Das Flüstern der Ostsee: 10 Psychothriller Kurzgeschichten
Kurze Ostsee Thriller mit Gänsehautfaktor
Mirko Kukuk
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[email protected] Unterstützung bei Text/Bild: GeminiDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
Inhalt
Titelseite
Impressum
Einleitung
1. Die Entführung der Kinder
2. Das Echo der Fjorde
3. Das Flüstern des Bernsteinwaldes
4. Die Düne der Schatten
5. Die Kreidefelsen-Illusion
6. Das Echo der Salzwiesen
7. Die unsichtbare Grenze
8. Die Sanduhr
9. Das Bernsteinzimmer
10. Die Echo-App
Nachwort:
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Einleitung
Die Ostsee. Ein Ort der Schönheit, der Ruhe und der Sehnsucht. Ihre sanften Wellen, der goldene Sand und die malerischen Küstenstädte versprechen Erholung und Frieden. Doch unter der scheinbar idyllischen Oberfläche lauert etwas Dunkles. Ein Flüstern, das der Wind über die Dünen trägt. Ein Schatten, der in den alten Fischerdörfern verborgen liegt.
In dieser Sammlung von Psychothriller Kurzgeschichten verschwimmen die Grenzen zwischen der rauen, unberührten Natur und den Abgründen der menschlichen Psyche. Hier, wo die Kreidefelsen wie Mahnmale aus dem Meer ragen und das Moor die Geheimnisse der Vergangenheit hütet, werden die Protagonisten mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert. Sie sind nicht allein. Unsichtbare Kräfte manipulieren sie. Alte Legenden werden zur grausamen Realität, und das, was als Zufluchtsort begann, wird zu einem Gefängnis aus Misstrauen und Paranoia.
Jede der zehn Geschichten ist eine Einladung, in einen Strudel aus Täuschung, Verzweiflung und Verrat gezogen zu werden. Verlassen Sie sich auf nichts, was Sie sehen, und zweifeln Sie an allem, was Sie zu hören glauben. Denn in diesen spannenden Erzählungen ist der größte Feind nicht das Meer, sondern das, was tief im eigenen Verstand verborgen liegt.
Sind Sie bereit, sich den Dämonen der Ostsee zu stellen?
1. Die Entführung der Kinder
Kapitel 1. Die Ankunft
Die Luft, die von der Ostsee herüberwehte, roch nicht einfach nur nach Salz, sondern nach einem Neuanfang. Nach Wochen voller Baulärm, Termindruck und der bleiernen Stille, die sich zwischen ihn und Lena gelegt hatte, fühlte sich der Wind vom Timmendorfer Strand für Aaron Keller wie eine Erlösung an. Er parkte den Kombi, die Reifen knirschten auf dem Kies der Ferienwohnung. Ein Geräusch, so schlicht, so frei von jeglichem Stress, dass es wie eine Melodie in seinen Ohren klang. Endlich, dachte er, ein paar Tage ohne das ständige Klingeln des Handys, ohne die unsichtbare Last auf seinen Schultern, die ihn zu einem stummen Schatten seiner selbst gemacht hatte. Die Anspannung fiel mit jedem Atemzug von ihm ab, und er spürte, wie die ersten, zarten Momente des Glücks seinen Geist durchdrangen.
Lena stieg aus, schob ihre Sonnenbrille auf die Nase und atmete die salzige Luft tief ein. Ihre Augen, die monatelang von Sorgen umwölkt gewesen waren, funkelten plötzlich wieder. Ein unbeschwertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Siehst du? Das ist besser als jede Therapie“, sagte sie, während sie eine große Strandtasche schulterte. Ihr Blick traf seinen, und zum ersten Mal seit Langem sah er nicht die Kälte der Enttäuschung, sondern einen Hauch von Hoffnung. Er wollte diese Hoffnung nicht enttäuschen.
Die Kinder, Paula und Lukas, stürmten aus dem Auto, als wären sie aus Katapulten geschossen worden. Paula, mit ihren acht Jahren fast schon zu klug für ihr Alter, steckte sofort ihre Finger in den weichen Sand, der das Grundstück säumte. „Mama, riech mal! Das riecht nach echtem Urlaub!“ Lukas, ihr sechsjähriger Wirbelwind, kickte einen Kieselstein in Richtung der Holzveranda. Das Haus selbst schien sie mit offenen Armen zu empfangen: hell, geräumig, mit einem atemberaubenden Blick auf die Ostsee. Im Wohnzimmer, in dem ein großer Holztisch stand, darauf eine Vase mit frischen Blumen, stellten sie die Koffer ab. Aaron öffnete die Terrassentür, und das Rauschen der Wellen schwappte herein, füllte den Raum mit einem friedlichen Geräusch.
Die folgenden Tage flossen wie Sand durch ihre Hände. Morgens, wenn die Sonne noch tief stand, gingen sie gemeinsam zum Strand. Aaron und Lukas bauten gewaltige Sandburgen mit Wassergräben, während Lena und Paula Muscheln sammelten, als wären sie die wertvollsten Schätze der Welt. Die Kinder kicherten und planschten im kühlen Wasser, ihre Gesichter mit Sonnencreme verschmiert und von breiten Grinsen verziert.
Doch die Idylle hatte feine Risse. Abends, wenn die Kinder im Bett waren, holte Aaron heimlich sein Handy hervor. Er sagte, er müsse nur kurz seine E-Mails checken. Lena sah ihn an, und in ihren Augen lag eine scharfe Enttäuschung, die ihn schmerzte. „Lass es einfach liegen, Aaron. Es ist Urlaub. Das kann bis nächste Woche warten.“
Einmal, als sie in einem kleinen Fischrestaurant am Hafen aßen, bemerkte Lena einen alten Mann. „Sieh mal, der schaut uns die ganze Zeit an.“ Aaron drehte sich um. Am Ende des Stegs stand ein Fischer mit einem wettergegerbten Gesicht. Eine zerschlissene Mütze verdeckte fast seine Augen, die direkt auf Aarons Familie gerichtet schienen. Ein unangenehmes Gefühl überkam Aaron, als hätte er etwas Falsches getan. Doch als er erneut hinsah, war der Mann verschwunden. „Ein Spinner“, murmelte Aaron und versuchte, die seltsame Begegnung zu vergessen, aber das Gefühl des Unbehagens blieb.
Am vierten Tag war die Sonne besonders heiß. Die Kellers breiteten ihre große Decke an einem belebten Strandabschnitt aus. Lukas spielte mit einem Eimer und einer Schaufel am Rand des Wassers, nur wenige Meter entfernt. Paula war damit beschäftigt, einen Wassergraben zu graben. Aaron saß auf der Decke, sein Handy in der Hand. Er wollte nur schnell die Nachrichten lesen. Ein Artikel über ein neues Bauprojekt einer konkurrierenden Firma fesselte ihn. Er tauchte ein in die Details, vergaß die Zeit, den Strand, und alles, was ihm in diesem Moment wichtig sein sollte.
Lena hatte sich eine Flasche Wasser geholt. Als sie zurückkam, sah sie, wie Aaron in seinem Handy versunken war, und atmete genervt aus. Sie schaute zu den Kindern, die nur ein paar Meter entfernt waren. „Sie sind ja gleich da“, dachte sie. Sie packte ihre Sonnencreme aus, um sich nachzucremen. Es waren nur wenige Sekunden.
Als sie wieder aufblickte, traf der Schock sie wie ein kalter Schlag. Der Sand war leer. Lukas' Eimer und seine kleine Schaufel lagen verlassen am Rand der Wellen. Paulas gegrabener Graben war halb mit Wasser gefüllt. Aber von den Kindern war keine Spur. Lena sprang auf. „Aaron! Aaron, wo sind die Kinder?!“ Aaron, aus seinen Gedanken gerissen, blickte auf. Sein Herz raste. „Sie … sie waren doch gerade noch da.“ Panik, die wie ein Monster in seinem Magen wuchs, lähmte ihn. Er rief nach ihnen, doch seine Stimme war belegt, kaum hörbar.
Die glückliche Familienidylle war in einem Bruchteil einer Sekunde zerbrochen. Zurück blieben nur die Spuren ihrer Füße im Sand und die leeren Spielzeuge, die wie ein Mahnmal für die Sorglosigkeit der Eltern dastanden.
Kapitel 2. Der Vorfall
Die anfängliche Panik verwandelte sich in eine qualvolle, lähmende Leere. Die lauten Schreie von Aaron und Lena, die die Namen ihrer Kinder in den Wind brüllten, wurden von der Masse der Strandbesucher geschluckt. Unzählige Blicke, die zunächst neugierig, dann besorgt und schließlich mitfühlend waren, trafen auf das Ehepaar, aber niemand schien wirklich zu helfen. Aaron rannte, stolperte, durchwühlte jede Strandmuschel, fragte jeden Badegast, aber er sah nur schüttelnde Köpfe. Lena, die Tränen liefen über ihr Gesicht, versuchte vergeblich, sich an die letzten Momente zu erinnern. Was hatte sie falsch gemacht? Wie konnte sie nur für Sekunden abgelenkt sein? Ihre Gedanken waren ein verworrenes Knäuel aus Vorwürfen und Verzweiflung.
Aaron fand Lukas' Eimer, nur wenige Meter vom Wasser entfernt, halb mit Sand gefüllt. Es war ein so unschuldiges Bild, dass es ihm das Herz zerbrach. Er umklammerte den kleinen blauen Plastikeimer, als wäre es das Letzte, was ihm von seinem Sohn geblieben war. Lena sank in den Sand, eine Hand vor dem Mund, und schüttelte immer wieder den Kopf. „Das kann nicht wahr sein. Sie sind doch nur … sie sind doch nur spielen gegangen.“ Doch ihr Blick, der über den leeren Strand wanderte, sagte etwas anderes.
Erst als die Sonne langsam unterging und der Strand sich leerte, rief Aaron die Polizei. Seine Hände zitterten so sehr, dass er die Nummer kaum wählen konnte. Am Telefon klang seine Stimme rau und belegt, seine Worte waren ein Wirrwarr aus Panik, Scham und Verzweiflung. Wenige Minuten später traf ein Streifenwagen mit Blaulicht ein, eine Sirene, die die Stille der Abenddämmerung zerschnitt.
Kommissar Mertens, ein Mann mit einem Gesicht, das aussah wie eine zerlesene Landkarte, stieg aus. Seine Augen, die zu viel gesehen hatten, um noch überrascht zu sein, musterten Aaron und Lena, als wären sie Figuren in einem ungelösten Rätsel. Er hörte ihnen ruhig zu, unterbrach sie nicht, während sie abwechselnd ihre Geschichte erzählten. Dann trennte er sie und sprach mit jedem einzeln. Er fragte Aaron nach seiner Arbeit, nach dem Grund, warum er die letzten Tage in seinem Handy versunken war. „Haben Sie Feinde, Herr Keller? Neider in Ihrer Firma? Hat jemand gedroht, Sie zu ruinieren?“ Aaron fühlte sich nackt, bloßgestellt. Er war doch nur ein Vater, der nach seinen Kindern suchte, warum fühlte er sich wie ein Verdächtiger?
Lenas Geschichte war die einer Frau, die sich vernachlässigt fühlte. Mertens fragte sie nach den Problemen in ihrer Ehe, nach den Finanzen, und ob sie Aaron die ständige Ablenkung verziehen hätte. Die Fragen trafen wie Hammerschläge. Sie fühlte sich von ihm verraten, die intimsten Details ihres Lebens wurden offengelegt, nicht um die Kinder zu finden, sondern um eine Schuldige zu finden.
Der Verdacht Mertens’ war spürbar. Er glaubte nicht an einen gewöhnlichen Entführungsfall, sondern an eine Geschichte von Untreue und finanziellen Problemen. Er notierte ihre Streits und die offene Distanz zwischen ihnen. Aaron und Lena bemerkten, wie ihre Not und ihr Schmerz als Beweise für ihre Schuld interpretiert wurden. Während die Polizei ihre Suche am Strand fortsetzte, blieben Aaron und Lena allein in ihrer Ferienwohnung zurück. Die Stille im Haus, das Fehlen des kindlichen Lachens, war unerträglich.
Aaron starrte auf die Bilder der Kinder auf seinem Handy. Lena lief ziellos von einem Raum in den anderen, suchte nach Spuren, nach irgendeinem Anzeichen. Sie fanden nichts, außer einem alten, zerlesenen Roman auf Paulas Nachttisch. Ein Buch über ein kleines Mädchen, das am Strand nach einem Piratenschatz sucht. Lena spürte einen Stich, als sie es sah. Doch das hier war kein Märchen.
Am nächsten Morgen wurden die Gesichter von Paula und Lukas in den lokalen Medien und im Internet verbreitet. Die Gerüchteküche brodelte. Jeder schien seine eigene Theorie zu haben. Die Kellers waren plötzlich nicht mehr Opfer, sondern nur noch Verdächtige. Aaron und Lena saßen in ihrer Ferienwohnung, umgeben von der beklemmenden Stille. Sie sahen sich an, aber in ihren Augen spiegelte sich nicht mehr nur der Schmerz, sondern auch das gegenseitige Misstrauen, das die Polizei zwischen sie getrieben hatte. Jeder von ihnen hielt die eigene Geschichte für die Wahrheit, während der andere die Schuld tragen sollte. Wer von ihnen hatte die Kinder wirklich im Stich gelassen? Die Fragen waren unausgesprochen, aber sie lagen wie eine unheilvolle Wolke über ihnen.
Kapitel 3. Der Verdacht
Die Presse war wie eine Geier-Meute. Sie kreisten unerbittlich um die Ferienwohnung, die zu einem Gefängnis aus Schmerz und Stille geworden war. Die Gesichter von Paula und Lukas, unschuldig lächelnd auf den Fahndungsplakaten, waren allgegenwärtig und verstärkten das Gefühl der Hilflosigkeit. Die anfängliche Welle der Unterstützung war einer Flut aus Misstrauen gewichen. Kommissar Mertens' unerbittliche Fragen hatten genau das bewirkt, was er beabsichtigt hatte: Sie hatten die Risse in der Fassade der Familie Keller zu tiefen Gräben gemacht.
Am nächsten Tag wurden Aaron und Lena getrennt voneinander ins Polizeirevier in Lübeck gebracht. Das kleine, unscheinbare Büro von Kommissar Mertens fühlte sich an wie ein Verhörraum aus einem schlechten Film. Der Geruch von altem Kaffee und Papier lag schwer in der Luft. Mertens saß auf der anderen Seite des Tisches, die Hände vor dem Bauch verschränkt, seine Augen waren kalt und forschend.
Aaron war der Erste. Mertens’ Fragen waren keine freundlichen Erkundigungen mehr, sondern gezielte Angriffe auf seine Glaubwürdigkeit. „Ihre Frau sagt, Sie waren in den letzten Monaten ständig mit der Arbeit beschäftigt. Dass Sie kaum zu Hause waren.“ „Das stimmt, aber …“ „Sie haben ein großes Bauprojekt in Hamburg geleitet, Herr Keller. Ein Projekt, das, wie ich höre, unter enormem Zeitdruck stand. Ein Scheitern hätte erhebliche finanzielle Konsequenzen gehabt.“ Aaron spürte, wie die Schlinge sich zuzog. „Was hat das mit meinen Kindern zu tun?“ „Vielleicht alles“, entgegnete Mertens ruhig. „Ihre Frau wirkte am Boden zerstört, als sie sagte, die Kinder hätten Sie kaum noch gesehen.“ Aaron versuchte, seine Wut zu kontrollieren. „Das ist absurd! Jeder hat mal Probleme in der Ehe! Aber unsere Kinder sind unser Ein und Alles!“ Mertens lehnte sich zurück, die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst. „Hat Ihre Frau das auch gesagt? Sie hat sich über Ihre Abwesenheit beschwert. Sie hat angedeutet, dass Sie emotional unnahbar waren.“ Mertens legte ein Blatt Papier auf den Tisch, auf dem handschriftlich Notizen standen. „Sie hat die finanzielle Belastung erwähnt. Die ständigen Auseinandersetzungen darüber, dass das Geld, das Sie angeblich so hart verdienen, nicht für eine Familie ausreicht, die Sie kaum sehen.“ Aaron spürte einen scharfen Stich, wie ein Dolch, der sich in seine Brust bohrte. Lena hatte ihm das oft vorgeworfen. Aber das hier war etwas anderes. Das war Verrat. Mertens nutzte ihre privaten Informationen, um einen Keil zwischen sie zu treiben.
Als Aaron in den Flur entlassen wurde, sah er Lena, die gerade in Mertens’ Büro geführt wurde. Ihre Augen waren rot und geschwollen, aber sie wich seinem Blick aus. Eine unsichtbare Mauer hatte sich zwischen ihnen aufgebaut.
Mertens' Befragung von Lena war subtiler, aber nicht weniger zerstörerisch. „Ihr Mann hat uns bestätigt, dass Ihre Ehe Schwierigkeiten hatte. Er sagt, es gab ständige Streits wegen des Geldes und seiner Arbeit.“ Lena spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Aaron hatte das gesagt? Er hatte ihre privatesten Konflikte mit der Polizei geteilt? „Das waren normale Probleme. Jeder hat die.“ „Aber inwiefern waren diese Probleme normal, wenn Sie Ihrem Mann vorwerfen, die Kinder im Stich zu lassen? Wenn Sie sich über seine ständige Abwesenheit beschweren? Oder, wie Ihr Mann es ausdrückt, über Ihr Misstrauen ihm gegenüber?“ Lena schnappte nach Luft. „Wie können Sie so etwas sagen?! Das ist abscheulich! Wir lieben unsere Kinder!“ Ihre Stimme brach.
Die Tränen, die sie so lange unterdrückt hatte, schossen hervor. „Eine verzweifelte Mutter greift manchmal zu verzweifelten Mitteln“, sagte Mertens mit einer unerwarteten Ruhe. „Vielleicht wollten Sie ihn zwingen, sich endlich zwischen seiner Arbeit und seiner Familie zu entscheiden? Haben Sie sich eine Geschichte ausgedacht, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken?“ Mertens schien so überzeugt von seiner Theorie zu sein, dass Lena fast daran zweifelte, was sie selbst erlebt hatte.
Als sie aus dem Büro kam, stand Aaron im Flur. Ihre Augen trafen sich für einen Moment, aber das Vertrauen, das sie einst geteilt hatten, war wie ein zerbrochener Spiegel. Mertens' Fragen hatten sie gegeneinander ausgespielt. Aaron sah die Anschuldigung in ihren Augen, dass er sie schlechtgeredet hatte. Und Lena sah in seinen Augen das Entsetzen, dass sie ihm die Schuld geben würde.
Sie kehrten in ihre Ferienwohnung zurück, aber das Schweigen war jetzt von einer eisigen Kälte durchdrungen. Jedes Geräusch, jeder Atemzug fühlte sich wie eine Anklage an. Mertens hatte eine Saat des Zweifels in ihnen gesät, die nun zu einem Baum des Misstrauens heranwuchs.
Am Abend erhielt Lena eine anonyme Nachricht auf ihrem Handy. Es war eine unbekannte Nummer. Sie zögerte, sie zu öffnen. Dann tat sie es doch. Sie fand ein Foto. Darauf waren Paula und Lukas. Sie waren nicht am Strand. Sie spielten in einer dunklen, engen Gasse. Ihre Gesichter waren blass, aber sie schienen in Sicherheit zu sein. Unter dem Foto stand eine kurze, beunruhigende Nachricht: „Ihr habt etwas Wichtiges vergessen.“
Ein Schrei entfuhr Lena. Sie sprang auf und rannte zu Aaron. Das Eis, das sich zwischen ihnen gebildet hatte, schmolz in diesem Moment. Sie hielt ihm das Handy hin. „Aaron! Sie sind am Leben! Schau, sie leben!“ Aaron riss ihr das Handy aus der Hand und starrte auf das Bild. Die Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte, flossen nun ungehemmt. Die Kinder waren am Leben. Die Gasse auf dem Bild war schmutzig, voller Mülltonnen und Graffitis. Aaron versuchte, sich zu erinnern, wo in der Nähe des Timmendorfer Strandes eine solche Gasse sein könnte.
„Wir dürfen es der Polizei nicht sagen“, sagte Lena mit fester Stimme. „Mertens würde denken, dass wir das selbst inszeniert haben. Oder dass wir es für einen Trick halten. Wir müssen selbst herausfinden, was wir 'vergessen' haben.“ Aaron nickte. Das Bild der Kinder gab ihnen neue Hoffnung, aber es war eine Hoffnung, die sie mit einem tiefen Misstrauen gegenüber der Welt außerhalb ihrer kleinen Familie erkauften. Ein Misstrauen, das sie beide tief in sich trugen, nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen die schmerzliche, ungelöste Vergangenheit, die ihnen so plötzlich ins Gesicht geschleudert wurde. Wer auch immer das Bild geschickt hatte, kannte nicht nur ihre Kinder. Er kannte ihre dunkelsten Geheimnisse. Die Jagd auf ihre Vergangenheit hatte soeben erst begonnen.
Kapitel 4. Das Geheimnis
Die Nachricht auf Lenas Handy fühlte sich an wie eine kalte Dusche nach einem Fiebertraum. Das Adrenalin, das durch Aarons und Lenas Adern schoss, vertrieb die lähmende Verzweiflung. Sie waren am Leben. Mertens’ zynische Theorien schienen plötzlich lächerlich. Ihre Kinder waren in Sicherheit. Das Foto war zwar beunruhigend, aber es war der Beweis, dass sie noch da waren.
Lena wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte Aaron mit neuer Entschlossenheit an. „Wir müssen herausfinden, wo das ist.“ Sie zoomte in das Bild hinein. Die Gasse war schmutzig, die Wände mit Tags besprüht, aber es gab keine erkennbaren Schilder oder Hausnummern. Ein paar Mülltonnen waren zu sehen, eine davon hatte ein leicht erkennbares Logo der lokalen Müllabfuhr. „Das hilft uns nicht weiter“, flüsterte sie. Aaron nahm ihr das Handy ab und untersuchte das Bild mit der Akribie eines Architekten, der einen Bauplan studiert. „Schau mal hier, auf dem Ziegelstein. Der hat eine seltsame Form. So alte Backsteine finde ich fast nur noch in den älteren Teilen der Stadt, die nicht saniert wurden.“ Sie verbrachten die ganze Nacht mit der Suche. Sie durchkämmten Online-Karten und Google Street View, aber die Gasse schien ein blinder Fleck zu sein. Die Müdigkeit war enorm, aber die Hoffnung trieb sie an.
Am Morgen klingelte Lenas Handy erneut. Eine unbekannte Nummer. Diesmal zögerte sie nicht. Eine verzerrte, fast unheimliche Stimme sprach: „Ihr habt immer noch nichts gefunden.“ Der Anrufer legte auf, bevor sie etwas sagen konnte. Lena sank auf das Sofa, die Hände zitterten. „Sie wissen, dass wir gesucht haben. Sie beobachten uns.“ Die Anrufe und Nachrichten wurden häufiger, aber sie waren verschlüsselt, kaum verständlich.
Ein Anruf bestand nur aus einer Melodie, die Aaron als die Titelmelodie einer alten Kinderserie erkannte. Ein anderes Mal war es eine Aufnahme von Möwenschreien, die über das Rauschen der Wellen gelegt war. Aaron und Lena fühlten sich wie in einem grausamen Spiel. Sie waren die Protagonisten, und der Entführer war der Regisseur, der jede ihrer Bewegungen beobachtete.
Eine Nachricht kam mit einem Hinweis, der Aaron die Kehle zuschnürte: „Erinnerst du dich an den Hafen? Deine Erinnerungen sind tief vergraben. So wie du die Seelen begraben hast.“ Aarons Herz klopfte wie wild. Die Worte zielten direkt auf ihn. Der Hafen. Vor Jahren hatte er als junger Architekt an einem großen Projekt gearbeitet, dem Abriss des alten Fischerhafens. Es war ein emotional aufgeladener Fall gewesen, da viele alte Fischer ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Aaron war der Projektleiter, der die Pläne für den Abriss entworfen hatte. Die Firma war skrupellos vorgegangen. Aaron hatte damals keine Fragen gestellt, er wollte nur die Karriereleiter hinaufklettern.
Es gab sogar einen tragischen Zwischenfall: Ein junger Bauarbeiter, der Sohn eines Fischers, war bei den Abrissarbeiten ums Leben gekommen. Der Unfall wurde von Aarons Firma vertuscht. Aaron hatte es damals verdrängt, als nur eine weitere Akte. Doch die Worte in der Nachricht zwangen ihn nun, sich der Schuld zu stellen, die er so lange verdrängt hatte. Die „Seelen“ – war damit der tote Bauarbeiter gemeint? Der alte Fischer, der sie am ersten Tag beobachtet hatte, schoss ihm durch den Kopf. Er musste es sein.