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Hinter den altehrwürdigen Mauern lauern Liebe, Hass und Verrat … Irland, 1930er: Schon seit Kindheitstagen übt das mächtige Anwesen Glenallen auf Peggy eine magische Anziehungskraft aus. Als sie von ihrer Internatsfreundin Cissie den Kindern der dort lebenden Fitzallen Familie vorgestellt wird, sieht Peggy ihre Chance gekommen: Endlich kann sie einen Blick hinter die Fassaden der efeubewachsenen Mauern werfen, hinter denen der schöne Peter, der schweigsame Brian und die rebellische Harriet wohnen. Schnell fällt Peggy die Rivalität der Geschwister auf, und das angespannte Verhältnis zu den strengen Eltern gibt ihr das Gefühl, als würden die Fitzallens ein Geheimnis hüten … Als sich zwischen ihr und Brian ein zartes Band der Liebe spinnt, zieht es Peggy unaufhaltsam tiefer in die dunklen Intrigen des Hauses … Ein schicksalhafter Liebesroman der irischen Bestsellerautorin voller dunkler Geheimnisse für Fans von Nora Roberts und Anna Jacobs
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Seitenzahl: 702
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über dieses Buch:
Irland, 1930er: Schon seit Kindheitstagen übt das mächtige Anwesen Glenallen auf Peggy eine magische Anziehungskraft aus. Als sie von ihrer Internatsfreundin Cissie den Kindern der dort lebenden Fitzallen Familie vorgestellt wird, sieht Peggy ihre Chance gekommen: Endlich kann sie einen Blick hinter die Fassaden der efeubewachsenen Mauern werfen, hinter denen der schöne Peter, der schweigsame Brian und die rebellische Harriet wohnen. Schnell fällt Peggy die Rivalität der Geschwister auf, und das angespannte Verhältnis zu den strengen Eltern gibt ihr das Gefühl, als würden die Fitzallens ein Geheimnis hüten … Als sich zwischen ihr und Brian ein zartes Band der Liebe spinnt, zieht es Peggy unaufhaltsam tiefer in die dunklen Intrigen des Hauses …
Über die Autorin:
Die irische Autorin Mary Ryan begann ihre berufliche Laufbahn als Lehrerin in England, bevor sie nach Dublin zurückkehrte, um Jura zu studieren. Sie arbeitete in einer Anwaltskanzlei, bevor sie den Entschluss fasste, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Ihr erster Roman »Ein sanftes Flüstern im Wind« erreichte ein breites Publikum und verkaufte sich über 300.000 Mal. Seitdem widmet sie sich mit Begeisterung dem Schreiben neuer Geschichten.
Mary Ryan veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Irland-Romane »Ein sanftes Flüstern im Wind«, »Irisches Glück«, »Träume in der Ferne«, »Irischer Wind«, »Das Geheimnis von Glenallen«, »Ein irischer Sommer«, »Das Schloss an der irischen Küste«, »Zwei irische Herzen« sowie ihren Tatsachenroman »Drei irische Frauen« und ihren Italien-Roman »Wiedersehen in Florenz«.
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eBook-Neuausgabe Juli 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1991 unter dem Titel »Glenallen« bei Attic Press, Dublin.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Grünes Feuer« bei Franz Schneekluth
Copyright © der englischen Originalausgabe 1991 by Mary Ryan
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1995 für die deutsche Ausgabe bei Franz Schneekluth Verlag, München.
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-69076-004-1
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Mary Ryan
Das Geheimnis von Glenallen
Irland-Roman
Aus dem Englischen von Christine Strüh und Sonja Schuhmacher
dotbooks.
Widmung
Motto
Erstes Buch
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Zweites Buch
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Dank
Lesetipps
Für Johnny
Die Erd’ hat Blasen, wie das Wasser hat,
so waren diese – wohin schwanden sie?
William Shakespeare, Macbeth
Gestern bin ich nach Glenallen zurückgekehrt. Zuerst kam der Berg, Knockshee, wachsam wie eh und je, dann das schwere Tor, die Steinsäulen. Die Auffahrt war gepflegt, die Buchen, die sie säumten, standen in vollem Laub. Am Ende der Auffahrt stand das Haus, jetzt fast ganz vom wilden Wein erobert, aber es war da, es wartete mit unerbittlicher Geduld, als hätte es gewußt, daß ich eines Tages zurückkomme. Die Bäume warfen ihre Schatten auf den mit Gänseblümchen übersäten Rasen bis zur Hecke drüben, wo mit den Wildblumen die Wiesen begannen. Der Zierteich war immer noch da, sauber mit Steinen umrandet, das Wasser bedeckt von Seerosen mit den flachen grünen Blättern und den zarten Blüten.
»Aha«, brummte Dan, der erstaunt den Kopf schüttelte und den Wagen auf Schritttempo bremste: »So hat es hier also ausgesehen!« Er hatte noch nie eine Photographie zu Gesicht bekommen; ich hatte alle zerstört. Ein Druck legte sich auf meine Brust. Ich konnte kaum atmen. Hinter uns saß Michael auf der schwarzen Rückbank, den dunkelhaarigen Kopf gesenkt, spielte ganz versunken mit dem roten Feuerwehrauto, das ich ihm in Ballyharris gekauft hatte, und machte Geräusche, wie es Feuerwehrautos im Einsatz machen.
Mir ging durch den Kopf, was uns die Empfangsdame im Hotel gestern Abend erzählt hatte; sie dachte, wir seien Ausländer, und hatte uns herzlich willkommen geheißen. Sie war jung – ein Ferienjob –, hatte blaue Augen und Sommersprossen und gehörte zur neuen Generation der Wohlstandskinder.
»Ich bin Irin«, erklärte ich lächelnd, und sie warf mit hochgezogenen Brauen einen Blick auf das Anmeldeformular.
»Ich habe vor langer Zeit hier in der Nähe gewohnt«, sagte ich, »auf dem Gut Glenallen.«
Sie bekam große Augen. »Glenallen House?«
Dann vertraute sie mir an, daß in Glenallen jetzt angeblich ein Gespenst umging, sie nickte, um ihrer Bemerkung Nachdruck zu verleihen, der Geist einer Mrs. Regan, die früher hier gelebt hatte.
Überraschend kam der Kummer, die Trauer um die versäumten Möglichkeiten, die Trauer um unsere Jugend. Wie kannst du denn ein Gespenst sein, Harriet?
Wir hätten Helene mitbringen sollen, dachte ich, und auch Catherine – sozusagen als Verstärkung. Selbst jetzt noch brauchte ich Rückenstärkung, um mich Glenallen zu stellen, der Schönheit und der Bedrohung.
Für mich waren die Jahre mit einem Mal bedeutungslos, und ich war wieder jung, verletzlich und voller Hoffnung.
Ich kämpfte dagegen an, daß die Vergangenheit mich überwältigte. Ich sah meinen Sohn neben mir, meinen Enkel auf der Rückbank. Es ist nur ein altes Haus, sagte ich mir, und alles, was ich hier gekannt habe, ist längst verschwunden.
Aber wo hat alles begonnen?
Als ich geboren wurde, stellte sich noch jeden Sommer die Wiesenknarre ein, und Touristen waren eine Seltenheit. Meine Heimat war Ballycloghan, in der Grafschaft Galway, ein steiniges Land, wo die Wolken im wechselnden Licht über den Himmel fliegen. In dieser Gegend kommt es vor, daß man in einem Dorf einen gehörigen Guß abbekommt, während die Leute im Nachbarort trockenen Fußes nach Hause gehen, und manchmal bringt ein einziger Tag alle vier Jahreszeiten. Damals schienen die Jahreszeiten dort gar keine Rolle zu spielen, das Land existierte in ganz eigenen Dimensionen von Raum und Zeit, so, als wäre es gegen Eindringlinge und Veränderungen gefeit. Wir hatten 145 Acres Land, ein Teil davon war gut, manches wurde im Winter überschwemmt, wenn die Garryogue über die Ufer trat, und ein Teil war mager und schilfbewachsen. Wir bauten Gerste, Hafer und Mangold an, hielten ein paar Vorräte und züchteten Bauernpferde, Irish-Draught-Pferde, lammfromm und zäh. Dank der Pferde konnten wir uns während der Wirtschaftskrise über Wasser halten.
Mein Vater starb im Winter des Jahres 1924, als ich fünf und mein Bruder Tom neun Jahre alt war. Meinen Vater habe ich immer vermißt, obwohl ich ihn nie richtig kennengelernt habe; mir blieb nur die vage Erinnerung daran, wie ich auf dem Schoß eines großen Mannes saß, der nach Tabak roch, und da wußte ich, wenn er mich in den Armen hielt, konnte mir nichts auf der Welt etwas anhaben.
Später stellte ich mir vor, daß sein Geist noch irgendwie bei uns war, und fragte ihn oft: »Warum konntest du nicht länger leben? Warum hast du dir nicht Zeit gelassen mit dem Sterben so wie andere Väter? Hast du denn nicht gewußt, wie schwer das Leben ohne dich sein würde?«
Einmal fragte ich meine Mutter wütend, warum er nicht dageblieben war und sich um uns kümmerte, und sie ließ das Nudelholz sinken, wischte sich mit dem Arm die Tränen aus den Augen und flüsterte: »A stór, a stór ..., er wollte nicht weggehen.«
Obwohl mein Vater nur ein Minimum an Bildung genossen hatte, war er sehr belesen. In seinen Büchern, die sich in der guten Stube auf den Regalen reihten, fand sich ab und zu eine kostbare Randnotiz in seiner steifen Handschrift, und in den langen Sommern meiner Kindheit vergrub ich mich in die Lektüre. Etliche leinengebundene Bände Charles Dickens mit viktorianischen Illustrationen standen da, auch Walter Scott und viele Gedichtbände sowie verschiedene Bücher und Broschüren über irische Geschichte und die Landfrage. Er stand den Feniern nahe und fackelte nicht lange, als sich die Gelegenheit bot, unter dem Windham-Landgesetz von 1903 dem Großgrundbesitzer die Farm abzukaufen. Doch von allen Büchern, die er besaß, ist mir The Dream of Gerontius am lebhaftesten in Erinnerung – nicht das Gedicht selbst, sondern die furchteinflößenden Bilder.
Nach dem Tod meines Vaters führte meine Mutter die Farm mit Hilfe von Jack Stapleton weiter, der schon immer als Knecht für uns gearbeitet hatte. Ganz in der Nähe hatte er ein kleines Haus mit einem Stückchen Land, auf dem er Zwiebeln anbaute. Er war Witwer und hatte einen Sohn, Paddy, der ungefähr ein Jahr älter war als ich.
Tom und ich besuchten die Dorfschule, doch Tom ging mit vierzehn ab, um ganztags auf der Farm zu arbeiten. Damals überredete er meine Mutter, die Zahl unserer Stuten von zwei auf vier zu verdoppeln. Er konnte gut mit Pferden umgehen, ritt sie ohne Sattel und galoppierte manchmal um die Weide, wobei er schrie wie ein Indianer. Die Tiere aber standen da, starrten ihn an und dachten wohl, er wäre verrückt geworden.
Auf meinen Bruder war ich stolz. Er war stark und groß, hatte dichtes braunes Haar und sah gut aus. Wie mein Vater liebte er Bücher, obwohl er wenig Zeit zum Lesen hatte – außer an den langen dunklen Abenden, dann setzte er sich mit einem Stuhl an den Herd, versenkte sich in die Schatzinsel oder Robinson Crusoe und bekam von der Außenwelt und dem Schwätzchen, das ich mit meiner Mutter hielt, nichts mehr mit. Meine Mutter ging vorsichtig um ihn herum, wenn sie den Teekessel holte, und angesichts seiner Entrücktheit mußte sie ein wenig lachen.
Mein Bruder vertiefte sich täglich in den Irish Independent. Nach dem Abendessen faltete er die Zeitung pedantisch auseinander, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und las uns daraus vor.
Ich erinnere mich, wie ich die Rückseite der Zeitung betrachtete, während er las, und einmal sah ich ein Photo von einem großen, alten Landhaus, das ich mit einer Art grausiger, unerklärlicher Faszination anstarrte. Das Bild löste bei mir ein komisches Gefühl in der Magengrube aus, halb Übelkeit, halb Angst. Das Herrenhaus in unserer Nachbarschaft war während der Unruhen zerstört worden, und wir Kinder durften dort nicht spielen, weil die Ruinen gefährlich waren.
An Winterabenden bekamen wir oft Besuch von Nachbarn, mit denen meine Mutter ein Leben lang befreundet war, und sie saßen beisammen, plauderten und erzählten Gespenstergeschichten. Manchmal traute ich mich vor Angst nicht mehr, den Lampenschein und die Gesellschaft zu verlassen, um nach oben ins Bett zu gehen, und dann kuschelte ich mich an meine Mutter und bettelte, noch länger aufbleiben zu dürfen.
Nahe Verwandte hatten wir nicht; mein Vater war einziges Kind in der Familie gewesen, und die beiden Schwestern meiner Mutter waren an Tuberkulose gestorben, die damals im Land grassierte. Aber sie hatte einen Onkel mütterlicherseits – Matthew O’Mahoney, der ein Lebensmittel- und Eisenwarengeschäft in Galway führte. Er war ein alter Junggeselle und kam nie zu Besuch.
»Stinkgemein ist der«, pflegte meine Mutter von ihm zu sagen. »Und Kinder hat er auch keine.« Sie glaubte aber, daß er Geld wie Heu besaß, und wir besuchten ihn, wenn wir nach Galway kamen. Dann stand ich im Laden, sog den sauberen Geruch von Bürsten, neuen glänzenden Eimern und Spaten ein und warf sehnsüchtige Blicke auf die Süßigkeitentheke. Der Onkel schenkte mir immer Sahnebonbons und sprach ein paar Worte mit meiner Mutter. Dazu begaben wir uns in die staubige kleine Stube hinter dem Geschäft, wo sich vergilbte Zeitungen und Rechnungen stapelten, die mit spitzen, dolchartigen Nadeln zusammengeklammert waren. Er interessierte sich für Tom und nahm ihn oft mit hinaus in den Schuppen, der als Warenlager diente, während ich mit meiner Mutter in der muffigen Stube wartete und den viktorianischen Stahlstich betrachtete, auf dem ein Mädchen am Teich Gänse füttert. Das Bild hatte der Onkel bei einem Ramschverkauf erstanden und über den Kamin gehängt, auf dem Bücher mit fleckigen Umschlägen und Eselsohren unordentlich auf einem Haufen lagen.
»Gehen wir bald, Mama?«
»Scht, Kind, scht.«
Ich sagte dem Onkel, das Bild gefiele mir, und er lachte und meinte: »Ja ..., ja ... Vielleicht hinterlasse ich es dir später mal.«
Jack Stapletons Sohn Paddy hatte ein blasses, schmales Gesicht, braune Augen und einen widerspenstigen Haarschopf. Er stotterte, war aber gut in der Schule. Mit leidenschaftlicher Entschlossenheit kämpfte er sich Wort für Wort durch die Lektionen und achtete gar nicht auf gelegentliche höhnische Bemerkungen des Lehrers. In Mathe tat er sich besonders hervor, Zinseszinsen rechnete er schneller aus als alle anderen, und auch im Kopfrechnen war er blitzschnell.
Ich mochte ihn sehr; in der Schule saß er hinter mir, sagte mir ein, wenn ich beim Gedichtaufsagen durcheinanderkam – was mir öfter passierte –, und ging mit mir und Niamh Houlihan auf dem Feldweg mit den tiefen Furchen und den Mauern auf beiden Seiten nach Hause. Niamh war eine der Gescheitesten in der Klasse. Sie war hübsch, hatte blaue Augen, hellbraune Locken und ein phänomenales Gedächtnis für alles, was sich auch nur ein bißchen reimte. Gedichte und Prosa konnte sie endlos aufsagen – Auswendiglernen machte ihr scheinbar nicht die geringste Mühe –, und ihr verzückter Gesichtsausdruck verriet die Freude am Rhythmus der Worte.
»Wie kannst du dir das ganze Zeug nur merken?« fragte ich sie eines Tages, und sie meinte, sie würde doch nur den Honig aus den Worten saugen, was hätte das schon mit Arbeit zu tun? Ich sagte ihr, sie solle sich um ein Stipendium bemühen, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Unser Lehrer nahm ihre Begabung zur Kenntnis, ermutigte sie aber nicht. Sie war ein Mädchen; Bildung an ein Mädchen zu verschwenden hatte keinen Sinn.
Niamhs Mutter war Witwe. Sie bekam eine kleine Rente von der britischen Armee und hielt Hühner, sie erledigte Schneiderarbeiten und hatte ein paar Acres Land, auf dem sie Gemüse und Kartoffeln anbaute. Ihr Mann war im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen und bei Ypres gefallen.
Im Winter verabschiedete ich mich immer an unserem Tor von Paddy, aber im Sommer fingen wir Elritzen mit Marmeladengläsern oder fischten Forellen in der Garryogue – dem Fluß, der an unsere Farm grenzte und wo sich im Sommer an dunklen unbewegten Stellen die Fische ausruhten. Paddy war der einzige Mensch, der mir je begegnet ist, der Forellen mit der Hand fangen konnte. Er legte sich flach auf den Bauch, ließ die Hand sanft ins ruhige Wasser unterm Flußufer gleiten, und wenn er Glück hatte, schnellte sein Arm nach ein, zwei Minuten wieder heraus, und eine braune Forelle zappelte auf der Wiese. Weiter unten wurde der Fluß von einer alten Steinbrücke überspannt, vor der man uns gewarnt hatte. Sie war während der Troubles beschädigt worden, aber wir versuchten unser Glück mit dickem Bindfaden und Haken aller Art, die wir auftreiben konnten.
Wir rollten uns oft von dem grasbewachsenen Hügel bis zum Feld an unserem Haus hinunter und wetteten, wer als erster unten wäre. Paddy ließ mich immer gewinnen, und ich lachte, wenn ich schmutzig, mit aufgelösten Zöpfen unten ankam.
Er vertraute mir an, daß er mich heiraten wolle, wenn er groß war. »Wir werden reich sein, und ich schenke dir Diamanten so groß wie Drosseleier«, murmelte er eines Tages, als wir uns im hohen Sommergras am Fluß sonnten. Wenn er mit mir zusammen war, stotterte er nicht.
»Ich soll mit dir weggehen, Paddy Stapleton, Diamanten, wirklich wahr?« Ich blickte meinen vergnügten, barfüßigen Spielgefährten an, dessen nackte Waden aus schlecht geflickten Hosen ragten, und stellte mir vor, wie ich behängt mit kalt glitzernden Edelsteinen aussehen würde. Offenbar weihte Paddy seinen Vater in seine Heiratspläne ein, und letzterer erzählte die Geschichte, als wäre sie ein guter Witz, meinem Bruder Tom weiter, der sie mit grimmiger Miene beim Mittagessen in der Küche auftischte. »Sicher brauchst du erst mal Geld auf der Bank, und studiert mußt du haben, wenn du Peg Donlon heiraten willst«, soll Jack seinem Sohn gesagt haben.
Mir entging nicht, daß sich mein Bruder ärgerte, weil Jack Stapleton vor ein paar Gelegenheitsarbeitern, die bei der Heuernte halfen, über mich redete. Ich wurde selber wütend, wenn ich mir das unausweichliche verstohlene Lachen der Männer vorstellte.
»Dieser Paddy wird es nie zu was bringen«, ermahnte mich Tom. »Wer sich mit ihm zusammentut, heiratet die Armut«, und ich stöhnte laut vor Wut. Heiraten war was für Erwachsene, für alte Leute.
Meine Mutter war eine kleine Frau mit schönen Augen und einer hohen Stirn, die durch jahrelange Existenzangst mit feinen Linien gezeichnet war. Nach dem verblaßten Hochzeitsbild zu schließen, das in der Stube hing, war sie früher hübsch gewesen. Sie stand hinter meinem Vater, der auf der rustikalen Bank des Photographen saß, und sah glücklich, aber angespannt aus. Ihr Haar war nach der damaligen Mode hochgesteckt, und ihre Augen waren voll Unschuld.
Mein Vater, wesentlich älter, untersetzt, mit schütterem Haar und Schnurrbart, saß sehr aufrecht und blickte mit schicklichem Ernst in die Kamera. Unter dem dunklen Anzug trug er ein Hemd mit hohem Kragen und eine Weste. Er hatte die überhebliche Miene aufgesetzt, die Männer auf Photographien gern zur Schau trugen; das Leben war kein Kinderspiel – schon gar nicht, wenn man mit unbeweglichem Gesicht drei unendlich lange Minuten stillhalten mußte, bis die Kamera das Bild eingefangen hatte und endlich eine Schwarzweißaufnahme ausspuckte. Aber seine Augen waren gütig, und es lag ein Lächeln in seinem Blick.
Wenn meine Mutter von ihm sprach, hörte man Trauer und Liebe heraus. Eines Tages bat ich sie, mir ihren Hochzeitsring zu zeigen, und sie zerrte und zog ihn mit Mühe vom Finger, wo er eine tiefe Rille hinterließ. Ich betrachtete den Ring eingehend, entzifferte den Feingehaltsstempel und die Worte, die auf der Rückseite eingraviert waren – »Daniel und Maura 16.6.1914«. Dasselbe stand auf dem Ring, den meine Mutter in ihrem Kästchen im ersten Stock aufbewahrte und den, wie sie mir sagte, mein Vater getragen hatte.
»Warum hast du ihm den Ring nicht mitgegeben, als er starb?« fragte ich, und sie erklärte, mein Vater sei ins Grab gelegt worden, doch der Ring hätte etwas zu erzählen und sollte den Lebenden gehören. »Du kannst ihn später einmal deinem Mann geben.«
Unser Haus war ein bescheidenes einstöckiges Gebäude, ein altes Bauernhaus, wie man sie damals auf dem Lande oft sah. Wir hatten ein ungeheiztes, traditionelles Wohnzimmer, die sogenannte ›gute Stube‹, die kaum benutzt wurde, eine geräumige Küche, die ein großer, schwarzer Herd warmhielt, drei Schlafzimmer im ersten Stock und ein Badezimmer ohne fließendes Wasser. Das Wasser wurde vom ›Mädchen‹ hochgetragen, die in dem kleinen Zimmer hinter der Speisekammer schlief und für Kost und Logis und geringen Lohn arbeitete. Das ›Mädchen‹ meiner Kindertage war Sadie Murray, die kurz nach der Heirat meiner Eltern ins Haus gekommen war und bei uns blieb, bis der Kleinbauer, mit dem sie siebzehn Jahre lang verlobt gewesen war, sie sitzen ließ. Dann kündigte sie und ging nach England. Wir bekamen noch eine Weihnachtskarte und hörten dann nichts mehr von ihr.
Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich oft ansah, halb prüfend, halb stolz. Sie war entschlossen, eine Dame aus mir zu machen; mir sollte die Knochenarbeit erspart bleiben, die das Leben auf einer kleinen Farm mit sich brachte; ich würde das Internat in Galway besuchen und eine ordentliche Ausbildung erhalten. Tom sollte die Farm bekommen, so hatte es mein Vater in seinem Testament bestimmt, für mich war ein Schulbesuch ›außerhalb‹ vorgesehen. Im Testament gab es dazu eigens eine Klausel; die Kosten meiner Ausbildung gingen zu Lasten der Farm.
Meine Mutter meinte, ich könnte später Lehrerin werden oder in einer Bank arbeiten. Und diese Aussicht behagte mir. Lehrer waren vornehme Leute, und Bankangestellte gehörten zur berufstätigen Elite. Bei uns auf dem Land waren alle arm – zwar empfanden wir das nicht so –, schließlich hatte man genug zu essen und ein Dach über dem Kopf, nur Geld war Mangelware. Im Sommer liefen die Kinder barfuß, und selbst im Winter schonten sie ihre Stiefel und trugen sie nur sonntags. Tom und ich bekamen jeden Oktober neue Stiefel, doch den Sommer über liefen wir barfuß wie alle anderen auch.
Der Unterricht in der Dorfschule am Ort gefiel mir; wir hatten einen temperamentvollen, cholerischen Lehrer, einen gewissen Mr. Clancy, den meine Mutter in ihre Pläne bezüglich meiner Bildung eingeweiht hatte. In meinem letzten Jahr riß er ständig Witze darüber und sagte, ich würde es ihnen allen zeigen, wenn ich auf mein piekfeines Internat ginge, »St. Catherine’s College für junge Damen, wenn’s recht ist, Jungs«. Er redete die Klasse immer mit ›Jungs‹ an, obwohl sie zur Hälfte aus Mädchen bestand.
Mr. Clancy war damals in den Fünfzigern. Er hatte strähniges, graues Haar, schlechte Zähne und eine spitze Zunge wie eine Viper. In einer späten Ehe war er noch Vater geworden – er hatte einen kleinen Jungen namens Joe, der sein ein und alles war. Immer wenn Mrs. Slattery, die die Kleinen und die beiden unteren Klassen unterrichtete, Kreide oder Hefte aus Mr. Clancys Schrank brauchte, schickte sie Joe, und alle konnten beobachten, wie die Züge des Vaters weich wurden, sobald der Junge das Klassenzimmer betrat.
Aber im Übrigen war unser Lehrer, was meine Mutter ›einen Choleriker‹ nannte. Er hielt die Klasse mit viel Theatralik und der Furcht vor seiner spitzen Zunge und seinem Rohrstock in Schach. Wenn man ins Stottern kam, machte er sich über einen lustig. Der arme Paddy mußte so oft höhnische Bemerkungen einstecken: »Paddy verhaspelt sich, Jungs, Paddy verhaspelt sich.« Aber ohne mit der Wimper zu zucken, mühte sich Paddy weiter ab und schlug mit der Hand auf sein Pult, um die Worte aus der Kehle zu zwingen.
Mädchen waren gut dran: Wenn eine nicht stillsitzen konnte, wurde sie nach Hause geschickt. Jungs, die störten, trugen dagegen Striemen auf den Handflächen davon. Der Stock wurde erst liebevoll durchgebogen und schwirrte dann mit einem grausigen Pfeifen durch die Luft.
Mit solchen Methoden brachte unser Lehrer es fertig, daß eine gemischte Klasse von Zehn- bis Dreizehnjährigen nicht im Geringsten aufbegehrte, wenn es galt, esoterische Verse zu lernen, wie etwa:
Kommt, ätherische Wesen,
Luftbewohner, die ihr über der Menschheit Los
Euch betrübt und erfreuet,
Aeols Saiten erwarten euch.
(Thomson, An Ode an Aeolus’s Harp)
Er liebte Milton und Shakespeare, und wir lernten, was er uns aufgab, und manchen machte es sogar Spaß, ganz besonders Niamh Houlihan, die, barfüßig wie sie war, aufstand und ›Sein oder Nichtsein. Das ist hier die Frage‹ oder Miltons ›Ode an his blindness‹ mit solcher Leidenschaft rezitierte, daß wir alle wie gebannt zuhörten.
Die Jahre kamen und gingen, und es passierte nicht viel, außer daß unser Abschied von der Kindheit unaufhaltsam näherrückte. Bis ich schließlich ein Erlebnis hatte, das noch lange Zeit, bis in die Erwachsenenjahre hinein, in meinen Träumen wiederkehrte.
An einem Sommertag des Jahres 1932 hatte mich meine Mutter zu Mrs. Houlihan geschickt, um Eier zu holen. Am nächsten Morgen sollte in unserem Haus eine Jagdgesellschaft Station machen, und meine Mutter bereitete ein großes Frühstück vor.
Es war ein schöner Samstagmorgen Anfang Juni, und mir fiel auf, daß die Zigeuner wieder an der üblichen Stelle ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie kampierten am Straßenrand, wo der ›lange Acker‹ am breitesten war. Mich faszinierte das fahrende Volk, das in bunten Wohnwagen lebte: über den Büschen waren leuchtende Tücher zum Trocknen ausgebreitet, Pferde weideten den Grasstreifen an der Straße ab, Kinder spielten im Schatten der Wohnwägen, und aus Holzfeuern stieg beißender Rauch auf. Diese Leute lebten außerhalb der Strukturen, die für mich selbstverständlich waren, und ich hatte ein wenig Angst vor ihnen, denn ich stellte mir vor, daß sie uns in ihrer Freiheit irgendwie verachteten. Also zögerte ich, als ich mich ihrem Lager näherte. Aber wenn ich nicht ohne die zusätzlichen Eier, die meine Mutter brauchte, nach Hause kommen wollte, mußte ich wohl weitergehen. Schließlich war ich fast dreizehn, alt genug, um ein bißchen Vernunft zu beweisen.
Also hielt ich mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete die kleinen, in Lumpen gekleideten Kinder aus den Augenwinkeln. Sie unterbrachen ihr Spiel, starrten mich an, eines rief mir zu: »Hallo, Miss«, ein anderes schrie in heller Aufregung: »Vorsicht, die Pferde, Miss!« Dann sah ich nur noch, wie drei scheckige Stuten, die soeben noch im Straßengraben gegrast hatten, nun aber den Nachstellungen eines Hengsts auswichen und auf mich zustürmten. Die besinnungslosen Tiere rollten die häßlichen Augen; ich verdrückte mich in eine Einfahrt und versuchte, übers Tor zu klettern. Aber es half alles nichts. Eine Stute streifte mich an der Schulter, schleuderte mich zur Seite, und ich schlug mit dem Kopf gegen den Torpfosten.
Als ich in einem halbdunklen Raum wieder zu Bewußtsein kam, hatte ich schreckliche Kopfschmerzen. Mir wurde klar, daß ich mich in einem Wohnwagen der Zigeuner befand, und die furchterregendste Frau, die ich je gesehen hatte, beugte sich über mich. Ich nahm wahr, daß durch die offene Tür Licht hereinfiel, und sah die wenigen Möbel, die Pritsche, auf der ich lag, den Kieferntisch, die zwei Holzschemel und diese grausige Frau mit dem verfilzten Haar und dem weißen, blinden Auge.
Das gesunde Auge, das ihr geblieben war, blickte mich grimmig an, dann lächelte die Frau, und ich sah, daß sie nur noch wenige Zähne hatte. Es roch durchdringend nach Kartoffelwasser und Rauch.
»Reg dich nicht auf, kleine Lady«, krächzte sie und legte mir die Hand auf die Stirn, was meinen Schmerz linderte. Ich starrte sie an, und meine Angst wich, da sie mich so sanft berührt hatte. »Du hast dir deinen hübschen Kopf ganz schön angeschlagen, aber das wird wieder gut.«
Ich befühlte die Beule und spürte eine Schürfwunde, aber scheinbar war kein Blut geflossen. Die Alte kehrte mir kurz den Rücken und kam mit einer Tasse Milch wieder. Ich nahm die Tasse und trank die Milch, dann bedankte ich mich, wollte aufstehen und gehen. Aber plötzlich war ich einer Ohnmacht nahe; ich ließ mich auf einem Schemel nieder und wünschte mir sehnlichst, das Schwindelgefühl, das mir die Kraft nahm, und die Übelkeit würden vergehen, denn ich befürchtete, es würde sich mir der Magen umdrehen.
»Bleib noch eine Weile hier. Ich sage dir deine Zukunft voraus«, meinte sie und griff nach meiner Hand. Ich ließ sie meine Handfläche untersuchen, und merkte, wie sie stutzte und mich überrascht anblickte. Dann holte sie eine angeschlagene Emailleschüssel mit blauem Rand hervor; innen war sie verrostet, weil die Emaillierung abgesprungen war. Aus einem Emaillekrug goß die Alte Wasser hinein. Die Schüssel stellte sie zwischen uns beide auf den Tisch, beugte sich darüber und schirmte sie mit den Händen ab. Dann sagte sie eine Art Gebet auf – es klang wie ein Gebet an die Göttin Brede – und starrte schweigend ins Wasser.
»Oh, meine Kleine«, flüsterte sie einen Augenblick später, »eines Tages wirst du tatsächlich eine große Dame sein und ...«, sie deutete aufgeregt auf das Wasser in der Schüssel, » ... die Hand Bredes beschützt dich.«
Ich blickte in die Schüssel und sah nichts als Rost. Die Alte aber starrte mich an und nickte. »Eine große Dame«, wiederholte sie staunend. Und ich stolperte die Holzstufen hinunter und lief nach Hause.
Ich erzählte meiner Mutter die ganze Geschichte, und sie steckte mich ins Bett, aber mir entging nicht, daß ihr die Prophezeiung der alten Zigeunerin keine Ruhe ließ. Tagelang verfolgte mich ihr fragender, besorgter Blick, und sie bat mich immer wieder, die Prophezeiung zu wiederholen, bis ich die Geduld verlor und Tom mich mit Sticheleien plagte: »Hier kommt die Große Dame. Macht Platz, ihr Bauerntölpel.« Ich schrie ihn an, er solle den Mund halten, und sprach nicht mehr mit ihm, bis er sich lachend entschuldigte.
In diesem letzten Sommer meiner Kindheit verschwendete ich kaum einen Gedanken an die bevorstehenden Veränderungen. Wenn ich den Feldweg zur Schule hinunterging, vorbei an Weißdorn- und Brombeerhecken mit Winden und duftendem Geißblatt, und mich mit Paddy und Niamh oder anderen Klassenkameraden unterhielt, dachte ich nur an die Gegenwart; als würde es nie etwas anderes geben als den Wechsel von Licht und Schatten, den warmen, staubigen Weg unter den nackten Füßen, das liebevolle Gesicht meiner Mutter und die Küche, wo es nach frischgebackenem Brot roch.
Doch in dem ›piekfeinen Internat‹, das mir immer noch wie ein Traum erschien, wurde alles anders. Dort lernte ich Cissie und Mary kennen, und durch sie veränderte sich mein Leben.
An einem kühlen Septembertag des Jahres 1932 stieg ich in den Zug und fuhr nach Galway ins St. Catherine’s College, um mein neues Leben aufzunehmen. Tom kam mit, er wollte mir mit dem Koffer helfen und mich wohlbehalten in der Schule abliefern. Ich war aufgeregt. Der Traum vom Internat war dabei, Wirklichkeit zu werden. Im Takt der ratternden Eisenbahnräder rumorte es die ganze Fahrt über wild in meinem Magen. Ein Leben weit weg von zu Hause schien mir wie ein dunkler Nebel, und in dieses Dunkel mußte ich jetzt eintauchen.
Als wir in Galway ankamen, zog Tom seine Mütze tief in die Stirn, schulterte meinen Koffer und marschierte los in Richtung Kloster. Ich folgte ihm nervös in meiner brandneuen blauen Schuluniform, die noch nach dem Geschäft roch. In Galway wimmelte es von Leuten vom Land – überall sah man Männer mit Schirmmützen, Frauen mit schwarzen Kopftüchern, Eselskarren, Einspänner, Autos, Radfahrer, und die feuchte Luft war vom Geruch nach Pferdemist und salzigem Seetang erfüllt.
St. Catherine’s College lag in einer Gartenanlage hinter hohen Mauern mit schweren Eisentoren. Die Auffahrt war von Kastanien gesäumt, und auf beiden Seiten waren Camogie-Spielfelder. Oberhalb des Sportplatzes neben dem Haus sah ich drei eingezäunte Tennisplätze. Das Internat selbst bestand aus einem stuckverzierten georgianischen Herrenhaus und zwei später angebauten Flügeln; in den Flügeln befanden sich die meisten Klassenräume, die Schlafsäle, das Refektorium der Mädchen und die Aula. Während wir die Auffahrt hinaufgingen, kamen andere Mädchen an: in schwarzen Automobilen – Austins, Standards, Fords – oder Einspännern.
»Das ist Miss Margaret Donlon«, stellte mich Tom Schwester Barbara, der Pförtnerin, vor. Mir war sofort klar, daß sie meinen Bruder für einen Dienstboten hielt, und das ärgerte mich, denn Tom wußte sich zu benehmen und war stolz.
Wir wurden durch den kreisförmig angelegten Hauptgang geführt – mit den italienischen Fliesen, der reichverzierten Decke und der Statue des Erzengels Michael mit dem Drachen – und gelangten in einen langen Korridor mit glänzendem Parkett und schwarzgerahmten Heiligendarstellungen, die von einem Ende zum anderen die Wände zierten. Auf dem Boden standen offene Koffer und Reisetruhen; mehrere Mädchen waren beim Auspacken, und der Gang hallte von Stimmen und Gelächter wider. Man zeigte Tom, wo er meinen Koffer abstellen konnte, während die Mädchen ihn von oben bis unten musterten, sich gegenseitig in die Rippen stießen und ein Kichern unterdrückten. Dann verabschiedeten wir uns; er ergriff meine Hand mit dem eisernen Händedruck, den er für wichtige Anlässe bereithielt, und seine Stimme klang heiser.
»Alles Gute, Peg. Wir werden dich daheim schrecklich vermissen«, brachte er mühsam heraus. Den heftigen Gefühlen des Augenblicks und den auf ihn gerichteten Blicken konnte er kaum standhalten. Dann war er fort, und ich stand mit Tränen in den Augen auf dem langen Flur, mit all den dunklen Heiligenbildern in den schweren Rahmen. Am anderen Ende hing ein Spiegel, in dem ich mich sah – ein schlaksiges Mädchen mit der Schulmütze, unter der die frisch geschnittenen Haare hervorlugten.
Die anderen Mädchen, die wie ich marineblaue Jacken mit weißer Bluse trugen, verloren nach Toms Abschied das Interesse an mir. Sie nahmen ihre Beschäftigung wieder auf, packten Koffer aus, lutschten Bonbons, redeten über die Sommerferien, warfen gelegentlich neugierige Blicke auf Neuankömmlinge und begrüßten mit Freudengeschrei alte Freundinnen. »Na, war es schön zu Hause?« – »Ist es nicht schrecklich, wieder hier zu sein?« – »In welchem Schlafsaal bist du dieses Jahr?«
Ich lehnte mich in eine Fensternische, von der aus ich die Auffahrt überblicken konnte, und beobachtete Tom, wie er auf das Tor zuschritt. Er drehte sich einmal um und warf einen Blick auf die Schule. Ich winkte ihm nach, aber er sah mich nicht. Dann verschwand er durchs Tor, ich aber blieb mit einem Gefühl der Leere im Magen zurück und fühlte mich elend und verlassen.
Während ich noch meinen Mut zusammennahm, um zu fragen, was ich als nächstes tun sollte, tauchte eine große, hagere Nonne auf. Sie hatte ein längliches Gesicht, aus dem eine Hakennase ragte, und segelte in ihrer schwarzen Tracht hoch erhobenen Hauptes durch den Flur. Die Perlen des Rosenkranzes, der an ihrem Gürtel hing, klapperten bei jedem Schritt, und das schwarz-silberne Kruzifix unten am Rosenkranz schwang in den Falten ihres Gewandes hin und her.
Es war die Schulleiterin Mother Mercy, zu deren Eigenheiten es gehörte, niemals den Kopf zu drehen. Wenn sie sich einer Schülerin zuwandte, mit der sie sprach, machte in einer Geste einstudierter Würde ihr ganzer Körper die Drehung mit. Ihre lange Gestalt beugte sich über das Mädchen, an das sie das Wort richtete, und sie blickte es mit ihrem vornehmen Gesicht prüfend an, während ihre weißen Hände ein verrutschtes Halstuch oder einen unordentlichen Kragen in Ordnung brachten. Dabei wurde man von ihrem Schleier gestreift, was eine merkwürdige Intimität schuf, und man sog den Geruch der Kernseife, die sie benutzte, und ihrer makellos sauberen, schwarzen Tracht ein.
»Schwester Barbara hat mir gesagt, daß du angekommen bist, Margaret«, sprach sie mich jetzt freundlich an. »Soweit ich weiß, hat dich deine Mutter nicht selbst hergebracht.«
»Nein, Schwester.«
»Ich bin Mother Mercy; du kannst mich mit ›Mother‹ anreden.« Ihre Stimme verriet absolute Autorität. Dann ließ sie ihren Blick über die Mädchen um uns herumschweifen.
»Catherine O’Shaughnessy«, rief sie nur wenig lauter, als sie mit mir gesprochen hatte, und ein dunkelhaariges Mädchen in meinem Alter löste sich aus dem geschäftigen Treiben und kam zu uns.
»Nimm Margaret unter deine Fittiche – sie schläft im St. Teresa’s.«
Catherine lächelte schüchtern; sie hatte blaue Augen, dunkelbraunes Haar und ein offenes Gesicht, in der Art, die ich von den Illustrationen unserer Dickens-Ausgabe her kannte.
Mother Mercy entschwand, um sich anderer Neuankömmlinge anzunehmen, und Catherine fragte: »Wo ist dein Koffer?« Ich deutete auf meinen neuen, braunen Schrankkoffer mit den Ledergriffen.
»Nimm ein paar Sachen, und bring sie nach oben. Ich zeige dir, wo du hinmußt.«
Sie beugte sich über den Koffer, um mir zu helfen, und mir fiel auf, daß sie an der linken Hand einen grauen Baumwollhandschuh trug und die Hand nur vier Finger hatte, von denen einer verstümmelt war. Ich erschrak, versuchte aber, es nicht zu zeigen. Catherine blickte mich prüfend an, als wollte sie mich warnen, ja kein Mitleid zu zeigen.
Sie zeigte mir mein Bett im St. Teresa’s Schlafsaal; die fünfzehn Betten im Saal waren durch Vorhänge abgeteilt; jeder der so geschaffenen Schlafräume enthielt neben dem Bett einen verschließbaren Schrank sowie eine Waschschüssel und einen Wasserkrug. In der Ecke befand sich eine ›Zelle‹, die durch eine hölzerne Trennwand abgeteilt war. In der Zelle schlief eine ältliche Nonne, Mother Josephine, die für den Schlafsaal verantwortlich war. Später würde ich sie nachts schnarchen hören und mir ausmalen, wie sie wohl ohne Schleier aussehen mochte. Ich stellte sie mir mit rasiertem Schädel und Schlafmütze vor, doch meine Neugier wurde nie befriedigt. Nonnen waren geradezu übermenschliche Wesen, als Bräute Christi in ihrer wallenden Tracht und durch ihr Leben in Abgeschiedenheit verbreiteten sie eine Aura des Geheimnisvollen, durch die sie dem Alltäglichen entrückt schienen. Selbst für uns Internatszöglinge blieben sie undurchschaubar.
Ich bezog mein Bett, und nach mehreren Gängen treppab und treppauf war der Koffer leer. Meine Sachen hatte ich zum Großteil in das Schränkchen am Bett gelegt, während mein Mantel und mein Sportkleid zum Wechseln im großen Kleiderschrank für alle hingen. Im Schlafsaal war es kühl; an den Wänden verliefen etwa in einem Meter Höhe dicke Heizungsrohre, aber sie waren kalt. Ich fröstelte; die neue Umgebung machte mir Angst; ich sehnte mich nach meiner Mutter, der warmen Küche und Tom, wie er lauthals lachte. Heiße Tränen liefen mir übers Gesicht; ich wischte sie mit dem Handrücken weg.
»Es ist gar nicht so übel hier, Margaret«, sagte Catherine, die hinter mir stand. »Du brauchst nicht zu weinen. Schau, heute Abend gibt’s Kuchen und leckere Sachen zum Tee!«
Ich dachte an den Tee daheim – das leckere Gebäck meiner Mutter, vielleicht frische Pilze, die am Morgen gesammelt und dann mit einer Prise Salz in Butter gedünstet wurden, und ein, zwei Scheiben gerösteter Speck mit Spiegelei. Ich unterdrückte das Schluchzen.
»Wo kommst du her?« fragte ich.
»Aus Ballyharris in der Grafschaft Longford.«
»Nie gehört«, erwiderte ich. Dann wollte sie wissen, woher ich käme, und ich erzählte ihr von meiner Mutter und Tom. Sie fragte, ob er der große Junge gewesen sei, den sie mit dem Koffer gesehen hatte, was ich bejahte. Sie half mir, alles in meinem Schrank zu verstauen, und nahm mich schließlich in ihr Abteil am andern Ende des Schlafsaals mit, wo sie mir ein paar Photographien von ihrer Familie zeigte. Neugierig betrachtete ich die Bilder, die ihre Eltern, ihren Bruder und ein Zwillingspärchen zeigten – »ein ziemlich freches Gespann«. Doch ich ertappte mich immer wieder dabei, wie mein Blick zu ihrer sonderbaren linken Hand wanderte.
»Was ist mit deiner Hand passiert?« fragte ich leise, denn ihre Verletzung flößte mir Ehrfurcht ein.
Sie zögerte, unterbrach, was sie gerade tat, und schaute mich prüfend an, dann zog sie den Handschuh ab und hielt mir die Hand zur Begutachtung hin. Der kleine Finger und die Spitze des Ringfingers fehlten, so daß die zarte Hand an eine Klaue erinnerte. Sie sah aus wie der gekrümmte Fuß eines seltsamen Vogels.
»Ich bin damit in eine Rattenfalle gekommen, als ich fünf war. Es ist grausig, ich weiß schon.«
»Nein, ist es nicht«, widersprach ich. »Die Hand sieht nur ein bißchen anders aus, und ohne Handschuh würde es überhaupt nicht auffallen.«
Sie zog den Handschuh wieder an, lächelte und schüttelte den Kopf.
»Es ist lieb, daß du das sagst, Margaret. Aber ich kann den Anblick nicht ertragen.«
»Daheim nennen sie mich ›Peg‹«, sagte ich.
Sie sah mich aus ihren dunkelblauen Augen an.
»Und ich bin Cissie!«
So wurden Cissie und ich Freundinnen.
Die Wochen vergingen, das Wetter wurde schlechter, und die Blumen im Klostergarten verblühten. Hinter dem Haus hatten die Nonnen ihren Privatgarten, der von einer Steinmauer umgeben war – wahrscheinlich ein ehemaliger Obstgarten. Von den Schlafsaalfenstern aus konnten wir hineinsehen und am Samstag Vormittag, wenn wir eigentlich unsere Schränke aufräumen sollten, unsere Erzieherinnen beobachten. Sie drehten je zu zweit ihre Runden, und die Schleier flatterten im Wind.
»Sieht aus wie Hofgang im Gefängnis«, meinte Rhona Flaherty, die neben mir schlief. Rhona war im zweiten Jahr. Im ersten Jahr hatte sie Ärger bekommen, weil sie sich unerlaubt entfernt hatte, und sie galt allgemein als Wildfang. Sie zeigte mir zwei Päckchen Zigaretten, die sie unter ihrem Schrank versteckt hatte. »Wenn ich Nachschub brauche, büxe ich aus.«
»Wie willst du das anstellen? Sie erwischen dich doch.« Sie lächelte: »Ha! Heuer gehe ich verkleidet!«
Ich glaubte ihr kein Wort. Erst nachdem sie von der Schule verwiesen wurde, erfuhr ich von dem alten Regenmantel, dem Hut und der Brille, die sie in einem hohlen Baum am Tor verborgen hatte.
Ich gewöhnte mich ein, lernte Camogie spielen und wurde Flügelspielerin in der Juniormannschaft.
Die Religion beherrschte unseren Schulalltag. Um sieben Uhr morgens wurden wir von Mother Josephine geweckt. Sie trat der Reihe nach in jedes Schlafabteil, läutete ein Glöckchen und hielt uns ein kleines Weihwassergefäß hin; dabei stimmte sie »Benedicamus Domino« an. In das Gefäß mußten wir die rechte Hand tauchen, die Antwort »Deo Gratias« singen und uns bekreuzigen. Nach dem Morgengottesdienst gab es Frühstück; am Abend vor dem Essen wurde wieder gebetet und später noch einmal, wenn wir im Schlafsaal alle in einer Reihe vor unseren Betten standen und gemahnt wurden, daß wir sterblich seien. »Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück«, an dieser Stelle knieten wir nieder und küßten den Holzboden. Den Staub schmecke ich heute noch auf den Lippen.
Außerdem hielten wir einmal im Jahr Exerzitien ab. Der Redemptoristenpriester malte uns nicht nur die Hölle in allen Einzelheiten aus – die Teufel mit ihren rotglühenden Spießen und die Würmer, die einem die Augäpfel wegfressen –, sondern schilderte auch mit beredten Worten den Weg, der dorthin führt: Sex.
Man konnte auch wegen anderer Vergehen in der Hölle landen, doch Sex war das schwerwiegendste. Sex war eine Sünde, die in der Ehe unter bestimmten Voraussetzungen geduldet wurde, zum Beispiel durfte er nur der Fortpflanzung dienen. Alles, was mit Sexualität zu tun hatte, war sündig. Wir waren noch so jung, daß wir kaum wußten, wovon der grimmige Priester sprach. Doch als er sagte, sich selbst zum Vergnügen zu berühren sei eine Todsünde, malte sich Schuldbewußtsein auf den Gesichtern, denn die allmählich knospenden Brüste wurden nachts eingehend untersucht.
Die Exerzitien dauerten mindestens drei Tage. Während dieser Zeit herrschte absolutes Schweigen, und wir mußten über unsere Sünden nachdenken. Ich erforschte mein Gewissen, bekannte mich einiger Verbrechen schuldig und ging zur Beichte. Dabei starb ich fast vor Verlegenheit, doch ich wußte, daß es ein wichtiges Sakrament war – dieser ältliche Mann, der hinter dem Gitterfenster saß und pubertierende Mädchen über ihre ›Sünden‹ aushorchte. Mitten im Trimester traf eine neue Schülerin ein. Ich beobachtete eifersüchtig, wie Cissie sie als alte Freundin begrüßte. Sie hatte tizianrotes Haar, grüne Augen und lange schlanke Beine. Ihr Name war Mary McElligott, und sie kam aus der Nähe von Ballyharris in der Grafschaft Longford – also aus demselben Ort wie Cissie, wo Marys Vater Dorflehrer war. Sie und Cissie kannten sich schon seit Jahren. In der Schule traf Mary mit Verspätung ein, weil sie sich bei irgendeiner tollkühnen Unternehmung auf dem See unweit ihres Elternhauses eine Lungenentzündung geholt hatte. Die Nonnen verwöhnten sie, behandelten sie als Rekonvaleszentin, duldeten es, wenn sie morgens nicht sofort aufstand, und schickten sie auch früh zu Bett. Cissie war offensichtlich hoch erfreut, sie wiederzusehen. Ich aber schmollte ein, zwei Tage lang, während die beiden Freundinnen ihre Beziehung wiederaufnahmen. Aus ihrer Welt fühlte ich mich ziemlich ausgeschlossen und murmelte griesgrämige Bemerkungen über »die Rothaarige« und »für wen hält sie sich eigentlich« vor mich hin. Ich wollte mir Cissies Freundschaft erhalten und mußte feststellen, daß sich Mary zwar höflich, aber distanziert verhielt. Trotzdem faszinierte mich ihr Gleichmut und ihre geistreiche Art; sie wurde mit jeder Situation fertig, und doch war sie unter der Oberfläche sehr verletzlich. Gerade diese Verletzlichkeit bildete die Grundlage für ihre Ausstrahlung, sie verbreitete einen eigenartigen Zauber, und unter ihren Klassenkameradinnen herrschte die stillschweigende Übereinkunft, daß sie nicht verletzt werden durfte. Worauf dieser Zauber zurückzuführen war, weiß ich nicht, aber er war da.
Es war die Sache mit den Zigaretten, durch die ich einer Freundschaft mit ihr näherkam. Einige von uns rauchten auf der Toilette – Rhonas Zigaretten, die sie mir aufgedrängt hatte. Rauchen war schick, die Filmstars pafften, allerdings wenn auch mit langen, schwarzen Mundstücken. Wir zündeten uns eine an, inhalierten, husteten, bis uns die Augen tränten. Dann läutete es, die Pause war vorbei; die Zigaretten wurden ausgedrückt, und alle machten sich aus dem Staub. Ich war die letzte, die aus der Tür trat, und die Einzige, die von Mother Mercy ertappt wurde, die unmittelbar darauf die Szene betrat und den verräterischen Rauch roch. Ich steckte die Schelte ein, gab das Vergehen zu und leugnete die Beteiligung anderer. Wie Mary mir später gestand, hätte ihr Vater sie von der Schule genommen, wenn er erfahren hätte, daß sie rauchte. Sie war dankbar und bezeichnete mich vor Cissie als »unsere treue Kameradin«, als wären wir Partisanen im Guerillakampf.
Ich wurde bestraft; vier endlose Seiten füllte ich mit dem Satz: »Ich darf nicht rauchen.« Und ich tat ›Buße beim Tee‹, das hieß kein Kuchen am Sonntag. Aber es war die Sache wert. Cissie und Mary bewahrten Kuchenstücke für mich auf, und wir drei wurden unzertrennlich.
Cissie schlug eines Tages vor, wir sollten uns einen Geheimnamen zulegen. Ein, zwei Tage lang brüteten wir über der Frage, welchen Namen wir wählen sollten. In einem unbeschwerten Augenblick schlug ich ›Die drei Bären‹ vor, was seltsamerweise auf Hohn und Spott stieß. »Die drei kleinen Bären«, sagte Mary, »wer soll die Mammi sein und wer der Pappi; wer das Baby is’, wissen wir schon«, und sie schaute mich streng an. Ich lachte über ihre komische Einlage, war aber heimlich beleidigt.
Schließlich kam Cissie mit Hilfe des Oxford Dictionary zu dem Schluß, wir seien furchtlos und unerschrocken und daher sei ›Die Unbezwingbaren‹ der richtige Name für uns. Er vermittelte Kraft und Zielbewußtsein. Und so besiegelten wir unser Bündnis eines Tages in der Camogie-Hütte mit Blut. Zu diesem Zweck ritzten wir uns die Handflächen mit der Klinge eines Spitzers und vermischten die austretenden Blutstropfen – so wurden wir Blutsschwestern. Außerdem ersannen wir einen geheimen Händedruck, so wie ihn die Freimaurer angeblich verwendeten. Es bot sich jedoch enttäuschend selten Gelegenheit, von diesem wichtigen Erkennungszeichen Gebrauch zu machen.
Manchmal sprachen wir über Jungs, übers Heiraten und Kinderkriegen. Es gab eine Menge Spekulationen darüber, wie und wo die Babys herauskamen. »Das Baby ist an Schnüren festgemacht«, erklärte Rhona, die sich als eine Art Orakel etabliert hatte: »Und wenn die nicht zusammengebunden werden, stirbt die Mutter.« Dann erzählte sie uns irgendeine Geschichte über eine Frau, die auf einem Schiff niedergekommen war, wo niemand über die Schnüre Bescheid wußte. Selbstredend verschied die Mutter.
Jungs mochten wir nicht, aber wenn wir einmal heiraten sollten, würden unsere Männer uns anbeten, soviel stand fest.
»Kennst du jemanden, den du gerne heiraten würdest?« fragte ich Cissie, und sie errötete, als Mary wissend behauptete: »Aber sicher kennt sie jemanden. Den schönen Prinz Peter!«
»Wer ist das?« fragte ich.
»Och, nur ein einheimischer junger Adliger, der rechtmäßige Erbe von Glenallen.«
Ich versuchte, mehr in Erfahrung zu bringen, aber Cissie gab Mary einen schmerzhaften Stoß in die Rippen, und das Thema wurde fallengelassen. Als ich später noch einmal darauf zurückkam, erklärte Cissie mit einem tiefen Seufzer, sein Name sei Peter Fitzallen, und er lebe auf einem Gut namens Glenallen in der Grafschaft Longford, und Mary bilde sich da nur etwas ein.
Mary lächelte und zog die Augenbrauen hoch.
»Hat er nicht vielleicht einen Bruder, der für dich in Frage käme, Mary?« fragte ich, und Mary bejahte, er habe einen Bruder, Gott stehe ihm bei. Als Cissie jedoch außer Hörweite war, flüsterte sie, als spräche sie mit sich selbst: »Auf jeden Fall hasse ich Glenallen.« Zu weiteren Erklärungen war sie nicht zu bewegen.
Wir hatten eine Mathelehrerin, Miss Sweeney, die uns auch ein wenig in Naturwissenschaften unterrichtete, obwohl das nicht im Lehrplan stand. Mit Materialien, die sie von zu Hause mitbrachte, führte sie einfache Experimente durch – sie züchtete Alaunkristalle und zeigte uns die Flammenfärbung von Kupfer und die grünen Überreste: Kupferoxid. Die im Alltäglichen verborgenen Geheimnisse faszinierten mich, und so beschloß ich, Naturwissenschaften zu studieren, wenn ich erwachsen war, und Lehrerin zu werden. Ich wollte die Geheimnisse des Lebens enträtseln.
Weihnachten rückte näher. Im Refektorium hing ein Adventskranz mit vier Kerzen, eine für jede Woche der Adventszeit. Als drei Kerzen brannten, wurde das ganze Kloster von einer unterdrückten Erregung ergriffen. Wir saßen Abend für Abend im Refektorium und wußten, daß wir, sobald die letzte Kerze angezündet wurde, schon so gut wie zu Hause waren. Die Nacht draußen vor dem Speisesaalfenster, das sich manchmal beschlug, war pechschwarz. Ich malte Räder mit Speichen und kunstvolle Verzierungen auf die beschlagenen Scheiben, bis Mother Mercy erklärte, das Malen auf die Fenster sei zu unterlassen, da sie so schwieriger zu putzen wären.
Tom kam, um mich für die Weihnachtsferien abzuholen. Seit zehn Uhr morgens waren ständig Mädchen abgereist; manche fuhren mit der Eisenbahn, andere wurden mit dem Einspänner oder dem Automobil geholt.
Ich stellte meinen Bruder Cissie und Mary vor.
»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Tom«, sagte Cissie. Verlegen schüttelte Tom den beiden die Hand, und ich sah, daß Mary ihn mit dem geheimen Händedruck begrüßte. Cissie aber betrachtete ihn nur schüchtern und ließ die linke Hand in der Tasche verschwinden. Wir schwiegen; Tom war es nicht gewohnt, daß ihm Mädchen in die Augen schauten. Daheim stand er meist im Mittelpunkt, und deshalb hatte er übertriebene Vorstellungen von seiner Wichtigkeit.
Ich setzte den verhaßten Schulhut auf, zog den Gabardinemantel mit Gürtel und die Handschuhe an und präsentierte mich so der Pförtnerin, die mich kritisch musterte und mir dann frohe Weihnachten wünschte. Sie schloß die Tür hinter uns, und wir gingen zum Eyre Square, in Richtung Bahnhof. Es war ein frischer Dezembertag; das Mittagslicht glänzte trügerisch hell und ließ nicht ahnen, daß es schon in vier Stunden dunkel sein würde. In Galway herrschte vorweihnachtliche Geschäftigkeit. In den Fleischerläden hingen reihenweise hellbraune und weiße Truthähne, noch im vollen Federkleid, und in den Schaufenstern waren Spielsachen, Puppen mit üppigen Locken und großen Augen, Baukästen, Hornby-Modelleisenbahnen, Rauschgold und Stechpalmenzweige, Plätzchendosen und Pralinenschachteln ausgestellt.
Tom warf mir von Zeit zu Zeit einen Blick zu und machte Bemerkungen wie: »Du bist ganz schön vornehm geworden«, und ich nahm rasch den Schulhut ab und zerrte die Handschuhe herunter. »Wenigstens kaust du doch noch an den Fingernägeln«, sagte er dann aufmunternd, als wäre in meinem Fall noch nicht alle Hoffnung verloren. Aber mir war klar, daß er sich über die Anzeichen meiner ›Vornehmheit‹ freute.
»Wie gefallen dir meine Freundinnen?« fragte ich, als der Zug aus dem Bahnhof ausfuhr.
»Cissie finde ich ganz nett«, bemerkte er widerwillig.
»Und was hältst du von Mary?«
»Die ist ein bißchen zickig. Sie hat mir nicht mal richtig die Hand gegeben.«
»Das war der geheime Händedruck.«
Er prustete vor Lachen und schlug sich mit der Hand an den Kopf. »Der geheime Händedruck! Natürlich! Wie dumm von mir!«
»Ich werde Mama fragen, ob sie im Sommer ein paar Tage zu uns kommen können. Cissie hat mich auch zu sich nach Hause eingeladen!«
»Hmm«, brummte er gedankenverloren. Einen Augenblick später platzte er plötzlich heraus, der Wirtschaftskrieg mit Großbritannien richte das Land zugrunde. Davon hatte ich schon gehört – wie Dev Eamon de Valera (irischer Ministerpräsident 1932-48) sich geweigert hatte, noch länger Landannuitäten, die Entschädigung für ehemalige britische Grundherren, die ihre Besitzungen im Zuge der Landreform um die Jahrhundertwende den Pächtern überschrieben hatten, an England zu zahlen, und wir infolgedessen nichts mehr nach Großbritannien exportieren konnten. »Schlimm für die Viehzüchter«, sagte Tom oft. »Schlimm für alle, die vom britischen Markt abhängig sind.«
Als ich nach Hause kam, fragte ich meine Mutter, ob meine Freundinnen kommen dürften, und sie wollte wissen, was ihre Väter machten. Als ich sagte, Cissies Vater sei Arzt, bekam sie große Augen, Ärzte rangierten für sie nur ein paar Stufen unter dem lieben Gott. Und Mary mit einem Lehrer als Vater stand auch nicht schlecht da.
An meinem ersten Ferientag traf ich Niamh, die mit dem Fahrrad die Straße herunterkam. Ich fragte sie, was sie so machte, und sie erzählte, sie sei Verkäuferin bei Percivals, dem Lebensmittelgeschäft im Dorf. Es sei langweilig, meinte sie lachend.
»Du hast dich verändert, Peg«, sagte sie traurig, als hätte sie nichts anderes erwartet.
»Ich habe mich bestimmt nicht verändert.«
An Weihnachten schaute Paddy Stapleton vorbei, angeblich um einen Sack Zwiebeln zu bringen. Er saß in der Küche und fragte nach meiner neuen Schule und ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Ab und zu kam er ins Stottern; das war ihm früher bei mir nie passiert. Er hatte sich in den letzten Monaten verändert, war hoch aufgeschossen und im Stimmbruch.
»Wie g..g..gefällt’s dir in der n..n..neuen Schule?«
»Willst du den ganzen Tag lang mit Peg schwatzen?« fragte Tom nach einer Weile unwirsch.
Als Paddy gegangen war, blickte meine Mutter von ihrem Strickzeug auf. »Kümmre dich nicht um solche wie den jungen Paddy«, sagte sie plötzlich. »Du kannst eine viel bessere Partie machen!«
Ich stöhnte. »Um Himmels willen, Mama, ich bin erst dreizehn. Und Paddy ist sowieso ein Bauernlümmel.« Ich schämte mich, weil ich meinen alten Freund verriet. Im Sommer war er mir noch nicht wie ein ›Lümmel‹ vorgekommen, doch jetzt hatte ich andere Maßstäbe.
»Ich möchte sowieso auf die Uni gehen«, fuhr ich fort. »Cissie auch. Wir wollen Wissenschaftlerinnen werden. Darf ich, Mama?«
Das Wort ›Wissenschaftlerin‹ gefiel mir. Es klang nach Geheimwissen und unterstrich die Bedeutung der so bezeichneten Person. Aber damals ging es mir eigentlich nur darum, Eindruck zu schinden.
Tom blickte zu mir auf, während er an seinen Stiefeln zerrte. »Dazu brauchst du mehr Hirn, als du hast, und woher sollen wir das Geld für ein Studium nehmen? Das möchte ich gerne wissen.«
Er ging hinaus, und die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloß. In der danach eintretenden Stille war eine Weile nur das Klappern der Stricknadeln meiner Mutter zu hören. Ich dachte, sie hätte mir vielleicht nicht zugehört.
»Ich werde in den Sommerferien arbeiten und etwas zu den Studiengebühren beisteuern«, bot ich an.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte sie leise. »Ich wüßte nicht, was dagegen spricht. Es wird schön sein, eine Tochter zu haben, die studiert hat. Das Geld treiben wir schon auf, mach dir keine Sorgen. Du bist ein hübsches Mädchen. An der Universität lernst du bestimmt den Richtigen kennen.«
Ich seufzte laut.
»Ich mag keine Jungs«, erklärte ich mürrisch. »Mary übrigens auch nicht, und Cissie auch nicht, außer einem, der bei ihr in der Nähe in der Grafschaft Longford wohnt. Er heißt Peter und lebt in einem großen Haus – in Glenallen.«
Meine Mutter lächelte und nickte zerstreut. Was hätte Glenallen damals schon für uns alle bedeuten sollen?
Das nächste Trimester war am längsten, oder zumindest kam es uns so vor. In der Schule war es kalt; die Heizkörper strahlten zwar Wärme ab, aber es zog überall. Bei dem eisigen Lufthauch liefen einem trotz der dicken Strümpfe Kälteschauer die Beine hoch. Am Morgen aufzustehen kostete viel Überwindung; so innig ich auch um wirkende Gnade betete, ich brachte es nie fertig, sofort aus dem Bett zu springen, wenn das Glöckchen erklang. Mother Josephine hatte uns gepredigt, Selbstdisziplin sei ein Weg zu Gott.
»Unverzüglich aufstehen, unverzüglich. Hat es nicht Seine Exzellenz, der Bischof selbst gesagt?«
Ich fragte mich, ob seine Exzellenz auch schon um sieben Uhr aus den Federn mußte.
An einem todlangweiligen Sonntagnachmittag bastelte ich drei kleine Puppen als Maskottchen, für jede von uns eines. Dazu verwendete ich Pappe und lange Haarsträhnen von uns dreien, die ich zusammenflocht, und tiefrotes Seidengarn, mit dem ich die Figürchen in Form brachte.
»Sie bringen Glück«, erklärte ich, als ich sie meinen Freundinnen schenkte. »Sie haben von jeder von uns etwas in sich!«
»Das ist doch Aberglauben, oder?« gab Cissie zweifelnd zu bedenken.
»Ich spüre schon was von dem Glück!« verkündete Mary. »Alle Schauspieler haben Maskottchen. Ich werde meins aufbewahren, bis ich sterbe!«
Mary schlief in einem anderen Schlafsaal, im St. Anne ’s. Sie war entschlossen, etwas gegen die ›tödliche Langeweile‹, wie sie es nannte, zu unternehmen und eine ›Mitternachtsparty‹ zu organisieren. Zu diesem Zweck hatte sie an einem verabredeten Ort hinter einer lockeren Fußleiste ein Briefchen für Cissie und mich deponiert. Das Briefchen war mit unsichtbarer Tinte geschrieben, in diesem Fall Zitronensaft, der durch Erhitzen sichtbar wurde.
Ich fand den Zettel und nahm ihn mit hinauf in den St.-Teresa’s-Schlafsaal. In meinem Besitz befand sich ein Kerzenstummel – den hatte ich ergattern können, als ich ein paar Tage lang in der Sakristei geholfen hatte –, und Cissie besaß Streichhölzer. Bevor das Licht gelöscht wurde, schlüpfte sie unter dem Vorwand, auf die Toilette zu müssen, in mein Schlafabteil, und wir zündeten die Kerze an, um die Botschaft zu entziffern. Der Docht war lang, und der beißende Geruch stieg Mother Josephine in die Nase, die sofort angestürmt kam, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Wir fühlten uns wie die Verschwörer gegen Jakob I. im Gunpowder Plot. Was machten wir in meinem Schlafabteil? Was stellten wir mit der Kerze an? Die Luft war erfüllt von unausgesprochenen Anschuldigungen. Cissie behauptete, wir hätten ein besonderes Gebet sprechen wollen. Mother Josephine sah uns zweifelnd an und bewegte die Lippen wie immer, wenn sie nachdachte. Cissie hatte sich bisher stets tadellos betragen. Wir erhielten eine milde Strafe, aber Mary kam wie üblich ungeschoren davon, wenn auch aus ihrer geplanten Party nichts wurde. Langsam kam ich dahinter, daß sie nicht glücklich war, solange sie nicht in irgendein Drama verwickelt war. An einem Sonntag, als sich eigentlich alle draußen aufhalten sollten, führte sie uns hinter den Bühnenvorhang in der Aula, denn sie brauchte uns als Nebendarsteller für eine zwölfzeilige Liebesszene, die sie geschrieben hatte.
Sie schritt über die Bühne und warf ihre rote Lockenmähne zurück, als wäre sie Sarah Bernhardt, von der uns Mother Xavier erzählt hatte. Cissie und ich rebellierten, weil wir nicht auf Befehl herumstehen und -sitzen wollten.
»Ihr seid wirklich gemein! Wie soll ich meine Bühnenausstrahlung erproben, wenn ihr mir nicht helft?«
»Du und deine Bühnenausstrahlung!« warf Cissie augenzwinkernd ein. »Mit einem Namen wie Mary McElligott!«
»Willst du dich etwa über mich lustig machen?« fragte Mary energisch, strich mit der rechten Hand ihr Haar zurück, und ihre schmalen Augen lachten. Da hörten wir, wie eine Nonne den Saal betrat, und kletterten rasch durch ein Fenster hinaus auf die Feuerleiter.
Doch als die Tage länger wurden und die Schneeglöckchen blühten, geschah etwas, was uns so ernüchterte, daß unsere Stimmung eine Zeitlang gedämpft und niedergedrückt war.
Rhona, die offenbar kaum Freundinnen hatte und sich uns gelegentlich anschloß, fragte eines Tages, ob wir schon einmal versucht hätten, mit den Toten Kontakt aufzunehmen.
»Sei nicht albern«, meinte Mary. »Das ist doch Quatsch. Man kann nicht mit den Toten sprechen.«
»O doch, das kann man«, beharrte Rhona und fuhr im Flüsterton fort: »Meine Tante Bridie geht auf Séancen, und da kommen die Geister.«
Cissie stöhnte, und ich lachte. »Das ist Betrug! Die ziehen den Leuten mit üblen Tricks das Geld aus der Tasche!« Zur Abwechslung setzte Rhona jetzt eine todernste Miene auf. »Es ist nicht immer Betrug. Wenn ihr schon einmal die Alphabettafel befragt hättet, wäre euch das klar. Ich habe das mal mit meiner Tante gemacht.«
»Was ist eine Alphabettafel?«
Sie erzählte uns von dem Kreis aus Buchstaben und Ziffern – das Alphabet und die Zahlen 0 bis 9 –, dem umgedrehten Glas, der Beschwörung, die man ausspricht, und wie das Glas die Antworten buchstabiert. Beim Zuhören fanden wir, daß es Spaß machen könnte, einen Versuch zu wagen.
Da es am nächsten Tag regnete, war vorgesehen, daß wir uns alle in der Aula aufhalten und lesen oder auf dem alten Grammophon Musik hören sollten. Mary hatte ihre Bemühungen aufgegeben, uns für ihren Sketch mit dem Titel ›Napoleons Abschied‹ zu interessieren, den sie uns vorsprechen wollte, und wir entwischten in einen kleinen Raum neben unserem Schlafsaal, der gelegentlich als Handarbeitszimmer genutzt wurde. Rhona zog sechsunddreißig Zettel hervor, auf denen je ein Buchstabe des Alphabets oder eine Zahl stand, und verteilte sie kreisförmig auf dem Tisch. Sie hatte auch ihr Zahnputzglas mitgebracht, das sie kopfüber in die Mitte stellte. Wir setzten uns um den Tisch und legten vorschriftsmäßig den rechten Zeigefinger auf das umgedrehte Glas. Rhona sprach eine Art Gebet und wandte sich dann mit feierlicher Stimme an einen unsichtbaren Geist: »Sag uns die Zukunft – sag jeder von uns die Zukunft voraus.«
Sie sah uns warnend an und zischte: »Ihr dürft jetzt keinen Druck auf das Glas ausüben.«