Gott und die Krokodile - Andrea Böhm - E-Book

Gott und die Krokodile E-Book

Andrea Böhm

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Beschreibung

Mitten ins Herz Afrikas

Andrea Böhm nimmt den Leser mit auf eine Entdeckungsreise durch den Kongo. Sie führt uns in die chaotische, vibrierende Hauptstadt Kinshasa. Sie folgt den Spuren eines afro-amerikanischen Missionars, der in den 1890er Jahren im Königreich der Kuba im Dschungel lebte, und begegnet mysteriösen Mayi-Mayi-Rebellen, die sich für unverwundbar halten. Sie begibt sich in die größten Diamantenfelder der Welt und in die zerrütteten Kivu-Provinzen im Osten des Landes, dem Schauplatz von »Afrikas erstem Weltkrieg«. Vor allem aber erzählt Andrea Böhm die Geschichten der Menschen, die ihr begegnen: Marktfrauen, die sich als Boxerinnen ein Zubrot verdienen; Musiker, die ihr Heil in Gott und Beethoven suchen; ein Kindersoldat, der mit seiner Mutter wieder vereint wird; Bergarbeiter, die mit bloßen Händen nach Bodenschätzen graben. Sie alle werden im täglichen Ausnahmezustand zu Meistern der Improvisation.

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Seitenzahl: 329

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Inhaltsverzeichnis

VorwortKapitel 1 - Kinshasa – Die Stadt der ProphetenKapitel 2 - Kautschuk und DiamantenKapitel 3 - Im Land der GräberKapitel 4 - Ein Katasteramt für BukavuKapitel 5 - Der Himmel über KatangaKapitel 6 - Kinshasa – Die Parade der LöffelmenschenDankAuswahlbibliographieZeittafelBildnachweisCopyright

Vorwort

Dies ist kein Buch über Afrika. Dies ist auch kein Buch von einer Weißen, die ihr Herz an Afrika verloren hat und deswegen die unendliche Weite des Kontinents, dessen Sternenhimmel, unberührte Tierwelt oder edle Massai-Krieger suchen muss.

Dies ist ein Buch über den Kongo, eines von über 50 afrikanischen Ländern, das, zugegebenermaßen, eine recht große Fläche des Kontinents einnimmt.

Der Kongo ist eine schier unerschöpfliche Quelle von Rohstoffen und von Klischees: Zu Ersteren zählen Diamanten, Kupfer, Kobalt, Gold, Uran, Holz. Zu Letzteren: »schwül«, »barbarisch«, »voller Rebellen«. Wie es halt sein muss im ewigen Herz der Finsternis.

Wie alle anderen Klischees haben auch diese einen wahren Kern: die Luftfeuchtigkeit im Kongo ist unangenehm hoch. Die Verbrechen, die dort in den vergangenen Jahrhunderten begangen wurden und immer noch begangen werden, können einem den Schlaf rauben. Und natürlich gibt es Rebellen. Sie machen nicht einmal ein Zehntel Prozent der Gesamtbevölkerung aus, was zeigt, wie nachhaltig wenige Menschen Schicksal und Schlagzeilen eines Landes bestimmen können, weil sie im Besitz einer Kalaschnikow sind. Darüber hinaus leben im Kongo rund 60 Millionen Nicht-Rebellen. Auch sie prägen die Geschichte ihres Landes.

»Wenn man beurteilen will, was ein Fremder über ein Land schreibt, muss man wissen, wann der Autor zum ersten Mal dort gewesen ist«, hat der britische Historiker und Autor Timothy Garton Ash einmal gesagt. »War es vor oder nach der Revolution, Besatzung, Befreiung oder was immer die Zäsur des Landes darstellt? Natürlich spielen auch die Biografie und die politischen Überzeugungen des Autors eine Rolle. Aber meist ist der erste Besuch der prägende.«

Ich habe das Land nicht bei einer Reise ins Kriegsgebiet kennen gelernt, sondern über die Begegnung mit den Bewohnern seiner Hauptstadt Kinshasa. Kinshasa ist der Ausgangspunkt meiner Erkundung dieses Landes, der Ort, an dem dieses Buch seinen Anfang und sein Ende nimmt und an dem ich etwas sehr Entscheidendes begriffen habe.

Auf dem Hügel des Universitätsgeländes von Kinshasa befindet sich die morsche Anlage eines atomaren Forschungsreaktors. Der Reaktor ist schon lange nicht mehr in Betrieb, die Brennstäbe wurden, offenbar auf amerikanisches Betreiben, vor Jahren abtransportiert. Als ich eines Tages das nicht sehr stabil wirkende Tor zu der Anlage öffnete – mal reinschauen, dachte ich, wird ja nicht verboten sein –, pfiff mich ein grimmiger, sehr dürrer Wachmann zurück. Nach einigen harschen Worten über unbefugten Zutritt wechselte seine Stimmung, und er erzählte mit Stolz die Geschichte des Reaktors.

Ein belgischer Geistlicher, Universitätsrektor und Hobby Nuklearphysiker namens Luc Gillon hatte noch zu Kolonial-zeiten seiner Regierung die Idee eines kongolesischen Atommeilers in den Kopf gesetzt. 1959 ging der Reaktor, entworfen vom amerikanischen Konzern General Atomic, in Betrieb. Es war ein kleines Dankeschön der Amerikaner, die ihrerseits Anfang der 40er Jahre aus der belgischen Kolonie Uran für ihr Manhattan Project und die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geholt hatten. »Stellen Sie sich vor, Madame«, sagte der Wachmann, »wir hätten Atommacht werden können.«

Die Begegnung mit dem Wachmann ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Nicht so sehr wegen des Größenwahns, mit dem manche Kongolesen den erbärmlichen Zustand ihres Landes kompensieren. Sondern weil diese Episode deutlich machte, dass der Kongo nie, wie ich anfangs geglaubt hatte, am Rande der Weltgeschichte gestanden war. Er befand sich immer mittendrin. Sei es durch die Ausbeutung seiner Bodenschätze, die Politik seiner Machthaber oder die Interventionen des Auslands.

Der Kongo ist weit mehr als eine belagerte Schatztruhe oder ein ewiges Katastrophengebiet. Er ist ein Schauplatz globaler Zäsuren. Schlagworte wie »Raubtierkapitalismus«, »Globalisierung«, »Rohstoffkriege«, »humanitäre Intervention«, »Weltrecht« beschreiben Krisen und Wendepunkte unserer Zeit. Was kaum jemand weiß: Die Phänomene, die sich dahinter verbergen, sind oft zuerst im Kongo aufgetaucht.

Hier errichtete der belgische König Leopold II. in seiner Privatkolonie den ersten Gulag, das erste entstaatlichte System zur Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen. Hier begann vor gut hundert Jahren die erste moderne Menschenrechts-kampagne – gegen den Monarchen und die ausländischen Firmen, die von dieser Ausbeutung profitierten.

Hier setzte ein schrulliger Missionar den Bau des ersten Atomreaktors auf afrikanischem Boden durch. Anfang der 60er Jahre kämpften im Kongo zum ersten Mal Blauhelme der Vereinten Nationen. Mitten in der Entkolonialisierung Afrikas wurde hier im Auftrag und unter Mithilfe westlicher Mächte ein demokratisch gewählter Regierungschef ermordet – Patrice Lumumba. Danach stellte das Land zwei traurige Rekorde auf: den der schlimmsten Plünderung der Staatskassen eines afrikanischen Landes durch Mobutu. Und den des schlimmsten Krieges auf dem Kontinent, an dessen Folgen bis zu fünf Millionen Menschen gestorben sind.

Inzwischen kämpfen China, die USA, Südafrika, Angola und Europa um die enormen Vorkommen an Erz, Uran, Gold und Diamanten. Die EU hat sich hier 2003 erstmals als Militärmacht ausprobiert. Die UN, vierzig Jahre später wieder im Land, betreiben im Kongo ihr größtes Experiment in Sachen Befriedung und Staatsaufbau (mit sehr bescheidenem Erfolg). Und in Zeiten des Klimawandels spricht sich langsam herum, dass im Kongo der zweitgrößte Regenwald nach dem Amazonasgebiet liegt. Der zweite Lungenflügel der Erde.

Meine Erkundung dieses Lands beginnt im Westen und führt nach Osten. Die Route ergibt keine historische Chronologie. Die Spuren der kongolesischen Geschichte fand ich auf diesen Fahrten, wie ein Archäologe Fundstücke aus mehreren Epochen entdeckt. Spuren der Leopoldschen Herrschaft, der späten Kolonialjahre, der Ära Mobutu, der Söldnerheere, verschiedener Religionsbewegungen, des bewaffneten Auf- und Widerstands, der Einmischung durch nahe und ferne Mächte.

Mitten in diesen Ruinen von Kolonialisierung und Globalisierung organisieren fast 60 Millionen Menschen auf bizarre, geniale, mitreißende oder kriminelle Weise ihr Überleben, werden von den historischen und aktuellen Ereignissen immer wieder aus ihren Welten gerissen, reagieren mit Widerstand, Opportunismus, Improvisationskunst, Solidarität, Flucht in Religiosität oder Geisterwelten.

Dieses Buch erzählt vor allem vom Leben dieser Menschen und von meinem Versuch, dieses Leben zu begreifen. Ob mir das immer gelungen ist, mag ich nicht beurteilen. Aber ich hoffe, ich habe ihre Geschichten möglichst genau wiedergegeben.

Kapitel 1

Kinshasa – Die Stadt der Propheten

Boulevard Lumumba

Der Amerikaner war zum ersten Mal nach Kinshasa gereist. In den USA feierte man ihn als berühmten Schriftsteller. Hier, in dieser afrikanischen Hauptstadt kannte ihn niemand. Da ihn bei seiner Ankunft auch noch heftige Magenkrämpfe plagten, stand der Besuch unter einem schlechten Stern. »Da ist man nun am Rand des Herzen der Finsternis, in der alten Kapitale von Joseph Conrad’s Horror, einst das teuflische Léopoldville, Zentrum des Sklaven- und Elfenbeinhandels«, schrieb Norman Mailer 1974, »und man betrachtet das Ganze durch die reizbaren Augen eines Mannes mit malträtierten Gedärmen. Hat sich jemand schon mal so sehr danach gesehnt, wieder in New York zu sein?«

Ich kam 28 Jahre später in Kinshasa an. Die Stadt hatte inzwischen zwei Plünderungswellen sowie einige Feuergefechte hinter sich und befand sich in deutlich schlechterer Verfassung. Aber im Gegensatz zu Mailer hatte mein Magen die Reise klaglos hingenommen. Vielleicht fand ich deshalb die Umstände meiner Ankunft eher faszinierend als entsetzlich.

Es war bereits dunkel, am Flughafen N’djili war der Strom ausgefallen. Zöllner, Polizisten, Gepäckträger und Geheimdienstler suchten mit der Leuchtanzeige ihrer Mobiltelefone nach geeigneten Opfern unter den Passagieren, die von der feuchten Hitze bereits leicht betäubt waren. Innerhalb von zwei Minuten hatte ich mir, tollpatschig nach Moskitos schlagend, Pass und Gepäckzettel aus der Hand nehmen lassen. Ersteren bekam ich nach einer Viertelstunde gegen eine nicht näher beschriebene »Gebühr« von 20 Dollar zurück. Letzteren nach zwei Stunden mit der Auskunft, mein Koffer sei verschwunden. Um mich herum war der Lärm auf den Pegel eines Wagnerschen Opernfinales angeschwollen. Weiß uniformierte Damen von der Gesundheitsbehörde verlangten lautstark Nachweise von Impfungen gegen Krankheiten, die ich nicht kannte – ein Problem, das mit zehn Dollar zu lösen war. Zöllner beugten sich wie hungrige Kater über das pralle Gepäck von Kongolesinnen, die theatralisch Ohnmachtsanfälle simulierten, mit der Strafe Gottes drohten oder der Rache irgendeines Ministers, den sie angeblich kannten. Mittendrin standen, eilfertig lächelnd, Herren in Zivil, die sich protocol nannten und weiße Passagiere gegen ein Honorar von vierzig Dollar durch den Strudel zu führen versprachen wie Moses sein Volk durchs Rote Meer.

Nach diesem Schleudergang taumelten die Ankömmlinge ins Freie und verteilten sich je nach Status und Hautfarbe auf Geländewagen der UN, klimatisierte Luxuskarossen oder verbeulte, rostzerfressene Toyotas. Dann rollte die Karawane auf dem Boulevard Lumumba hinein in die Stadt. Als sei dem Leben nachts die Bürde genommen, drängten sich links und rechts der Straße tausende von Menschen zwischen den Kerosinlampen der Marktstände. Sie schleppten Körbe und Säcke, schälten sich aus überfüllten Sammeltaxis, schoben Karren und Fahrräder. Sie feilschten um Preise für Zigaretten, Lutscher und Erdnüsse, diskutierten hitzig über korrupte Politiker, formschwache Fußballspieler und die jüngsten Gerüchte über Hexereien. Sie flickten Autowracks, stampften Maniok, schaukelten sich unter dem Zeltdach einer Erweckungskirche in Ekstase oder bei Bier und kongolesischem Rumba in einen Tanzrausch. In dieser ersten Nacht begriff ich eines: Man kann sich dieser Stadt nicht nähern. Man wird von ihr geschluckt.

Zur Unabhängigkeit hatte die belgische Kolonialmacht dem Kongo eine Geschichte von 75 Jahren brutaler Ausbeutung und Massenmord sowie eine ziemlich solide Infrastruktur hinterlassen. Das war 1960. Kinshasa hieß damals noch Léopoldville und hatte rund 400 000 Einwohner. Zum Zeitpunkt von Norman Mailers Besuch war deren Zahl auf zwei Millionen gestiegen. Inzwischen lebten hier über acht, vielleicht sogar zehn Millionen Menschen in einer Stadt, in der so gut wie nichts mehr funktionierte und so gut wie alles organisiert werden konnte. Jede Mega-City hat Slums und Armenviertel, urbane Desasterzonen ohne Strom, Trinkwasser und Kanalisation, ohne funktionierende Schulen, Polizei und Feuerwehr. Aber nur im Kongo hatte der Staat sich und seine Hauptstadt so gründlich ruiniert. Kein anderes Stadtvolk musste ständig so viele neue Überlebensstrategien erfinden wie die Kinois. Und so viele Spitznamen. Aus Kin, la Belle (Kinshasa, die Schöne) wurde Kin, la Poubelle (Kinshasa, die Mülltonne). Dann, je nach Aktualität anderer Katastrophen, Sarajevo, Afghanistan, Kosovo, Tschetschenien oder Bagdad. Mochte sich die Welt auch nicht um ihr Schicksal scheren, die Kinois taten einfach so, als wäre ihr Elend CNN-würdig.

Eine Stadt, die einen schluckt, erweckt das Bedürfnis zu fliegen. Einmal aus der Vogelperspektive auf Kinshasa schauen und wenigstens so tun, als könnte man in diesem Moloch die Übersicht behalten. Der Einzige, der bei meinem ersten Besuch einen Blick von oben bieten konnte, war ein gewisser Monsieur Mulambi, Angestellter des kongolesischen Informationsministeriums. Monsieur Mulambi war der scheinbar letzte Beamte im leer geplünderten Gebäude des staatlichen Rundfunksenders. Da der Lift nicht funktionierte, stapfte ich achtzehn Stockwerke hoch in sein Büro, in dem sich außer Monsieur Mulambi noch ein ramponierter Schreibtisch und ein Telefon aus den sechziger Jahren befanden, übergab ihm schweißgebadet 100 Dollar und erhielt dafür die schriftliche Erlaubnis, »die Kultur der Hauptstadt unter strengster Beachtung der menschlichen Würde und der Gesetze der Demokratischen Republik Kongo dokumentieren« zu dürfen. Monsieur Mulambi, ein kleiner Herr, der seine bizarren Arbeitsbedingungen mit der pikierten Würde eines englischen Butlers ignorierte, gewährte als Zugabe einen Rundblick durch die verdreckten Bürofenster auf seine Stadt: Im Westen, auf sandigen Hügeln, liegt Binza-Ma Campagne, ein Villenviertel, das in der Regenzeit alljährlich ein paar Häuser durch Erdrutsch verliert. Im Norden, unweit der rostbraunen Fluten des Kongo-Flusses, ragt das Grand Hotel, ehemals Hotel Intercontinental, empor, in dem je nach Sicherheitslage abwechselnd Kriegsherren und Weltbank-Experten logierten. Östlich davon sah ich den Fährhafen, wo sich jeden Morgen Händler, Straßenkinder und Verhexte versammelten, um Waren über den Fluss nach Brazzaville zu transportieren, der Hauptstadt des kleinen Nachbarlandes mit dem verwirrend ähnlichen Namen »Republik Kongo«. Stadteinwärts wurde der Platz für die Lebenden und Toten immer enger, in der Hitze flimmerten die Dächer von Matonge, dem Kneipen-und Musikviertel, und Makala mit dem berüchtigten Zentralgefängnis sowie die Gräber des großen, längst überfüllten Friedhofs von Kasa Vubu. Der Boulevard Lumumba zog sich wie ein Bandwurm Richtung Südosten durch Massina und N’djili, im Volksmund »Quartiers Chinoises« genannt, die chinesischen Viertel, weil eigentlich nur in China so viele Menschen auf so engem Raum leben können. Tief im Süden breitete sich über einem Hügel der Campus der Universität Kinshasa aus mit dem stillgelegten nuklearen Forschungsreaktor, der mit jedem Erdrutsch näher an einen Abgrund rückte. Im Osten erhob sich ein grauer Betonklotz, Kinshasas »Stadion der Märtyrer«, so genannt, weil Mobutu an dieser Stelle einst Oppositionelle aufhängen ließ. Ein paar hundert Meter weiter lag das kleinere Oval des Stadions Tata Raphaël, benannt nach einem belgischen Missionar. Dort wurde die Stadt einst für eine Nacht zum Mittelpunkt der Welt und Norman Mailer Zeuge eines Wunders. Und ich hörte in dieser Nacht zum ersten Mal den Namen Kinshasa.

Stadion Tata Raphaël

Angel Moway war gefürchtet für ihre schnelle Führhand, die sie in diesem Augenblick auf meinem Kinn platzierte. Zum dritten Mal in zwei Minuten. Ihre Tochter Herveline saß im Strampelanzug unter dem verdreckten Sandsack und quietschte vergnügt. Es gibt in Kinshasa nicht viele Kinder, deren Mütter eine Gerade landen können. Angel, eine Bantamgewichtlerin mit dünn geflochtenen Zöpfen, tänzelte locker, schlug Kombinationen gegen meine Deckung, lauerte auf die nächste Lücke. Sie machte ihrem Namen alle Ehre. Selbst während des heftigsten Schlagabtausches behielt ihr Gesicht einen engelsgleichen Ausdruck sanfter Konzentration.

Es war Samstagnachmittag, in Judex’ Club trudelten Boxer zum Training ein und passierten ungerührt die Halbwüchsigen, die am Eingang wild gestikulierten und schrien. Sie hatten in einem nahe gelegenen Schuppen ein ausgesetztes Neugeborenes gefunden, eingewickelt in ein zerrissenes Hemd. Jetzt wollten sie Taxigeld, um den Säugling ins Waisenhaus zu bringen. »Babys, Babys, Babys!«, sagte Judex, »ich erklär’ den Frauen immer: Haltet euch die Kerle vom Leib, sonst seid ihr sofort schwanger.«

»Dschüüdex!« So hatte sich der Mann bei unserer ersten Begegnung vorgestellt. »Ganz einfach: Coach Dschüüdex.« Klein, drahtig, auf dem Kopf eine speckige Baseballmütze, darunter ein Vogelgesicht mit weit auseinanderliegenden Augen, als erwarte er jederzeit einen Haken von der Seite. Ich hatte Judex zufällig auf einem Parkplatz entdeckt, wo er, ausgestattet mit zwei zerfledderten Boxhandschuhen und einem Badelatschen als Schlagpratze, eine Gruppe Kämpfer trainierte. Darunter befanden sich zu meiner Verblüffung mehrere Boxerinnen, die er als »Frauennationalmannschaft« vorstellte. Das war 2002. Das Land taumelte damals zwischen Krieg und Friedensgesprächen. Konvois von warlords, die bei Verhandlungen in Kinshasa um Ministerposten schacherten, rasten durch die Stadt. An der Bar des Hotel Intercontinental war die kongolesische Variante der Globalisierung zu besichtigen: ukrainische Waffenschmuggler, libanesische Diamantenhändler, Offiziere aus Simbabwe und Angola, die Militärhilfe gegen Rohstoffkonzessionen anboten. Judex kümmerte das wenig. Die Kämpfe fanden weit weg im Osten des Landes statt, und für Krieg und Politik interessierte er sich nur dann, wenn Putschgerüchte oder Großdemonstrationen seinen Trainingsplan störten. Sein Alter gab er damals mit 53 Jahren an, was er im Laufe unserer Bekanntschaft stetig nach unten korrigierte. Ansonsten waren seine Zahlen präzise und konstant. »Vier Mal nationaler Meister, vier Mal Afrika-Meister im Weltergewicht – 101 Kämpfe, 97 Siege, drei Remis, eine Niederlage.« Das war die Chronologie seiner sportlichen Karriere, damals Ende der siebziger Jahre, als der Kongo noch Zaire hieß und die Zeiten himmlisch schienen. Zumindest im Rückblick.

Nun, über ein Vierteljahrhundert später, hatte Judex endlich seinen eigenen Club: Eine ehemalige Turnhalle unterhalb der Zuschauerränge des Stadions Tata Raphaël. »Judex Boxing« hatte jemand mit blauer Farbe an die Wand gepinselt. Es gab keinen Ring, keinen Kopf- und Mundschutz, die Springseile bestanden aus Wäscheleinen, die Handschuhe – Judex besaß inzwischen drei Paar – waren an den Nähten aufgeplatzt.

Gegen eine Gebühr konnten Gäste mittrainieren, vorausgesetzt, sie gewöhnten sich an das ewige Halbdunkel, die Löcher im aufgerissenen Boden, den Geruch von Gemüse, Urin und Holzkohle und an die Schattenwesen, die durch die Gänge huschten. In den Eingeweiden des Stadions wohnten Kriegsflüchtlinge, deren Dörfer im Osten zerstört worden waren; Obdachlose, die sich die Mieten in den Slums von Kinshasa nicht leisten konnten; junge Boxer, die auf Meisterschaftstitel hofften. Im Laufe der Jahre hatte diese Wohngemeinschaft der Traumatisierten und der Träumer die Sprossen der Turnleiter zu Feuerholz verarbeitet, morsche Barren zu Wäscheständern und ein altes Trampolin zum Schlafplatz umfunktioniert. Nur das verblichene Plakat an der Wand, das an den glorreichsten Tag dieses Stadions erinnerte, wagte lange Zeit niemand anzurühren. » 30. Oktober 1974: George Foreman vs. Muhammad Ali. Weltmeisterschaftskampf im Schwergewicht. 15 Runden. Ein Geschenk des Präsidenten Mobutu an das Volk und eine Ehre für alle Schwarzen.« Judex deutete in Richtung der Sandsäcke. »Hier hat Er sich aufgewärmt.«

Judex im Stadion Tata Raphaēl

Er. Der Größte. Muhammad Ali, der Schwergewichtler mit den schnellsten Beinen und dem schnellsten Mundwerk in der Geschichte dieses Sports.

Bis zu jenem 30. Oktober 1974 kannten die meisten Europäer und Amerikaner den Kongo allenfalls aus Söldnerromanen oder aus Joseph Conrads Herz der Finsternis. Ich kannte das Land überhaupt nicht. Das änderte sich mit dem Gong zur ersten Runde dieses Weltmeisterschaftskampfes um vier Uhr morgens im Stadion Tata Raphaël – 22 Uhr an der amerikanischen Ostküste und somit beste Sendezeit für die USA. Judex’ Versionen über seinen Aufenthaltsort während des Kampfes variierten: Mal wollte er mit seinem Onkel mitten unter den Zuschauern gewesen sein, mal daheim in Kinshasa mit der Familie vor dem Fernseher. Wahrscheinlich war es ein Radio. Wie auch immer, Judex beteuerte, in jener Nacht dasselbe Spektakel verfolgt zu haben wie ich, gerade dreizehn, mit meinem Vater einige tausend Kilometer entfernt in unserem Münchner Wohnzimmer: Vier, fünf Runden lang drängte Foreman, der haushohe Favorit, Ali in die Seile und drosch wie ein hünenhafter Holzfäller auf ihn ein. In der sechsten Runde erlahmte er. In der achten passierte das Wunder: Ali schlug ihn k.o. Mehr noch als der Kampf blieb mir der fröhliche Gesang des Publikums im Gedächtnis: »Ali, boma ye! Ali, boma ye! Ali, töte ihn«, was nicht als Aufruf zum Mord, sondern als Ausdruck der Zuneigung zu Ali gemeint war.

In jener Nacht schwor sich Judex, Boxer zu werden. Genauso zu werden wie jener Schwarze aus Amerika, der nicht nur den Weltmeistertitel erobert, sondern auch Kinshasa zur Bühne eines grandios-bizarren Welttheaters gemacht hatte. Aber Ali, der geniale Selbstdarsteller, führte in diesem Stück nicht Regie. Die Fäden zog ein Mann, der sich für Boxen wenig interessierte, ein Mann, der selbst nicht schlug, sondern schlagen ließ.

Es ist ein schwüler Tag Anfang September 1974, als Ali in Kinshasa aus dem Flugzeug steigt – im Schlepptau seine riesige Entourage: Trainer, Manager, Masseur, Sparringspartner, Verwandte und Funktionäre der »Nation of Islam«, jener muslimischen Bewegung von Afro-Amerikanern, der er sich angeschlossen hat und die in den USA eine radikale Abschottung von der weißen Gesellschaft vertritt.

Der Kampf gegen George Foreman ist Alis letzte Chance, den Weltmeistertitel wieder zu gewinnen, den man ihm in den USA nach seiner Wehrdienstverweigerung im Vietnam-Krieg aberkannt hat. Eine hauchdünne Chance in Anbetracht von Foremans monströser Schlagkraft. Weil sich außer einem afrikanischen Staatschef namens Joseph Désiré Mobutu niemand bereit erklärt hat, das hohe Preisgeld von zehn Millionen Dollar aufzubringen, wird der Fight in Kinshasa, der Hauptstadt von Zaire, angesetzt. Ali ist vom Austragungsort anfangs überhaupt nicht begeistert. Black Power hin oder her – was Afrika betrifft, pflegt er dieselben Klischees wie die meisten seiner weißen wie schwarzen Landsleute: primitiver Urwald mit primitiven Einwohnern. The Rumble in the Jungle, das Grollen im Dschungel. So tauft er das bevorstehende Spektakel und prophezeit allen Anhängern Foremans ein böses Ende »im Kochtopf der Kannibalen«. Mobutu und seine Minister finden Alis berühmten Sprachwitz zunächst überhaupt nicht komisch.

Joseph Désiré Mobutu, ehemals Journalist, Militäroffizier und Armeestabschef, ist seit seinem Putsch 1965 an der Macht. Seinem Land hat er eine Kampagne der afrikanischen Erneuerung, der »Authentizität«, verordnet. Miniröcke, Krawatten, christliche Namen gelten als unafrikanisch. Westliche Ideen wie Pressefreiheit und Mehrparteiensysteme ebenfalls. Die kolonialen Namen der Städte wurden afrikanisiert, aus Léopoldville ist Kinshasa geworden. Das Land und den Fluss hat Mobutu in »Zaire« umgetauft. Sich selbst nennt er nun Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu wa za Banga, was in der deutschen Übersetzung klingt wie der Anfang eines Karl May-Romans: »Der machtvolle Krieger, der dank seiner Ausdauer und seines Siegeswillens von Eroberung zu Eroberung schreitet und Feuer in seiner Spur hinterlässt.«

In den westlichen Medien spottet man über die Propagandashow eines geltungssüchtigen Autokraten. Aber hinter der Kampagne der authenticité steckt mehr: Die Unabhängigkeit des Landes liegt keine anderthalb Jahrzehnte zurück, es hat zwei Sezessionskriege und eine selbst für afrikanische Verhältnisse extrem brutale Kolonialzeit hinter sich. Rund 200 ethnische Gruppen, die von den belgischen Kolonialherren geschickt gegeneinander ausgespielt wurden (oder sich gegeneinander ausspielen ließen), vier Hauptsprachen und zahlreiche Regionalsprachen – all das ergibt reichlich Konfliktstoff. Mobutu will diesem jungen, zerrissenen Staat innerhalb weniger Jahre mit künstlicher Symbolik, Personenkult – und, wann immer nötig, Gewalt – verordnen, wofür europäische Länder Jahrhunderte brauchten: eine nationale Identität, anerkannt und respektiert von den eigenen Landsleuten und vom Rest der Welt.

Doch die ist just zu dieser Zeit mit den Folgen von Ölkrise und Watergate-Skandal beschäftigt und interessiert sich wenig für das neue Zaire. Der Boxkampf samt Rahmenprogramm soll das ändern.

Foreman trifft einige Tage nach Ali auf dem Flughafen N’djili mit kleinerem Gefolge ein. Er hat einen seiner geliebten Schäferhunde an der Leine, was sich PR-taktisch als schwerer Fehler erweist. Der Schäferhund erinnert die Kinois an die Polizeihunde der belgischen Kolonialherren. Kinshasas Sympathien liegen nun endgültig auf Seiten Alis, zumal der seine Kannibalen-Witze aus dem Programm gestrichen hat und die Öffentlichkeit mit launigen Auftritten unterhält.

Die Nachhut der amerikanischen Invasion bildet eine gefährlich überladene Maschine mit den Musikstars B. B. King und James Brown an Bord samt Bühnenanlage, Instrumenten, Groupies, reichlich Whiskey und Marihuana. Dem Kampf aller Kämpfe soll das Konzert aller Konzerte vorausgehen, ein gemeinsamer Auftritt der amerikanischen Granden des Blues und Soul mit den afrikanischen Superstars Manu Dibango, Miriam Makeba und Tabu Ley Rochereau. Über allem schwebt und wacht »der große Krieger« mit seinem Leopardenkäppchen auf dem Kopf, dessen undurchdringliches Gesicht auf tausenden Plakaten in der Stadt zu sehen ist. Alles läuft nach Mobutus Drehbuch für diesen ersten schwarzen Mega-Event: Der große afrikanische Staatschef hat gerufen, die amerikanischen Meister des Sports und der Musik, die Nachfahren der Sklaven, sind gekommen. Außerdem eine Armada weißer Sportjournalisten. Und eben Norman Mailer, Ali-Fan und Box-Fanatiker, der, von seiner Magenverstimmung genesen, ein Buch schreiben wird über diesen Kampf, über diese, wie er es nennt, »Krönung eines schwarzen Königs«.

Muhammad Ali, der Boxer, und Norman Mailer, sein Chronist, entdecken in den folgenden Wochen Kinshasa – und sehen völlig verschiedene Welten. Ali verwandelt sich innerhalb weniger Tage vom Spötter über das primitive Afrika in einen staunenden Bewunderer. Aufgewachsen im Amerika der Rassentrennung, sieht er ein Land, in dem schwarze Professoren in Hörsälen dozieren, schwarze Generäle die Armee kommandieren, schwarze Piloten Flugzeuge steuern, Schwarze auf breiten Boulevards Mercedes fahren – und zwar als Besitzer, nicht als Chauffeure. Dass Mobutu alles andere als ein Menschenfreund ist, begreift Ali natürlich auch. Statt dessen Politik zu kommentieren, stiehlt er ihm für einige Wochen einfach die Show. Alis Trainingsläufe durch die Straßen geraten zu kleinen Triumphzügen. Der Prophet des Boxens und der Black Power feiert, wie üblich, sich selbst. Und er feiert seine kongolesischen »Brüder und Schwestern«, in deren Augen er zu sehen glaubt, was er bei seinen schwarzen Landsleuten in Amerika so schmerzlich vermisst: Stolz auf die eigene Hautfarbe.

Mailer sieht ein Land, in dem schwarze Generäle das Volk kujonieren, schwarze Bonzen ihre Luxuskarossen zur Schau stellen, und ein schwarzer Diktator seinem Volk die Rückkehr zu afrikanischen Wurzeln verordnet, während er in Europa Prachtvillen aufkauft und in Kinshasa rosa Champagner trinkt und Exekutionskommandos aussendet. Angeblich sogar ins Stadion Tata Raphaël, das damals »Stadion des 20. Mai« heißt, weil Mobutu am 20. Mai 1967 seine Einheitspartei der »Revolutionären Volksbewegung« gegründet hatte.

»Welch eine Arena!«, notiert Mailer für sein Buch, das später unter dem Titel The Fight veröffentlicht wird. »Achten Sie auf die Architektur. Dies ist nicht nur ein Ort, um Menschen zu versammeln, sondern auch ein Ort, um sie zu kontrollieren und, wenn nötig, zu beseitigen.« Mobutu hat, davon ist Mailer überzeugt, wenige Monate vor dem Kampf fünfzig Kriminelle in den Gängen des Stadions exekutieren lassen. Womöglich sogar in den Umkleide-Kabinen der Boxer. Zur Abschreckung. Auf dass nicht einmal ein Taschendiebstahl das große Ereignis beeinträchtigen kann.

»Mailer?«, fragte Judex, als wir eines Samstag hinaus ins Stadion zum Aufwärmen trabten, obwohl ich das bei 30 Grad überflüssig fand. »Mailer? Kenne ich nicht.« Wir spurteten die Treppe hoch und drehten einige Runden entlang der obersten Zuschauerränge. Die Reihen boten Platz für 40 000 Zuschauer. Damals, in der Nacht des Kampfes, hatten sich darüber hinaus Zehntausende auf dem Fußballfeld um den Ring gedrängt, hatten Ali wie einen Volkshelden mit Sprechchören empfangen und waren beim Anblick Foremans schlagartig verstummt. »Weil er«, sagte Judex, immer noch mit Ehrfurcht in der Stimme, »so riesig war.« Der Coach und ich starrten auf das Feld. Drei Spieler übten Elfmeter zwischen den Sandkuhlen des Strafraums. Auf den brüchigen Betontreppen machten Catcher in hautengen Spandex-Hosen Liegestütze. Eine Mädchenmannschaft spielte auf dem Vorplatz Basketball. Männer mit gewölbtem Bizeps wuchteten Hanteln, montiert aus Autoachsen. Alle rannten, stemmten oder warfen mit jenem weihevollen Ernst im Gesicht, mit dem Angel boxte. Als sei der Sport ein Gottesdienst, der seine Gläubigen über den Gestank und Verfall der Stadt erhob. Nur mir fehlte es an der nötigen Würde. Ich keuchte und sehnte mich nach einem Kübel Eiswasser. Kinder johlten hinter mir her. Eine schweißtriefende, schwer atmende Weiße mit hochrotem Kopf – das bekamen sie nicht jeden Tag zu sehen.

»Hinrichtungen …«, sagte Judex, locker neben mir joggend, »Quatsch. Hier wurde überhaupt niemand hingerichtet. Das ist ein Sportstadion, kein Gefängnis.« Ich bekam zu wenig Luft, um einzuwenden, dass Diktatoren in der Welt schon häufiger Sportstadien in Gefängnisse verwandelt hatten. Außerdem konnte ich Judex’ vehementen Widerspruch verstehen. Es ging um seinen Club, um seine Geschichte: Die Geschichte des kleinen Trainers Judex Tshibanda Wata, der an der Stätte des historischen Triumphes des großen Muhammad Ali die erste Boxerinnen-Generation im Kongo trainierte. Dazu passten keine Massaker in Duschräumen.

Natalie, so hieß die erste Frau, der Judex Boxhandschuhe überstreifte. Das war 1995. Kinshasa trug längst den Spitznamen Kin, la poubelle, Kin, die Mülltonne. Mobutus Regime siechte dem Ende entgegen, seine Armee hatte zweimal hintereinander die Hauptstadt geplündert. In dieser Untergangsstimmung Frauen Leberhaken und Liegestütze beizubringen, hielten Judex’ Männerfreunde für höchst bedenklich. »Die haben mich für verrückt erklärt.« Frauen zu Kämpferinnen zu machen, war in ihren Augen eine Anstiftung zur Revolution. Und Revolutionen waren das Letzte, was die Stadt jetzt noch brauchte.

»Warum Frauen?«, fragte ich ihn eines Tages, als er zusammengesunken in einem Plastikstuhl das Training dirigierte. »Bist du Feminist?« Er sah mich indigniert an, wischte sich den Schweiß von der Stirn, der dieses Mal nicht vom Joggen, sondern von einem Malariaanfall stammte, und spülte drei Chinin-Tabletten hinunter. »Warte!«, sagte er und verschwand im Dunkeln der Gänge.

Ich hatte erst bei meinem dritten oder vierten Besuch begriffen, dass auch Judex in dieser geschichtsträchtigen, stinkenden Ruine wohnte. Wie und wann er hier gestrandet war, fand ich nie genau heraus. Judex besaß nicht mehr viel: außer dem verdreckten Sandsack, den Boxhandschuhen und selbst gemachten Springseilen noch eine Matratze, ein Moskitonetz, einen Kleiderkoffer, einen Plastikstuhl und einen Bildband über die Geschichte des internationalen Amateurboxens, mit dem er nun aus dem Dunkeln zurückkehrte.

Zwei Seiten hatten Eselsohren. Die eine zeigte ein Foto von Judex Anfang der achtziger Jahre bei einem Trainer-Lehrgang im Stadion Tata Raphaël. Damals waren die Wände der Halle noch türkisgrün, die Turnleiter hatte noch alle Sprossen, Judex mehr Haare auf dem Kopf und genügend Geld, um sich eine Wohnung im Stadtteil Ngiri-Ngiri zu leisten.

Die zweite Seite zeigte zwei weiße Damen mit hochgestecktem Haar, gestärkten Blusen und langen Röcken, die sich mit ernstem Blick ihre gepolsterten Fäuste entgegenreckten. »Frauenboxkampf, St. Louis, 1904« stand darunter. »Als ich das gesehen habe«, sagte Judex, »dachte ich: Warum trainierst du nicht mal die Damen?« Was die Amerikaner der Welt vormachten, konnte so verkehrt nicht sein.

Natalie war inzwischen abgesprungen, auch andere Boxerinnen hatten nach kurzer Zeit wieder aufgegeben. Andere waren geblieben. Angel, die, wie sie sagte, »einfach Lust zum Kämpfen« hatte. Affi Ambatie, Halbmittelgewichtlerin mit guter Schlaghand und schwankendem Trainingseifer. Rosette Ndongala, Landesmeisterin im Federgewicht und beste Technikerin im Team, die sich durch nichts vom Boxen abbringen ließ. Schon gar nicht durch eine Schwangerschaft, weil sie, wie Judex beiläufig erklärte, »an Männern grundsätzlich nicht interessiert« sei. Dann waren da noch Helen Mukadi, Landesmeisterin im Leichtgewicht, und Wuivine Tshidibi, Halbschwergewichtlerin mit begrenztem Talent und reichlich Wut im Bauch, Ex-Gattin eines Boxers, der offenbar auch zuhause zugeschlagen hatte.

Sie alle waren femmes libres, was in Kinshasa sowohl Prostituierte meinte wie auch unverheiratete und geschiedene, allein erziehende und kinderlose Frauen. Frauen, wie man sie überall in der Stadt fand, seit nicht nur Staat und formelle Wirtschaft, sondern auch traditionelle Familienstrukturen zerbrochen waren. Eine femme libre wurde verachtet. Sie bildete nicht mehr den Faden, der zwei Familien miteinander verband. Und sie wurde beneidet, sie war frei von Sitten und Zwängen, frei auch von dem ungeschriebenen Gesetz, dass eine Frau keine Faust ballen darf.

Das erklärte noch nicht, warum Angel und die anderen einen Sport ausgewählt hatten, der all das bereithielt, was sie in ihrem täglichen Leben auch so schon zur Genüge erfuhren: körperliche Schinderei, demütigende Niederlagen und die Gefahr, verletzt zu werden.

Aber Angel und die anderen Frauen hatten keine Angst. In den Augen der Männer war vor jedem Kampf, vor jeder Sparringrunde mehr Furcht zu sehen als in den Augen der Frauen. Anders als die Männer hatten sie längst lernen müssen, Schläge einzustecken. Was der Hieb eines Mannes anrichten konnte, wussten sie. Gegen eine Frau in den Ring zu steigen, erschien vergleichsweise harmlos. Und die Verheißung eines jeden Kampfes erschien vergleichsweise groß: wenigstens ein paar Mal im Leben zur Siegerin ausgerufen werden und Preisgeld kassieren. Mochte es auch noch so mager sein.

Also übten sie bei Judex Cross und Haken, Angriff, Deckung. Schulmäßig. So sehr Judex Ali verehrte – dessen unorthodoxen Kampfstil mit provozierend tief hängenden Fäusten, lässigem Tänzeln und losem Mundwerk duldete der Coach bei keinem seiner Schützlinge. »Fäuste bleiben oben«, lautete das unerbittliche Kommando, und mochten die Arme nach zwei Stunden Training noch so schwer sein. Geredet wurde ohnehin nicht. Selbst beim Schattenboxen verfielen die Kämpferinnen in ein hochkonzentriertes Schweigen, als hätte die Welt um sie herum aufgehört zu existieren.

Am nächsten Morgen holte diese Welt sie mit aller Härte wieder ein. Um fünf, sechs Uhr begann für die meisten Frauen der alltägliche Nahkampf in der Stadt, um ein paar Francs zusammenzukratzen. Affi verkaufte Maniok auf dem Markt. Angel führte einen mobilen Schönheitssalon und flocht ihren Kundinnen die Haare, wo immer der Schatten gerade Platz für zwei Hocker bot. Rosette gewann manchmal ein paar Dollar, einen Sack Reis oder einen Karton Trockenmilch bei einem der Schaukämpfe, die Judex für seine Boxerinnen in den teuren Hotels zum Amüsement der Reichen organisierte. Und wenn wieder eine mit leerem Magen zum Training kam, zückte er ein paar Scheine für eine Portion Fastfood à la Kinshasa: Maniokpaste mit Pili-Pili oder ein baguette coca, Weißbrot, dessen Teig in Cola getunkt wurde. Wie man mit einer solchen Mahlzeit am Tag zwei Stunden Training durchhielt, blieb mir ein Rätsel. Boxing par miracle, nannten sie es. Boxen durch ein Wunder. Es war eine Metapher für das Überleben in dieser Stadt. Nous vivons mystérieusement, sagten die Kinois. »Wir leben auf mysteriöse Weise.«

Judex hatte als Einziger im Box-Club einen regulären Job. Er arbeitete bei der Stadtverwaltung. Sein Gehalt bekam er nur selten ausgezahlt, was nicht ganz so dramatisch war, weil seine Arbeit darin bestand, bei den Marktfrauen Steuern einzutreiben. Da ließ sich der eine oder andere Schein abzweigen. »Spenden für den Club«, sagte Judex.

Se débrouiller nennt man das bis heute in Kinshasa. Sich irgendwie durchmogeln, sich selbst helfen. Se débrouiller steht für den Minister, der einen Teil des Budgets auf sein ausländisches Konto umlenkt; den Beamten, der ohne enveloppe, ohne Umschlag mit Dollarnoten keine Genehmigung ausstellt; die Polizistin, die bei Autofahrern ein paar Scheine – im Volksmund »Zucker« genannt – für imaginäre Verkehrsverstöße kassiert; die Poliokrüppel, die am Fährhafen ein florierendes, mafiotisches Import-Export-Business führen. Se débrouiller meint den Lehrer, der Zeugnisse gegen Naturalien verkauft, es meint die Eltern, die mangels Schulgeld ihre Töchter auffordern, sich einen zahlenden Männerfreund zuzulegen. Es meint die Nachbarinnen, die einander Mikrokredite gewähren oder Müllhalden in Gemüsebeete umwandeln; die Studenten, die vor jeder Behörde mit altersschwachem Kopierer und Autobatterien »Copy Shops« eröffneten.

Se débrouiller ist eine Überlebenstechnik aus Korruption, Kleinkriminalität, Improvisationstalent, Solidarität, Empathie und moralischem Verfall. Jede neue Krise, jedes neue Stadium des Niedergangs bringt neue Kreativität hervor und verschlingt gleichzeitig die Kraft, sich ein Leben jenseits des täglichen Ausnahmezustandes vorzustellen. Ein ständiges Pendeln zwischen Hyperaktivität und totaler Erschöpfung. Ich, die ich dieses Leben ja nur beobachtete, war an manchen Abenden vom Zuschauen so erschöpft, dass ich in meiner Unterkunft (die katholische Herberge St. Anne – sauber, billig, offen auch für Nicht-Gläubige und ausgestattet mit einer Bierbar) nicht wusste, ob ich heulen oder mich besaufen sollte.

Judex wohnte nicht allein in seiner feuchten Ecke in den Katakomben des Stadions. Boxer, die gerade keine Bleibe hatten, schliefen manchmal monatelang auf dem Tranpolin, und vor einiger Zeit hatte sich Angel bei ihm einquartiert, als sie ohne Dach über dem Kopf und mit dem ersten Kind auf dem Rücken auf der Straße stand. Dreißig Dollar im Monat verlangte der Stadionverwalter für zehn Quadratmeter in Alis ehemaliger Umkleidekabine, abgetrennt durch einen Vorhang von den Nachbarsfamilien. Jedenfalls behauptete Judex, dass es sich bei seiner Behausung um Alis Kabine handelte. Kein Strom, keine Fenster, kein Wasser. Dafür eine bröckelnde Decke sowie ein exklusiver Blick auf das zertrümmerte Pissoir, in dem sich »der Größte« in jener Oktobernacht 1974 vermutlich erleichtert hatte, bevor er in Erwartung der fürchterlichsten Prügel seines Lebens in die Arena hinausging.

Ich wusste bei meinen Besuchen im Box-Club nie, welche Szene ich mir vorstellen sollte: Ali, wie er sich vor dem Kampf die Fäuste bandagieren lässt und seine bedrückten Betreuer aufmuntert, die ihren Mann schon in der ersten Runde bewusstlos am Boden sehen. Oder zusammengepferchte Häftlinge, denen die Erschießung bevorsteht.

Mich ließ Mailers Geschichte über die angebliche Massenhinrichtung im Stadion nicht los. Sie passte durchaus zu Mobutus Strategie der sporadischen, aber unberechenbaren Brutalität. Seine Todesschwadronen, »Eulen« genannt, schwärmten in der Regel nachts aus, und nicht alle ihre Opfer hatten das Glück, sofort erschossen zu werden.

Andererseits passte die Geschichte zu gut in Mailers Klischee vom Kongo als »Herz der Finsternis«.

Die politische Vergangenheit des Stadions Tata Raphaël zu recherchieren, gestaltete sich sehr viel schwieriger als die Suche nach Alis Spuren. Kinshasa war und ist ein Ort voller Gerüchte, Mythen, Komödien, persönlicher Dramen und Verschwörungstheorien. Was ich suchte, war ein Ort des kollektiven Gedächtnisses, ein Ort der Dokumentation, der Aufarbeitung des Vergangenen. Der Stadtplan gab einen Hinweis: das Nationalarchiv in der Avenue de la Justice unweit des Kongo-Flusses im Stadtteil Gombe. Sein Leiter rühmte sich, eine Koryphäe in Sachen Stadtgeschichte zu sein. Und er war mit seinen 66 Jahren alt genug, um den Boxkampf, den großen Moment Kinshasas samt Vorgeschichte, genau erinnern zu können.

»Ali gegen Joe Frazier«, rief Professor Antoine Lumenganeso. »Das war vielleicht ein Theater!«

»Foreman«, sagte ich. »Herr Professor, es war George Foreman.«

»Egal. Jedenfalls der mit diesem Schäferhund. Das mochten die Leute nicht.«

Professor Antoine Lumenganeso hatte in seinen 27 Dienstjahren in den Archives Nationales die Konturen eines seiner verbeulten Aktenschränke angenommen – klein und sehr kompakt. Meine Fragen nach Mobutus Exekutionskommandos ignorierte der Professor zunächst und führte mich zu den Prunkstücken seines Hauses: eine Kollektion von Nationalflaggen und vergilbten Porträts aller kongolesischen Staats-und Regierungschefs sowie der belgischen Kolonialherren. Geschichtsforschung bestand für Professor Lumenganeso in der chronologischen Aufzählung der Mächtigen, weswegen Mörder und Ermordete in seinem Archiv friedlich und kommentarlos nebeneinander an der Wand hingen. Die blässlichen belgischen Könige, allen voran Leopold II., der sich den Kongo einst als seinen privaten Besitz und Gulag gesichert hatte. Dann die kongolesischen Staats- und Regierungschefs: Patrice Lumumba mit Kinnbärtchen und notorisch bitterer Miene, als ahnte er die Katastrophen, die seinem Volk noch bevorstanden. Mobutu, Lumumbas Totengräber, mit Leopardenmütze und schmollendem Karpfenmund. Der feiste Laurent-Désiré Kabila, der 1997 Mobutu gestürzt und ins Exil getrieben hatte. Der ewig schläfrig wirkende Joseph Kabila, Nachfolger seines 2001 unter mysteriösen Umständen erschossenen Vaters.

In einem staubigen Büro hinter der Ahnengalerie saßen Lumenganesos Archivare. Sie verneigten sich devot, aber unendlich vorsichtig vor ihrem Chef, als könnte eine schnelle Bewegung die verblichenen, dünnen Aktenordner auf ihren Schreibtischen aufschrecken. Fand sich hier etwas über die politische Geschichte des Stadions Tata Raphaël, über Häftlinge in den Stadiongängen?

Im Gegensatz zu Judex interessierte sich Antoine Lumenganeso wenig für die Geschichte des Sports in seiner Stadt. Einzige Ausnahme war ein Fußballmatch. Am 4. Januar 1959 spielte im Stadion Tata Raphaël, das damals noch nicht Tata Raphaël und auch nicht »Stadion des 20. Mai«, sondern »Stade Roi Baudouin« (nach dem belgischen König) hieß, die Heimmannschaft vom AS Victoria Club gegen den Lokalrivalen Mikado. AS, so meinte der Professor zu erinnern, verlor – »2 : 3, vielleicht war’s auch 1:3.« Zehntausende frustrierte Anhänger strömten auf die Straßen. Dort stießen sie auf Teilnehmer einer Kundgebung für die Unabhängigkeit, die von der Kolonialverwaltung kurzfristig verboten worden war.

So begann der erste gewalttätige Aufruhr in der Hauptstadt. Kongolesen demonstrierten, randalierten und plünderten schließlich die Geschäfte in den Vierteln der Weißen. Vier Tage und Nächte lang entlud sich die Wut über Kolonialherren, die Streiks in den Kupferminen im Hinterland brutal niederschlugen, Schwarzen das Recht auf Grundbesitz und staatliche Schulbildung verweigerten und laut darüber nachdachten, das Land nicht etwa in die Unabhängigkeit zu entlassen, sondern in eine »belgisch-kongolesische Konföderation« zu führen. Und zwar frühestens 1985.

Mindestens 200 Kongolesen wurden während des Aufruhrs erschossen. Léopoldville stand unter Schock, und in Brüssel verstand man die Welt nicht mehr. Belgien, das bis in die vierziger Jahre eines der grausamsten Kolonialregimes führte, hatte sich stets eingeredet, »gütiger Herr« über »zufriedene Untertanen« zu sein, die im Gegensatz zu den Subjekten britischer und französischer Kolonien keinerlei Grund zu Klagen hätten. Wenige Tage nach dem Blutbad versprach König Baudouin das baldige Ende der Kolonialherrschaft. Anderthalb Jahre später, am 30. Juni 1960, wurde der Kongo unabhängig.

Im kongolesischen Nationalarchiv

Und wenn Victoria Club an diesem Januartag 1959 nicht gespielt hätte? Professor Lumenganeso runzelte die Stirn. Hypothetische Fragen behagten ihm nicht. Er war Historiker, er hielt sich an Daten, nicht an Spekulationen. Auch die Behauptung, Mobutu habe vor dem Boxkampf im Stadion Häftlinge hinrichten lassen, sei eben nur das: eine Spekulation. Im Stadion Tata Raphaël sei niemand erschossen worden, das könne er beschwören. Man müsse, sagte der Professor, nicht alles Schlechte glauben, was über Mobutu gesagt würde.

Am Morgen des 30. Oktober 1974 redet auch keiner mehr schlecht über den Diktator. Ali hat die Sensation geschafft, einen weitaus stärkeren, jüngeren Gegner nicht nur zu besiegen, sondern auch k.o. zu schlagen. Ein taktischer Genie - streich, ein Kampf, der in die Sportgeschichte eingehen wird. Mobutus Investition von zehn Millionen Dollar in das Preisgeld hat sich gelohnt – zumindest kurzfristig. Die Welt weiß jetzt, wo Zaire liegt. Die amerikanische Presse feiert Mobutu als starken Mann Afrikas und Bündnispartner im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion. Afrikanische Staatschefs feiern ihn als Kämpfer gegen den Neo-Kolonialismus. Die Kinois bejubeln ihn, weil sie Zaire auf dem Weg zum Modellstaat und ihre Stadt auf dem Weg zur Metropole wähnen.

Tatsächlich aber ist dies der Anfang vom Ende. Mobutu hat seinem Land nicht nur neue Kleider und Namen verordnet. Er hat zum ersten Mal auch Fabriken und Plantagen belgischer Unternehmer enteignet und an seine wirtschaftlich unfähigen Funktionäre übergeben. Firmenvermögen fließt nun auf private Konten, der Import von Mercedes-Limousinen erreicht 1974, dem Jahr des Boxkampfes, einen afrikanischen Rekord, die Produktion auf den Plantagen bricht ein. Was aussieht wie ein Akt später Kompensation für erlittenes Unrecht, entpuppt sich als Präzedenzfall für Mobutus Machtsystem der kommenden Jahrzehnte: Wer loyal bleibt, erhält Zugang zu den staatlichen Schatztruhen, zu einem riesigen Büffet, um dessen Nachschub sich niemand mehr kümmert. Es ist ein System mit eingebauter Selbstzerstörung. Der Kreis derer, die um der politischen Ruhe willen gekauft werden müssen, wird über die Jahre immer größer – bis der Staat ausgeschlachtet ist wie ein gestrandetes Schiffswrack.