Das Flüstern im Wind - Elias J. Connor - E-Book
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Das Flüstern im Wind E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Sie kann nur hier leben. Sie hat nach uns gesucht. Es ist ihre ganz eigene Welt, und nur wir kennen diesen Ort. Annika glaubt nicht an einen Ausweg. Zu viel Angst, Scham, Wut und Traurigkeit trägt sie in sich. Wir wissen von Annikas geheimen Ort, an den sie sich geflüchtet hat, denn wir sind ihre Freunde. Niemand kennt uns, außer sie. Niemand weiß, dass sie das Schlimmste erleben musste, außer wir. Annika schweigt. Aber wir sind ihre Stimme. Annika ist blind und taub. Aber wir sind ihre Augen und Ohren. Hab keine Angst, Annika... Annika Mauren ist sehr still und zurückhaltend. Sowohl für die Eltern als auch ihr gesamtes Umfeld scheint das ein Rätsel zu sein, niemand kommt an sie heran. Einzig ihr imaginärer Freund Harry ist derjenige, zu dem sie Kontakt zu haben scheint. In ihrer Fantasie baut sich Annika eine Stadt in den Wolken, in die sie sich immer mehr zurückzieht. Dort lernt sie neue imaginäre Freunde kennen und fühlt sich verstanden und aufgehoben. Als sie als junge Erwachsene Laurin und Jens kennen lernt, droht ihr Geheimnis aufzufliegen. Aber Annikas imaginäre Freunde wollen sie davor bewahren. Besonders Laurin gelingt es aber, das Vertrauen von Annika zu gewinnen, und aufgrund seiner eigenen Erfahrungen hat er auch bald eine Vermutung, was wirklich mit Annika los sein könnte... Das Flüstern im Wind ist ein packendes, mitreißendes Sozialdrama von Autor Elias J. Connor ("Tausend Wege bis zur Endstation"), das die auf Tatsachen beruhende tragische Geschichte der an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidenden Annika erzählt, die verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Trauma sucht. Authentisch, direkt und wahr.

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Elias J. Connor

Das Flüstern im Wind

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1 - Das Kind im Spiegel

Kapitel 2 - Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Kapitel 3 - Ohne ein Wort

Kapitel 4 - Der Psychologe

Kapitel 5 - Traurige Weihnacht

Kapitel 6 - Der erste Tag

Kapitel 7 - Flucht aus dem Märchenland

Kapitel 8 - Jenseits der Grenzen

Kapitel 9 - Ich kann dich hören

Kapitel 10 - Jane

Kapitel 11 - Laurins stummer Schrei

Kapitel 12 - Die Worte, die du sagst

Kapitel 13 - Verzerrte Wirklichkeit

Kapitel 14 - Taub, blind und stumm

Kapitel 15 - Tiefes Vertrauen

Kapitel 16 - Laurins verdrängte Erinnerungen

Kapitel 17 - Harry muss gehen

Kapitel 18 - Heimliches Treffen

Kapitel 19 - Der Ausflug in den Freizeitpark

Kapitel 20 - Er liebt mich, er liebt mich nicht

Kapitel 21 - Tiefes Schweigen

Kapitel 22 - Das Ende einer Freundschaft

Kapitel 23 - Lena stirbt

Kapitel 24 - Vater

Kapitel 25 - Der Stein des alten Hauses

Kapitel 26 - Weil wir deine Stimme hören

Über den Autor

Impressum

Widmung

Für Jana.

Danke, dass du mir Welten geöffnet hast, die ich zuvor nicht kannte.

Für Nadja.

Muse, Ideenlieferin, Patentochter.

Danke, dass du mich auf meinen Wegen immer begleitest.

Kapitel 1 - Das Kind im Spiegel

Langsam rieselte der trockene Sand von ihrer Hand hinunter. Fast Korn für Korn fiel er auf ihre angewinkelten Knie, und mit leerem Blick sah sie dabei zu. Manchmal schloss sie ihre Hände und unterbrach das Rinnsal für einen Moment, manchmal pustete sie in die fallenden Sandkörner hinein. Aber was immer sie tat, der Sand landete jedes Mal wieder auf ihrer schon von Dreck durchzogenen schwarzen Hose.

Der Spielplatz war nicht groß. Zwei Schaukeln, eine Rutsche und einen Sandkasten gab es hier. Nicht mal ein Klettergerüst hatten sie gebaut. Früher soll es mal eines hier gegeben haben, aber sie mussten es wieder abgebaut haben, nachdem sich ein Kind mal ernsthaft verletzt hatte. Schon lange besuchte diesen Ort keiner mehr, und das kleine Mädchen wusste, dass sie hier niemand suchen würde. Deshalb kam sie nachmittags oft hierher. Hier hatte sie Ruhe. Hier konnte sie ganz für sich spielen, ohne das jemand kommen und sie stören würde. Kein nervender Bruder, keine streitenden Eltern. Dieser Ort war so abgelegen, nahe des angrenzenden Waldes, so dass sie ihn schon beinahe ihr Eigen nennen konnte. Dieser verlassene Spielplatz war ihr Versteck, umrandet von einer hohen Hecke und mehreren dicht bewachsenen Bäumen.

Als sie lange genug im Sandkasten gespielt hatte, stand sie wie in Zeitlupe auf und lief zu der Schaukel. Für einige Minuten sah sie sie an, bevor ihre Hand sich schließlich zu der Sitzfläche bewegte und begann, sie anzustoßen. Nach einer Weile setzte sie sich auf die Schaukel und bewegte ihre Beine rhythmisch vor und zurück. Dabei sang sie ganz leise ein Lied. Und als sie damit fertig war, hielt sie die Schaukel wieder an und atmete tief durch.

„Annika, du musst nach Hause“, sprach sie mit ihrer hellen Stimme.

„Nein, ich muss noch nicht nach Hause“, antwortete sie sich selbst.

„Es ist schon abends“, ermahnte sie sich. „Die Sonne geht bald unter.“

„Aber zu Hause ist niemand. Warum soll ich dorthin?“

„Hast du schon etwas gegessen seit heute Mittag in der Schule?“

Annika schüttelte ihren Kopf.

„Siehst du?“, meinte sie daraufhin. „Zu Hause bekommst du etwas.“

„Du meinst, ich muss mir etwas machen“, sagte Annika. „Es ist keiner da, der mir etwas zu essen macht.“

„Was haben wir denn da?“, sagte sie mit einer leicht verstellten Stimme.

„Ich kann noch nicht kochen, Ich bin erst neun Jahre alt“, antwortete sie sich.

„Fast zehn“, korrigierte sie sich selbst. „Du kannst kochen.“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Annika, willst du hier draußen übernachten? Im Oktober? Es wird nachts sehr kühl.“

Wütend schnaubte Annika aus. „Ständig bist du am Meckern“, entgegnete sie. „Lass mich einfach alleine. Ich gehe nicht nach Hause.“

Die Sonne machte sich langsam auf ihren Weg hinter die Bäume. Im Osten konnte man den Mond schon sehen, und auch die Laternen der nahe gelegenen Straße waren bereits an, aber das interessierte Annika nicht. Sie blieb still auf der Schaukel sitzen und schaute nach oben in den Himmel. Es mochten gefühlte Stunden an ihr vorüber ziehen, aber Annika saß einfach da und bewegte sich nicht.

Plötzlich legte von hinten jemand seine Hand auf ihre Schulter, und Annika drehte sich um. Lächelnd atmete sie aus.

„Harry“, rief sie. „Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Ich warte schon seit Stunden auf dich.“

„Ich weiß“, entschuldigte sich der etwa 11-jährige Junge, der gerade wie aus dem Nichts aufgetaucht war. „Sorry, ich habe es nicht früher geschafft.“

Er nahm das Mädchen an die Hand und führte sie zu einer Bank am Sandkasten, auf die sich beide Kinder schließlich setzten.

„Du musst nicht nach Hause“, sagte Harry leise und sah ihr tief in die Augen.

Annika streifte ihre langen blonden Haare zurück und lehnte ihren Kopf schließlich an Harrys Schulter. In seiner Nähe schien sie sich gut zu fühlen. Sicher und aufgehoben, anders als sonst. Harry war zwar mit seiner eher zierlichen Statur, seinen braunen dichten Locken und seiner Brille auf der Nase nicht gerade einem klassischen Beschützer ähnlich, aber Annika kannte ihn schon seit sie denken konnte, und immer gab er ihr dieses behagliche Gefühl von Sicherheit. Und genau das schien sie jetzt zu brauchen.

„Wir sollten langsam los“, sagte Harry schließlich nach gefühlten Stunden, als es schon dunkel war.

Ernst schaute Annika ihn an. „Wo gehen wir hin?“, wollte sie wissen.

Harry lächelte. „Es ist eine Überraschung“, meinte er.

Daraufhin stand er auf, nahm Annikas Hand und sie folgte ihm wortlos die lange, schmale Straße entlang, die vom Spielplatz weg führte. Gemäßigten Schrittes liefen die Beiden hinter die Siedlung, hinaus auf das riesige, angrenzende Feld bis hin zur Mündung, wo die Straße in einen nicht beleuchteten Feldweg am Waldrand führte.

„Es ist ganz düster“, stellte Annika fest.

„Du hast doch keine Angst, oder?“

Annika schüttelte ihren Kopf. „Mit dir nicht“, stellte sie klar.

Der Feldweg mochte endlos sein. Die beiden Kinder liefen immer weiter ins Dunkle hinein, und während sie liefen wurde es immer leiser um sie herum. Die Vögel, die ihr Abendlied sangen, waren bald nicht mehr zu hören. Das Rauschen des Windes verstummte ebenso wie die Klänge der Kirchglocke im Dorf, das schon weit hinter ihnen lag.

„Jetzt sind wir ganz alleine“, flüsterte Harry.

„Ich weiß“, antwortete Annika. „Harry, wirst du mich nun dorthin bringen, so wie du es versprochen hattest?“

Harry schnaufte aus. „Ich bin nicht sicher, ob es funktioniert. Wir können nur hoffen und beten, dass sie uns hören und holen kommen.“

„Sollen wir sie rufen?“, fragte Annika.

Harry nickte.

Und daraufhin reckte Annika ihre Arme in die Höhe und rief: „Kommt uns holen. Wir sind hier. Wir erwarten euch.“

Nichts geschah.

Annika blickte hinauf in die sternklare Nacht und sah den mittlerweile im Zenit stehenden Vollmond an.

„Es tut mir Leid“, stammelte Harry enttäuscht. „Ich habe wirklich gedacht, dass es diesmal funktioniert.“

Annika drehte sich zu ihm um. „Jedes Mal versprichst du es“, entgegnete sie mit fester Stimme, und man konnte die Wut hören die sie fühlen musste. „Ich hab' die Nase voll. Wir werden niemals nach Lost City kommen.“

Harry sah traurig zu Boden.

„Ich will alleine sein“, sprach Annika leise.

Harry rückte seine Brille zurecht.

„Ich kann dich doch jetzt nicht alleine lassen“, entgegnete er. „Annika, du weißt was geschehen wird wenn ich das tu.“

„Und woher weiß ich, ob es Lost City wirklich gibt?“, moserte das kleine Mädchen. „Du sagst mir jedes Mal, irgendwann finden sie mich und holen mich. Aber es ist uns noch nie gelungen, es zu finden.“

„Lost City ist ein sehr geheimer Ort“, sagte Harry. „Nicht mal ich kenne den wirklichen Zugang.“

Annika fiel auf ihre Knie und weinte leise.

„Ich kann nicht nach Hause zurück“, sagte sie. „Ich will nach Lost City.“

Tröstend setzte sich Harry neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter.

„Ich wünschte, ich könnte uns dorthin zaubern.“

„Du hast gesagt, du kannst es“, schniefte Annika.

„Ich weiß“, sagte Harry traurig. „Aber leider heiße ich nicht Harry Potter. Ich bin nur Harry. Einfach Harry...“

Auch Harry weinte jetzt leise. Er versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Sachte strich er über Annikas Haare.

„Halte nur noch ein paar Minuten durch“, sagte er mit seiner sanften, hellen Stimme, die immer so beruhigend auf Annika wirkte. „Es ist gleich vorbei.“

„Wirklich?“, sagte Annika, während sie sich ihre Nase mit dem Handrücken abwischte. Harry nickte.

Nach einigen Minuten nahm er Annika bei der Hand und stand mit ihr zusammen auf. Schließlich liefen die beiden Kinder weiter. Sie liefen den einsamen, unbeleuchteten dunklen Feldweg immer weiter geradeaus. Auch als schon der angrenzende Wald am Horizont verschwand und nur noch dieses einsame, riesige und scheinbar endlose Feld zu sehen war, liefen sie noch.

Irgendwann schloss Annika ihre Augen und lief an Harrys Hand blind neben ihm. Irgendwann hörte sie auch seine Schritte nicht mehr, und es war ganz leise. Ihre eigenen Schritte schienen sich nach einiger Zeit mit dem leeren Klang der Stille zu vermischen. Als sie sich nicht mal mehr atmen hörte, blieb sie stehen und öffnete ihre Augen.

„Lost City weiß, dass ich hier bin und warte“, hörte man ganz leise eine Stimme flüstern. „Lost City wird sich eines Tages für mich öffnen, und dann gehe ich hinein und komme nie, nie, nie wieder hierher zurück.“

Erst ganz leise, dann immer stärker hörte man einen Wasserhahn tropfen. Gleichmäßig blubberte es, und jedes Mal wenn ein Tropfen in ein darunter liegendes Waschbecken fallen mochte, hörte man den langen Nachhall.

Das kleine Mädchen blinzelte. Sie zog das weiße Handtuch, das sie einhüllte, fest an und wickelte sich darin ein. Ihr hochroter Kopf pulsierte. In ihren Augen spiegelte sich das matte Licht wieder, welches den Raum erhellte, in dem sie stehen musste. Zitternd sah sie sich im Spiegel über dem Waschbecken an, betrachtete ihr Gesicht, ihre verweinten Augen und ihre triefende Nase.

Sie blickte sich um.

Der Badezimmerschrank stand offen. Vorsichtig machte sie ihn zu. Ihr Blick wanderte weiter zum Fenster, unter dem sich die Badewanne befand. Vorsichtig lief sie hin und fühlte über die kalte Fläche. Sie war trocken.

Schließlich drehte das Mädchen den Wasserhahn vom Waschbecken ganz zu, und die rhythmischen tropfenden Geräusche verstummten. Nur das Summen der Heizung war noch zu hören.

In der Ferne, ganz weit weg, mochte das Kind eine Stimme gehört haben, die sagte: „Ich werde wieder kommen.“ Sie wusste nicht, zu wem die Stimme gehörte, aber sie hatte gehofft, dass es seine Stimme war. Sie hatte gehofft, dass ihr einziger Freund sie wieder besuchen würde, egal wo sie sei, und dass er sie dorthin mitnehmen würde, an diesen geheimen Ort, so wie er es versprochen hatte.

„Annika?“, hörte sie plötzlich eine sanfte Stimme, die zu einer Frau gehören mochte. Und wenig später klopfte es an die Badezimmertüre.

„Ich bin jetzt fertig“, sagte Annika, während sie sich eine Strähne ihrer langen, blonden Haare aus dem Gesicht wischte.

Als die Türe aufging, kam eine vielleicht 35-Jährige Frau herein, schick angezogen aber dennoch natürlich wirkend. Sie lächelte das Kind an.

„Schatz, was treibst du nur so lange im Badezimmer?“

„Ich bin jetzt fertig“, entgegnete Annika gleichgültig.

„Hast du schon wieder geträumt?“, wollte die Frau wissen.

„Nein, Mama“, antwortete das Mädchen.

„Okay“, sagte die Mutter. „Gehe jetzt bitte ins Bett. Wenn du möchtest, komme ich gleich noch mal zum Gute Nacht sagen.“

Gelangweilt nickte Annika ihr zu.

Und die Mutter streichelte sie über den Kopf.

„Annika, ist wirklich alles in Ordnung?“, wollte sie wissen.

Annika nickte ihr zu. „Es ist schon in Ordnung“, sagte sie leise. „Es ist nichts.“

Die Mutter verließ schließlich das Badezimmer, und Annika zog sich ihr Nachthemd über, nachdem sie das Handtuch auf den Boden warf, und tapste in ihr Zimmer. Still legte sie sich in ihr Bett und zog die Decke bis zu ihrem Hals hoch. Das sanfte Nachtlicht erhellte das Zimmer etwas. Als die Mutter hineintrat und es ausmachen wollte, reckte Annika sich auf.

„Kannst du es anlassen, bitte?“, sagte sie zu ihrer Mutter.

„Ja, natürlich. Wie du möchtest.“

„Danke, Mama.“

Annikas Mutter schloss die Türe von Annikas Zimmer daraufhin und lief zurück ins Erdgeschoss.

Und Annika lag stumm in ihrem Bett und wartete darauf, dass sie bald einschlafen würde.

Kapitel 2 - Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Langsam nahm Annika ihr Geo-Dreieck in die Hand. Dann hob sie es an. Sie machte Bewegungen, die es aussehen ließen, als wäre das Lineal ein Flugzeug oder ein Raumschiff. Ihre Hand kreiste das Dreieck mehrmals um ihren Kopf herum, über den Tisch, unter den Tisch, vorbei an ihrer Schultasche nebenan und wieder zurück zu ihrem Kopf.

„Raumschiff Space Invader an Zentrale“, flüsterte Annika leise. „Können Sie mich hören? Die Aliens sind hinter uns her, und wir haben kaum noch Sauerstoff. Holen Sie uns hier raus.“

Sie legte das Geo-Dreieck dann auf den Tisch zurück.

„Zentrale an Space Invader, wir hören. Roger.“

„Wo seid ihr, zum Teufel?“

„Wir sind in der höheren Atmosphäre. Mutterschiff ist bereit, Sie andocken zu lassen.“

„Ich weiß nicht, ob wir von dem Planeten starten können. Eine unheimliche Kraft geht von ihm aus.“

„Versuchen Sie es, Space Invader.“

Annika hob das Lineal wieder an. Sie ließ es um ihren Kopf, der jetzt das Mutterschiff war, kreisen. Anschließend hämmerte sie das Geo-Dreieck mehrmals gegen ihre Schläfe, bis diese fast zu bluten begann. Und eine Minute später hielt sie das Dreieck fest auf ihren Kopf gepresst.

„Space Invader hat angedockt“, flüsterte Annika. „Vielen Dank, Mutterschiff. Wir kommen dann jetzt an Bord.“

„Annika Mauren, was machst du da?“, fragte der Lehrer.

Annika zuckte zusammen. Vorsichtig legte sie das Dreieck auf den Tisch und sah verschämt nach unten.

„Hättest du die Güte, am Unterricht teilzunehmen?“

Annika nickte vorsichtig.

Und dann entstand ein Riesengelächter der Klasse. Natürlich haben sie gemerkt, dass Annika mit dem Geo-Dreieck herum spann. Wie eine Kranke hatte Annika sich verhalten, und die Klasse merkte es und machte sich darüber lustig.

„Annika, was ist nur mit dir los?“, wollte der Lehrer – ein stattlicher Mann in den Mittfünfzigern – wissen.

Annika sah verschämt zu Boden und sagte nichts.

„Du willst nicht sprechen?“, warf der Lehrer nach.

Annika hielt sich die Hände vor ihre Augen.

Die Klasse lachte, und der Lehrer gab ihnen ein Zeichen, damit aufzuhören. Wenig später beruhigte sich die Klasse wieder.

„Annika, du gehst bitte sofort in das Büro des Vertrauenslehrers. Er hat jetzt gerade Sprechstunde. Ich möchte, dass du mit ihm redest.“

„Uuuh“, machte ein Mädchen, das hinter Annika saß. „Die redet doch nie.“

Langsam stand Annika auf und trottete Schritt für Schritt aus dem Klassenzimmer heraus, über den Hof hinüber ins Hauptgebäude und dann dort in den ersten Stock, wo der Vertrauenslehrer sein Büro hatte.

Es stimmte. Annika redete nie. Schon seit fast zwei Jahren, seit der zweiten Klasse eigentlich, sprach sie in der Schule kein Wort mehr. Wenn sie dran genommen wurde, redete sie nur so leise, dass der Lehrer stets wiederholen musste, was sie sagte. Es war auch für die Lehrer ein Rätsel, aber Annikas Eltern betonten immer wieder, dass sie zu Hause normal sprechen würde.

Annikas Familienleben, so die Eltern, schien auch weitestgehend in Ordnung zu sein. Annikas Mutter gab neulich in einem Gespräch mit dem Klassenlehrer zu, dass die Eltern manchmal stritten, weil der Vater oft beruflich lange unterwegs sei. Sie berichtete, dass sie vermutet, Annika sei eifersüchtig auf ihren zwei Jahre älteren Bruder, der jetzt bereits in der fünften Klasse in einer weiterführenden Schule in der Innenstadt war.

„Annika glaubt, dass wir ihren Bruder bevorzugen würden“, erzählte die Mutter. „Aber das stimmt nicht. Wir versuchen, unsere beiden Kinder immer gleich zu behandeln. Sie bekommen beide die gleiche Liebe, und beide sind Wunschkinder“, ließ sich die Mutter bei dem Gespräch vor ein paar Wochen aus.

Annika war bei dem Gespräch dabei. Der Auslöser war – wie so oft schon – dass Annika in der Schule nichts sagte und sehr verträumt war. Auch sei ihre Teilnahme am Unterricht sehr zurückhaltend, wurde der Mutter berichtet.

Als Annika gefragt wurde, sagte sie nichts. Sie blieb stumm, wie so oft schon. Und wie es ebenfalls oft schon geschah, nach solchen Gesprächen, musste die Mutter Annika resigniert mit nach Hause nehmen, wo daraufhin alles wieder wie üblich war. Annika redete, spielte und beschäftigte sich mit sich selbst. Freunde hatte sie keine, und es kam sie auch keiner ihrer Klassenkameraden besuchen. Natürlich nicht, so schüchtern und zurückhaltend wie sie war.

Auch heute würden sie ihre Mutter wieder anrufen, dachte Annika bei sich, während sie vor dem Büro des Vertrauenslehrers saß. Und es würde wieder ein solches Gespräch geben, bei dem sie sie zwingen würden, etwas dazu zu sagen, warum sie so still war. Aber Annika wollte das nicht. Sie wollte sich niemals dazu äußern, und das war eigentlich so, seit sie vor zweieinhalb Jahren eingeschult wurde.

Die Türe ging auf, und der Vertrauenslehrer, ein junger Mann Ende 20, vielleicht Anfang 30, kam heraus.

„Annika Mauren?“, fragte er das Mädchen.

Annika nickte.

„Komm rein“, sagte er.

Ganz langsam stiefelte Annika dem Mann hinterher und setzte sich schließlich auf einen Stuhl gegenüber seines Schreibtischs.

„Nun, wie ich höre, bist du in der Klasse wieder abgedriftet?“, wollte er von ihr wissen.

Annika sah aus dem Fenster heraus.

„Du kannst mir alles sagen, Annika“, sprach der Mann. „Ich bin dein Vertrauenslehrer. Du kennst mich.“

Annika reagierte nicht.

„Okay, fangen wir anders an“, meinte der Lehrer. „Mein Name ist Erik Pelz. Ich bin Vertrauenslehrer an dieser Grundschule. Das bedeutet, wenn die Schüler Probleme haben – welche auch immer – können sie zu mir kommen, und ich versuche ihnen zu helfen. Verstehst du das, Annika?“

Annika atmete tief aus. Ihr Blick wandte sich vom Fenster weg und sie betrachtete die beiden großen Plakate, die gerahmt an der Wand hingen. Es waren Bilder von irgendeinem Künstler, der so malte wie ein Kind, aber diese Bilder schienen viel Wert zu sein. Eines der Bilder zeigte eine seltsame Insel am Meer, mit einem roten Strand. Annika fiel dieses Bild schon mehrmals auf, weil sie sich immer wunderte, warum der Sand rot war. Sand war doch normalerweise gelb oder weiß.

Annika dachte an den Sandkasten am Spielplatz. Sie liebte ihn. Sie war oft dort an dem verlassenen Ort, wo sie ganz für sich sein konnte. Würde sie sich nur genau jetzt dorthin träumen können.

Aber Herr Pelz holte sie aus ihren Gedanken.

„Annika, möchtest du mir etwas über deine Familie erzählen?“, fragte er mit einer ruhigen, tiefen und sonoren Stimme, die sehr vertrauenswürdig klang.

Annika sah den Mann an. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf den Schreibtisch.

„Wie verstehst du dich mit deinem Bruder?“, fragte Herr Pelz. „Ist er nett zu dir?“

Annika hechelte wie ein Hund. Eigentlich hätte sie reden können, aber irgendetwas schien sie zu blockieren.

„Es ist nicht schlimm, wenn du nicht sprechen möchtest“, sagte der Vertrauenslehrer. „Ich weiß ja, dass du es kannst.“

Annika betrachtete ihn zaghaft.

„Du kannst es doch, nicht wahr?“

Ganz vorsichtig und unmerklich nickte Annika. Aber der Lehrer hatte es gesehen und lächelte sie an.

„Es ist schon in Ordnung“, sagte er. „Annika, ich werde dir jetzt ein Blatt Papier geben. Wenn du möchtest, dann male etwas. Ganz gleich, was. Okay?“

Ohne eine Antwort des Mädchens abzuwarten, gab ihr der Lehrer ein Blatt und ein paar Buntstifte. Vorsichtig nahm Annika einen hellen Stift in die Hand.

Zuerst malte sie einige Linien. Anschließend einen Kreis mit zwei Strichen darunter. Mit viel Phantasie könnte dies ein Kopf sein.

Annika nahm sich schließlich den schwarzen Stift und malte dort, wo die Augen sein sollten, einen schwarzen Balken. Genau das Gleiche tat sie etwas weiter unten.

Aber in der nächsten Minute, kaum dass sie fertig zu sein schien, nahm sie das Papier, zerknüllte es und warf es auf den Boden.

„Möchtest du noch ein Blatt?“, wollte Herr Pelz wissen, ohne dass Annika merkte, dass ihm ihr Bild aufgefallen war.

Sie nickte vorsichtig, und der Lehrer gab ihr ein weiteres Blatt.

„Wiesel, Wiesel, komm heraus“, sang Annika ganz leise auf einmal, während sie einen gelben Stift nahm und ein paar Wolken malte. „Die Sonne geht unter, der Tag ist jetzt aus.“

Annika malte in die Wolken ein oder mehrere Häuser hinein. Sie malte Strichmännchen, die in, vor und neben den Häusern standen.

„Sie kommen mich eines Tages holen“, flüsterte sie.

Aber Herr Pelz hörte sie.

„Annika“, sagte er sehr leise. „Möchtest du mir verraten, wer dich holen kommt?“

Erschrocken sah Annika ihn an. Sie hatte wahrscheinlich nicht gedacht, dass er ihre Worte wahrgenommen hatte. Sie hatte doch extra ganz leise geredet. Warum musste er sie nur gehört haben? Sie konnte es ihm doch nicht sagen. Sie haben ihr doch gesagt, sie soll es niemandem sagen.

Annika zitterte.

„Annika?“, fragte Herr Pelz nach Minuten.

Annika blickte auf und sah ihn an.

„Diese Menschen, die dich holen kommen – möchtest du mir von ihnen erzählen?“, wollte der Lehrer wissen. „Meinst du damit deine Mutter, die dich nachher abholt?“

Annika schüttelte unmerklich ihren Kopf.

Und Herr Pelz atmete aus. „Annika, wenn es dir unangenehm ist, müssen wir nicht sprechen“, sagte er.

Annika sah ihn fast dankbar an und nickte.

„Möchtest du jetzt in die Pause gehen?“, fragte Herr Pelz. „Es wird gleich klingeln.“

Annika nickte. Und nachdem sich der Vertrauenslehrer von ihr verabschiedete, lief sie langsam hinaus in den Schulhof, wo die anderen Kinder bereits spielten.

Annika verkroch sich in eine Ecke und summte vor sich hin. Fast beiläufig hörte sie eines der Kinder rufen: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“

Und schließlich sah sie, wie sich einige Kinder in einer Reihe aufstellten, und gegenüber stellte sich ein einzelner Junge hin, der nach einigen Sekunden auf die Kinder zugerannt kam, um eines oder mehrere zu fangen.

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann war an der Schule ein beliebtes Spiel, das sie immer in den Pausen spielten. Annika hatte noch nie mitspielen wollen. Nicht, dass die anderen Kinder sie nicht lassen würden, sie wollte einfach nicht.

Plötzlich riss ein Mädchen Annika aus ihren Gedanken.

„Hey, Träumerin“, sagte sie. „Wir bräuchten noch jemanden. Hast du Lust, mitzuspielen?“

Annika sah das Mädchen an.

„Schon gut“, meinte das Mädchen. „Du musst ja nicht.“

Annika stand daraufhin auf und lief dem Mädchen, das sich bereits zum Gehen wandte, hinterher.

„Oh, cool. Du willst doch mitspielen. Na, gut“, meinte sie. „Du bist der schwarze Mann.“

Und die Kinder stellten sich Annika gegenüber in einer Reihe auf. Still beobachteten sie Annika.

„Sie muss rufen: Wer hat Angst vom schwarzen Mann“, meinte ein Junge.

Ein anderer Junge lachte. „Die redet doch nicht.“

„Okay“, sagte das Mädchen, das Annika zum Mitspielen eingeladen hatte. „Dann rufen wir für sie.“

Und die Kinder riefen im Chor: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“

„Niemand“, riefen sie sich selbst zurück.

„Dann fängt er euch“, riefen die Kinder wieder.

Und anschließend rannten sie los. Eigentlich sollte Annika ebenfalls losrennen und nun versuchen, eines oder mehrere der Kinder zu fangen. Aber sie blieb stumm stehen.

Die Kinder hielten ein und sahen sie an.

„Die kann das gar nicht“, meinte eines von ihnen.

„Die kennt das Spiel nicht“, stellte ein anderes fest.

„Schnell, Annika“, hörte Annika auf einmal die helle Stimme eines Jungen.

Sie drehte sich um – und da stand zitternd jemand vor ihr, den sie kannte. Sie kannte ihn sogar sehr gut.

„Harry“, rief sie aus.

Und in diesem Moment nahm sie die anderen Kinder nicht mehr wahr. Sie sah nicht, dass die anderen Kinder sie beobachteten. Sie hörte nicht, dass sie lachten. Sie sah nicht, dass sie mit dem Finger auf sie zeigten.

Harry nahm Annika bei der Hand und führte sie vom Schulhof herunter.

„Wir können den Schulhof nicht verlassen“, sagte Annika zu ihm.

„Wir müssen weg hier“, entgegnete Harry.

„Aber meine Mutter kommt mich gleich holen.“

Harry zog Annika in eine enge Gasse nahe der Schule. Es war eine Sackgasse zwischen Backsteinhäusern, so schmal, dass nicht mal mehr das Sonnenlicht auf den Weg strahlte. Im düsteren Schatten kauerten sich Annika und Harry in eine Nische eines der Häuser.

„Harry, was ist eigentlich los?“, wollte Annika wissen.

„Erzähle ich dir später“, sagte Harry. „Sei jetzt leise.“

Die Stunden vergingen. Ohne ein Wort saßen Harry und Annika einfach da und bewegten sich nicht. Ihren Atem konnte man leise hören.

Als die Sonne untergegangen war, stand Harry langsam auf.

„Ich glaube, wir können jetzt los“, sagte er zu seiner Freundin. Dann lief er mit ihr aus dem Ort hinaus auf das angrenzende, weite Feld, durch das der schmale Feldweg führte, den sie gestern schon entlang gelaufen sein mussten.

„Wo gehen wir hin?“, fragte Annika nach einer Weile. „Bringst du mich heute nach Lost City?“

Harry schüttelte seinen Kopf. „Sie wollen uns nicht hinein lassen“, erklärte er. „Sie haben spitz bekommen, das du es beinahe verraten hättest.“

Annika sah Harry fragend an.

„Was soll ich verraten haben?“, wollte sie wissen.

„Dass es Lost City gibt“, meinte Harry.

„Ich habe nichts gesagt“, sprach Annika energisch. „Der Pelz hat mich gelöchert. Aber ich habe nichts gesagt.“

„Du hast ein Bild gemalt“, entgegnete Harry. „Ein Bild von Lost City.“

Annika wischte sich einige Tränen aus den Augen. „Ich habe nichts gesagt“, weinte sie leise. „Er weiß doch gar nicht, was dieses Bild bedeutet.“

„Du hast zu ihm gesagt, sie kommen dich holen.“

„Ich will ja, dass sie mich holen kommen“, entgegnete Annika.

„Lost City ist nicht für jeden da“, erklärte Harry. „Nur besondere Menschen haben Zugang.“

„Aber ich habe doch nichts verraten“, beharrte das Mädchen. „Das würde ich nie tun. Warum glauben die mir nicht?“

Am Wegrand tauchte plötzlich eine Bank auf, und Harry setzte sich hin. Zögerlich stiefelte Annika zu ihm und setzte sich neben ihn.

„Bist du mir böse, Harry?“

Harry sah nachdenklich auf den Boden und streifte mit seinem Fuß im dreckigen Lehm.

„Harry, ich habe das nicht extra gemacht“, weinte Annika leise.

„Ich weiß nicht, ob wir jetzt noch nach Lost City kommen“, sagte der Junge ruhig. „Ich weiß auch nicht, was wir machen sollen.“

Annika sah ihm in die Augen. Ihr Blick war verzweifelt und Hilfe suchend.

„Ich weiß, du möchtest unbedingt dorthin“, flüsterte Harry.

„Ich muss dorthin“, hauchte Annika. „Wenn ich es nicht schaffe, werde ich sterben.“

Harry schniefte. Daraufhin wischte er sich ein paar Tränen aus den Augen und legte einen Arm um Annikas Schulter.

„Du musst nicht sterben“, sagte er leise.

„Doch, das muss ich“, weinte Annika.

Das Blaulicht des Polizeiautos schimmerte in die enge Gasse hinein. Annika hatte es längst wahrgenommen, aber noch immer saß sie zusammengekauert in der Nische dieses schmalen Hauses. Als sie Schritte hörte, kauerte sie sich noch näher an die Wand heran.

„Hier drüben“, hörte sie daraufhin eine Männerstimme. „Ich habe sie gefunden.“

Und der Beamte kam dann auf Annika zu.

„Hab keine Angst“, sagte er, während er den Arm ausstreckte, so dass Annika seine Hand fassen konnte. „Wir bringen dich nach Hause.“

Wortlos rappelte Annika sich hoch und lief mit dem Beamten mit. Wenig später spürte sie, dass sie in den Polizeiwagen gesetzt wurde, und als sie offenbar bei ihr zu Hause ankamen, wurde sie wieder ausgeladen. Ernst und traurig kamen ihre Mutter und ihr Vater zugleich an und nahmen Annika in den Arm.

„Wo warst du nur?“, schluchzte die Mutter. „Du darfst nie wieder weglaufen, Annika.“

„Ich...“, stotterte das Kind. „Ich habe mich doch nur eine Weile versteckt...“

„Ist schon gut, mein Kind“, versuchte der Vater sie zu beruhigen.

„Ist ihre Tochter schon mehrmals davon gelaufen?“, wollte der Beamte dann vom Vater wissen.

„Eigentlich nie“, entgegnete er. „Meistens geht sie nach der Schule direkt auf ihr Zimmer. Ihr Bruder ist viel draußen, aber Annika beschäftigt sich eher alleine in ihrem Zimmer mit ihren Spielsachen.“

„Kann es einen Grund geben?“, fragte der Beamte. „Ging ein Streit vielleicht voraus, oder hat Annika möglicherweise in der Schule Probleme gehabt?“

Der Vater schüttelte den Kopf. „Sie ist eher ruhig. Auch in der Schule hat sie nicht viel Anschluss. Aber dass sie weggelaufen ist und sich versteckt hat, können wir uns auch nicht erklären. Momentan zumindest nicht.“

Der Beamte wandte sich nun an Annikas Mutter.

„Der Schulleiter sagte mir, dass es schon mehrmals Gespräche mit Ihnen gegeben hat“, meinte er. „Ist Ihnen an Annika in letzter Zeit etwas merkwürdig oder anders vorgekommen?“

„Nein“, sagte die Mutter nachdenklich. „Außer, dass sie selten spricht.“

„Wie meinen Sie das?“, wollte der Polizist wissen.

„Annika scheint im Unterricht öfters in eine Art Traumwelt abzudriften“, bestätigte der Vater. „Dabei beginnt sie zu flüstern. Aber die anderen Kinder sagen aus, dass Annika nie redet. Auch den Lehrern ist dies aufgefallen. Zuerst hatte man dies gar nicht so gemerkt, aber in letzter Zeit ist es auffällig geworden.“

„Wie ist das zu Hause?“, wollte der Beamte in Erfahrung bringen.

„Das ist es ja“, erklärte der Vater. „Wir können es uns auch nicht erklären. Zu Hause redet sie ganz normal und macht all die Dinge, die Kinder so machen. Spielen, fern sehen, mit ihrem Bruder zanken.“

Vorsichtig wandte sich der Polizist schließlich an Annika.

„Annika, darf ich dir eine Frage stellen?“, wollte er wissen.

Annika schaute ihn ernst an.

„Sag, warst du die ganze Zeit, bis heute Nacht, in dieser Nische des Hauses versteckt, wo wir dich gefunden haben?“

„Ich war auf den Feldweg raus gegangen“, sagte Annika leise. „Wir sind lange gelaufen und haben uns dann auf eine Bank gesetzt?“

Die Mutter sah Annika fragend an.

„Schatz, war jemand bei dir?“, wollte sie wissen.

Annika sah auf den Boden.

Und ihre Mutter zitterte, aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.

„Frau Mauren“, sagte der Beamte ruhig. „Könnte es sein, dass jemand Annika mitgenommen hat? Könnte es sein, dass jemand ihr vielleicht Angst eingejagt hat?“

Die Mutter sah Annika ernst und fragend an.

„Nein“, beharrte Annika. „Er macht mir keine Angst. Harry ist mein Freund.“

Der Vater und die Mutter blickten sich ernst an.

„Annika“, sagte der Vater schließlich zu seiner Tochter. „Wer ist Harry? Wie alt ist er?“

„Er ist elf“, sagte Annika. „Er ist mein Freund seit ich denken kann.“

Annika hörte schließlich, wie die Eltern dem Beamten versicherten, dass Annika keine Freunde hätte. Sie vernahm, wie der Beamte den Eltern irgendetwas über imaginäre Freunde sagte und meinte, sie müssten sich keine Sorgen machen, es gäbe mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Fremden, der ihr etwas getan haben könnte. Aber sie verstand es nicht. Es war, als würden sie in einer fremdem Sprache reden.

„Harry ist mein Freund“, wisperte Annika leise.

Dann schnellte sie ins Haus hinein, rannte in ihr Zimmer im ersten Stock und schmiss sich aufs Bett.

„Toll gemacht“, hörte sie eine ihr sehr bekannte helle Stimme.

Annika blickte auf und sah in Harrys Augen, der am Bettrand saß und sie ernst und enttäuscht ansah.

„Jetzt kennen sie mich“, stammelte Harry.

Annika weinte.

„Ich weiß nicht, ob sie mich noch zu dir lassen“, sagte Harry ruhig. „Ich kann es dir nicht versprechen, dass ich wieder kommen darf.“

„Meine Eltern dürfen mir nicht verbieten, dich zu treffen“, hauchte Annika.

„Ich meine nicht deine Eltern“, sagte Harry ernst. „Sie glauben, dass es mich nicht gibt. Ich rede von den Bewohnern von Lost City. Ich denke nicht, dass sie mich noch mal zu dir lassen, Annika.“

Annika sah ihn durch ihre Tränen erfüllten Augen nur schemenhaft.

„Annika, ich muss gehen. Ich weiß nicht, ob ich wieder komme“, sagte Harry traurig.

Dann lief er wortlos aus dem Zimmer hinaus.

„Harry, bitte bleib“, rief Annika.

Aber Harry hörte sie schon nicht mehr. Zu weit war er schon weg.

„Harry, ich habe das nicht extra gemacht“, weinte Annika. „Bitte lass mich nicht alleine. Ich will nicht sterben...“

Das kleine Mädchen lag in ihren dreckigen Klamotten auf dem Bett und weinte bitterlich. Ihr einziger Freund war nicht mehr da. Sie wusste nicht, ob er böse mit ihr war, weil sie ein großes Geheimnis verraten hatte. Sie wusste nicht, ob er bei ihr sein wollte und es nur nicht durfte, oder ob er sie absichtlich hier zurück ließ. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

So sehr hätte sie ihren einzigen Freund jetzt gebraucht. Aber er war nicht mehr da.

Arme kleine Annika. Alleine, verlassen, und nicht in der Lage, ein einziges Wort zu sagen. Das Kissen, auf dem ihr Kopf lag, war durchtränkt von ihren Tränen.

Vater, Mutter, ihr Bruder – sie waren da, aber Annika sah sie nicht mehr. Sie schienen neben ihr zu stehen und zu versuchen sie zu trösten. Aber sie sah es nicht. Und wie hätten sie es auch tun sollen, ohne dass sie wussten, was wirklich mit Annika los war.

Es war ruhig. Annika hörte nur noch den sanften Wind, der leise durch ihr angelehntes Fenster rauschte. Er klang wie fremde Stimmen, die Annika noch nie gehört hatte.

Der Wind mochte so klingen, als würde er ihr etwas zuflüstern. Es schienen mehrere Stimmen zu sein, die Annika zu rufen schienen. Sie konnte es registrieren, aber sie hörte nicht, was sie sagten. Sie hörte nicht, ob diese Stimmen schimpften, lachten oder sie trösten wollten.

Aber getröstet konnte Annika sich jetzt nicht fühlen. Und auch wenn irgendjemand – diese fremdem Stimmen oder ihre Familie – da war um sie zu trösten, sie nahm es nicht wahr. Die Mauern waren zu stark und ließen nichts zu ihr durch.

Einsam und alleine saß Annika auf ihrem nassen Bett und weinte leise vor sich hin. Irgendwann bemerkte sie, dass jemand ihr das Nachthemd anzog, und später schaltete jemand das Licht aus.

Dann war es still.

---ENDE DER LESEPROBE---