Das ganze Ding ist ein Risiko - Stefan Berkholz - E-Book

Das ganze Ding ist ein Risiko E-Book

Stefan Berkholz

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Beschreibung

Robert Habeck gehört zu den interessantesten Stimmen der bundesdeutschen Politik. 2019 kürt das ZDF-Politbarometer ihn zum beliebtesten Politiker, nach der Bundestagswahl 2021 steht fest, dass der Quereinstieger aus Schleswig-Holstein in den kommenden Jahren zum engsten Kreis der Entscheidungsträger*innen in der Berliner Republik zählen wird.

Wie sich dieser Aufstieg erklärt, beleuchtet der Journalist Stefan Berkholz, der Robert Habeck lang begleitet und genau beobachtet hat. Wo kommt Habeck her, was hat ihn geprägt? Ob sich die Inhalte und die Ernsthaftigkeit, die er immer wieder einfordert, in unserer Ablenkungsgegenwart überhaupt transportieren lassen? Und ob wir Aufrichtigkeit in der Politik auch dann noch ertragen, wenn sie unseren Wohlstand infrage stellt? Auch davon handelt dieses facettenreiche Buch.

  • Realpolitiker, Teamplayer, Philosoph, Provokateur - das faszinierende Porträt des Shooting-Stars der deutschen Politik.
  • Aus Gesprächen mit Robert Habeck, mit Weggefährten und politischen Gegnern, aber auch mit Rhetorikexperten und Psychologen entstand diese facettenreiche Nahaufnahme
  • Woher kommt Robert Habeck? Was hat ihn geprägt? Wer sind seine Vorbilder, wie seine Ansichten vom Menschen, woran glaubt er?

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Seitenzahl: 551

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Zum Buch

Spätestens seit 2018 gehört Robert Habeck zu den interessantesten und einflussreichsten Stimmen der bundesdeutschen Politik. Im März 2019 kürt das ZDF-Politbarometer ihn zum beliebtesten Politiker, 2020 zeigen Umfragen, dass Habeck zu den aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten für die kommende Bundestagswahl zählt.

Warum das so ist, wie sich dieser Aufstieg erklärt, beleuchtet der Journalist Stefan Berkholz, der Robert Habeck lang begleitet und genau beobachtet hat. Wo kommt Habeck her, was hat ihn geprägt? Ob sich die Inhalte und die Ernsthaftigkeit, die er immer wieder einfordert, in unserer Ablenkungsgegenwart überhaupt transportieren lassen? Und ob wir Aufrichtigkeit in der Politik auch dann noch ertragen, wenn sie unseren Wohlstand infrage stellt? Auch davon handelt dieses facettenreiche Buch.

Zum Autor

Stefan Berkholz wurde 1955 geboren und schrieb Beiträge für Die Zeit und den Tagesspiegel, Rezensionen für den ARD-Hörfunk und Hörfunkfeatures. Er veröffentlichte unter anderem »Carl von Ossietzky. 227 Tage im Gefängnis. Briefe, Dokumente, Texte« (Hrsg.). Der Autor lebt in Berlin.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Stefan Berkholz

Copyright © 2021 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: geviert.com, Nastassja Abel

Umschlagabbildung: © Nadine Stegemann

Redaktion: Dr. Peter Hammans

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-26514-4V001

www.blessing-verlag.de

Inhalt

»Das einzige Mittel: das ewige Gespräch«

Einleitung

TEIL I

Navigation

»Das ganze Ding ist ein Risiko«

Der Waghalsige

»Ein Bündnis schaffen, das ist moderne Politik«

Der Teamplayer

»Antikapitalismus ist nicht links, sondern dumm«

Der Realpolitiker

Teil II

Anker lichten

»Verpetzt hat einen eigentlich niemand«

Der Schüler

»Klug schnacken und in der Tonne liegen«

Der Philosoph

»Wenn man achtzehn oder neunzehn ist«

Der Zivildienstleistende

»Die Welt umarmen«

Der Liebende

»Wann ist der Mann ein Mann?«

Der Vater

Teil III

Fahrt aufnehmen

»Hat ja geklappt!«

Der Schriftsteller

EXKURS: Der Leser

»Kant hat mir die Kritik beigebracht

… und Camus den Zweifel …«

»Meine Lieblingsbücher«

»Sehnsucht nach dem Meer«

Der Norddeutsche

»Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen«

Der Provokateur

Teil IV

Bewegte Zeiten

»Ein Moment der Selbstbestimmung und Freiheit«

Der Redner

»Und es gelingt doch!«

Der Minister

»Die Institutionen unserer Demokratie sind schützenswert«

Der Staatstreue

»Die Suche nach Sinn«

Der glückliche Politiker

»Wir müssen uns vom katastrophischen Denken befreien«

Der Hoffnungsträger

»Wir brauchen eine neue Ehrlichkeit«

Der Redliche

»Eigentlich brauchen wir mehr Macht«

Der Machtpolitiker

»Politik ist nicht die Technik der Macht, sondern die Demut vor der Macht«

Der Demütige

»Nichts ist alternativlos«

Der Ideengeber

Teil V

Zu neuen Ufern

»Was kommt danach? Der Morgen!«

Der Gläubige

»Ich lebe in einem Flow gerade«

Der Gipfelstürmer

»Es müsse möglich sein zu gehen«

Der Unabhängige

»Ich weiß ungefähr, wie diese medialen Mechanismen funktionieren«

Der Coverboy

»Sind wir bereit zu lernen?«

Unter der Seuche

Dank

Anmerkungen

»Das einzige Mittel: das ewige Gespräch«

Einleitung

»Das ist wirklich so selten«, sagt eine aus der Runde, »das ist unglaublich!« Die Schauspielerin Annette Frier ist der Moderatorin Bettina Böttinger ins Wort gefallen, und gemeint ist Robert Habeck. »Sie gehören zu den wenigen Politikern …«, hatte die Moderatorin begonnen. »… die nicht reden wie Politiker!«, setzt die Schauspielerin den Satz fort. Habeck schmunzelt, Frier nickt bekräftigend.

Acht Leute sitzen um einen Tisch, auf nicht sehr bequem wirkenden Drehstühlen. Die Menschen sind mehr oder weniger prominent, sie üben sich in Small Talk. Unterhaltend soll es sein, öffentlich ist es sowieso, begleitet werden sie von mehreren Kameras. Wir befinden uns in einer Talkshow des WDR, Februar 2019. Die Moderatorin Bettina Böttinger stellt Habeck als Talkshowkönig des vergangenen Jahres vor. Er sei 2018 am häufigsten ins Fernsehen eingeladen worden. Habeck wiegelt ab, sagt, so sei das nun mal. Wenn man der Neue sei in dieser Studioszenerie und dazu noch »drei, vier gerade Sätze« spreche, dann werde man eben wieder eingeladen.

Habeck skizziert kurz seine Aufgabe als Bundesvorsitzender der Grünen, doch dann lenkt die Moderatorin ihn auf das Private, entlockt ihm im weiteren Verlauf der Sendung eine Menge persönlicher Dinge. Er spricht über seine Jugend, seine Familie, seine Berufswünsche in jungen Jahren; seine ihn prägende Arbeit als Zivildienstleistender mit Schwerstbehinderten; seine Zeit als freier Autor. Die Runde hört aufmerksam zu, die Kamera fängt hin und wieder ein Gesicht aus dem Kreis ein. Habeck zieht seine Zuhörer in den Bann.1

Talkshows sind etwas für Selbstdarsteller. Sie sollen unterhalten, Kamera und Publikum immer mitgedacht. Die Teilnehmenden wissen, dass viele ihnen zusehen. Unverstellt können sie kaum sein, nicht so wie zu Hause am Küchentisch. Und doch sticht hier einer heraus. Ein Berufspolitiker, der locker und offen aus seinem Leben erzählt, auf die Fragen antwortet, die ihm gestellt werden, nicht ausweicht. Er denkt nach, ehe er spricht, gibt sich selbstironisch, ist das Gegenteil eines gewöhnlichen, Floskeln verbreitenden Politikbürokraten.

Woher rührt diese innere Ruhe, diese Bescheidenheit und Geduld? Alles Kalkül und Masche, wie immer mal wieder vermutet oder behauptet wird? Pose? Gehabe? Eitelkeit? Ein Schauspieler, der seiner Umwelt etwas vormacht, um Vorteile zu erzielen? Oder einfach nur ein kluger, belesener Mensch, der höflich und natürlich geblieben ist?

Im April 2019 ist Habeck zu Gast in einer kleinen Berliner Buchhandlung in Prenzlauer Berg. »Die Lieblingsbücher« heißt die Veranstaltungsreihe, Prominente geben Einblick in ihre Lektüre. Die Buchhandlung ist rappelvoll, die Veranstaltung seit Wochen ausverkauft. Der Platz für den Gast ist ein leicht erhöht stehendes Sofa. Nach der Begrüßung durch die Buchhändlerin bedankt sich Habeck zunächst für die Einladung, fragt dann, ob er auch hinten gut zu sehen sei in diesem lang gestreckten Raum, entscheidet sich schließlich stehen zu bleiben und beginnt, gut gelaunt, ohne Notizen, in freier Rede. Die ausgewählten Bücher hat er aus Flensburg mitgebracht, er möchte sie zeigen und vorstellen, ein paar Passagen daraus vorlesen. Eine gute Stunde soll der Vortrag dauern.

Zunächst Paul Celan: »Corona«, ein kurzes Gedicht, ein Schlüssel für Habecks Denken und seinen Blick auf die Welt, wie er erklärt. Dann kommt er auf die Meridian-Rede zu sprechen, Celans Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahr 1960. Vorab skizziert Habeck ein paar Lebensdaten des Dichters: Jude, in Czernowitz geboren; Arbeitslager in Rumänien, Flucht; die Eltern in einem Vernichtungslager ermordet. Mit neunundvierzig nimmt Celan sich das Leben, »am 20. April in der Seine«, am Geburtstag von Adolf Hitler also. »Und seine ganze Dichtung handelt davon, wie man nach den Ereignissen der Shoah und Auschwitz noch sprechen kann.«

Im Studium in Freiburg sei er auf Celan aufmerksam geworden, erzählt Habeck. Ein ganzes Semester lang hätten sie nur ein Gedicht besprochen, Zeile für Zeile. Und im folgenden Semester dann die Meridian-Rede von 1960, »ein ganzes Semester für zehn Textseiten«.2

Adorno hatte postuliert, dass die Kunst nach Auschwitz zu schweigen habe; ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Celan widerspricht. »Und so sind seine Gedichte wahrscheinlich die durchwirkteste Poetologie, die wir überhaupt im deutschen Raum haben«, sagt Habeck, »maßgeblich geprägt durch das jüdische Denken, dass nämlich das, was erreicht werden soll, nie erreicht werden kann. Und das, was man sicherlich metaphysisch auf Gott übertragen kann, ist in diesem Fall das Gegenüber, der andere, der Mensch.«

Das Fremde zwischen Menschen könne nie überwunden werden, jeder sei sein eigener Komet, von anderen auf seiner Umlaufbahn letztlich nicht zu erreichen. Aber: Verstummen, wie Adorno vorschlug, sei keine Lösung. Auch Selbstmord nicht, hatte Albert Camus ausgeführt, ein Gedanke, mit dem sich Habeck in der Schule, kurz vor dem Abitur, auseinandergesetzt hat. Das eigene Schicksal sei anzunehmen und über alle Schmerzen hinweg zu ertragen. Das Fremde zwischen Menschen aber sei ebenfalls zu erdulden. Der Mensch bleibt allein in seinem Universum, aber er kann durch das Reden mit anderen so etwas wie eine Verständigung oder Annäherung über Brücken und Gräben hinweg erreichen.

In diesem Austausch kann dem anderen begegnet werden. Achtung vor dem Fremden kann entstehen, aber keine Gemeinschaft, keine Vereinnahmung, keine Ideologie. In dieser Zuwendung entsteht ein Gespräch. Celan spricht vom »Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit«, und Habeck unterbricht sein Vorlesen, indem er das Publikum direkt anspricht und darauf aufmerksam macht: »Das ist unser Leben, jeweils in seiner eigenen Form. Und keiner hat den gleichen Neigungswinkel unter uns.«

»Wir können uns im Kern nicht verstehen«, fasst Habeck Celans verschlüsselte Sätze in eigene Worte, doch durch ständiges Miteinandersprechen könne zumindest diese Fremdheit, dieser leere Raum zwischen den Menschen begriffen werden. »Und das ist«, blickt Habeck aufmunternd in den Raum, »wenn Sie den Sisyphos-Essay dazu nehmen, eine gute Nachricht. Das ist eigentlich der Sinn, warum wir immer weiter diskutieren, immer weiter ringen.«

So verstehe er auch sein Wirken als Politiker. Und dieses Verständnis sei »natürlich die härteste Form gegen jede Ideologie, die im Kern immer vereinnahmen will«, eine Nation schaffen, ein Volk, ein Reich. Celan habe in seiner Rede ein »poetisches Bekenntnis zu einer Gesellschaft der Offenheit« abgelegt, die dem jeweils anderen – »und das ist durchaus religiös gemeint« – seinen Raum lässt.3

»Das Wesen der Demokratie ist Veränderung, das der Diktatur ist Stillstand«, schreibt Habeck in seinem Buch Wer wir sein könnten von 2018. Und Celans Poetik ist vielleicht bis heute »die radikalste Antwort« auf das Diktum Adornos: »… nicht aufhören, miteinander zu reden, in ein Gespräch eintreten, ohne anderen eine Form von Identität aufzuzwingen, (…) eine fragende, suchende Haltung« einnehmen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas, den Habeck an diesem Abend auch vorstellt, habe daran anknüpfend formuliert: »Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden.«4

Aus seiner Lektüre habe er Folgerungen für sein Dasein als Politiker gezogen, schreibt Habeck: »Das Gegenüber zu sehen und ernst zu nehmen, frei zu reden und auf Gegenargumente einzugehen, sich im besten Fall irritieren zu lassen, Fragen nicht gleich mit Antworten zuzudröhnen, auf Widersprüche einzugehen, auf Phrasen zu verzichten, sich nicht hinter Parteiprogrammen zu verschanzen, vielleicht sogar eigene Zweifel und Ängste zu thematisieren – das sind Elemente einer solchen sprachlichen Offenheit.«5

Ob Literatur hilfreich sein könne in der Politik, fragt ihn im September 2019 der Herausgeber der FAZ, Jürgen Kaube, in einer Podiumsveranstaltung seiner Zeitung. Ob es hilfreich sei, dass er Literatur verfasst habe in seinem ersten Leben, möchte der Journalist wissen. Ob man da Dinge sehe, die andere nicht sehen. Oder denke er womöglich daran, »in einer Kammer Ihres Herzens«, seine Erfahrungen in der Politik schriftstellerisch zu verarbeiten? Habeck sieht abwehrend aus, schließt die Augen. Er wiegt den Kopf, wirkt genervt. Er mag solche Fragen nicht mehr hören, weil die Zeit als Schriftsteller weit hinter ihm liegt, weil er seit 2009 hauptberuflich Politiker ist und als Berufspolitiker wahr- und ernst genommen werden möchte. Dann überlegt er noch einmal kurz, sagt, dass das »politische Geschäft« im Wesentlichen darin bestehe, »Rollenzuschreibungen« zu vergeben. Und da sei seine Vergangenheit sowohl hilfreich als auch hinderlich. Wenn er also angekündigt werde als Schriftsteller, dann sagen viele: »Ah, okay, ist mal was anderes.« Und die andere Hälfte sagt: »Okay, aber der ist ja gar kein Jurist, der ist ja gar kein Ingenieur, was will der mir jetzt zum Klimaschutz erzählen?« Es sei also Freud wie Leid.

Doch dann wird er grundsätzlicher, ernsthafter, wie er sagt. Und er kommt auf seine Weltsicht zu sprechen, seinen Denkansatz, seine philosophischen Lektüreerfahrungen, die er auf die Gegenwart anwendet und überträgt. Was bedeuten eigentlich Kunst oder Kultur? Seiner Auffassung nach »immer ein Stück weit Entfremdung«. Das heißt, andere, anderes in ihrer Andersheit zu erkennen und so stehen zu lassen. »Also nicht eine Übersetzung in eine komplette Identität: Wir müssen alle gleich sein, gleich reden, gleich denken, und uns dann immer nur wiederholen, weil wir ja in der Gleichheit schon alles erfunden haben.« Das gäbe es natürlich auch, aber das sei dann »affirmative Kultur, aber sicherlich keine Kunst«.

Für ihn bedeute Kunst eher die Suche nach Brüchen, also etwa, warum es zu Missverständnissen kommt, warum Irritationen entstehen. Und die einzige Chance, so etwas wie Verständigung zu erreichen, sei »das ewige Gespräch«. Wenn aber zwei der gleichen Meinung seien, sei es nur noch Selbstbestätigung, kein Gespräch. »Und Kunst und Kultur ist das ewige Weiterdiskutieren, das ewige Aufeinanderzugehen und immer wieder einen neuen Ansatz machen.« In Sprachlosigkeit dürfe das nicht enden, »dann ist man gescheitert, politisch wie als Schriftsteller oder als Künstler«. Es dürfe aber auch nicht in dauerhafter Zustimmung enden, dafür könne es nur Momente geben.

»Und wenn man das so denkt«, kommt Habeck auf sein Politikerdasein zu sprechen, dann sei seine Vergangenheit für die aufgeputschte Gegenwart vielleicht das beste Rüstzeug, das man bekommen kann: »Also zu verstehen, was gerade gesellschaftlich los ist, passt ziemlich genau zu dem, was Kunst und Kultur einem beibringen können.«6

Es kann also in diesem Buch nur darum gehen, Facetten einer Persönlichkeit zu streifen, eine Annäherung aus verschiedenen Blickwinkeln zu unternehmen. Wo kommt Habeck her? Was hat ihn geprägt? Wer sind seine Vorbilder, wie seine Ansichten, welche Überzeugungen prägen ihn? Wie setzt er seinen Anspruch in der Praxis um?

Robert Habeck scheint eine Sehnsucht nach Aufrichtigkeit und Redlichkeit zu wecken – aber ausgerechnet als Berufspolitiker? Wie hält einer das Politikerleben aus, der offenbar in vielem anders ist als seine Berufskollegen? Lassen sich Inhalte und Ernsthaftigkeit, die Habeck im Gespräch immer wieder einfordert, in unserer Ablenkungsgegenwart überhaupt noch transportieren? Zugleich soll auch ein Blick auf jene geworfen werden, die Habeck kritisieren oder ihn belächeln. Stimmen aus den Medien, von Konkurrenten und Gegnern. Welche Rolle spielen die Medien? Welche Funktion erfüllen Talkshows?

Diesem Buch zugrunde liegen Beobachtungen und Gespräche mit Robert Habeck, mit Kollegen und Weggefährten, die Begleitung von Wahlkampfauftritten und Podiumsveranstaltungen. Es ist die Skizzierung eines aufregenden Experiments. Des Experiments nämlich, Politik in Deutschland anders zu gestalten als bisher üblich – verbunden mit der Frage, ob Optimismus, Zuversicht und Offenheit in einem Land der Verneinung eine Chance haben. Es ist ein Experiment, sagt Habeck selbst. Aber es müsse auch möglich sein zu gehen. Die Frage ist, wie lange das Experiment trägt, wie lange er getragen wird, und ob er zu einem Kraftzentrum in Deutschland werden kann, wie er es in seiner Partei seit Anfang 2018 ist. Der Ausgang? Völlig offen.

Doch wie sagt Habeck selbst in seinem Buch von 2018: »Das ist die wahre Herausforderung: Zuversicht.«7 Zwei Jahre nach dieser Veröffentlichung legt die Seuche das Land monatelang still. Wird es danach zu einer »Politik der Möglichkeiten« kommen, wie Habeck hofft?8

Teil I

Navigation

Wann, wenn nicht jetzt

Wo, wenn nicht hier

Wie, wenn ohne Liebe

Wer, wenn nicht wir

Rio Reiser

»Das ganze Ding ist ein Risiko«

Der Waghalsige

»Es gibt, bei mir jedenfalls, eine große Bereitschaft, es zu riskieren, es drauf ankommen zu lassen«, sagt Habeck im Gespräch. Und er meint damit auch sein Engagement in der Politik.9

Ist er also ein Spieler? Einer, der blufft? Eine Risikonatur? Wie Yanis Varoufakis etwa, der kurzzeitige Finanzminister Griechenlands, der – angeblich – Vertreter der Spieltheorie ist? Nein, sagt Habeck, mit Spielerei habe das bei ihm nichts zu tun. Er sei keine Spielernatur, »im Sinne von Leichtigkeit«. Er halte sich eher an seine Erfahrung, »dass die Dinge dann gelingen können, wenn man voll auf sie setzt«. Also nicht einen alternativen Plan in der Hinterhand haben, einen Plan B als Ausweichmöglichkeit; sondern Plan A fassen, formulieren, strukturieren und diesen dann mit allen Konsequenzen durchziehen.

Was aber ist sein Plan? Hat er ein festes Ziel im Blick? Ist es sein oberstes Ziel, Bundesminister zu werden oder gar Kanzler? Aus seinen Äußerungen lassen sich bis Ende 2020 keine festen Absichten ablesen. Konkrete Fragen wiegelt er immer wieder ab.

Habecks Lebensstil ist sein Understatement. Hinter seiner Höflichkeit und Rücksichtnahme in der Öffentlichkeit, hinter seinem Herunterspielen, was die eigenen Bestrebungen anbelangt, brennt ein starker Wille, eine Kraft, die Einfluss nehmen will, anpacken, verändern, umkrempeln – oder »gestalten«, wie es bei Politikern häufig heißt. Ein Geist, der die Welt am liebsten aus den Angeln heben, eine gezähmte Ungeduld, die an den Schalthebeln dieser Republik rühren möchte.

In seiner politischen Autobiografie von 2016 spielt er seine Karriere herunter: »Mein Weg durch die Politik war eine wilde Mischung aus Zufall (…) und der Bereitschaft, sich auf neue Anforderungen einzulassen. Das Einzige, was gleich geblieben ist, ist das Suchen, die Suche nach Sinn und die Hoffnung, dass es ihn gibt und es einen Unterschied ausmacht, ob ich mich an der Suche beteilige.«10

Im Titel seiner politischen Autobiografie, Wer wagt, beginnt, klingt dieses Flirten mit dem Risiko bereits an. Im Vorwort heißt es: »Kein Eiferertum, aber Mut und Leidenschaft sind Tugenden – und sie werden jetzt gebraucht: Auszubrechen aus dem taktischen Korsett, offen und mit Risiko die politische Auseinandersetzung suchen und nicht aus Angst vor Niederlagen gar nichts mehr riskieren – das ist das, was jetzt ansteht. Wer wagt, muss jetzt beginnen.«11

Vorbild für ihn seien immer jene Menschen gewesen, die »eine gewisse Grundsätzlichkeit« hatten. Als Schriftsteller beispielsweise Albert Camus. Der habe seinen Literaturnobelpreis zurückgegeben, habe mit anderen Existenzialisten gebrochen, etwa mit Jean-Paul Sartre, weil er die ideologischen Positionen, die Verengungen und Verhärtungen nicht hinnehmen wollte. Das hat eine »hohe Konsequenz«, meint Habeck, »wenn man sagt: Ich geh meinen Weg. Ich will den erfolgreich durchführen, aber es bleibt mein Weg. Das fand ich immer besonders beeindruckend.«12

Ein Vorbild als Politiker ist auch Václav Havel, der tschechoslowakische Dissident, der für seine Überzeugungen mehrmals verhaftet wurde, ins Gefängnis ging und insgesamt rund fünf Jahre hinter Gittern zubrachte. Nach dem Ende des sozialistischen Regimes wurde er rehabilitiert und Staatspräsident seines Landes. Auch er: konsequent und unbeugsam. Im Gefängnis hatte Havel nach drei Jahren, im März 1982, eine Bilanz gezogen: »Einfacher gesagt: ich musste so handeln, wie ich gehandelt habe, anders ging es einfach nicht.«13

Habeck schreibt, seine Generation habe es nicht leicht gehabt, sich aus dem »großen Kuddelmuddel« herauszuwursteln. 1969 geboren, rechnet er sich zur 89er-Generation, der »Generation Golf«, wie Florian Illies sie beschrieben hat, »die Generation der zu spät Gekommenen«.14 Die »Weichei-Generation«, wie Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, sie einst bezeichnet hat.15

Die 68er-Generation hat die deutsche Gesellschaft vom »Muff unter den Talaren« befreit und die Nachwirkungen des Nationalsozialismus öffentlich gemacht; zugleich ist sie anfällig für rigide Ideologien. Damit können Zwanzigjährige an der Zeitenwende von 1989 nichts anfangen. Aber wo soll der Weg für sie sein, wohin soll er sie führen? Das explodierende Atomkraftwerk von Tschernobyl rüttelt sie im Sommer 1986 aus ihrem Wohlstandsschlaf. Ihre Zukunft steht auf dem Spiel. »Materialismus als Lebensform«, das kann es nicht sein. Es habe »keinen gesellschaftlichen Idealismus« gegeben, sagt Habeck, »das musste man sich quasi selber erkämpfen«. Und der Weg in eine Partei? Nicht unbedingt angesagt in seiner Generation.16

Frei sollte der Weg sein, frei und ungebunden. Aber wie frei und ungebunden? Mit 27 Jahren heiratet Habeck, wird Vater eines Sohnes. Auch nicht unbedingt angesagt in seiner Generation, so jung und finanziell ungesichert eine Familie zu gründen. »Das hat mich den gesamten Freundeskreis gekostet«, sagt Habeck. »Denn mit dem hippen Leben, nachts auf Partys rumhängen, bis zum Morgen tanzen, war’s vorbei. Aber damals war das ein Akt der Unangepasstheit. Meine Eltern haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, und Geld war auch nicht da.«17 Also auch privat: ein Weg ohne Netz und doppelten Boden? »Unsere Familie basiert auf einer Mutprobe«, bekennt er und meint damit schon die erste Verabredung, die einer Wette glich, mit seiner Lebensliebe und späteren Ehefrau Andrea Paluch.18

Nach ihrer in einem Jahr vorgelegten Dissertation (und nun bereits mit drei Söhnen) schlagen er und seine Frau Verlagsangebote oder Universitätsjobs aus und entscheiden sich für eine Existenz als freie Schriftsteller. Ein Vabanquespiel. Welche freien Autoren können von ihrer Arbeit auskömmlich leben und das, seit 2002, sogar zu sechst, mit vier Kindern? Aber das Ehepaar geht diesen Weg, um seine Zeit mit vier Kindern partnerschaftlich zu teilen, Haushalt, Kinderbetreuung, Schriftstellerleben gemeinsam zu gestalten. »Meine Frau und ich entschieden uns (…) für das Risiko, durch Schreiben unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Und es war die richtige Entscheidung.«19

Auch in der Literatur, die er rund zehn Jahre lang zusammen mit seiner Ehefrau verfasst, taucht das Wort Risiko wiederholt auf. Im ersten gemeinsam verfassten Jugendbuch von 2006, Zwei Wege in den Sommer, riskieren Jugendliche allerlei Abenteuer. Sie begeben sich auf die Reise ins Irgendwo, überlassen sich den Gewalten des Meeres, wagen sich ins Unbekannte, hoffen darauf, ihren Weg zu finden. Ein Aufbruch ins Ungewisse.20

In einem Interview wird Habeck im Juni 2007 auf seine Rollen als Schriftsteller und Politiker angesprochen. Der Journalist meint, dass ein Schriftsteller im politischen Betrieb doch wohl eher ein Exot sei. Habeck antwortet, dass der politische Jargon »eine harte Probe« darstelle und zur Anpassung verführe: »In der Politik wird eine sehr defensive Sprache gesprochen. Literatur aber muss viel riskieren. Diese Haltung versuche ich in die Politik zu retten – mal sehen, was dabei rauskommt.«21 Noch ist Habeck Landesvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein, ausgestattet nur mit einer Aufwandsentschädigung. Die Doppelbelastung nimmt zu.

Im zweiten Jugendroman, Unter dem Gully liegt das Meer, sind die meisten Figuren auf Risiko gepolt. Die Erzählung dreht sich um den G8-Gipfel in Heiligendamm. Die Jugendlichen kommen aus der autonomen Szene, aus der Hausbesetzerszene, sie sind anarchistisch, gewaltbereit, auf Umsturz der Verhältnisse aus. Die 19-jährige Edda ist unentschlossen, sie weiß nicht recht, wohin, fragt sich, wem sie sich anschließen, welchen Sinn die Existenz vor dem Tod haben soll. Ein Leben »mit vollem Risiko und ohne Vertagung auf das Jenseits«, überlegt sie, sei würdiger als der Glaube in einer Kirche.22 »Ich würde sagen, das Leben ist mehr als die Summe seiner Teile. Es ist eben nicht berechenbar. Es ist die Intensität des jeweiligen Augenblicks.«23 Und Jasper, ihr Freund, übernimmt den Gedanken, »dass man nicht umsonst lebt, dass man nicht seine Jahre auf der Erde verbringt und keine Spuren hinterlässt, dass man etwas ändert, was nur man selbst ändern kann, weil es sonst keinen Sinn machen würde, dass man da gewesen ist …«24

Spuren hinterlassen, sinnvoll leben, volle Kraft voraus. Wer weiß, wie weit die Kräfte reichen? Das Leben ist endlich, es bleibt keine Zeit zu vergeuden. Und in der Politik? Natürlich auch dort: volle Kraft voraus und volles Risiko. Auch seine Existenz als Politiker versteht Habeck in diesem Sinn. Man muss sich trauen, »wenn man etwas durchsetzen will. Es gibt keine Garantie, dass es gelingt. Aber dass es nicht gelingt, wenn man sich nicht traut, das ist nun mal sicher.«25

Merkwürdig und auch widersprüchlich wirkt es, dass Habeck just in dem Augenblick in die Politik aufbricht, als er sich so richtig wohlfühlt in seiner Familie, endlich angekommen ist nach verschiedenen Umzügen. Anfang 2002 rafft er sich auf und fährt aus seinem Wohnort Großenwiehe, einem Dorf rund zwanzig Kilometer von Flensburg entfernt, zu einer Parteiversammlung der Grünen. Habeck ist 32 Jahre alt. Sein vierter Sohn ist noch nicht geboren, der älteste Sohn ist sechs, die Zwillinge sind drei. Ist es eine Flucht aus der Idylle? »Ich suchte nach einem Resonanzraum, der größer war als eine Bibliothek oder ein Buch«, schreibt er.26 »Ich war in meinem Leben sehr glücklich, aber es war auch sehr subjektiv. Politik ist das Gegenteil davon: Sie will etwas für die Allgemeinheit erreichen.«27 Deutlicher wird er in einer Podiumsveranstaltung in Hamburg, als er davon spricht, »dass es einfach nicht ausfüllend ist, nur Bücher zu schreiben, sich um sich selbst zu kümmern, sein Haus zu renovieren und seinen Garten zu machen«.28

Anstoß ist angeblich, dass er einen Fahrradweg für die Kinder vermisst. Das ärgert ihn, er möchte es ändern. Er möchte sich einmischen, seine Stimme erheben, etwas bewegen, Verbündete suchen. Die Grünen in Schleswig-Holstein sind ziemlich am Boden, niemand hat mehr so richtig Lust, Verantwortung zu übernehmen. Habeck bringt offenbar frischen Wind in die Versammlung. Jahre später erzählt er in einem Podiumsgespräch der Wochenzeitung Die Zeit ausführlich von jener Nacht, die ihn in die Politik, in die Partei der Grünen führt. Kreismitgliederabend, »nicht ganz einfach rauszufinden, wann und wo der ist«, schlechtes Wetter, dunkler Abend; Landgasthof, »seit 1960 nicht mehr renoviert«, an den Toiletten vorbei ins Hinterzimmer, Resopaltische, Ernte-23-Aschenbecher auf dem Tisch. »Und ungefähr fünfzehn Leute sitzen rum, und das waren dann also die Grünen.«

Die Leute seien ziemlich traurig gewesen, erzählt Habeck, »weil ihnen gerade der Vorstand abhandengekommen war«, aus Protest gegen den Afghanistan-Krieg zurückgetreten. »Und die andern, die da waren, waren einfach nur zu faul gewesen, auch auszutreten, die hatten auch keinen Bock mehr.« In einem halben Jahr sind Kommunalwahlen, die Versammelten erkennen ein Problem, kommen auf den fehlenden Vorstand zu sprechen. »Und als ich sagte, das scheint mir auch so zu sein, ein bisschen trostlos hier, ham die gesagt, dann mach du das doch, du hast noch so viel Elan mit deinem Radweg.« Tja, Habeck zuckt mit den Schultern, er könne so schlecht Nein sagen, sage einfach zu leicht Ja. »Da hab ich dann gesagt: Tja, weiß ich nicht so genau, ihr kennt mich ja gar nicht. Wer bist du denn? Da hab ich mich kurz vorgestellt: Ich bin Robert, ich wohn in Großenwiehe, und das fanden die ganz okay. Klang irgendwie grün genug jedenfalls, und dann haben die mich zum Kreisvorsitzenden gewählt. Ich musste noch schnell eintreten, dann war das so.« Nein, den Radweg gebe es immer noch nicht, sagt Habeck auf Nachfrage, ein Kilometer Radweg koste eine Million Euro, die habe keiner in der Region übrig. Ähnlich sei es ihm übrigens bei seiner Wahl zum Landesvorsitzenden 2004 wieder ergangen. Der Vorgänger war zurückgetreten, und er ist bekannt als einer, der nicht bei drei auf dem Baum ist, neues Amt, neue Aufgabe. »Ehrlicherweise«, fügt er dann noch hinzu, »ein bisschen drängele ich ja auch, muss man zugeben.«29

Fortan ist er für die Partei unterwegs, anfangs ehrenamtlich, »das sind locker dreißig bis vierzig Stunden in der Woche gewesen, um so einen Kommunalwahlkampf zu organisieren, das wollte sich keiner aufhalsen«; später, ab November 2004, als er zum Landesvorsitzenden gewählt wird, mit einer bescheidenen Aufwandsentschädigung »für einen 60-Stunden-Job«.30 Und er merkt, dass er etwas bewegt; er gewinnt Selbstvertrauen, weil er gut reden kann und keine Scheu hat aufzustehen. Er reißt mit und lässt sich mitreißen; er schafft Netzwerke und Bündnisse, die ihn tragen und stützen. »Was wie eine Bilderbuchkarriere aussah, war in Wahrheit mindestens zu fünfzig Prozent der Not und dem Elend der schleswig-holsteinischen Grünen geschuldet«, schreibt Habeck.31

Rasch gewinnt er an Einfluss. Als Landesvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein möchte er neue Wege gehen. Gemeint ist damit das Projekt »Grüne Eigenständigkeit«, das nicht auf eine bestimmte Koalition zielt, sondern eben eine eigenständige Politik formuliert, die offen sein soll für verschiedene Bündnisse. Die Spitze der Bundespartei ist da noch anderer Ansicht: Die Bundesvorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir und die Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin sprechen sich gegen ein Jamaika-Experiment aus, also gegen eine schwarz-gelb-grüne Koalition. Die wird erstmals Ende 2009 im Saarland erprobt. Darauf angesprochen, sagt Habeck: »Ich habe immer für ein grünes Selbstbewusstsein argumentiert und dafür, sich nicht als Anhängsel anderer zu begreifen. Das ist natürlich voller Risiko, weil es alte Pfade verlässt. Tatsächlich waren wir im Norden so was wie Vorreiter, weil wir uns erstmals überhaupt nicht an anderen orientiert haben.«32

Habeck ist 2009 Landtagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein geworden, drei Jahre später ist er Landwirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, er hat auch einen Sitz im Bundesrat. Habecks Name bekommt Gewicht in der Bundespolitik. Und er sucht neue Herausforderungen.

Im Frühjahr 2015 kommt es zu Spekulationen. Der Spiegel veröffentlicht Mitte April einen Artikel unter der Überschrift »Der Joker«. Es gebe viele bei den Grünen, die sagen, »er habe den Ehrgeiz, nach der nächsten Bundestagswahl Vizekanzler in einem schwarz-grünen Kabinett Merkel zu werden«. Dem Reporter gegenüber äußert Habeck sich nicht eindeutig, macht aber klar, dass er sich auch den nächsten Sprung »sehr wohl zutrauen würde«. Damit sind die Spekulationen eröffnet, zweieinhalb Jahre vor der Bundestagswahl. Der Kieler Umweltminister leide nicht unter Größenwahn, bemerkt der Journalist, er wisse selbst, »dass er kaum Erfahrung in der Bundespolitik hat«. Sein Vorteil aber: Er könnte das »alte grüne Lagerdenken« überwinden, er sei offen für jede Koalition. »Man kann das Opportunismus nennen«, urteilt der Journalist. Habeck sei eine »Mischung aus Aussteiger und Pragmatiker, er hat das Leben eines Ökoromantikers geführt, aber als Politiker geht ihm jeder ideologische Eifer ab. Er trinkt auch gern Bier aus Dosen.«33

Die Wochenzeitung Die Zeit nimmt den Ball vierzehn Tage später auf. »Habeck gilt schon lange als Talent in der Partei«, heißt es, »doch er blieb lieber in der Heimat – auch weil er kleine Kinder hatte.« Aus seinen »Ambitionen auf eine Karriere in Berlin« aber mache er schon länger kein Hehl. »Der Grüne gibt sich gern unangepasst, ist klug, thematisch vielseitig und charismatisch. Er gilt als Alternative zur etwas drögen, erfolglosen Parteispitze.« Und ein weiterer Vorteil: »Er besitzt das Rampensau-Gen.« Irgendwie schillernd also und zugleich nicht recht dazugehörend, denn: »Der Mann ist bekennender Parteitagshasser.« Und: »für eine gewisse Chaotigkeit bekannt«.34 Zwei Tage später bescheinigt die Tageszeitung Die Welt Habeck »das Zeug zur politischen Rampensau, auch wenn er in eigener Sache gelegentlich recht kompliziert formuliert«.35

»Habeck auf dem Sprung nach Berlin«, lautet die Überschrift auf der Titelseite der Kieler Nachrichten vom Mai 2015. Unter dem Foto des herausfordernd blickenden Landesministers heißt es: »Der unkonventionelle Politiker geht ein hohes Risiko ein. Seine Ziele sind es ihm wert.« Habeck hat – nach einigem Zögern – auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben, die Grünen als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl 2017 führen zu wollen. »Es ist eine Reise ins Ungewisse«, wird Habeck zitiert, eine nötige Urwahl für diese Kandidatur sei noch gar nicht beschlossen, ihr Ablauf völlig unklar.36

»Der Weg dahin wäre nicht ohne Risiko«, wird in den Kieler Nachrichten bereits drei Wochen zuvor orakelt. Denn: »Sollte Habeck bei der Urabstimmung deutlich scheitern, wäre er wohl politisch verbrannt.« 2017 finden in Schleswig-Holstein auch Landtagswahlen statt, und Habeck setzt mit seiner Kampfkandidatur für Berlin seinen Ministerposten aufs Spiel.37

Dennoch erhält er auch Lob für sein Vorpreschen. »Es ist doch ein tolles Zeichen der Wertschätzung seiner Arbeit, dass er für diesen Posten gehandelt wird«, lässt sich Eka von Kalben, die Fraktionschefin im Landtag, zitieren.38 Anke Erdmann, Kieler Landtagsabgeordnete und zwei Jahre später Staatssekretärin in Habecks Ministerium, äußert sich mit den Worten: »Er war 2012 eine Frischzellenkur für Schleswig-Holstein, das kann er auch für den Bund werden.«39

Und Cem Özdemir, seinerzeit Bundesvorsitzender der Grünen, der sich kurz zuvor noch frühzeitige Debatten um die Spitzenkandidatur im Bundeswahlkampf verbeten hatte, begrüßt die Entscheidung auf Twitter: »Robert Habeck ist ein Klasse-Typ. Er tut unserer Partei in jeder Position gut.«40 Vielleicht ein vergiftetes Lob, denn zwei Jahre später werden die beiden direkte Konkurrenten in der Urwahl sein.

Ginge Habeck als Sieger aus ihr hervor, würde er zwangsläufig die Landesliste der Nord-Grünen anführen und nach der Wahl im Herbst 2017 in den Bundestag wechseln. Damit wären andere Karrieren gefährdet, unter anderem die seines politischen Freundes Konstantin von Notz, der seit 2009 im Bundestag sitzt. Die Wahlarithmetik der Grünen würde von Notz auf einen aussichtslosen Platz für den Bundestag bringen, seine Wiederwahl ist gefährdet. Habeck setzt damit eine Parteifreundschaft aufs Spiel. Zudem bahnt sich für die Partei eine »Lex Habeck« an. Denn seinen Ministerposten möchte er zeitgleich weiterführen und erst nach einer Übergangszeit beenden. Eine Unmöglichkeit eigentlich nach den Satzungen der Partei. Eine Kamikaze-Strategie? Oder kühl kalkuliert, weil Habeck damit rechnet, im Fall einer Niederlage nach Kiel zurückkehren zu können?

»Er geht begrenzte Risiken ein«, sagt Ulf Kämpfer, der Kieler Oberbürgermeister, der einst auch Staatssekretär in Habecks Ministerium war und mit ihm befreundet ist. »Er hat ja nicht gesagt, ich gebe mein Ministeramt auf, sondern: Ich bewerbe mich um die Spitzenkandidatur. Er hat sich dadurch bundesweit populär und bekannt gemacht, und er hat ein super Ergebnis gehabt, trotz der Niederlage. Rückblickend war das die Vorbereitung für den nächsten Schritt, Bundesvorsitzender zu werden. Auch da hat er gesagt, er hätte keine Rückfahrkarte, er stelle sich nicht für die Landesliste auf. Aber auch da war klar, er wäre weiter als Minister in Schleswig-Holstein gesetzt gewesen. Also auch das nur ein begrenztes Risiko. Wäre er nicht Bundesvorsitzender geworden, hätte er weiter Minister in Kiel bleiben können.« Gewisse Risiken sei Habeck immer eingegangen, meint Kämpfer, »aber es war nie bodenlos. Es gab immer eine Rückfallposition. Man sollte das nicht zu sehr heroisieren.«41

Auf dem Landesparteitag der Grünen spricht Habeck am 9. Mai 2015 eine halbe Stunde lang. »In 30 Minuten gelingt ein beachtlicher Dreiklang«, wird in den Kieler Nachrichten kommentiert: »Abbitte leisten. Zusammenhalt stiften. Aufbruch beschwören.« Er wisse, dass er »vielen Leuten Scherereien verursacht habe«, sagt Habeck, und ihm sei bewusst, dass ihn einige »für Kamikaze, naiv, verantwortungslos, ja parteischädigend« hielten: »Und einen Teil davon kann ich gar nicht ausschließen.« Doch seine Bewerbung sei keine Bewerbung gegen Schleswig-Holstein. Er sei »zuversichtlich wie nie, dass aus dieser Kandidatur etwas Gutes werden kann«. Er bittet um Vertrauen und beschwört eine Mischung aus Radikalität und Pragmatismus, für die die Nord-Grünen stünden und die in Berlin dringend nötig sei.42

Diesen Landesverband der Grünen in Schleswig-Holstein habe immer ausgezeichnet, »dass wir mit offenem Visier, dass wir sportlich miteinander umgegangen sind«. Die Parole dieses Parteitags lautet: »Offen und gemeinsam«, in großen Buchstaben ist sie hinter Habeck auf Leinwand gezogen. Und diesen Anspruch unterstreichen die Delegierten nach seiner Rede mit lang anhaltendem Applaus. Er wisse nicht, ob die Partei seine Kandidatur annehme. Für ihn sei das aber gar nicht die Frage, sondern – und nun zitiert er wieder, etwas verkürzt, sein politisches Vorbild Václav Havel: »Hoffnung ist die Gewissheit, dass es Sinn hat, egal wie es ausgeht.« Dieser Sinn sei doch letztlich der Grund, »warum wir bei den Grünen sind«. Das sei der Grund dafür, dass sie sich einmischten, dass sie versuchten, Alternativen herzustellen. »Und Alternativen, die entstehen nun mal nicht von allein. Sondern nur, indem man sie sucht und indem man sie schafft.«43

Habeck scheint alles auf eine Karte zu setzen. Ja, sein Vorgehen könnte auch und sogar als Erpressung verstanden werden, denn er deutet die Möglichkeit vom Ende seiner politischen Karriere an. »Wenn die Urwahl grandios schiefgeht für mich, muss ich das als Votum verstehen, dass ich nicht mehr gebraucht werde«, sagt er und fügt hinzu: »Die Kandidatur kann mein politisches Ende bringen.«44

Alles oder nichts also, gibt er vor. »Ich bin der Herausforderer«, schreibt er in einem Brief an die Parteibasis, »das schließt ausdrücklich das Risiko mit ein zu verlieren.« Er werde sich »keine Hintertür« offen lassen und keine »Rückfalloption«, sollte er nicht gewinnen.45 Er wolle Schleswig-Holsteins grüne Erfolgsgeschichte nach Berlin tragen, denn seit Jahren liege man in seiner Heimat mit vier bis sechs Prozent über dem Bundesdurchschnitt der Partei. »Wir regieren und haben uns trotzdem eine unverkrampfte Haltung und klare Sprache bewahrt.«46

Warum er sich als Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 2017 bewerben wolle, beantwortet Habeck in einem Zeitungsinterview: »Unsere Gesellschaft steht vor der Frage: Gehen wir zurück zum Nationalstaat, zu kleinem Denken und einer Angstpolitik – oder stellen wir uns den Problemen, wissend, dass es schwierig wird? Wenn man als Politiker jetzt sagt, das interessiert mich nicht, verfehlt man die eigentliche Aufgabe der Zeit. Darum.«47

Das Ergebnis der Kampfkandidatur kann sich sehen lassen. Der favorisierte Cem Özdemir erhält 35,96 Prozent der Stimmen, Habeck 35,74 Prozent. Allein 75 Stimmen trennen die beiden, ein blendendes Ergebnis für den Außenseiter aus der norddeutschen Provinz.48 Doch Habeck sei niedergeschlagen gewesen, erinnert sich Arfst Wagner, der alte Weggefährte aus Schleswig-Holstein. An jenem Nachmittag habe er einen Anruf von Habeck erhalten, er laufe gerade durch die Straßen von Berlin, wisse nicht, wohin, ärgere sich und frage sich, was wäre gewesen, wenn … Wagner tröstet den Verlierer mit den Worten: »Robert, keep cool!« Seine Zeit werde kommen, so oder so. Er könne doch nun für den Bundesvorsitz kandidieren. Nein, nein, entgegnet Habeck verzweifelt, er sei doch nicht wahnsinnig und begebe sich allein in feindliches Land.49

»Wenn wir kämpfen, müssen wir bereit sein, alles zu verlieren«, schreibt Habeck in seinem Blog im bayerischen Wahlkampf im Juni 2018. »Nur so werden wir gewinnen.« Und er gibt die Linien vor, die sein Verhalten in der Öffentlichkeit prägen, pathetisch und klar zugleich: »Im Ton ruhig, in der Haltung gelassen, im Herz entschlossen, so erkämpfen wir Recht und Menschlichkeit.«50

Ende 2017 bewirbt er sich dann doch für den Bundesvorsitz der Grünen. Im Januar 2018 klappt es, ohne Gegenkandidat wird er gewählt. Zusammen mit Annalena Baerbock bildet er die neue Spitze der Partei. Nach einem halben Jahr als Bundesvorsitzender stellt er sich im gleißenden Sonnenlicht hinter dem Reichstagsgebäude den Fragen im Sommerinterview der ARD: »Das ganze Ding ist ein Risiko«, sagt er und meint nun sein neues Amt. »Hätte ich kein Risiko eingehen wollen, dann wäre ich in Schleswig-Holstein geblieben. Da habe ich noch vier Jahre Ministeramt vor mir. Da läuft ’ne gute Regierung. Die sichere Bank wäre da gewesen …«51 Mit Dienstwagen, allen Insignien der Macht, auf die Habeck laut eigener Aussage nicht viel Wert legt, mit der Möglichkeit, aktiv wirken zu können, Entscheidungen zu treffen, Weichenstellungen anzuregen, zudem in der Nähe seiner Familie, von seinem Amtssitz in Kiel bis nach Flensburg sind es nur neunzig Kilometer. Nun schafft die Partei für ihn so etwas wie eine »Lex Habeck«, weil er sein Amt in Kiel ein halbes Jahr neben seiner neuen Aufgabe weiterführen darf, um es dann geordnet, wie er es plant, zu übergeben. Unüblich bis dahin und in den Satzungen der Partei auch nicht vorgesehen.

»Wir leben in existenziellen politischen Zeiten«, begründet Habeck seine Ambitionen im ARD-Sommerinterview. Der nächste Bundestagswahlkampf werde, »egal, wann er kommt«, ein anderer sein. Es werde darin »um eine fundamentale Werteauseinandersetzung« gehen: »Und wer jetzt nicht versucht, den Fuß in die Tür zu kriegen und die aufzuhalten, der darf sich nicht beschweren, wenn die Tür zufällt. Und da gehe ich jedes Risiko ein, es ist mir alles recht.«52 Mit »die« meint Habeck nicht nur die Tür, die aufzuhalten sei, sondern auch die AfD und den Aufstieg von Populisten und Autokraten in der Welt. Für die Bundespolitik gibt er nach sechs Jahren seine Posten in Schleswig-Holstein auf.

Krista Sager hat selbst lange Jahre die Unwägbarkeiten von Politik erfahren. Sie ist seit 1982 Mitglied der Grünen, sie war Zweite Bürgermeisterin in Hamburg und Bundestagsabgeordnete bis 2013. Sie kennt die Belastungen und Risiken der Berufspolitik, sie weiß, wovon sie redet, und sie ist dem Neuling Habeck einst in Wahlkampfveranstaltungen begegnet.53 »Ich fand das sehr speziell«, kommentiert Sager, »dass jemand, der eine ziemlich große Familie hat, der sich als Schriftsteller durchkämpfen muss, sich so mit voller Wucht in die grüne Politik reingestürzt hat. Da gehört ja sehr viel Mut, Selbstvertrauen, Leidenschaft und Überzeugung dazu.«54

Bereits in seinem politischen Grundlagenwerk von 2010, Patriotismus. Ein linkes Plädoyer, schreibt Habeck: »Wenn wir nicht auch das nächste Jahrzehnt zu Nulljahren machen wollen, dann muss die gesellschaftliche Debatte nun raus aus ihren Löchern.«55 Und tatsächlich: Die gesellschaftliche Debatte scheint bis Ende 2019 raus aus ihren Löchern zu sein. Die Schülerbewegung »Fridays for Future«, die Debatte um die Mietenpolitik, Kritik an Internetgiganten, an Millionen-Boni für unfähige Banker … Es scheint sich etwas zu bewegen, hin zu einer anderen Politik.

»Ein Bündnis schaffen, das ist moderne Politik«

Der Teamplayer

»Robert hat eine ganz schnelle Auffassungsgabe«, sagt Andrea Paluch. »Er kann sich superschnell einarbeiten, kann schnell und gut formulieren und ist, nicht zuletzt durch unsere Zusammenarbeit, total geschult in Teamarbeit. Also im Kompromisseschließen. Aber immer auf der Basis, das bessere Argument zu finden. Das war sozusagen unser täglich Brot zusammen. Das kann er halt gut.«56

Ich treffe Andrea Paluch, die Ehefrau von Habeck, im Februar 2019 in der Kantine des Berliner Ensembles. Nebenan wird zeitgleich das »Literarische Quartett« mit ihrem Mann als Gast aufgezeichnet. Beide sind Autoren, bis vor zehn Jahren haben sie Bücher zusammen geschrieben, sind also mit der Literaturszene vertraut. »Kein Interesse an der Aufzeichnung?«, frage ich. Nee, meint sie, die Sendung finde sie doof. Sie habe unsere Verabredung aber genutzt, um mit ihrem Mann zusammen herzukommen.

Paluch erzählt aus dem gemeinsamen Leben, von ihrer zehnjährigen Zusammenarbeit im Team, dem Leben in einem kleinen Dorf an der deutsch-dänischen Grenze. Anstrengend und sehr intensiv ist diese Zeit mit vier Kindern, es kommt darauf an, sich zusammenzuraufen und jede Minute zu nutzen, damit alles zu schaffen ist. Das erfordert viel Disziplin. »Es ist halt schwer, wenn man mit den Kindern zu Hause ist«, sagt Paluch, »und eigentlich nur Arbeitszeit hat, wenn die schlafen, man selber aber auch müde ist.«

Teamarbeit ist für dieses gemeinsame Lebensprojekt nötig. Alles soll geteilt werden, jeder Lebensbereich. Das heißt: ständig Kompromisse machen. Aber keine totale Geistesverwandtschaft, »wir haben bis heute in vielen Dingen nicht den gleichen Geschmack«. Die Intensität in der Gemeinsamkeit fehle heute natürlich, gibt sie zu. Andererseits hatten sie diese intensiven gemeinsamen zehn Jahre, und sie tröstet sich damit, dass niemand ihnen diese Zeit nehmen kann: »Wir waren ununterbrochen zusammen, niemand musste zur Arbeit weg, wir waren immer zu Hause, haben immer über die Bücher geredet – also, diese Intensität ist dann irgendwann so tief, dass es auch okay ist, damit aufzuhören. Noch sind wir beide voll damit.«57

In einem Frage-und-Antwort-Spiel für die Kieler Nachrichten werden die beiden, Rücken an Rücken, gefragt, wer sich besser durchsetzen könne. Er hält ein Schild mit der Aufschrift »Sie« hoch, sie dagegen ein »Er«. Wer mache nach einem Streit den ersten Schritt?, lautet eine nächste Frage. Diesmal sind sie sich, nach einigem Zögern, einig: Sie hält ein »Er« in die Luft, er ein »Ich«.58

Diese Teamfähigkeit setzt Habeck auch in der Politik um. Als Umweltminister in Schleswig-Holstein ist er der Vorgesetzte von rund zweitausend Staatsbediensteten. Neun Monate nach seinem Amtsantritt sagt er im März 2013 in einem Interview: »Regieren ist leichter als gedacht.« Und als er gefragt wird, wie das denn nun so sei als Chef von vielen Angestellten, antwortet er: »Was die inhaltlichen Debatten angeht, begreife ich mich gar nicht so sehr als Chef, sondern bin einem Teamgedanken verpflichtet.«59 Die Parteifreundin Monika Heinold, Finanzministerin im Kabinett, wird drei Jahre später gefragt, wen sie in den vergangenen Jahren besonders schätzen gelernt habe. Habeck hebt sie hervor, »weil er absolut zuverlässig ist, zu seinem Wort steht und ein Teamplayer ist«.60 Gemeinsam mit Habeck hatte Heinold die Grünen in die Regierung gebracht.

Als Habecks hauptberufliche Politiktätigkeit beginnt, ist der Landesverband der Grünen in Schleswig-Holstein am Boden. Die rot-grüne Koalition ist nach acht, neun Jahren zu Ende gegangen, weil die Kieler Ministerpräsidentin Heide Simonis durch einen Abweichler in den eigenen SPD-Reihen zu Fall gebracht wird. Es kommt zu einer Großen Koalition. Die Grünen versuchen daraufhin, sich zu erneuern, eine jüngere Generation nimmt Einfluss auf die Programmatik. Habeck wird mit 35 Jahren Ende 2004 Landesvorsitzender. Er wirbt die 33-jährige Anke Erdmann für den Landesvorstand, und es entsteht eine Clique um Eka von Kalben, damals 41 Jahre alt und ab 2012 Fraktionsvorsitzende der Grünen im Kieler Landtag, Luise Amtsberg, damals 21 und ab 2013 Bundestagsabgeordnete, und Konstantin von Notz, damals 34 Jahre alt, ab 2009 Bundestagsabgeordneter. »Eine eingeschworene Gemeinschaft«, heißt es in einem Zeitungsbericht von 2016. »Beautiful people«, nennt man sie halb bewundernd, halb abschätzig, junge Eloquente, die die Zukunft für sich reklamieren. Das kommt nicht bei allen gut an. »Sie haben sich benommen, als seien sie bei den Pfadfindern«, heißt es aus Parteikreisen.

Habeck beschließt, einen Parteirat auf Landesebene aufzubauen, um die Partei programmatisch zu erneuern. »Grüne Horizonte« lautet das Motto. Sie diskutieren über ein bedingungsloses Grundeinkommen, über Kopftuchverbot und Kinderwahlrecht. Eine gute Zeit, sagt von Notz rückblickend: »Robert und mich verband sehr, dass wir fanden, der Landesverband brauche etwas Sauerstoff. Wir wollten ihn beleben.«61

Die Grundidee: Parteigrenzen überwinden, bündnisfähig für alle demokratischen Parteien werden. Daraus entsteht im Kieler Landtag 2017 »Jamaika«, ein Bündnis aus CDU, Grünen und FDP. Eine zuvor undenkbare Koalition über Parteibarrieren hinweg – ein Projekt von Robert Habeck. Als Superminister für Energie, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung holt er eine gute Freundin an seine Seite, macht Anke Erdmann zu seiner Staatssekretärin. Seit Jahren haben sie gemeinsam an politischen Ideen und Konzepten gebastelt, sie ist als Abgeordnete politisch erfahren und kennt das Ministerium als ehemalige Referatsleiterin gut von innen. Als er Anke Erdmann das erste Mal anruft, ist er noch Kreisvorsitzender. »Das muss Ende 2003 oder 2004 gewesen sein«, erinnert sich Erdmann, »ich war sozusagen der alte Hase und er war der Frischling.« Sie ist damals die persönliche Referentin des grünen Umweltministers von Schleswig-Holstein, Klaus Müller, in der rot-grünen Landesregierung mit Heide Simonis als Ministerpräsidentin. »Robert hatte da ein paar Fragen als Kreisvorsitzender, wir haben viel gelacht, und am Ende war er total verwundert, wie locker und leicht es sei, mit einer Referentin im Ministerium zu sprechen.«

Nach dem Ende von Rot-Grün brennen beide für neue Ideen. Sie telefonieren viel miteinander, wann immer es ihnen die Zeit für die Familie erlaubt. Er macht sauber, kauft ein, liest seinen Kindern Geschichten vor, »er hat ja seine Familienzeit ernst genommen, und ich am andern Ende mit meinem gerade geborenen Sohn und dem Handy zwischen Schulter und Ohrmuschel«. In dieser Zeit sei ihre Freundschaft entstanden, »die über das Politische weit hinausgeht«. Habeck habe den Landesverband in Schleswig-Holstein sehr geprägt; er ist tonangebend, er ist derjenige, der die Richtung vorgibt, drei Jahre in der Opposition, sechs Jahre als Minister und stellvertretender Ministerpräsident. »Er hat Sachen wirklich auf die Kette gekriegt«, sagt Erdmann, »er war die Leitfigur«, und es habe im Landesverband keine Flügelkämpfe gegeben, »Realo-Fundi-Geschichten gab es in Schleswig-Holstein einfach nicht«. Die Jamaika-Koalition seit 2017 sei dann nicht etwas gewesen, »worauf wir gehofft haben«. Aber Habeck habe gesehen, »dass es keine andere Option gab«, und zusammen mit Monika Heinold, der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein, habe er das dann eingefädelt. Eka von Kalben kommt als Fraktionsvorsitzende hinzu. »Das war ein sehr gutes Dreierteam, das sich alle Schritte zugestehen konnte: Es ging nicht um das eigene Ego, es ging darum, wie kriegen wir die Kuh vom Eis? Wie schaffen wir es, dass die andern ihr Gesicht bewahren, wenn wir uns durchsetzen?«62

Anke Erdmann ist mit Ulf Kämpfer verheiratet, seit April 2014 Oberbürgermeister von Kiel und Nachfolger der glücklos gescheiterten Susanne Gaschke. Kämpfer ist Jurist, seit 1996 Mitglied der SPD, er war Richter in Kiel und Schleswig. 2012 wird er für knapp zwei Jahre Staatssekretär in Habecks Ministerium für Umwelt und Landwirtschaft. Die SPD ist im Mai 2012 mit 30,4 Prozent knapp zweitstärkste Partei hinter der CDU geworden, die Grünen steigern sich gemessen am Ergebnis von 2009 nur gering und erreichen 13,2 Prozent. Die Große Koalition wird abgelöst, es kommt zu einer neuen Regierung: SPD, Grüne, SSW, der Südschleswigsche Wählerverband als Partei der dänischen Minderheit – die sogenannte Dänen-Ampel.

»Es war eine super Zeit«, erinnert sich Ulf Kämpfer, »ein Ministerium zu übernehmen, einen echten Machtwechsel umzusetzen, monatelang vorher auszubaldowern, wie organisieren wir die Abteilungen, wen bringen wir mit, das haben wir alles eng abgestimmt.« Ein Staatssekretär, der Mitglied der SPD ist, in einem Ministerium der Grünen? Ein Maulwurf der Sozis in Strategiesitzungen der Grünen? Ein rotes U-Boot zwischen grünen Seglern? »Ja, das war extrem ungewöhnlich«, sagt Kämpfer, zumal er nicht aus dem Apparat kommt und keinerlei Erfahrungen als Staatssekretär hat. »Da haben einige die Augenbrauen hochgezogen bei den Grünen.« Aber Habeck stellt sein Team damals »insgesamt sehr heterogen« zusammen: Auch der Büroleiter ist ein Sozialdemokrat, die Pressesprecherin parteilos.

Habecks Vertrauen zu Kämpfer ist groß, sie kennen sich seit Jahren, tauschen sich aus. In seinem Buch von 2010, Patriotismus. Ein linkes Plädoyer, bedankt sich Habeck am Ende unter anderem bei Ulf Kämpfer »für viele Anregungen, Streit und Gegenwind«.63 Trotzdem: »Ich fand’s mutig und ungewöhnlich«, sagt Kämpfer, gedanklich habe er aber in dieser Zeit seine SPD-Mitgliedschaft ruhen lassen, »weil ja klar war: Ich muss loyal zum Haus und zum Minister sein.«64

Für Bärbel Höhn ist diese Teamfähigkeit der Grünen ein großer Pluspunkt ihrer Partei in der politischen Landschaft. Höhn hat einst ganz andere Zeiten erlebt. Sie zählt sich zur Gründergeneration, trat 1985 in die Grüne Partei ein. Sie ist eine gestandene politische Persönlichkeit, als Habeck sich in der Politik erst freizuschwimmen beginnt. Höhn war zehn Jahre lang, von 1995 bis 2005, Ministerin in Nordrhein-Westfalen und zwölf Jahre lang, bis 2017, Mitglied des Deutschen Bundestages. Vor dreißig Jahren, blickt sie zurück, gab es nicht so einen Druck, und Politiker konnten sich mehr Zeit nehmen, sie waren nicht der Geschwindigkeit durch das Internet ausgesetzt. Aber das politische Klima war anders. »Wir sind ja total angefeindet worden«, sagt Höhn. »Alles, was wir gesagt haben, war ja irgendwie Schwachsinn. ›Ihr habt keine Ahnung! Das geht überhaupt nicht! Und was seid ihr da für Spinner!‹ Das war die öffentliche Meinung.«

Die ganze Welt sei damals gegen sie gewesen, »deshalb waren wir auch verkrampfter«, sagt Höhn. Die heutige Generation könne da lockerer sein, und Robert sei ja ohnehin »eine coole Socke«, sagt sie. »Er ist auf der einen Seite nachdenklich, kommt auch mit neuen Vorschlägen, die manchmal überraschend sind oder ein bisschen sperrig und durchaus Kritik hervorrufen. Das heißt, er ist nicht so angepasst. Und ich glaube, das mögen die Leute.«65 Sie sehe auch zwischen Annalena Baerbock und Robert Habeck nicht »solche Konkurrenzen«, wie sie sonst oft und bis vor Kurzem bei den Grünen an der Spitze üblich waren. Noch etwas unterscheidet Habeck von der Gründergeneration der Grünen, gibt Höhn zu bedenken: »Wir waren sehr im Lagerdenken verhaftet«, und Habeck pflege eben auch »gute Verhältnisse zu Politikern aus anderen Parteien«.66

»Er hat von Anfang an gesehen, dass sich etwas ändern muss und dass wir als Grüne nicht in der ökologischen Nische bleiben dürfen«, sagt Arfst Wagner, der mit Habeck einst in Schleswig-Holstein zusammengearbeitet hat. »Und daraus ist aus meiner Sicht sein systemisches politisches Denken entstanden, das ihn heute so stark macht.«67 Wagner ist 2004 Mitglied der Grünen geworden, zwei Jahre nach Habeck. »Damals, also 2005/2006, waren die Grünen relativ am Boden«, erläutert Wagner, »die lagen bei 6,2 Prozent. Und es war immer die Frage, wie auch in den Jahren danach, wieso liegen wir eigentlich zwischen Wahlen im zweistelligen Bereich und schrumpfen vor den Wahlen wieder zurück auf relativ wenige Abgeordnete.«68 Damals ziehen lediglich vier Abgeordnete in den Kieler Landtag ein.

Von 2015 bis 2017 ist Wagner Landesvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein, Mitte 2018 verlässt er die Partei im Streit. Er fühlte sich von Habeck im Stich gelassen, räumt er ein, jedenfalls nicht ausreichend unterstützt. Wagners Einsatz für ein bedingungsloses Grundeinkommen, ein Konzept, das er einst zusammen mit Habeck entwickelte, geht einigen in der Partei wohl zu weit. »Systemisches Denken heißt«, erklärt Wagner, »dass wir in einer Welt leben, die immer komplizierter wird. Die Menschen kommen dieser immer komplexer werdenden Welt oft bildungsmäßig nicht hinterher.« Es reiche in der Politik nicht mehr aus, »an einer oder an einer andern Schraube« zu drehen, alles stehe in einem Zusammenhang. »Und dieses Zusammendenken der verschiedenen politischen Themen, aber auch der politischen Gruppen bis in die Bevölkerung hinein, bezeichnet ein gesamtgesellschaftliches Denken, das vielleicht in einem neuen Gesellschaftsvertrag endet. Das ist das, was Robert aus meiner Sicht immer vorgeschwebt hat.«69 Habeck könne Dinge »unglaublich gut auf den Punkt bringen«, ergänzt Wagner, und er sei in der Lage, andere Menschen zu überzeugen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ein Menschenfänger also. »Wenn man Teamplayer so versteht: Das kann er wirklich gut.«70

Konstantin von Notz kann mit dem Begriff »systemisches Denken« nicht viel anfangen. Von Notz ist seit 2009 Bundestagsabgeordneter der Grünen, seit 2013 Stellvertretender Fraktionsvorsitzender; er ist Jurist und seit 1995 Mitglied der Partei. Habeck bezeichnet von Notz in seiner politischen Autobiografie als seinen Freund.71 Sie sind etwa gleichaltrig, beide erst mit Anfang dreißig aktiv in der Partei geworden und einem ähnlichen Ziel verbunden. »Wir waren lange im Parteirat in Schleswig-Holstein, als wir noch kein politisches Mandat hatten«, erzählt von Notz. »Und wir haben da einen Prozess angestoßen, die Grünen Horizonte, eine inhaltliche Neuverortung. Vieles davon fließt jetzt auch in das neue grüne Grundsatzprogramm ein.«72

»Grüne Horizonte, das beschrieb damals die Lust auf Mut«, schreibt Habeck in seiner politischen Autobiografie. »Es entstand eine Atmosphäre, die einlud. Es war allen klar, dass man Fehler begehen durfte. Sie wurden begrüßt, nicht abgestraft. Streit machte Spaß. Menschen waren bereit, auch unbequeme Entscheidungen mitzutragen, Enttäuschungen zu akzeptieren. Dass eine Demokratie nur reich wird durch die Auseinandersetzung, das habe ich damals gelernt.«73 Von Notz und er hätten die »Formel ›Grüne Eigenständigkeit‹« geprägt, schreibt Habeck. »2007 fand der Begriff dann seinen Weg als offizielle Sprachregelung des Landesverbandes in die Presse.« Sie sprechen mit den Parteivorständen von CDU und FDP, um herauszufinden, ob andere, bisher undenkbare Koalitionen möglich seien. Unter Grüner Eigenständigkeit versteht Habeck, »dass die Grünen sich trauen müssen, die Sozialdemokratie als fortschrittsprägende Kraft abzulösen und die CDU herauszufordern«.74 Und bereits 2010 prophezeit Habeck: »Die Zeit der Volksparteien geht zu Ende.«75

»Es ist an den Grünen«, proklamiert er in der Interviewreihe »Jung & Naiv«, »eine Politik zu machen, zu der sich dann die andern verhalten.« Also keine Festlegung auf irgendeine Koalition vorab, sondern eigene Politik verfolgen, das »eigene Spiel« durchbringen, »Eigenständigkeit« proben. »Diese Idee von 2005 bis 2009, Konstantin von Notz, Robert Habeck, Eigenständigkeit ist: Leute, wir gucken auf das, was wir wollen! Wir brauchen eine eigene Ansage! Und dann sollen sich die andern mal zu uns verhalten.« Das sagt Habeck im Herbst 2016, als er vor der »Urwahl« bei den Grünen steht, die er knapp gegen Cem Özdemir verlieren wird und damit nicht zu den Bundestagswahlen 2017 antreten kann.76

Als Habeck Anfang 2018 zusammen mit Annalena Baerbock zum Bundesvorsitzenden der Partei gewählt wird, überschlagen sich die Medien in Lobeshymnen. »Revolutionäres Konzept von Parteiführung«, heißt es in einer Überschrift des Stern. Von »Bündnispartei« sprechen die beiden im Interview. »Wohliges Einvernehmen zwischen den beiden Realos«, stellt die Reporterin fest, »das Miteinander ist Mittel zum Zweck, und der Zweck ist, Deutschland umzukrempeln.« Woher dieser Wunsch zur Harmonie und Fairness stamme? Baerbock habe zum Beispiel in ihrer Jugend »Synchron-Tanzen« auf dem Trampolin geübt, mit ihrem Ehemann organisiere sie ein Leben mit zwei kleinen Kindern, und Habeck sei ja bekannt für die Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau Andrea Paluch.77

In der Wochenzeitung Die Zeit werden die beiden Bundesvorsitzenden im November 2019 als »Dreamteam der deutschen Politik« bezeichnet. Vor dem Parteitag der Grünen wird so etwas wie eine Bilanz der vergangenen zwei Jahre gezogen, am Wochenende geht es unter anderem um die Wiederwahl der Bundesvorsitzenden. Der Parteienforscher Michael Lühmann sagt, »eine neue Kultur der Parteiführung und der Streitmoderation (sei) bei den Grünen eingezogen«. Baerbock und Habeck hätten die Arbeitsstrukturen in der Parteizentrale gleichberechtigt umgebaut, sie teilten sich ein Büro und einen Büroleiter. So werde allein räumlich eine enge Zusammenarbeit dokumentiert, das Gegenstück zu den Vorgängern Cem Özdemir und Simone Peter, die häufig und in aller Öffentlichkeit stritten und sich Konkurrenz- und Schaukämpfe lieferten. Zudem würden beide, Baerbock wie Habeck, den verschiedenen Positionen in der Partei, den Parteiflügeln zuhören und auch damit für Ausgeglichenheit sorgen.78

»Ein Bündnis schaffen, das ist eine moderne Politik«, hatte Habeck in seiner kämpferischen Bewerbungsrede für den Bundesvorsitz der Grünen im Januar 2018 postuliert. Darum geht es ihm nach innen wie nach außen. Den Menschen soll ihre eigene Meinung zugestanden werden; sie sollen für ihre Meinung anerkannt werden; so etwas wie »Gemeinsinn« solle sich daraus formen. »Das ist unsere Aufgabe für die Zukunft, und wenn wir sie stark ausüben, dann schließen wir die Lücke, die jetzt so eklatant klafft und die die SPD und die CDU in der Großen Koalition wahrscheinlich nicht schließen können und die andern wahrscheinlich gar nicht schließen wollen.«79

Krista Sager, seit 1982 Mitglied der Grünen, bezeichnet dieses Politikverständnis als »kleine grüne Revolution«. »Allein dass jemand kommt und versucht, anders mit den Menschen zu sprechen und sie einzuladen, mitzudenken und mitzumachen, und sie nicht mit grünen Sprechblasen zu beglücken, da habe ich damals das Gefühl gehabt, das ist der richtige Weg«, sagt sie. Und der »Respekt anderen gegenüber« sei bei den Grünen zuvor nicht selbstverständlich gewesen. Habeck sei »offensichtlich ein super Teamspieler«, der »auch zu schätzen weiß, wenn man nicht mit allem allein dasteht, wenn man ein Korrektiv hat, wenn jemand da ist, der mal eine bessere Idee hat als man selber«. Es sei ja immer schwer, einen anderen Menschen zu erreichen, im Kopf eines anderen passiere meist etwas völlig anderes als bei einem selbst. »Vielleicht ist das Wichtige, dass wir miteinander im Gespräch bleiben. Und das macht Robert.«80 Damit verweist Krista Sager auf Habecks eigene Überlegungen zu einem »ewigen Gespräch«.

»Grüne Politik muss einschließen, nicht abwehren«, schreibt Habeck. »Ein drittes Zeitalter für die Grünen ist herstellbar. Nicht mehr Protestpartei, nicht mehr Projektpartei, sondern Orientierungspartei.«81 Václav Havel, sein politisches Vorbild, ist auch in dem Bestreben, Menschen zusammenzubringen, eine Leitfigur. In seinen Betrachtungen aus dem Gefängnis fragt er sich im April 1981: »Ist denn – zum Beispiel – meine Leidenschaft, Leute zusammenzuführen, sie miteinander auszusöhnen und als ›gesellschaftlicher Kitt‹ zu wirken, nicht ganz deutlich Ausdruck einer gesteigerten Sehnsucht nach Harmonie und der schöpferischen Funktion in ihr?«82

In einem langen Doppelinterview der taz stellen sich Annalena Baerbock und Robert Habeck im Januar 2020 Fragen zur Macht und zu ihrer politischen Partnerschaft. »Wir versuchen, es anders zu machen«, lautet die Überschrift. »Wir arbeiten in einer Welt voller Eifersucht«, sagt Habeck. »Die Wette ist aber, dass Kooperation stärker als Konkurrenz ist.« Sie würden sich »Schwächen und Ängste« eingestehen, damit kein »Kleinscheiß« entstehe.

Sie arbeiteten wie beim Doppel im Tennis, ergänzt Baerbock. Also nicht nur auf den eigenen Aufschlag achten, sondern »permanent deinen Partner mit im Blick haben«. Teamsport sei schwieriger, »macht aber auch mehr Spaß«. Ihre Schreibtische seien aneinandergerückt, es gebe einen Büroleiter für beide. »Grüne Harmonie« werde ausgestrahlt, sagen die Journalisten und wollen wissen, wie häufig sie sich denn sehen würden in diesem Zimmer. »Selten«, gibt Baerbock zu, »wir arbeiten ja de facto nicht am Schreibtisch, sondern sind die ganze Zeit unterwegs.« Aber es gebe eben nicht mehr zwei Vorsitzende mit zwei Teams und zwei Büroleitern und »eine unsichtbare Wand« dazwischen, sondern ein Team für zwei, »strategische Fragen werden automatisch zusammengeführt«.

»Ich war ein bisschen genervt«, gibt Habeck zu, als er darauf angesprochen wird, wie Baerbock Ende 2017 ihre Kandidatur für den Bundesvorsitz vor ihm bekannt gab, ohne ihn rechtzeitig zu informieren. »Natürlich hast du dich geärgert«, stichelt Baerbock. Es gab Aufregung, ja, räumt Habeck ein; sein ruhiger Familiensamstag ist erledigt, der Spielenachmittag mit seiner Familie vorbei, das Telefon steht nicht still. »Aber in der Sache dachte ich: Was für ein Move. Das ist stark.«

Die Journalisten fragen gegen Ende, was wäre, wenn eine(r) von ihnen kapitale Fehler machte und ausscheiden müsste – würde der oder die andere dann auch zurücktreten? »Gemeinsam rein ins Amt, gemeinsam raus?« Darüber hätten sie sich »noch gar keine Gedanken gemacht«, antwortet Baerbock. »Wäre doch cool«, haken die Journalisten nach. Baerbock gibt an Habeck weiter: »Robert?« Ihm fällt nur noch ein »Boah!« dazu ein. Damit ist das Interview beendet.83

»Antikapitalismus ist nicht links, sondern dumm«

Der Realpolitiker

In seinem politischen Entwurf von 2010, Patriotismus – Ein linkes Plädoyer, schreibt Habeck: »Antikapitalismus ist nicht links, sondern dumm.«84 Er verabschiedet sich von starren, ideologisch geprägten Links-Rechts-Kategorien. Links sei »ein relativer Begriff, kein absoluter«, behauptet er; Linkssein stehe für den »Mut, Veränderung zu wollen und neue Antworten auf neue Fragen zu suchen. (…) Links sein, um es klar zu sagen, hat nichts mit Sozialismus zu tun.«85 Abkehr von »theoretischer Rechthaberei«86 also, Abkehr von ideologischem Ballast, Abkehr von politischem Frontendenken, Bündnispolitik. »Ich hasse moralischen Rigorismus und Ideologie«, sagt er im Mai 2018. Damit setzt er sich von der Generation der Alt-68er ab.87

Auf seine Argumente von 2010 angesprochen, antwortet Habeck im Juni 2019 im Interview für den Hörfunk: »Weil ich glaube, dass die soziale Marktwirtschaft, wohlverstanden, das effektivste und freieste System ist, sich zu entwickeln. Da bin ich voll auf den Spuren von Ludwig Erhard. Aber: Soziale Marktwirtschaft heißt im Klartext auch, dass es Spielregeln gibt, die diesen Markt fair und offen halten.«88

Im Januar 2018 bewirbt sich Habeck um den Bundesvorsitz der Grünen. In seiner Rede auf dem Bundesparteitag spricht er von »Umverteilung« und erhält für seine Forderung einer »härteren Besteuerung von Kapital und von Vermögen« starken Applaus der Delegierten. »Und zwar nicht, weil wir nicht gönnen können«, fügt er hinzu, »sondern weil wir nicht wollen, dass sich Menschen an den Rändern verabschieden, und deswegen nicht zulassen können, dass sich Menschen nach oben verabschieden. Wie sollen wir sonst die Gesellschaft zusammenhalten?« Habeck spricht vom »postmodernen Kapitalismus«, der »im Moment alles