dort treten gleichzeitig und mit geballter Wucht all die globalen Umbrüche auf, die schon jetzt dieses 21. Jahrhundert prägen: Die Krise des Nationalstaates; die eklatante ökonomische Ungleichheit, verschärft durch den Klimawandel; der Machterhalt von Diktatoren um den Preis der Zerstörung des Landes; die Verlockung des militanten religiösen Fanatismus; und ein irrwitziger und irregeleiteter »Krieg gegen den Terror«, ausgelöst durch das zweite epochale Ereignis in meinem Berufsleben nach dem Fall der Mauer: die Terroranschläge auf New York und Washington am 11. September 2001. Die habe ich in den USA erlebt. Beim vorläufig dritten epochalen Ereignis war ich bereits im Nahen Osten: der Wahl des Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA – einer amerikanischen Tragödie mit ungewissem Ausgang für die Welt.

Journalisten sollen solche Ereignisse beschreiben und erklären. Aber mir ist in den vergangenen Jahren immer wieder der Boden unter den Füßen weggerutscht. Manchmal buchstäblich. Aus Nationen sind Fragmente geworden, aus Völkern Flüchtlinge, aus Städten Trümmerlandschaften. Manche Menschen, denen ich auf meinen Reisen begegnet bin, kennen seit ihrer Kindheit nichts als Krieg oder Ausnahmezustand. Fast alle, die ich in Asien und in Afrika getroffen habe, wissen, was wir in Westeuropa und den USA vergessen haben: dass die eigene Existenz innerhalb weniger Monate, manchmal innerhalb eines Tages oder eines Sekundenbruchteils von der Normalität ins Chaos kippen kann. Am allerbesten wissen das die Menschen im Nahen Osten. Irgendwann hatte ich mich in meinem neuen Berichtsgebiet an dieses Lebensgefühl einigermaßen gewöhnt. Trotzdem stieß ich immer wieder an die Grenzen meines Berufs. Mir fehlten oft die Worte, um zu beschreiben, was ich sah.

Dieses Buch wurde meine Rettung. Eine Erkundung nach meinen Vorgaben, nach meinem Tempo durch Länder, Städte, Straßenviertel und ihre Epochen. Orte, die in meiner alltäglichen journalistischen Arbeit unter der Rubrik »hoffnungsloser Fall« geendet waren, bekamen so ihre Vergangenheit zurück und damit auch die Perspektive auf eine Zukunft. Menschen, die in den täglichen Nachrichten nur als hilflose Opfer auftauchten, wurden in ihrem Alltag wieder handlungsmächtig. Ich musste nur lernen, anders zu sehen.

Mauro, der Mönch und Kartograph, erwies sich dabei als idealer Führer. Denn anhand seiner Weltkarte ergaben sich die Stationen wie von selbst. Von Venedig nach Mogadischu, im 15. Jahrhundert eine ähnlich prächtige Handelsstadt und ein halbes Jahrtausend später der Ort, in dem eine neue westliche Weltordnung scheitert. Von dort nach Kanton, im Chinesischen Guangzhou genannt, im Mittelalter Ausgangspunkt von Schiffsrouten nach Ostafrika, später Schicksalsort für Chinas Verhältnis zum Westen. Weiter nach Bagdad, dem geographischen Zentrum auf Mauros Karte und Anfang des 21. Jahrhunderts der Ort, der wie kein anderer das Ende des amerikanischen Imperiums markiert. Dann ans östliche Mittelmeer und schließlich in die Utopie der Neuen Welt, die so nahe an meiner alten liegt, dass ich sie fast übersehen hätte.

So habe ich wieder Tritt gefasst. Im Nachhinein erscheint es mir wie ein beschämend einfacher Trick: Man macht sich die Welt unbekannt, indem man die alten Karten im Kopf löscht und sich selbst neue zeichnet. Nur dieses Mal ohne Gewissheiten und mit unbegrenztem Platz für zukünftige Erkundungen.

Genau deswegen endet die Reise in einem Land, das Terra Incognita heißt.

Beirut, im Juni 2017

KAPITEL 1Bruder Mauro zeichnet die Welt

Die letzten Meter auf dem Weg zum Weltenzeichner führen über das Wasser. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt mit dem Vaporetto vom Arsenale bis zur Insel San Michele. Hier gehen die Trauernden von Bord, und die Touristen, die ihnen folgen, senken ihre Stimmen. Auf San Michele befindet sich Venedigs städtischer Friedhof. Über Kies und eingelassene Grabplatten führt der Weg nach links in einen Innenhof. Die Morgensonne wärmt den steinigen Boden. Vermutlich stand er an Wintertagen hier, um die Kälte der Nacht aus den Knochen zu vertreiben. Nur ein Kreuzgang, eine Kapelle und eine Renaissancekirche sind übrig geblieben vom Kloster der Kamaldulenser-Mönche, die hier 600 Jahre lang beteten, arbeiteten, studierten. Ein gleichförmiges, asketisches Leben, wie es sich für einen Eremiten-Orden gehört. Und doch hinterließ dieser Mönch die Welt in einer Pracht und Fülle, wie man sie zuvor noch nicht gesehen hatte.

Es gibt auf San Michele keinen Grabstein mit dem Namen des Frater Mauro. Der Friedhof wurde Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt. Da hatten sich seine Gebeine längst aufgelöst in der Erde, die nun die Särge der Toten jüngerer Zeiten umgibt. Viele hat man aus Platzmangel in mehrstöckige Columbarien umgebettet. Den mächtigen Familien lässt man ihre pompösen Mausoleen, für die Prominenten hat die Friedhofsverwaltung eigens Wegweiser angebracht. Der Komponist Igor Strawinsky und seine Frau Vera sind hier begraben, der Ballettgründer und Impresario Sergej Djagilew, der Dichter Joseph Brodsky – Nomaden, die der Stadt irgendwann verfallen waren. Der Mönch hätte ihre Gesellschaft genossen. Er schätzte die Ruhelosen, die Reisenden, die Entdecker und Getriebenen, jeden eben, der etwas beitragen konnte zu seinem monumentalen Versuch, die Welt mit einem Blick zu erfassen.

Eine hübsche Vorstellung: Da sitzen im Klosterhof Bruder Mauro in seinem weißen Habit, der Rücken krumm vom Beten, Lesen und Schreiben, und Joseph Brodsky im dicken Rollkragenpullover und in Wollsocken gegen den kalten venezianischen Steinboden, die Zigarette zwischen den Fingern. Sie fachsimpeln über die Vermessung der Erde, die Position der Gestirne, den Verlauf der Küsten, die Wissenschaft und die Poesie. Schließlich zeigt der Venezianer dem Russen sein Werk, eine riesige mappa mundi, eine Weltkarte, mannshoch. Brodsky muss sich den Hals verrenken, um etwas zu erkennen. Nichts scheint da zu sein, wo es hingehört. Die Welt steht kopf, der italienische Stiefel ragt hilflos aus einer Landmasse nach oben, die westliche Hemisphäre fehlt ganz. Er kann mit Mühe das Wort »Rossia« erkennen, dann den Lauf der Wolga und des Don. Viel mehr nicht. »Berichten Sie mir von den Flüssen und Gebirgen dort«, bittet der Mönch, und der Dichter beginnt zu erzählen: Von der Newa und Leningrad, wo er geboren wurde. Von Sibirien, das er aus seinen jungen Jahren von geologischen Expeditionen kennt, von der Arktis rund um Archangelsk, wo er Zwangsarbeit leisten musste.

Auf San Michele haben sie den Juden Brodsky im Abschnitt für die Protestanten beigesetzt. Was soll’s, sein Grab ist dort als einziges immer mit frischen Blumen bedeckt. Am Fußende hat jemand eine kleine Säule platziert, auf der nach jüdischem Brauch Steine liegen. Bewunderer haben Briefe danebengelegt, als nehme der Dichter im Jenseits Grüße und Fragen entgegen. Brodsky, wussten Sie, dass hier einst ein Weltenzeichner lebte? Der beste seiner Zeit?

Die Toten vergangener Epochen können sich nicht wehren gegen die Phantasie der Lebenden, also kommt man leicht mit ihnen ins Gespräch. Joseph Brodsky verschwand bald wieder aus meinem Kopf, aber Bruder Mauro blieb mein Begleiter bei den Streifzügen durch Venedig, leistete mir Gesellschaft bei meinen Versuchen, mir die Welt neu zu zeichnen. Ein kleiner alter Mann mit leicht gebogener Nase, eingefallenen Wangen, dem einige Zähne fehlten. So malte ich ihn mir aus mithilfe der einzigen Abbildung, die ich von ihm gefunden hatte: eine bronzene Münze mit seinem Profil, geprägt kurz nach seinem Tod im Jahr 1459. »Frater Maurus S Michaelis Moranensis De Venetiis Ordinis Camaldulensis Chosmographus Incomparabilis«, lautet die Inschrift, eingraviert rund um seinen Kopf. »Bruder Maurus von San Michele auf der Insel Murano bei Venedig vom Orden der Kamaldulenser, Kosmograph ohnegleichen.«1

Ich bin nie ein maphead gewesen, jemand, der Landkarten sammelt und stundenlang mit dem Finger über Gebirgszüge und Meerestiefen streicht. Die Welt im Atlas meiner Schulzeit war flach und übersät mit Hauptstädten, Nutzpflanzen und Niederschlagsmengen. Faltpläne fand ich später auf Reisen praktisch, aber sie nahmen den kartographierten Objekten jeden Reiz des Unbekannten. Es dauerte, bis ich begriff, dass Landkarten Erzählungen sind. Man muss nur lernen, sie zu entziffern. Manche verkünden Heilsgeschichten, andere dokumentieren Heldentaten, viele kaschieren Massengräber. Denn was sind die Linien von Landesgrenzen anderes als eine Geschichte von Kriegen und Gewalt.

Karten können Fakten schaffen, Wahrheit abbilden, sie können phantastisch lügen und täuschen. Wahrscheinlich war immer schon all das vonnöten, um die Welt erfassbar zu machen.

Sich zu verorten heißt, sich des eigenen Daseins zu vergewissern. Die Abscheu vor der Leere ist eine Urangst, schreibt der Historiker Karl Schlögel, einer der wenigen seiner Zunft, die sich auf die Erforschung des Raumes ebenso verstehen wie auf die Erforschung der Zeit. »Karten sind wahrscheinlich die wichtigste Form, die der Mensch sich geschaffen hat, dem horror vacui zu entgehen, ein Netz von Linien und Punkten, das über den Globus geworfen wird, um sich Orientierung zu verschaffen.«2 Oder ein paar Umrisse, eingeritzt in Felsen. Abbildungen von Flüssen, Bergen, Jagdgebieten, Zehntausende von Jahren alt, sind der vielleicht erste Versuch, die unendliche Weite um sich herum einzugrenzen.

Im 6. Jahrhundert vor Christus gravierten die Babylonier Stadt und Fluss, Land und Meer aus der Vogelperspektive auf eine Tontafel. Es ist die älteste erhaltene Weltkarte. Babylon und der Euphrat sind eingezeichnet, ebenso Assyrien und das heutige Armenien, alles umringt von einem Salzmeer und fernen Inseln, das Ganze versehen mit einer Beschreibung, wie der babylonische Gott Marduk Himmel, Erde und die Menschheit erschaffen hat. Eine kartographierte Schöpfungsgeschichte, die dem Betrachter erlaubte, selbst wie ein kleiner Gott auf die ganze Welt zu blicken. Auch auf das Unbekannte und Bedrohliche – Reiche, in denen »die Sonne nicht zu sehen ist« und sich seltsame Wesen herumtreiben.

Monster eignen sich hervorragend zur Orientierung. Sie markieren die Grenze vom Vertrauten zum Unheimlichen. Sie geben einem Odysseus Gelegenheit, als See- und Irrfahrer zu beweisen, dass der Mensch stärker sein kann als der Zyklop, die Sirenen und der Zorn der Götter. Homers »Odyssee« war nicht nur eine Geschichte von Abenteuern, sondern auch eine Landkarte in Versen, vermischt mit Berichten über das Mittelmeer, das Schwarze Meer und vermutlich auch den Atlantik. Karten konnte man damals auch mit den Mitteln der Poesie zeichnen, die Grenze zwischen dem Realen und dem Märchenhaften war fließend.3

Bis einer widersprach: Im dritten Jahrhundert vor Christus benutzte der Vorsteher der Bibliothek von Alexandria, ein griechischer Gelehrter namens Eratosthenes, erstmals das Wort »Geographie«, worunter er »das Zeichnen der Erde« verstand. Und zwar ausschließlich auf Grundlage wissenschaftlicher Methoden. Dass die Welt eine Kugel ist, wusste Eratosthenes bereits, aber ihre Dimension kannte er nicht. Also entwickelte er eine Methode, den Erdumfang zu messen – und wich nur unwesentlich von den heute errechneten rund 40075 Kilometern ab.

Es empfahl sich in jener Epoche, in Alexandria zu wohnen, wollte man sich als Erforscher der Erde einen Namen machen. Keine andere Stadt hatte eine so reichhaltige Bücherei. Im zweiten Jahrhundert nach Christus erstellte hier Claudius Ptolemäus in seiner Geographia ein Verzeichnis von über 8000 Orten in Afrika, Europa und Asien, also der damals bekannten und bewohnten Welt, der oikumene. Er verwendete wie schon Eratosthenes Längen- und Breitengrade.4

Und die Mitte? Wo ist der Mittelpunkt allen Seins, der Nabel der Welt? Ptolemäus beantwortete diese Frage ebenso falsch wie grandios, indem er die Erde zum Zentrum des Universums erklärte, um das sich alles drehte – Sterne, Mond und Sonne. Seine Nachfolger wurden etwas spezifischer.

Das Universum den Göttern, die Welt den Römern, dachte sich im vierten Jahrhundert nach Christus ein bis heute unbekannter Kartograph und malte das Straßennetz des Römischen Reiches auf eine mehrere Meter lange Pergamentrolle – das Imperium sieht darauf aus wie eine Riesenschlange mit offenem Maul.

Rom dagegen interessierte den zentralasiatischen Kartographen Mahmud al-Kashgari nicht im Geringsten. Auf seiner Weltkarte aus dem 11. Jahrhundert liegt das heutige Kirgistan im Zentrum. Der arabische Gelehrte Muhammed al-Idrisi stellte wenig später die Quellen des Nils in den Mittelpunkt der Erde.

Al-Idrisi. Bei ihm muss man verweilen, schon allein um seinen vollen Namen auszusprechen: Abu Abdallah Muhammad Ibn Muhammad Ibn Abdallah Ibn Idris al-Sharif al-Idrisi. Ein Nachfahre des Propheten Mohammed, geboren im Jahr 1100 in Ceuta, dort, wo Europa heute Zäune gegen afrikanische Migranten errichtet hat. Ein Weltreisender, den es unter anderem nach England und Anatolien verschlug, bis er als Kartograph und Philosoph am sizilianischen Hof des Normannenkönigs Roger II. landete. Der Nachwelt hinterließ er ein gewaltiges geographisches Werk mit dem wunderbaren Titel: Unterhaltung für den, der sich danach sehnt, die Welt zu bereisen. Darin enthalten ist eine Karte, die eine schier trunkene Freude an diesem Planeten verrät. Die Meere leuchten wie das Blau eines Scherenschnitts von Henri Matisse. Gebirge glänzen wie Bernsteinketten oder schweben, geknüpft an fadendünne Flüsse, wie Papierschirme über den Landmassen. Al-Idrisi teilte die Welt, ganz in der ptolemäischen Tradition, in Klimazonen. Manche hielt er für zu heiß oder zu kalt und damit für unbewohnbar. Seine Karte – auch das üblich in dieser Zeit – ist gesüdet. Afrika füllt die obere Hälfte der Welt und wölbt sich wie ein runder Baldachin schützend über das kleine Europa und über Asien.5

Europäische Gelehrte hätten seinerzeit viel von ihren arabischen Kollegen lernen können. Nur interessierte man sich damals eher für die Mathematik der Araber als für deren Kartographie. Zudem schrumpfte der abendländische Geisteshorizont im frühen Mittelalter rapide. Das Wissen der Antike ging verloren, gezeichnet wurde nunmehr nach den Koordinaten der christlichen Heilsgeschichte. Ein neuer Kartentypus entstand, die mappa mundi, das »Abbild der Welt«, das in Wahrheit eine Abbildung der religiösen Ordnung war. Die drei bekannten Kontinente Afrika, Europa und Asien wurden zu den Erbregionen der drei Söhne Noahs erklärt. Osten lag nun oben, weil dort das Paradies vermutet wurde. Das Heilige Land rückte in immer größeren Dimensionen ins Zentrum, mit Jerusalem als Hauptstadt des Christentums und himmlischer Verheißung für alle Kreuzfahrer. Die Fremde hingegen wurde unheimlich und feindselig. Vor allem im unbekannten Afrika vermuteten die Kartenzeichner nun Wesen ohne Köpfe, Menschen ohne Ohren oder mit gigantischen Lippen.6

So geriet die Kunst der europäischen Weltenzeichner ins Stocken, während sie anderswo weiter blühte. In Persien entstanden großartige Globen, in Asien detaillierte, auf Seide gemalte Karten.

Doch kein noch so rigider Dogmatismus hat auf Dauer Bestand, wenn Neuland zu entdecken ist und Einflüsse von außen hereindringen. Ende des 14. Jahrhunderts waren in Europa die Schriften des Ptolemäus wieder aufgetaucht. Ins Lateinische übersetzt, fanden sie schnell ein größeres Publikum und wurden zum neuen alten Maß der Dinge. Gleichzeitig wagten sich europäische Seefahrer entlang der Küsten des Mittelmeeres, des Schwarzen Meeres und Westafrikas in immer fernere Gewässer. Auf Ziegenhäuten markierten sie Flussmündungen, Buchten, Klippen, Untiefen, Strömungen, Hafenanlagen. Erstmals entstanden Karten mit einem Nutzwert. Es zählte nicht mehr, was heilig war, sondern was man wissen musste, um in fremden Gefilden nicht auf Grund zu laufen. Um sich immer weiter vorwagen zu können. »Sich vom Ufer abstoßen zu neuen Ufern« – so umschreibt Karl Schlögel diesen neuen Typus von Karten, Portolan genannt.7 Das Vertraute verlassen, um Unbekanntes zu entdecken.

Jetzt gerieten alte Wahrheiten ins Wanken. Gab es wirklich ein Paradies auf Erden und Monster in Afrika? Hatten die alten Griechen recht, die Afrika für nicht umschiffbar hielten? Wie ließ sich erklären, dass die Erde nicht unterging, obwohl sie doch schwerer als Wasser ist? Und waren die Reiseberichte einer venezianischen Ikone wie Marco Polo wörtlich zu nehmen, oder hatte der Mann in einigen Passagen geflunkert? Religiöse Orthodoxie kollidierte mit antikem Wissen und den Zeugnissen der Seefahrer.

Mitten hinein in diese Phase des Aufbruchs kommen Sie, Bruder Mauro, und erschaffen in den 1450er Jahren eine neue Welt ohne Gewissheiten und voller Fragen. Ausgerechnet Sie, ein Mönch, teilen der gelehrten Öffentlichkeit mit, dass jede Weltsicht, auch die kirchliche, einer empirischen Prüfung standhalten muss. Und dass selbst eine monumentale mappa mundi nur eine Momentaufnahme sein kann. 196 mal 193 Zentimeter groß ist Ihre Weltkarte und übersät mit rund 3000 sehr irdischen Anmerkungen, Quellenangaben und Ortsnamen. Eine Enzyklopädie der damaligen Zeit. Eigentlich ein Projekt des Größenwahns, stünde da nicht ganz unten eine ebenso fromme wie entwaffnende Absage an menschliche Anmaßung:

»Dieses Werk (…) besitzt nicht jene Vollendung, die es haben müsste, denn es ist dem menschlichen Intellekt sicher nicht möglich, ohne irgendeine himmlische Demonstration diese Kosmographie oder Weltkarte im Ganzen zu bestätigen, von der man einige Kenntnis mehr als Kostprobe erhält denn zur Erfüllung des Verlangens.«8

Die Karte, lieber Mauro, wurde 1459 vollendet, dem Jahr Ihres Todes. Also erlebten Sie nicht mehr, dass Ihr Lebenswerk wenige Jahrzehnte später durch den irrlichternden Kolumbus obsolet wurde. Zur alten war plötzlich eine neue Welt hinzugekommen. Ihre mappa mundi war mit einem Mal nur der halbe Planet. Es blieb also kaum Zeit, Ihre Leistung ausreichend zu würdigen. Ich bin überzeugt, Sie hätten das mit Fassung getragen. Sie wussten immer schon, dass die Welt nie so bleibt, wie sie ist.

Dass sich heute nur noch wenige an dieKartevon San Michele erinnern, hat einen Vorteil: Man kann sie fast ungestört in Venedig im Bestand der Biblioteca Nazionale Marciana betrachten. Wenige Meter weiter auf dem Markusplatz quetschen sich die Besuchermassen zwischen Basilika und Campanile hindurch, hier oben hat man die Welt ganz für sich.

Viel Sonne dringt nicht in den Raum. Scheinwerfer erleuchten die Karte, was ihr etwas Sakrales verleiht. Bei meinem dritten Besuch innerhalb von drei Tagen mustert mich die Museumswärterin prüfend und bietet mir dann einen Stuhl an, damit ich mich in Ruhe sattsehen kann. So sitzen wir schweigend nebeneinander, sie in einen Roman vertieft, ich zunehmend indigniert über das Desinteresse der wenigen anderen Besucher. Es soll sich ja keiner vor Ehrfurcht bekreuzigen, aber eine kleine Verneigung vor der mappa mundi fände ich angemessen. Stattdessen gehen die Leute achselzuckend und ratlos weiter. Sie finden sich nicht zurecht. Wie die Karte von al Idrisi ist auch diese mappa mundi gesüdet. Die Afrikaner oben, wir Europäer unten. Vielleicht ist schon dieser Gedanke eine Überforderung – nicht nur in geographischer Hinsicht.

Dabei muss man sich nur konzentrieren, und schon erkennt man den perfekt gezeichneten italienischen Stiefel, den tatzenförmigen Peloponnes, das pralle Mitteleuropa und die Iberische Halbinsel, die auf Frankreich sitzt wie auf einem kräftigen Hals. Europa liegt da wie ein buckliges einbeiniges Männlein, die Spitze Afrikas im Gesicht.

Verstehen Sie mich nicht falsch, Mauro, ich mache mich nicht lustig. Sie haben akribisch recherchiert und gearbeitet – und reichlich Hilfe anderer Kartographen hatten Sie auch. Die skandinavischen Küsten waren dank der Exkursionen südeuropäischer Seefahrer in den Norden gut erforscht, das Mittelmeer ist genau wiedergegeben, auch wenn Sie selbstkritisch mangelnde Perfektion anmerken.

Jerusalem? Die Heilige Stadt haben Sie pflichtschuldig noch mit einem Sternchen markiert. Doch sie liegt nicht mehr im Zentrum, weil sonst die Kontinente nicht einigermaßen maßstabsgetreu anzuordnen gewesen wären. Ihre neue Mitte ist eine andere Wiege der Zivilisation: »Babylonia« und das heutige Bagdad.

Das Paradies, bislang ein fester Ort auf den mappae mundi, ist ganz aus dem Rund der Erde verbannt und in eine Ecke links unten ausgelagert: ein kleiner Flecken blühender Natur, darauf Gott in wallendem Gewand, ihm gegenüber Adam und Eva gänzlich nackt.

Zurück in der Welt, streift man mit den Augen ostwärts, also nach links wandernd. »Tartaria«, »Rossia«, das »Mare Chaspium«, alles erstaunlich getreu erfasst auf der Grundlage von Reiseberichten. Richtung Süden, also nach oben, öffnet sich das »Mare Indicum«. Bloß ist der Indische Ozean nicht wie auf früheren Karten ein gigantisches, unheimliches Gewässer, sondern ein Netz von Handelsrouten, ein Meer der kommerziellen Verheißung.

Venedig war in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Informationsbörse für Kaufleute, Vagabunden, Seefahrer, Flüchtlinge. Sie, lieber Bruder, horchten, fragten, sammelten, protokollierten. Viele dieser Reisenden ließen sich zur Klosterinsel San Michele hinüberrudern, um Ihnen Bericht zu erstatten. Die Welt kam zu Ihnen, genauer gesagt ihre männliche Hälfte. Ich darf annehmen, dass sich unter Ihren Informanten keine einzige Frau befand. Das Entdecken und Erobern war eine männliche Domäne. Die Geographie der Frauen blieb unsichtbar. Vermutlich kamen Sie gar nicht auf die Idee, sich für sie zu interessieren.

Einige Irrtümer, gemessen an den damals verfügbaren Informationen, sind Ihnen auf Ihrer Weltkarte dann doch unterlaufen: Richtung Süd- und Ostasien geraten die Flussläufe des Indus, des Ganges und des Yangtse durcheinander, Indien verrutscht und damit auch ein großer Teil Asiens.

In die Konturen von Bergen und Flüssen eingepasst, sind Erläuterungen, Quellenangaben und Kurzberichte aus fernen Ländern notiert. Manche lesen sich wie Auszüge aus einem epischen Roman. »Bis zu diesem Punkt kam Tamberlan mit seiner Armee, um aus dem Hinterhalt in Cathay einzufallen, doch die grausame Wut des Windes (…) schüttelte sie so durch, dass sie, halb tot, nach Ortrar zurückkehren mussten. Dort starb er, und sein Heer zerfiel.« So erfuhren zeitgenössische Betrachter der Karte vom Ende des zentralasiatischen Eroberers Tamerlan, berühmt für seinen Hang zu Massakern und persischer Poesie, gestorben im Jahr 1405 beim Vormarsch auf China, damals Cathay genannt.

Des Weiteren gibt es Angaben zum Nahrungsreichtum Abessiniens (»So viel Honig, dass die Menschen ihn nicht einmal mehr einsammeln«); zur Anzahl der Brücken in »Fuçui«, dem heutigen Suzhou in China (»ungefähr 6000«); zu den Vor- und Nachteilen der Malediven, genannt »Mahal« (reich an Bernstein, aber auch an Piraten); und zum geringen Salzgehalts des »Mar Prusian«, der Ostsee (»weil so viele Flüsse in sie münden«).9

Von Ptolemäus findet sich vieles in dieser Karte, aber er ist längst nicht mehr das Maß aller Dinge. Die Behauptung des Griechen, der Indische Ozean sei ein Binnenmeer, ließ sich nicht mehr halten. Afrika ist von Wasser umgeben und damit zu umsegeln. Auf der mappa mundi ist der Kontinent seiner wahren Form verblüffend ähnlich. Den Norden bilden »Libia«, »Cirenaica« und »Egypto« mit dem Nil-Delta. Die Städte Fes und Marrakesch im heutigen Marokko sind ebenso vermerkt wie »Tambutu« (Timbuktu) in Mali und die berühmten Goldvorkommen an den dortigen Flüssen. Madagaskar ist zu groß geraten und unter dem Namen »Diab« auch deutlich zu weit nach Süden gerutscht. Und unter »Ethiopia« oder »Abassia« wird fast das gesamte, geographisch etwas gequetschte südliche Afrika summiert, von dessen tatsächlicher Ausdehnung damals noch kein Europäer wusste.

Aber wichtiger ist etwas anderes: Endlich wagte da ein Kartograph die Behauptung, dass in den vermeintlich unbewohnbaren, weil vor Hitze brennenden Regionen des Kontinents sehr wohl Menschen lebten. Sie wussten das, Mauro, weil Sie sie getroffen hatten. Vermutlich um 1430 sind einige abessinische Kleriker zu Ihnen auf die Insel gekommen.10 »Männer, die mit eigenen Augen gesehen haben«, waren Ihnen eine zuverlässigere Quelle als dogmatische Kirchenführer und leichtgläubige Geographen. Also erlaubten Sie sich auf Ihrer mappa mundi einen spöttischen Eintrag an die Adresse Ihrer Kollegen aus der Zunft der Kartenzeichner, die in Afrika hartnäckig Ungeheuer vermuteten. »Für all diese Königreiche von Schwarzen ist niemals eine Person zu finden, die mir das zu erklären wüsste, was ich über sie geschrieben finde. Weil ich aber nichts anderes weiß, kann ich dies nicht bezeugen und überlasse die Suche denen, die begierig sind, solche Neuigkeiten zu erfahren.«11 Für Märchen gab es auf Ihrer Karte keinen Platz mehr.

Für Mythen schon. Der sagenhafte Priesterkönig Johannes beschäftigte die Europäer über Jahrhunderte. Er galt als Sinnbild eines christlichen Bollwerks inmitten der vermeintlichen Barbarei, ausgestattet mit einer riesigen Streitmacht – ein Traum von einem Bündnispartner für alle europäischen Kreuzfahrer. Nur bekam ihn nie einer zu Gesicht. Erst vermutete man Johannes in Zentralasien im Kampf gegen die Mongolen. Als sich diese Spur in nichts auflöste, verortete man ihn in Afrika. Auf der mappa mundi von San Michele residiert er in »Abessinia«, im heutigen Äthiopien, ein Herrscher, »dem eine Million Krieger folgen, die nackt in die Schlacht ziehen oder, wie viele es tun, Krokodilhaut anstelle einer Rüstung tragen«.12

Wie viele Zeitgenossen haben Ihre Karte gesehen, lieber Mauro, wie viele haben die Geschichten von Tamerlan, von Piraten und Palästen gelesen? Ein paar Dutzend, die während ihrer Entstehung auf San Michele vorbeikamen? Ein paar hundert vielleicht? Womöglich sogar mehr als tausend? Lächerlich wenige Menschen jedenfalls. Wussten Sie überhaupt, was Sie da geschaffen haben? Nicht nur eine Enzyklopädie des Mittelalters und eine kartographische Revolution, sondern auch die wohl schönste Wandzeitung, die je veröffentlicht worden ist. Das Abbild einer Welt, die vor Geschichten birst. Es wimmelt von Burgen, Kirchen, Bäumen. Auf den Wellen der Meere schwimmen fein gezeichnete Schiffe. Wenn man nur lange genug hinschaut, dann bewegen sie sich.

Wie viel Courage, wie viel Streitlust bedurfte es in dieser Zeit, um einen so kühnen »weltlichen« Blick auf Gottes Schöpfung zu werfen? Oder war es eher ein intellektuelles Abenteuer, die herrschende Sicht in Frage zu stellen?

Biographische Details könnten das beantworten. Doch vom Leben des Kamaldulenser-Mönches Mauro ist wenig überliefert. Geboren um 1385, gestorben 1459. Wahrscheinlich erst im fortgeschrittenen Alter ins Kloster eingetreten. Experte für Kartographie, Wasserwirtschaft und Hydraulik. 1444 – dafür gibt es Unterlagen – in eine Kommission zur Umleitung des Brenta-Flusses berufen. Wenige Jahre später eine Reise nach Istrien zwecks Kartographierung von Liegenschaften des Ordens. Viel mehr haben die Mitarbeiter der Biblioteca Nazionale Marciana nicht herausgefunden. Auf San Michele zucken die Friedhofswärter beim Namen »Fra Mauro« mit den Achseln, und in Venedigs Straßen findet sich kein einziges Denkmal für den »cosmographus incomparabilis«. Eine Stadt, die in ihrer eigenen historischen Kulisse lebt, kann es sich leisten, ein paar ihrer Großen zu vergessen.

Also bin ich Ihnen, lieber Bruder, anders zu Leibe gerückt. Ich habe mir Ihre Stadt erlesen und erlaufen – so lange, bis sich aus den übereinandergeschichteten Epochen Ihre Zeit herausschälte.

Sie haben Glück gehabt mit Ihrem Geburtsjahr. 40 Jahre früher, und Sie wären mitten in die Schwarze Pest geraten, die zwei Drittel der Bevölkerung Venedigs tötete. Zehn Jahre früher, und Sie wären als kleines Kind womöglich während der Belagerung durch die Genueser verhungert. Aber 1385 – das ist ein guter Jahrgang. La Serenissima, die durchlauchtigste Republik des heiligen Markus, hat ihre Erzfeinde aus Genua endgültig geschlagen, andere Konkurrenten, allen voran die Osmanen, sind noch nicht bedrohlich genug, Venedig aber blüht und wächst. Auf dem Werftgelände des Arsenale hämmern, schleifen, teeren, nähen und drehen Tausende Bootsbauer, Waffenschmiede, Segelmacher und Seiler. Sie produzieren Kriegs- und Handelsschiffe in perfekt organisierter Spezialisierung und Arbeitsteilung – eine Vorwegnahme des Fabriksystems.

Der Rialto ist nicht nur einfach ein, sondern der Marktplatz. Venedigs Aufstieg zur Handelsmacht hatte mit Salz und Pfeffer begonnen, jetzt gibt es hier Zimt aus Indien, Wein und Weizen aus Kreta, Edelsteine aus Ceylon, Zucker aus Zypern, Elfenbein aus Sansibar, Teppiche und Stoffe aus Ägypten und Kaschmir. Hölzer, Wachs, Waffen, Ingwer, Baumwolle, Metalle. Ein Stadtstaat, der selbst keine Rohstoffe hat und außer Schiffen nur wenig selbst produziert, ist ein Zentrum des Welthandels. Über allem wacht die omnipräsente Bürokratie des Dogenpalastes, die alles reguliert und notiert: von der Quarantänezeit für Neuankömmlinge über den Fahrplan der Handelsschiffe bis zur Anzahl der importierten Gewürzsäcke. Venedig praktiziert eine Form von Staatskapitalismus, noch bevor es Nationalstaaten und Kapitalismus wirklich gibt.

Um alles wird gefeilscht: Waren, Schulden, Kredite, Informationen. Hier werden die ersten Banken der Welt gegründet, hier wird mit Zinsen gewuchert, hier findet man frühe Spuren des Journalismus, meiner Zunft. Gazzetta heißt das Kleingeld, das die Leute den Vorlesern von Gerüchten und Nachrichten hinwerfen. Unter dem Namen Gazzetta erscheint später in Venedig eine der ersten Zeitungen der Welt.13

Menschen sind ebenfalls im Angebot. Auf dem Rialto floriert der Sklavenmarkt. Patrizier-Familien, Handwerker, auch Klöster halten sich Leibeigene. Die meisten Verschleppten stammen nicht aus Afrika, dessen großes Elend erst noch kommen sollte, sondern von den Küsten Dalmatiens und des Schwarzen Meeres, aus Kreta und Korfu, aus allen Territorien eben, welche die Republik zu diesem Zeitpunkt ihr Eigen nennt und mit typisch venezianischer Effizienz ausbeutet.

Venedig ist nicht nur Seemacht, sondern auch Europas erste mittelalterliche Kolonialmacht, ausgestattet mit all der Brutalität, die es zur Ausbeutung anderer braucht. Ein nicht ganz unwesentliches Detail, verehrter Mauro, das Sie auf Ihrer mappa mundi verschweigen. Da ist La Serenissima ein arglos wirkendes Pünktchen an der Adriaküste. Das brachte Ihnen damals angeblich eine Rüge des Dogen ein, der Sie aufgefordert haben soll, die Welt kleiner und Venedig größer zu zeichnen. Was Sie wiederum abgelehnt haben sollen.14 Weil Sie imperiale Hybris verachteten? Oder weil die Macht der Serenissima für jeden Venezianer ohnehin selbstverständlich war? Über Kreta, das als venezianische Kolonie heftig geblutet und gelitten hat, teilen Sie lediglich mit, dass es sich durch milde Luft sowie »noble Städte und Schlösser« auszeichnet.

Die meisten Raubzüge werden irgendwann zu Fußnoten der Kunstgeschichte. Zumindest in den Augen der Nachfahren der Räuber. Venedigs morbider Charme von heute beruht auf seiner Skrupellosigkeit vergangener Zeiten. Seine schönsten Beutestücke wie die vergoldeten Pferde aus Byzanz zählen zu den größten Attraktionen. Nicht dass die Venezianer Kriegstreiber gewesen wären. Diplomatie war das bevorzugte Mittel, um Seerouten zu sichern, Warenströme zu monopolisieren und die Konkurrenz auszuschalten. Hauptsache, die Kassen blieben voll. Religiösen Gehorsam gegenüber dem Papst leistete man nur, wenn er die Geschäfte förderte. Wenn nicht, leitete der Doge notfalls einen Kreuzzug um, griff statt der Sarazenen das christliche Konstantinopel an, ließ dessen Bevölkerung massakrieren, sämtliche Paläste, Kirchen und Gräber plündern und die Häuser in Brand stecken. Rom tobte, der Papst exkommunizierte, weil Jerusalem in der Hand der Ungläubigen geblieben war. Aber für Venedig hatte es sich gelohnt: Fortan gehörten der Stadt nicht nur die vier kostbaren Pferde, sondern auch fast das gesamte Mittelmeer.

Ich weiß, lieber Mauro, das geschah 1204, rund zweihundert Jahre vor Ihrer Zeit. Aber seither war endgültig klar, dass sich in Venedig niemand vor Drohungen des Papstes zu fürchten brauchte. Auch kein Mönch, der eine durchaus ketzerische mappa mundi zeichnete.

Sie und Ihre Klosterbrüder konnten damals die Freiheit genießen, die sich in der florierenden urbanen Wirtschaft ausbreitete. Ihr Glaube forderte die Askese des Körpers, aber nicht des Geistes. Ihr Kloster galt als Treffpunkt für Gelehrte, die leidenschaftlich wissenschaftliche Neuerungen, Reiseberichte und humanistische Ideen debattierten. Das heilige Jerusalem auf einer mappa mundi aus der Mitte der Welt zu schieben, war sicher provokant, aber nicht allzu gefährlich. Wie gesagt, Papst und Inquisition waren weit weg, und die berüchtigten venezianischen Spitzel interessierten sich mehr für ausländische Handelsspione und für jeden, der sich kritisch über La Serenissima äußerte. Nicht aber für große geistige Sprünge. Und das war die mappa mundi von San Michele. Ein Abbild der Welt als Appell, dass diese mit den herrschenden religiösen und ideologischen Koordinaten nicht mehr zu fassen ist.

Noch schien diese Welt frei von Gebietsansprüchen. Das ist das Betörende an der Karte und gleichzeitig das Trügerische. Es ist eine Hemisphäre ohne Grenzen, die man da in Venedig mit dem bloßen Auge erkunden kann. Die Territorien der Imperien, auch des venezianischen mit seinen Kolonien, bleiben unsichtbar.

Die mappa mundi von San Michele hat schnell Begehrlichkeiten geweckt. Portugals König Alfons V. soll 1459 ein Exemplar bestellt haben. Ob der Monarch es je erhalten hat, ist nicht bekannt. Man darf annehmen, dass er nicht aus ästhetischen Gründen oder purer Neugier an dem Werk interessiert war. Die mappa mundi war eine Revolution der Wissensvermittlung. Aber Karten galten da schon nicht mehr nur als prächtiger oder frommer Wandschmuck, als Enzyklopädie oder Dokument des Aufbruchs. Sie wurden zunehmend zu Besitztiteln. Kartographen beglaubigten von nun an die Aufteilung der Welt in Herrschaftsgebiete und Landbesitz.

Am portugiesischen Hof gab es kaum vier Jahrzehnte nach dem Tod des Weltenzeichners von San Michele eine neue mappa mundi mit zwei Hemisphären. Zur alten Welt war die neue hinzugekommen, jedenfalls aus Sicht der Europäer. Nach Kolumbus’ vermeintlicher Entdeckung Amerikas teilten sich Portugal und Spanien den Globus auf. Die Trennlinie verlief mit päpstlichem Segen etwa 1770 Kilometer westlich der Kapverden. Was östlich der Linie lag, sollte Portugal, die andere Hälfte der spanischen Krone zufallen. Dass die »Neue Welt« bevölkert war, spielte keine Rolle. Ihre Bewohner waren zu »Wilden« erklärt worden, was sie angesichts ihrer waffentechnischen Unterlegenheit gegenüber den conquistadores mit drei Optionen konfrontierte: Versklavung, Zwangsbekehrung zum christlichen Glauben, Ausrottung. Das eine schloss das andere nicht aus. Der Profit dieses Raubzuges, berechnet in Gold, Silber, Gewürzen und »geretteten Seelen«, war das Startkapital für Europas Aufstieg in der Welt. Der Handel mit afrikanischen Sklaven für die Plantagen in den neuen Kolonien machte ihn unaufhaltsam.

Venedig spielte da längst nicht mehr in der obersten Liga der Seemächte. Es hatte neue Schiffstechnologien verschlafen und sich mit seiner Expansion ins italienische Hinterland übernommen. Imperial overstretch nennt man das heute.

Mauro, haben Sie am Ende Ihrer Tage geahnt, dass es mit der Vorherrschaft Ihrer Stadt bald vorbei sein würde? Wie fühlt sich eine solche Vorahnung an? Wurden Sie unruhig? Beteten Sie zu Gott, dass er Venedigs Konkurrenz in die Schranken weisen möge? Oder bedauerten Sie, diese neue Zeitenwende nicht mehr mitzuerleben und die nächste mappa mundi einem anderen überlassen zu müssen?

Wenn Sie wissen wollen, was aus Ihrer Stadt geworden ist: Wie schon gesagt, Ihr Kloster gibt es nicht mehr. Gut 350 Jahre nach Ihrem Tod besetzte Napoleon Bonaparte Venedig, das nur noch ein Schatten seiner selbst war. Einige Jahjre später wurden Klöster aufgelöst, die Mönche vertrieben, die Bibliotheken ausgeräumt oder zu Brennholz zerlegt.15 Die Franzosen schafften zahlreiche Kunstwerke nach Paris, so wie die Venezianer früher Kunstwerke aus Konstantinopel gestohlen hatten. Unter Ihren kamaldulensischen Nachfolgern, lieber Mauro, gab es einige Mutige, die Bücher retteten. Ihre Karte hat ein Bibliothekar vor der Vernichtung bewahrt. Er muss so lange mit Engelszungen auf die Behörden eingeredet haben, bis er sie am 14. Juli 1811 in die Biblioteca Marciana bringen durfte. Da steht sie bis heute.

La Serenissima ist immer noch prächtig anzusehen. Einmal nach Einbruch der Dunkelheit vor dem erleuchteten Markus-Dom stehen, dieser Stein gewordenen Manifestation venezianischer Bau- und Raubkunst – und man verharrt in Ehrfurcht. Im Arsenale ist es still geworden, abgesehen vom Tuckern der Motorboote der italienischen Marine. Der Rialto ist immer noch ein Magnet für Händler, aber sie bieten heute nicht mehr Edelsteine, Gewürze und Baumwolle an, sondern Souvenirs, T-Shirts und Karnevalsmasken made in China.

Venedig hat nichts Wertvolles mehr zu verkaufen außer seiner Geschichte und seiner Kulisse als Sehnsuchtsort. Die Stadt war ihrem Kontinent immer ein paar Generationen voraus, egal ob es um Macht, Reichtum, Ausbeutung, Kunst, Repression oder Liberalität ging. Vielleicht lebt sie auch jetzt die Zukunft vor. Europa ist ins Schlingern geraten, der jahrzehntelang so feste Boden schwankt. Vielleicht wird Europa irgendwann das sein, was Venedig heute ist: ein morsches, aber prächtig anzusehendes Museum.

Noch lebt die Stadt gut davon. Millionen von Touristen treiben jedes Jahr wie ein träger Strom durch die Gassen. Bloß ächzt sie unter dieser Last. La Serenissima wird zu schwer für den Boden, in den die Stadtgründer einst das Fundament aus Holzpfählen und Steinen gerammt haben. Aqua alta, das Hochwasser, kommt nun häufiger, angekündigt durch Sirenen. Der Meeresspiegel steigt. Man könnte solche wie Sie, lieber Mauro, heute gut gebrauchen mit Ihrem Wissen über Bodenerosion, Versalzung und Kanalbau.

Ihren Landsleuten von heute fehlt das Bewusstsein um die Fragilität ihrer Stadt. Sie haben die Öffnungen zum Meer vertieft und erweitert, damit die Kreuzfahrtschiffe in die Lagune fahren können. »Kreuzfahrt« klingt nach alten kriegerischen Zeiten. Die Schiffsreisenden von heute kämpfen nicht für Kirche und Abendland. Sie verteidigen das Privileg der Abendländer, die Welt zu bereisen, ohne sich wirklich in die Fremde begeben zu müssen. Mit ihren schwimmenden Städten dringt nun auch die Flut mit größerer Wucht in die Lagune.16

Sie lächeln, Mauro. Was hat diese Stadt nicht schon alles überlebt: die große Pest von 1348, die Erdbeben und Fluten, die Belagerung durch die Genueser, die Verwünschungen des Vatikans. Und doch feiert Venedig immer noch jedes Jahr die fiesta della sensa, die Vermählung mit dem Meer.

Noch etwas sollten Sie wissen, verehrter Bruder: Es gibt jetzt wieder Kartographen, die sich der Tradition der mappa mundi erinnern. Sie sind fasziniert vom Konzept der Südung, von der Fluidität der Grenzen. Dem Norden die Selbstgewissheit zu nehmen, immer oben zu sein – das gilt am Anfang des 21. Jahrhunderts als subversiv. Um die Welt zu verändern, sagen die Vertreter dieser »radikalen Kartographie«, müsse man sie zuerst anders zeichnen. Mauro, Sie und diese jungen Weltenzeichner hätten sich einiges zu erzählen.

Glauben Sie nicht doch an die Wiedergeburt? Wenn Sie heute auf die Erde zurückkehrten, wo wäre dann ihre Mitte? Welche Geschichten müsste eine Karte erzählen?

Und wo läge das Paradies?

KAPITEL 2Eine Karte für Somalia

Mauro, meinen ersten Stadtplan von Mogadischu hätten Sie keines Blickes gewürdigt. Ein Blatt Papier, darauf einige Striche. Ein Freund, der ein paar Jahre dort gelebt hat, hatte mit dem Kugelschreiber grob einige Orte skizziert: Den »Aden Adde International Airport«; den Strand, an dem einst amerikanische Soldaten gelandet sind; den Bakara-Markt, auf dem es alles zu kaufen gibt, wenn nicht gerade geschossen wird; das Abdi-Haus, in dem es zu einem tödlichen und für die Welt folgenreichen Missverständnis kam.

Ich habe einen weiteren Ort hinzugefügt. Den Lido-Club aus dem Roman Maps des somalischen Schriftstellers Nuruddin Farah, der im Mogadischu der 70er Jahre spielt: »Es war Freitag«, heißt es da an einer Stelle. »Das Auto stand auf dem Parkplatz vor dem Lido Club. Salaado war ins Clubhaus hineingegangen, um drei Portionen Eiscreme zu holen.«1

Nicht dass Ihnen, lieber Mauro, irgendetwas davon vertraut erschienen wäre. Schon bei dem Wort »Mogadischu« hätten Sie gestutzt. So heißt heute jene Stadt, der Sie auf Ihrer mappa mundi gleich mehrere Namen gaben. »Mogodisso«, »Mogadesur«, »Macdasui«.2

Es ist meine erste Reise an das Horn von Afrika. Dieses bekritzelte Papier gibt mir das Gefühl, auf unbekanntem Territorium ein paar Orientierungspunkte zu haben. Der Flughafen ist mein Notausgang, der Strand mein historischer Bezugspunkt, der Bakara-Markt ein Barometer für die Sicherheitslage, das Abdi-Haus ein konkretes Ziel. Und die Zeilen Farahs über den Lido Club sind gut für meine Nerven. Die Vorstellung beruhigt mich, dass Bewohner dieser Stadt vor nicht zu langer Zeit friedlich zu einer Eisdiele schlenderten – mit nichts anderem beschäftigt als der Wahl zwischen Vanille und Stracciatella.

Weißer Sand und blaues Meer. Scheinbar endlos gleitet die Maschine von »Jubba Airways« entlang der Brandungswellen des Indischen Ozeans, bevor sie unweit zerschossener Häuser landet. Auf dem Rollfeld warten meine Gastgeber, ein Deutscher mit Bürstenhaarschnitt namens Volker Rath und ein rundlicher Somali namens Mohamud Ali Diriye mit fusseligem Bart und Hosen, die über den Knöcheln enden. Rath ist Projektleiter von Cap Anamur, einer der wenigen ausländischen Hilfsorganisationen, die zu diesem Zeitpunkt noch in Mogadischu arbeiten. Diriye, den alle nur Mahdi rufen, ist Übersetzer, Vermittler, Türöffner und Frühwarnsystem in allen Normal- und Notlagen. Er verschwindet mit meinem Pass und dem Visumformular, auf dem Namen, Geburtsdatum und das Fabrikat mitgeführter Schusswaffen einzutragen sind. Rath nutzt die Wartezeit, um auf Sehenswürdigkeiten hinzuweisen: ein Flugzeugwrack, das eine islamistische Miliz mit dem harmlos klingenden Namen »Al Shabab« – auf Deutsch: die Jugend – mit Mörsergranaten durchlöchert hat, sowie zwei gepanzerte Fahrzeuge der Afrikanischen Union, deren Soldaten die Miliz seit Jahren bekämpfen. Sie haben es immerhin geschafft, Al Shabab aus Mogadischu zu vertreiben. Die rächt sich seitdem mit Bombenanschlägen im Stadtzentrum. Bewaffneter Begleitschutz ist Pflicht, und so klettern drei Männer mit Kalaschnikow-Gewehren auf die Ladefläche unseres Pick-up-Trucks, bevor der Fahrer Gas gibt Richtung Innenstadt.

Kaum gelandet, fühle ich mich völlig fehl am Platz und zugleich genau am richtigen Ort. Ich werde mich in Mogadischu weder frei bewegen noch allein zurechtfinden können. Und doch ist dies ein idealer Ausgangspunkt für mein Unterfangen: die Konturen einer neuen mappa mundi zu erkunden. Am Horn von Afrika hat sich das christliche Abendland und später der Westen seine Weltordnungen ausgemalt. Zuerst in der Gestalt des Priesterkönigs Johannes, der hier vermeintlich die einzige Zivilisation, das Christentum, gegen die vermeintliche Barbarei, den Islam, verteidigt haben soll.3 Rund 500 Jahre später durch die USA, die hier mit einer neuen globalen Ordnung scheiterten.

Nicht dass sich jetzt noch viele daran erinnern. Für den Rest der Welt ist Somalia ein Land ohne Geschichte geworden, ein Urzustand von Gewalt und Chaos. Es gilt als Negation von allem, was aus westlicher und damit meiner Sicht normal und vertraut scheint: Staatlichkeit, Ordnung, Fortschritt, Modernität. Was ich über das Land gelesen hatte, war fast immer mit Synonymen wie »Hölle«, »Inferno«, »Apokalypse« verbunden. Kartographen des Mittelalters haben das Unbekannte, Furcht einflößende mit Ungeheuern markiert. Wir Journalisten kennzeichnen es heute gern mit biblischen Metaphern des Untergangs.

Dabei hat jeder Ort eine Geschichte. Somalias Vergangenheit ist so reichhaltig wie die Venedigs. Seine Gegenwart ist kein Zustand zeitloser Anarchie, sondern besitzt eine ausgefeilte Ordnung. Sie entspricht nicht unseren westlichen Kategorien. Aber sie erzählt womöglich viel von der Zukunft. Und von der Fähigkeit, in einer fragilen Gegenwart zu leben.