Ein irischer Sommer - Mary Ryan - E-Book

Ein irischer Sommer E-Book

Mary Ryan

0,0

Beschreibung

Eine Liebe im Schatten der Vergangenheit … Nie wird Dan den Moment vergessen, als er Helen zum ersten Mal begegnete – die rotblonde Schönheit, die bereits als Siebzehnjährige seinem besten Freund Kieran versprochen war. Auch Helen fühlt sich von ihrer ersten Begegnung an zu dem charmanten Diplomatensohn Dan hingezogen. Aus der Anziehung wird schon bald ein zartes Band der Liebe, das während ihrer gemeinsamen Sommer im abgelegenen Familiensitz Lough Corlock immer stärker wird. Doch die Last familiärer Erwartungen zwingt Helen schließlich dazu, den distanzierten Kieran zu heiraten. Die Jahre vergehen und während Helen immer unglücklicher in ihrer Ehe wird, geht Dan seinen eigenen Weg. Er zieht nach England, heiratet, hat Kinder – doch die Erinnerungen an Helen und ihre glücklichen Sommer in Irland verblassen nicht. Da gibt ihnen das Schicksal eine allerletzte Chance …  »In ›Ein irischer Sommer‹ hat Ryan Figuren erschaffen, deren Schicksale tief berühren.« – Publishers Weekly Ein ergreifender Irland-Roman über eine Liebe, die ein Leben lang nachhallt – für Fans von Katie Fforde und Maeve Binchy.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 638

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

 

Nie wird Dan den Moment vergessen, als er Helen zum ersten Mal begegnete – die rotblonde Schönheit, die bereits als Siebzehnjährige seinem besten Freund Kieran versprochen war. Auch Helen fühlt sich von ihrer ersten Begegnung an zu dem charmanten Diplomatensohn Dan hingezogen. Aus der Anziehung wird schon bald ein zartes Band der Liebe, das während ihrer gemeinsamen Sommer im abgelegenen Familiensitz Lough Corlock immer stärker wird. Doch die Last familiärer Erwartungen zwingt Helen schließlich dazu, den distanzierten Kieran zu heiraten. Die Jahre vergehen und während Helen immer unglücklicher in ihrer Ehe wird, geht Dan seinen eigenen Weg. Er zieht nach England, heiratet, hat Kinder – doch die Erinnerungen an Helen und ihre glücklichen Sommer in Irland verblassen nicht. Da gibt ihnen das Schicksal eine allerletzte Chance …

eBook-Neuausgabe September 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »Summer's End« bei Headline Publishing GmbH, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Septembermorgen« im Schneekluth Verlag GmbH, München

Copyright © der englischen Originalausgabe 1995 Mary Ryan

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 by Schneekluth Verlag GmbH, München. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)

 

ISBN 978-3-98952-892-5

 

***

 

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

***

 

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected] . Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

 

***

 

Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected] .

 

***

 

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

 

***

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Mary Ryan

Ein irischer Sommer

Irland-Roman

Aus dem Englischen von Rita Seuß und Sonja Schuhmacher

 

Für meine Söhne John und Pierce

... wie das Nichts, der leere Raum,

Aug in Aug dem Ort gegenüber,

jenseits dessen

nichts ist.

Mark Patrick Hederman,

African Hymns

Prolog

 

Manchmal sehe ich sie als Kind vor mir.

Wenn ich so weit in die Vergangenheit zurückblicke, bin ich sechzehn und Helen elf. Sie ist allein in der von Licht und Schatten gesprenkelten Allee. Ich beobachte sie heimlich vom Hoftor aus, wie sie rennt, hochspringt und nach den Zweigen über sich greift, beinahe als hangle sie sich von Ast zu Ast. Es weht ein frischer Wind, die Buchen hoch über ihr ächzen. Das zerzauste Haar fallt ihr über die Schultern. Ihre kleinen Brüste heben sich gegen den Baumwollstoff ihres Sommerkleids ab. Ihr Rock ist zu kurz – sie wächst schnell. Sie hat braungebrannte Beine, ihr eines Knie hat einen dunklen Grind; an den nackten Füßen trägt sie abgewetzte braune Sandalen. Sie dreht sich zum Tor um, sieht mich ruhig und forschend an, schenkt mir den Anflug eines Lächelns. Zu meiner Überraschung ist ihr Gesicht schön, obwohl sie beim Lächeln den Mund verzieht wie ein Kind. In späteren Jahren wird sie sagen, diese unsere erste Begegnung sei für sie ein Déjà-vu-Erlebnis gewesen – »eine Erinnerung an die Zukunft« – und sie habe eine stillschweigende Komplizenschaft zwischen uns deutlich gespürt.

Kapitel 1

 

Ich war noch sehr klein, als wir nach Irland kamen. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört die Treppe unseres Hauses in Blackrock, die ich auf dem Hintern rutschend bewältigte.

Wenn ich an diesen Ort kindlicher Geborgenheit zurückdenke, höre ich meine Mutter Klavier spielen, sehe meinen Vater, wie er mir seinen Rücken zum Huckepacktragen hinhält; ich weiß, daß Rachel in Hörweite ist und James von oben durch die Stäbe des Treppengeländers mit Spielsachen nach mir wirft. Ich bin klein, aber ich kenne meine Macht.

Mit den Jahren bekomme ich mit, daß meine Eltern Kanadier sind: Mein Vater stammt aus Ottawa, meine Mutter aus Quebec. Diese Orte sagen mir nichts – auch wenn James sie auf der Landkarte (in seinem Schulatlas auf Seite elf) gezeigt bekommt und man vor mir auf dem Küchentisch einen Stadtplan von Ottawa samt den mächtigen Brücken über den gleichnamigen Fluß ausbreitet.

Mein Vater, ein Diplomat, war 1941, also etwa ein Jahr nach meiner Geburt, nach Irland versetzt worden. Es habe ihn, wie er später noch oft sagen sollte, rein gar nichts dorthin gezogen. »Ein kleines, in sich gekehrtes Land am Rande der Alten Welt, von religiöser und wirtschaftlicher Monomanie besessen: Was konnte schon so toll daran sein, an einem solchen Ort festzusitzen?«

»Warst du denn kein bißchen neugierig?« fragte ich ihn einmal.

»Nein! In meinen Augen war es ein armes Land, dessen Bewohner aus ihrem Provinzialismus partout eine Tugend machen wollten. Vielleicht war ich auch nur enttäuscht, daß man mir nicht London angeboten hatte, und machte mir auf diese Weise Luft.«

»Aber du warst doch Diplomat, ein Wesen ohne Fehl und Tadel!«

Er lachte. »Das glaubst du doch wohl selber nicht.« »War es dir denn so zuwider?«

Er zog in seiner typischen, spöttischen Art die Augenbrauen hoch. »Irland? Nach zwei Monaten gefiel es mir so sehr, daß ich am liebsten für immer dageblieben wäre!« »Und weshalb?«

Er seufzte. »In Irland war ich ein Mensch. Überall sonst war ich nichts als ein Schlipsträger.«

 

Die kanadische Hochkommission hatte für uns das Haus in Blackrock angemietet, und Rachel (»großmütterlicherseits bin ich Jüdin«) O’Mahony sorgte dafür, daß unser Haushalt reibungslos funktionierte. Rachel stammte aus den Liberties, dem ältesten Stadtteil Dublins, und war von glühendem Stolz auf ihre jüdische Herkunft erfüllt. Sie sprach einen so breiten Dialekt, daß es mitunter wie eine Fremdsprache klang, war jedoch eine ausgezeichnete Köchin, die trotz kriegsbedingter Lebensmittelrationierung kulinarische Köstlichkeiten auf den Tisch zaubern konnte. Mein Vater fand sie amüsant, während sich zwischen ihr und meiner Mutter eine seltsam innige Beziehung entwickelte, obwohl diese beiden Frauen verschiedener nicht hätten sein können: dicklich und redselig die eine, von kühler Eleganz und irgendwie unnahbar die andere.

Unserem Haus gegenüber lag eine Wiese, auf der mein Bruder James und ich spielten; auch der Marsh Park und unsere Schule waren ganz in der Nähe. Der Direktor der Schule, Pater O’Toole, genannt »The Tool«, das Werkzeug, oder »der Büffel«, verstand es ausgezeichnet, uns in seinen Bann zu ziehen. Daß mich mein Vater auf eine katholische Schule schickte, wunderte mich nicht im Geringsten. Die Schule lag unserem Haus am nächsten, alle meine Freunde gingen dorthin, und mein Vater war inzwischen derart irisch geworden, daß ihm die landestypische Ablehnung allen Künstlich-Gezwungenen geradezu in Fleisch und Blut übergegangen war. Außerdem war er – ebenso wie meine Mutter – insgeheim sowieso ein Agnostiker.

Mein bester Freund war Kieran Fitzgerald, der nur ein paar Häuser weiter wohnte. Kieran war ein hübscher Junge mit braunem Haar und hellbraunen Augen, der sich schon früh für alles begeisterte, was Räder hatte. Mit seinen drei Jahren sprach er es wie »Ader« aus. Sein Lieblings Spielzeug war damals ein winziger Gummireifen, den er tagelang mit seinen kleinen Fäusten umklammert hielt. Eines Nachmittags gelang es mir, ihn ihm zu entreißen, und prompt fiel er in ein Loch in der Gartenmauer und war für immer verloren. Kieran schrie fürchterlich und gebärdete sich, als wollte er die Mauer niederreißen. Da ich auch erst drei war, fiel mir nichts Besseres ein, als es ihm gleichzutun; gemeinsam brüllten wir, bis Rachel herbeieilte und mit viel Limonade die Wogen glättete. Sie versuchte das verflixte »Ädchen« mit Hilfe eines Stöckchens zu fassen zu bekommen, doch ohne Erfolg.

Als wir eingeschult wurden, erwies sich Kieran schon bald als einer der Klassenbesten. Das Rechnen fiel ihm so leicht, als hätte er es selbst erfunden, und auch im Lesen war er so gut, daß er bereits bei dem Kapitel über Rita und ihren Laden angelangt war, während wir uns noch mit Wörtern wie Maus und Haus oder Fisch und Tisch herumplagten. Er war der Star der Klasse, ebenso klug wie beliebt.

Ich für meinen Teil war ein ziemlich lausiger Schüler, ein introvertiertes Kind, das am liebsten malte oder zeichnete. Meine Bilder von Kaninchen – meine erste große Liebe, bis ich die Elefanten entdeckte – wurden häufig an die Wand gehängt. »Er ist schwer zu beurteilen«, hörte ich Miss Sweeney in jenem raunenden Flüsterton sagen, den Erwachsene so gern anschlagen, wenn sie in Gegenwart der Kinder über diese sprechen. »Ein sehr ruhiger Schüler, aber an seinen Zeichnungen sieht man, daß er geistig rege ist; er zeichnet alles bis ins kleinste Detail ... und er ist in Tiere vernarrt ...« Daraufhin breitete sie vor meiner Mutter mein letztes Werk aus – ein Bild von Apfelbäumen, die sich unter der Last der Früchte bogen und aus deren dichtem Geäst die Ohren des unvermeidlichen Kaninchens hervorlugten.

Kieran blickte mit einigem Spott auf meine künstlerischen Bemühungen herab. »Kaninchen leben nicht auf Bäumen, du Schwachkopf; sie können gar nicht klettern!«

»Können sie wohl«, beharrte ich. »Ich hab’ mal eins gekannt, das es konnte.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, da dem betreffenden Tier auf den Baum hochgeholfen worden war, aber wenigstens hatte ich das Gesicht gewahrt. Daneben hatte ich jedoch die Macht des Spotts und die Bequemlichkeit konventionellen Denkens erfahren; von da an blieben alle meine Kaninchen, so traurig es auch sein mochte, der Erde verhaftet.

Tatsächlich hegte ich Kieran gegenüber eine gewisse Ehrfurcht. Er war das einzige Kind akademisch gebildeter Eltern, und er verbrachte seine Sommerferien auf geheimnisvolle Weise irgendwo in den Bergen, in einem Ferienhaus, das Verwandten von ihm gehörte. Er erzählte uns davon – von dem alten Haus seines Onkels Tim, das ihnen im Sommer als Refugium diente. Als ich acht war, kurz bevor wir Irland verließen, heiratete sein Onkel eine Witwe, die eine dreijährige Tochter namens Helen mit in die Ehe brachte. Sie stammten aus Dundalk, unmittelbar südlich der Grenze zu den Six Counties.

Eines sommerlichen Sonntags setzte ich meinem Vater so lange zu, bis er seufzte, ein Ausflug wäre ja jetzt nicht das Schlechteste, und sich bereit erklärte, diesen Schlupfwinkel in den Bergen, angeblich eine gute Autostunde von Dublin entfernt, zu erkunden. Also fuhren wir los, hinein in die Bergwildnis südlich der Stadt, die mein Vater so sehr liebte. Nur ein paar Wölkchen standen am klaren Himmel, und die wunderbare Moorlandschaft erstrahlte im Purpurrot des Heidekrauts und dem saftigen Grün des Farns. Stundenlang folgten wir einer schmalen gewundenen Straße bergauf und bergab. Unter uns erstreckte sich das Tal von Glencree, und in der Ferne leuchteten blau die beiden Sugar-Loaf-Berge. Bald hatten wir Glencree hinter uns gelassen und gelangten auf eine halbwegs ebene, asphaltierte Straße. Auf beiden Seiten erstreckte sich nun eine menschenleere Heidelandschaft, die in der Ferne mit Bergen zu verschmelzen schien, von denen man nur nebelhafte Umrisse sah. Aber ein See war weit und breit nicht zu sehen, abgesehen von einem unzugänglichen und bedrohlich aussehenden Bergsee unterhalb eines steinigen Abhangs. Dann stellte mein Vater fest, daß er seine Straßenkarte nicht dabeihatte, und Wegweiser gab es hier natürlich auch keine. In Irland gehörte die göttliche Eingebung praktisch zu den Grundvoraussetzungen einer jeden Reise. Wegweiser waren höchstens bis zur nächsten Querstraße von Nutzen, wo man dann endgültig nicht mehr wußte, wie es weiterging. Mein Vater vertrat die These, dies sei Absicht, damit die Leute Phantasie und Kreativität entwickelten, und sei die eigentliche Ursache dafür, daß das Volk der Iren einen solchen Hang zu Poesie und Mystizismus entwickelt hatte.

Während der gesamten Fahrt jammerte James in einem düsteren Singsang vor sich hin: »Wir sind dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit im Kreis herum zu fahren.« Ich kicherte und trat ihn mit den Füßen. Er puffte mich in die Rippen, und bald schon hatten wir den schönsten Ringkampf laufen. James gewann die Oberhand und drückte mich auf den Sitz hinunter. Er sagte immer, er sei der Leitbulle, und verlangte aufgrund dieses seines Status von seinem jüngeren Bruder Unterwürfigkeit. Er war vier Jahre älter als ich und um einiges kräftiger.

»Hört auf«, rief meine Mutter schließlich und sah uns mit ihrer »Du-tust-dem-Kind-doch-weh«-Miene an.

»Können wir denn nicht einmal irgendwo hinfahren, ohne daß ihr beide euch in die Haare bekommt?« fragte mein Vater ärgerlich. Wir wußten genau, daß, wenn es nach ihm ginge, wir nach Herzenslust miteinander raufen dürften und er uns nur Mutter zuliebe ermahnte. »Wenn ihr nicht aufhört, werfe ich euch beide aus dem Auto!«

James setzte sich auf. »Dad, das würdest du doch nicht tun ...« Seine Stimme nahm einen beleidigten, klagenden Ton an. »Deine beiden einzigen Nachkommen?«

Meine Eltern lachten unisono, mein Vater wider Willen, meine Mutter mit dem silberhellen Kichern, das sie ausschließlich für James’ witzige Bemerkungen reserviert hatte. »Ihr seid mir ja schöne Nachkommen!« brummte mein Vater und sah durch den Rückspiegel seine beiden Söhne und dann meine Mutter an – einer der seltenen Augenblicke plötzlicher Vertrautheit zwischen ihnen, die ich spürte, ohne sie zu verstehen. In solchen Momenten bekam ich eine Ahnung von ihrem Einvernehmen, von ihren Erinnerungen an eine geheimnisvolle Zeit vor unserer Geburt und an etwas noch Geheimnisvolleres – an jene Geschehnisse, denen wir unser Dasein in dieser Welt verdankten.

Wir fuhren durch die Dubliner und die Wicklower Berge, Lough Corrloch aber fanden wir nicht. Wir hielten an und fragten einen alten Torfstecher nach dem Weg. Der sah uns unter seiner Schirmmütze hervor an, runzelte argwöhnisch die Stirn, als er den kanadischen Akzent hörte, trat näher heran und fragte in einem vorsichtigen Ton, der einem mit der Enttarnung der fünften Kolonne beauftragten Agenten alle Ehre gemacht hätte: »Na, wo kommt ihr denn her?« Wir hätten ja verkleidete Rotröcke sein können, also gab er vorsichtshalber gar nichts preis.

Mein Vater lachte herzlich, als wir weiterfuhren.

»Irgendjemand sollte diesem schrulligen alten Kauz stecken, daß der Krieg vorbei ist«, meinte meine Mutter und schnalzte mit der Zunge. Sie war Pragmatikerin durch und durch, und ihr Sinn für Humor zeigte sich, wenn es nicht gerade ihre Kinder betraf, meist erst im Nachhinein.

An diesem Abend besuchte uns Kierans Vater, was er häufiger tat, wenn seine Frau und sein Sohn in den Bergen waren. Ich brannte darauf, ihm zu sagen, daß wir vergeblich nach Lough Corrloch gesucht hatten, aber meine Mutter warf mir einen Blick zu, der mich verstummen ließ. Ich begriff sofort: Er sollte nicht erfahren, daß wir aus purer Neugier den See hatten ausfindig machen wollen. Professor Fitzgerald trank Whiskey, erzählte von seinem Bruder Tim, dessen neuer Frau Drusilla und ihrer kleinen Tochter Helen aus erster Ehe. »Ihr Mann, ein alter Freund von Tim, ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, sagte er und fügte hinzu, wir müßten unbedingt einmal kommen und uns Lough Corrloch ansehen, ein interessantes altes Anwesen, ideal, um dort Ferien zu machen.

»Es ist ein altes Wildhüterhaus und gehörte ursprünglich zu einem Jagdhaus, das sich die Malcolms bauen ließen, eine angloirische Familie, die während der Unruhen das Land verließ. Tim hat das Wildhüterhaus von einem alten Cousin geerbt, der für die Malcolms gearbeitet hatte. Es gehört ihm neunzig Jahre lang für einen symbolischen Pachtzins; die Weide haben die Malcolms Schafzüchtern aus der Nachbarschaft überlassen und das Jagdhaus selbst mit Brettern vernagelt. Tim kann das Haus nicht modernisieren – wegen der Pachtkonditionen. Also müssen sie sich mit Petroleumlampen und Kerzenlicht begnügen, und das Wasser holen sie aus einem Brunnen.« Er hielt inne, als sei ihm plötzlich bewußt geworden, daß Ausländer wie meine Eltern diese Mängel entweder lächerlich oder abstoßend finden könnten, und fügte beinahe entschuldigend hinzu: »Breda und Kieran jedenfalls lieben dieses Haus ... sie finden, daß man dort wunderbar ausspannen kann.«

»Ist der See tief?« fragte ich und legte den Dandy beiseite. Eigentlich war es ja James’ Comicheft, aber er war gerade nicht da. Er hatte mich sogar eingeladen, ihn zu seiner heimlichen Pokerrunde zu begleiten, aber obwohl ich angesichts einer solch seltenen Ehre normalerweise gejubelt hätte, wollte ich lieber zu Hause bleiben, um mehr über den geheimnisvollen Ort in den Bergen zu erfahren.

Jetzt sah mich Kierans Vater über seine Brille hinweg an. »Angeblich ist er bodenlos!«

Ich richtete mich auf und sinnierte darüber nach, was das wohl bedeutete. Kam er etwa in Australien heraus? Konnte es sein, daß etwas am anderen Ende der Welt herauskam? Kierans Vater lächelte, als er meine grüblerische Miene sah. »Natürlich erzählen sich die Leute alles Mögliche. Hättest du Lust, uns dort einmal zu besuchen?«

»Oh ja ...«

»Dann sprich mit Kieran, wenn er wiederkommt. Wir werden etwas arrangieren.« Er schaute zu meinen Eltern herüber.

Meine Mutter lächelte höflich und schickte mich in die Küche, um noch eine Flasche Sodawasser zu holen. Aber als ich zurückkam, war Professor Fitzgerald bereits aufgestanden und zum Aufbruch bereit.

Von da an lag ich meinen Eltern ständig damit in den Ohren, aber es war zwecklos.

»Das mit dem See gefällt mir überhaupt nicht«, hörte ich meine Mutter einmal zu meinem Vater sagen, als sie glaubte, ich sei außer Hörweite. »Man kann ja nicht ununterbrochen ein Auge auf die Kinder haben. Und du kennst ja Dan! Und dann ... nicht einmal ein anständiges Bad ... es ist nicht hygienisch.«

Meine Sehnsucht blieb also vorerst unerfüllt.

Als ich neun war, wurde mein Vater schließlich doch noch nach London versetzt. Er hatte zweimal vier Jahre Dienstzeit in Irland hinter sich und war in den Augen seiner Dienstherren reif für die höheren Weihen. Als ich eines Tages aus der Schule nach Hause kam, teilte mir meine Mutter die Neuigkeit mit.

»Wir gehen nach London. Euer Vater hat es heute erfahren.« Sie war ruhig wie immer, aber ich spürte ihre innere Spannung, eine erwartungsvolle Freude, die beherrscht war und deshalb um so intensiver wirkte.

Sie blickte von ihrer Einkaufsliste auf. »Und? Freust du dich denn gar nicht?«

Meine Mutter war eine schöne Frau. Wenn ihr etwas besonders am Herzen lag, nahmen ihre Augen, die für gewöhnlich blaugrau waren, einen beinahe violetten Ton an. Jetzt richtete sie diese wunderschönen Augen auf mich und sah mich leidenschaftslos an. Ich starrte zurück – wortlos, als hätte ich ein Gespenst vor mir. Daß eine Veränderung bevorstand, wußte ich – oft genug waren Andeutungen in dieser Richtung gefallen. Aber es war wie mit der Gewißheit des Todes, an die man trotz allem nicht so recht glauben mag.

»Für immer?« fragte ich, als ich mich halbwegs gefaßt und meine Sprache wiedergefunden hatte. »Willst du das damit sagen?«

Aus irgendeinem Grund nahm ich plötzlich das Licht aus dem Garten und den Duft der Rosen in der großen Wedgwood-Schale und den Bohnerwachsgeruch im Zimmer mit großer Deutlichkeit wahr. Ich hörte Rachel mit Töpfen und Pfannen in der Küche hantieren.

»Nichts, mein Liebling, ist für immer im Leben. Aber wir bleiben in London, bis dein Vater woandershin versetzt wird. Bist du nicht froh darüber?«

»Nein, ich finde es furchtbar. Ich gehe nicht mit!«

Meine Mutter seufzte, und ihr Blick wurde kühl. Sie hatte es nie ertragen können, wenn andere ihre Gefühle offen zur Schau stellten. Das hatte sie mit James, ihrem Lieblingskind, gemein: diesen Widerwillen gegen die Anarchie des Herzens. Heute bin ich überzeugt, daß dies von einer starken Gefühlsintensität herrührte, die sie ihr Leben lang zu kontrollieren suchte. Vielleicht hatte mein Vater nicht die Größe, vielleicht hatte er nicht genügend Platz in seinem Innern, um alles das zu umschließen, was sie ihm hätte geben können. Aber ihre Angst vor Gefühlen kam als Gefühlsekel zum Ausdruck, und das war wohl letztlich der Grund dafür, daß mein Vater sie schließlich verließ.

»Du mußt mitkommen.«

»Nein, muß ich nicht.« Panische Angst stieg in mir auf, als ich mir der vollen Tragweite dessen bewußt wurde, was sie mir da eröffnet hatte. Ich kämpfte mit den Tränen.

Sie zuckte die Achseln. »Und wo willst du bleiben?«

Ich dachte verzweifelt nach. Da fiel mir das Kinderheim St. Aidan in Dun Laoghaire ein, das kürzlich im Rundfunk vorgestellt worden war.

»Ich bleibe in St. Aidan ... dem Waisenhaus.«

Sie runzelte nachdenklich die Stirn und fing an zu lachen, als ihr schließlich dämmerte, wovon ich da sprach. »Daniel, ich fürchte, das geht nicht. Du bist kein elternloses Kind. Sie nehmen nur Waisen auf.« Mit widerstrebender Zärtlichkeit beobachtete sie mein Ringen um Selbstbeherrschung. »Sieh mal, wir müßten erst sterben, bevor sie dich in St. Aidan aufnehmen würden ... Willst du denn, daß Daddy und ich sterben?« Das war zuviel. Ich brach in Tränen aus, und im nächsten Augenblick lag ich in ihren Armen. Ich roch ihr Parfüm, spürte den Puder auf ihrem Gesicht, ihren weichen Körper; eine Locke ihres aschblonden Haares berührte meine Stirn. Ich wurde der Wohlkalkuliertheit ihrer halb belustigten Sorge gewahr – als habe sie im Geiste einen Erziehungsratgeber aufgeschlagen auf der Seite mit dem Kapitel »Was tun, wenn mein Kind außer sich gerät«.

»Nein, ich will nur nicht nach London. Warum kann ich nicht auf ein Internat? Dann könnte ich in Irland bleiben ...« Das korrekte Mitgefühl meiner Mutter war augenblicklich verflogen, und sie verlor die Geduld. »Du weißt, was dein Vater von Internaten hält! Er würde sie nur als letzten Ausweg in Erwägung ziehen, und in London gibt es ausgesprochen gute Schulen. Um Himmels willen, Liebes«, setzte sie streng hinzu, »es ist doch nur einen Katzensprung von hier. Wir kommen zu Besuch hierher, und dann kannst du Kieran sehen ...« Aber ich haßte ihre Belustigung, ihre kühle Taxierung meiner tiefempfundenen Verzweiflung, und entwand mich ihrer Umarmung.

Später kam James in mein Zimmer, um mich zu trösten. Er war ganz aufgeregt vor lauter Vorfreude und hänselte mich ausnahmsweise einmal nicht, sondern versetzte mir nur mit einem Ausdruck hämischer Überlegenheit einen leichten Stups.

»London wird dir Spaß machen, du Molluske. Überleg doch mal, was wir dort alles unternehmen können! Was machst du deswegen so ein Theater? Es ist eine Großstadt mit Trillionen von Sehenswürdigkeiten ...«

James hatte die pragmatische Veranlagung meiner Mutter geerbt. Er war dreizehn Jahre alt und konnte sich sogar noch an Ottawa erinnern. Gelegentlich tat er es unseren Eltern nach und sprach davon, um wieviel größer dort alles war, erwähnte etwa den Rideau Canal, der Ottawa mit Kingston verbindet und im Winter zur längsten Eislaufbahn der Welt wird, oder den Gatineau Park, die Wildnis vor den Toren der Stadt mit der weltweit größten Population von Bibern, die langen dunklen Wintermonate und die unvorstellbare Kälte. Er wußte, daß es tatsächlich noch andere Länder auf der Welt gab und sie nicht nur bunt ausgemalte Flächen im Schulatlas waren oder einer geheimen Absprache zwischen den Erwachsenen entsprangen, wie es mit dem Nikolaus der Fall war – etwas, das ich insgeheim vermutete, solange ich noch keine eindeutigen Beweise in der Hand hatte.

James kannte sich aus; im Vergleich zu mir war er ein Mann von Welt. »Willst du denn nicht die Tower Bridge sehen? Du weißt schon, die Brücke, die ich mal aus unseren Bauklötzen gebaut habe. Du kannst die Themse hinunterfahren, und unterirdische Züge gibt es da auch. Kannst du dir das vorstellen? Das wird ganz toll ...!«

Ich mußte mich geschlagen geben. Wir würden nach London ziehen, ob es mir nun gefiel oder nicht. Ich litt jetzt schon unter dem Trennungsschmerz von unserem Haus, der Schule, meinen Freunden, Kieran, dem »Büffel« – von allem, was mir vertraut war, was ich haßte, was ich liebte. Als mein Vater an jenem Abend von seinem Büro am Merrion Square nach Hause kam, ging er hinauf in mein Zimmer, wo ich unter dem Vorwand, Hausaufgaben zu machen, mit tränenüberströmtem Gesicht auf dem Bett lag.

Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Nichts bleibt, wie es ist«, sagte er. »Aber weil es einmal gewesen ist, ist es nicht verloren. Und es ist so einfach, wieder zurückzukommen.«

Er ließ mich den Atlas holen, zeigte mir die Irische See und führte mir vor Augen, wie kurz die Fahrt von Dun Laoghai- re nach Holyhead eigentlich war. Er zeichnete mit dem Finger die Zugstrecke nach London nach. Ich wußte, daß auch er traurig war, spürte aber gleichzeitig, daß er Genugtuung darüber empfand, daß er sein ehrgeiziges Ziel endlich erreicht hatte; aber weil er meinen Schmerz ernst nahm, fand ich ein wenig Trost und Frieden.

Kieran kam herüber, um sich zu verabschieden. »Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle«, sagte er. »Du Glücklicher! Menschenskind, wie gern würde ich fahren. Es gibt dort ein Wachsfigurenmuseum, ein Militärmuseum ... ein Naturkundemuseum.« Versonnen blickte er vor sich hin.

»Wirst du uns besuchen und bei uns wohnen, wenn du Zeit hast?« fragte Kierans Mutter, nachdem sie meinen Eltern die Hände geschüttelt und ihnen alles Gute gewünscht hatte. »Du bist uns jederzeit willkommen!«

Ich strahlte und nickte. »Und Kieran ... er darf auch nach London kommen, nicht wahr, Mama?«

Kierans Augen leuchteten. Er grinste mich von der Seite her an, sein stets so charmantes Lächeln wurde noch strahlender.

Meine Mutter nickte lachend. »Natürlich, wann immer er will.« Sie sah ihn an und fügte hinzu: »Du brauchst nur die Zahnbürste einzupacken.«

Mrs. Fitzgerald studierte die neue Adresse, die ihr meine Mutter aufgeschrieben hatte. »Chelsea«, sagte sie. »Schön ... sehr zentral.« Ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen; er hatte einen wunderbaren Klang, wie »Shell-sea« – Muschelmeer. Vielleicht würden wir nahe dem Meer wohnen, so wie hier in Blackrock, wo das Meer zu Fuß in fünfzehn Minuten zu erreichen war. Vielleicht war dieser neue Ort mit dem romantischen Namen letztlich gar nicht so viel anders als der alte. Ich sah die vielen Kisten und Koffer in der Diele stehen, die beige getünchten Wände mit den rechteckigen hellen Flecken dort, wo die Bilder gehangen hatten; das Haus hallte wider, als ob es uns ebenfalls auf Wiedersehen sagen wollte.

 

Zuerst kam mir sogar das Licht in London anders vor. Ich haßte die riesige Stadt, in die ich verpflanzt worden war, teils weil ich entschlossen war, sie zu hassen, teils weil das Heimweh, das ich aus der Ferne gefürchtet hatte, mich nun tatsächlich befiel. An unserem ersten Sonntag als frischgebackene Londoner unternahm mein Vater mit seinen beiden Söhnen eine Stadtrundfahrt. An die roten Busse hatte ich mich bereits gewöhnt, doch die Dimensionen dieser Stadt versetzten mich in Erstaunen: Big Ben, die Parlamentsgebäude und vor allem der Fluß, an dessen Ufer wir eine Weile den Vergnügungsdampfern und den Kähnen zusahen, die zwischen Tower Bridge und Westminster pendelten. So viele Menschen, ein wahres Menschenmeer, das die Grundlage bildete für den dumpfen Pulsschlag dieser Stadt, die in ihrer Größe alle meine Vorstellungen übertraf.

Das Haus in der Walton Street im Stadtteil Chelsea war elegant, weiß verputzt, mit einer Terrasse, schwarzen, schmiedeeisernen Balkonen im ersten Stock und einem Souterrain, in dem Rachel wohnte. Doch es gab hier weder ein Meer noch Muscheln; nur das stetige, gedämpfte Rauschen des Autoverkehrs war zu hören.

James wurde auf das französische Lycée in Kensington geschickt, ich besuchte die Vorschule. Tag für Tag fühlte ich mich beim Aufwachen wie ein zum Tode Verurteilter – in gewissem Sinn war ich es ja auch. Die Rabauken in meiner Klasse hatten mich für ihre Schikanen auserkoren. Ich war klein für mein Alter und sprach mit irischem Akzent. Sie riefen mich »Paddy«, manchmal auch »dreckiger Ire«.

»Iß dein Frühstück, junger Mann«, seufzte Rachel verzweifelt, wenn ich todkrank vor Nervosität auf meinen Porridge starrte. »Mit leerem Magen kannst du doch nicht in die Schule gehen.« Dann legte sie Beschwerde bei meinem Vater ein. »Er hat mal wieder wie ein Vögelchen gegessen.« Und mit dem für sie typischen Hang zur Übertreibung fügte sie hinzu: »Das Kind wird uns noch wegsterben!«

Daraufhin pflegte sich mein Vater zu erkundigen: »Alles okay in der Schule, Dan?«

»Ja, alles okay.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich!«

Ich war wild entschlossen, es mit meinem Hauptpeiniger Nigel Hanson aufzunehmen, der etwas größer war als ich und eine wirklich atemberaubende Hochnäsigkeit an den Tag legte. Der Zweikampf fand auf der Straße hinter der Schule statt. Blutend und voller Schrammen kam ich nach Hause. Meine Mutter war nicht da; als Rachel mich sah, stieß sie einen Schrei aus und eilte davon, um die Jodtinktur zu holen. »Du meine Güte, was wird deine Mutter dazu sagen?« Sie betupfte meine Wunden mit Watte und flüsterte verschwörerisch: »Hast du wenigstens gewonnen?«

»Nein.« Ich grinste mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und betrachtete dann das gezückte Schwert auf dem Etikett der Flasche. »Aber er wird mich von jetzt an in Ruhe lassen.« Ich reckte meine abgeschürfte Faust in die Höhe. »Ich habe seine Zahnspange kaputtgemacht.«

»Guter Junge«, murmelte Rachel und preßte die Lippen zusammen, so als wäre damit alles gesagt.

Als mein Vater von der Arbeit kam, sah er mich forschend an und fragte: »Was war los?«

Ich zuckte die Schultern. »Es war Hanson. Er hat mich immer so runtergemacht ... ich habe ihn gewarnt ... mindestens zweimal ...«

»Du bist neu«, sagte er. »Es ist ein Aufnahmeritual.« »Sie glauben, ich sei Ire.«

Er seufzte. »Das wäre natürlich unverzeihlich.« »Wieso?«

»Aus mehreren Gründen ... Sie können ihre Nachbarn einfach nicht verstehen, es ist ihnen nicht einmal bewußt, wie sehr sie sie brauchen.« Er lachte, als er meine Miene sah, und fuhr fort: »Ohne die Iren würden die Engländer binnen zweier Generationen vor lauter Wohlanständigkeit zugrunde gehen!« Er lächelte. »Das hat Shaw einmal gesagt ... Aber sie würden dich in Ruhe lassen, wenn sie wüßten, daß du Kanadier bist; Kanada gehört zum Commonwealth. Warum sagst du ihnen nicht die Wahrheit?« »Auf keinen Fall!«

Ich war selbst überrascht von der Heftigkeit meiner Antwort. Sollen sie doch glauben, ich sei Ire. Eigentlich war ich es ja auch. Wenn ich mich irgendwo zugehörig fühlte, dann auf eine unergründliche Art und Weise zu Irland. Auf ein anderes Erbe konnte ich mich nur aufgrund meines Blutes und meiner Gene berufen, also auf ein bloß zufälliges Rüstzeug. Mein Vater fand das anscheinend drollig. »Sie werden dich dafür bezahlen lassen.«

Ich spannte meine kümmerlichen Muskeln an. »Ich werde sie dafür bezahlen lassen!«

Er lächelte mich liebevoll an.

Mein erstes Schulzeugnis fiel katastrophal aus, und mein Vater knöpfte sich mich vor, um mir eine saftige Strafpredigt zu halten. Als ich ihm sagte, ich könne die Tafel nicht gut genug sehen, brachte man mich zu einem Optiker – mit dem Ergebnis, daß ich stolzer Besitzer einer Brille wurde. Sie war wunderbar, diese Brille, denn mit einem Mal war die Welt der Bücher und Tafeln nicht nur sichtbar, sondern kristallklar geworden. So wurde meine Vorstellung korrigiert, Zahlen und Buchstaben seien ihrer Natur nach blaß und undeutlich, irgendwie nebulös.

Ein sehnlichst erwarteter Brief von Kieran traf ein, zusammen mit einem Foto – einem Schnappschuß vom Lough Corrloch, wie er schrieb. Es war während eines Picknicks entstanden und zeigte Kieran mit feierlich ernster Miene vor einem See. Neben ihm saß eine dunkelhaarige Frau auf einer Decke und beaufsichtigte ein kleines Mädchen in Unterhose, das im weißen Sand am Ufer buddelte. Das Mädchen hatte Korkenzieherlöckchen und den typischen Babyspeck und schien ganz vertieft in ihre bauliche Tätigkeit.

Das war mein erster Eindruck von Helen.

Armer Kieran, dachte ich; eine widerliche kleine Heulsuse hüten zu müssen. Ich konnte mir gut ausmalen, daß sie Krach machte und schrecklich verzogen war. Fast war ich froh, daß es mit einem Besuch in Lough Corrloch nicht geklappt hatte. Als ich schließlich den See zum ersten Mal sah, war ich sechzehn und Helen stand kurz vor der Pubertät. Aber das war erst viel später.

Kapitel 2

 

Rachel legte sich Katzen zu, zwei getigerte Kätzchen. Sie war ganz hingerissen von deren milchig blauen Augen und der Unschuld, die sie ausstrahlten. »Ich habe sie geschenkt bekommen, Mr. Klugscheißer«, wies sie James zurecht. Meiner Mutter verschwieg sie sie vorsorglich: »Ihr könnt doch bestimmt ein Geheimnis für euch behalten. Die Kätzchen tun doch keinem was. Ich gebe sie weg, sobald sie etwas größer sind ... so niedliche kleine Dinger!« Sie hielt sie in ihrem Zimmer in einer Keksdose auf eine alte Weste gebettet und fütterte sie mit Milch und Keksen.

»Wie willst du sie denn nennen?«

»Sie heißen Minky und Jinky«, sagte Rachel. Als sie merkte, daß wir uns kaum das Lachen verkneifen konnten, fügte sie trotzig hinzu: »Das sind großartige und noble Namen!« James rümpfte die Nase und betrachtete die beiden pelzigen Knäuelchen, die mit Schwänzen aufgerichtet wie Antennen durchs Zimmer tollten und einem Ball nachjagten.

»Stinker und Schleicher fände ich passender«, meinte er trocken. »Jede könnte auf beide Namen hören, das wäre doch sehr praktisch.«

Rachel war entrüstet. »Jamsie McPherson, Gott vergebe dir deine böse Zunge.«

Rachels Zimmer befand sich im Souterrain gleich neben der Küche. Hinter der Küche ging ein weiterer Raum auf den Garten hinaus, und dort hatte mein Vater einen Billardtisch aufgestellt. Dieser Raum wurde zu unserem Lieblingsplatz; hierher führten wir unsere Freunde, und hier richteten wir auch eine neue Pokerrunde ein. Mich betrachtete man inzwischen als alt genug, um regelmäßig daran teilnehmen zu dürfen – doch der wahre Grund war mein Taschengeld, das eine willkommene Aufstockung des Spieleinsatzes darstellte. Wir lagen unter dem Billardtisch und teilten die Karten aus, ohne daß Rachel uns gestört hätte. Aber eines Abends schlüpften die Kätzchen, die mittlerweile deutlich größer geworden waren, aus Rachels Zimmer und spazierten durch den offenen Türspalt in den Billardraum.

»Haut bloß ab!« rief James und warf mit seinem wertlosen Blatt nach ihnen. Die Katzen traten den Rückzug an, doch James blieb ihnen hart auf den Fersen. Eine stürmte die Treppe hinauf, die andere tat es ihr nach. Im Korridor begrüßte meine Mutter gerade den kanadischen Hochkommissar, als die beiden Kätzchen in wilder Jagd über das Parkett direkt auf sie zu schlitterten. So jedenfalls schilderte sie es uns später.

»Gott im Himmel, steh mir bei«, stöhnte Rachel, die in diesem Augenblick in ihrer gestärkten blütenweißen Schürze aus der Küche kam. Sie hielt ein Tablett mit Cocktailhäppchen in den Händen und starrte entgeistert auf die Kätzchen, die in diesem Augenblick die letzte Stufe der Treppe zum Erdgeschoß erklommen. »Sie wird Hackfleisch aus mir machen!«

»Geh und kümmere dich um deine dreckigen Katzen, Frau«, befahl James, der mit kaum verhohlener Freude das Geschehen verfolgte. In ihrer Not sah sich Rachel mit vor Schreck geweiteten Augen nach mir um. Ich ließ meine Karten fallen – zwei Paare, das einzige halbwegs anständige Blatt, das ich an diesem Abend gehabt hatte –, lief die Treppe hinauf und sammelte die Kätzchen auf, die jetzt zwischen den Beinen der Gäste meiner Eltern herumtollten. Meine Mutter warf mir einen Blick zu, der nicht den geringsten Zweifel daran ließ, was ich beim Frühstück am folgenden Tag zu erwarten hatte.

»Sie gehören mir«, beteuerte ich am nächsten Morgen. »Ein Schulkamerad hat sie mir geschenkt. Darf ich sie behalten?« »Keine Katzen«, entschied meine Mutter. »Ich kann Katzen nicht ausstehen!«

»Bitte, Mama ...«

Meine Mutter hielt große Stücke auf Rachels gesunden Menschenverstand. Unter anderem deshalb hatte sie sie gebeten, uns nach London zu begleiten. Jetzt wandte sie sich an sie mit den Worten: »Was sagen Sie, Rachel? Das wäre doch nicht fair Ihnen gegenüber. Ich meine ... gelegentlich gibt es doch Probleme ... sind sie denn stubenrein?«

»Wenn dem Kind so viel daran liegt, Ma’am, was schadet’s?« beeilte sich Rachel zu versichern. »Katzen sind sehr saubere Tiere. Ich werde mich um sie kümmern – zusehen, daß sie keine Scherereien machen.«

»Ich möchte sie nicht noch einmal hier oben sehen«, sagte meine Mutter und sah mich streng an. »Und falls doch, dann kommen sie weg!«

Ja, Mama.« Ich sah Rachel an, die mir hinter dem Rücken meiner Eltern verschwörerisch zuzwinkerte.

James löffelte unterdessen mit ernster Miene sein Ei. Dann sagte er: »Wenn Dan zwei stinkende kleine Katzen halten darf, warum darf ich mir dann kein Haustier zulegen? Das ist ungerecht!«

Jeder kriegt ein Kätzchen«, schlug meine Mutter vor.

James sah Rachel an. »Pfui ... ich kann diese Biester nicht aus stehen«, murmelte er. »Warum kriege ich nicht ... ein Tier, das etwas mehr Brutinstinkt besitzt.«

»Welches denn zum Beispiel?« erkundigte sich mein Vater, der von seiner Zeitung aufgeblickt hatte und seinen Sohn nun amüsiert musterte.

James setzte seine Unschuldsmiene auf. »Ich dachte da an einen Python!« Mein Vater lächelte säuerlich und nahm seine Lektüre wieder auf.

»Du bist ein feiner Kerl, ein wirklicher Kumpel«, sagte Rachel später zu mir, umarmte mich und schenkte mir eine Stange Karamelbonbons. »Gib bloß deinem Bruder nichts davon ab. Der kleine Teufel hat die Katzen die Treppe hinaufgejagt.«

Ich versteckte die Süßigkeiten in meiner Nachttischschublade. Aber der »Leitbulle« fand stets Mittel und Wege, an meine Schätze heranzukommen – als ich aus der Schule kam, waren die Bonbons verschwunden.

»Du hast meine Bonbons geklaut. Wo sind sie?«

»Wo glaubst du denn, du elender Kretin?« Er tätschelte seinen Bauch und gab einen künstlichen Rülpser von sich. »Was gedenkst du denn dagegen zu tun, he?«

Aber James war nicht wirklich ungerecht. Obwohl er sich gerne als Tyrann gebärdete, trieb er es doch nicht zu weit, weil ihn sonst sein Gewissen zu sehr geplagt hätte. Kurze Zeit später kam er zu mir und meinte, als Entschädigung könne ich bei ihm die »Schwarzsteuer« eintreiben. Das hieß, ich konnte ihn ungestraft verhauen. Er wartete voller Anspannung, aber die Schwarzsteuer war ein so wertvolles Gut, daß ich sie mir lieber für schlechtere Zeiten aufsparte. Etwa ein Jahr nach unserem Umzug nach London begann mir die Stadt ans Herz zu wachsen.

Unweit der Walton Street lag der Hans Place, wo der anglo- irische Vertrag ausgearbeitet worden war. Es zog mich oft hierher, um einen Blick auf die Tür mit der Hausnummer 22 zu werfen und mir auszumalen, wie mein romantischer Held Michael Collins im Türrahmen stand. Trotzdem wurde meine Bindung an Irland immer schwächer. Ich war zehn Jahre alt und dem Charme der großen Hauptstadt erlegen, in die ich verpflanzt worden war. London bot wirklich alles, genau wie James gesagt hatte.

Und ich war Rachels Liebling, ein Vorteil, den ich mit Minky und Jinky teilte. Sie tat alles für mich. An Samstagen ging sie mit mir in den St. James Park, damit ich meine Boote zu Wasser lassen konnte, nahm mich mit zur Wachablösung vor dem Buckingham Palace, besuchte mit mir Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Selbst ihren freien Tag opferte sie mir. Ihre Kätzchen gab sie nicht mehr her; sie waren inzwischen ausgewachsen, hatten zum Schein einen Schlafplatz im Garten, übernachteten in Wirklichkeit aber in Rachels Zimmer. Rachel kannte nur noch ein Thema: die Katzen. »Waren sie nicht reizend ... weißt du, was Jinky gemacht hat ... diese Katze ist ja so klug! Der andere kleine Teufel ist ein richtiger Schmutzfink ... aber lieb ...«

Ich ersann Mittel und Wege, Rachel und ihren Lobeshymnen auf ihre verdammten Katzen zu entkommen, indem ich alleine loszog und mit den roten Bussen nach Westminster fuhr – um bei meiner Rückkehr von einer wutentbrannten Haushälterin empfangen zu werden. »Wo warst du? Wenn du das noch einmal machst, sag ich es deiner Mutter!« Doch das waren nur leere Drohungen, wie ich sehr wohl wußte. Denn seit dem legendären »Tag der Katzen« gab es ein stillschweigendes Abkommen zwischen uns: Sie verpetzte mich nicht, und ich verpetzte sie nicht.

In meinen Briefen an Kieran schilderte ich ihm den Hans Place und Big Ben, und seine Antwortbriefe weckten das Heimweh in mir, obwohl darin nur stand, was der Klassenclown Fuggy Murphy wieder angestellt und wie der Büffel ihn auf frischer Tat ertappt hatte.

Weiter schrieb Kieran: »Tante Maeve fährt in den Osterferien nach London. Ich würde gar zu gerne mitkommen!« »Darf Kieran uns besuchen?« fragte ich meine Mutter. »Seine Tante kommt Ostern nach London. Er könnte mitfahren.« Sie warf Rachel einen Blick zu. »Warum nicht? Wenn Rachel die Arbeit nicht zuviel wird.«

»Aber woher denn, Ma’am«, rief Rachel überschwänglich. »Wir bringen ihn wohl am besten im Gästebett in deinem Zimmer unter«, setzte sie an mich gewandt hinzu.

Also schrieb meine Mutter Kierans Mutter einen Brief und sprach formell eine Einladung aus. Als diese dankend angenommen wurde, hielt ich es James triumphierend unter die Nase.

»Dieser Dummkopf Fitzgerald?« meinte mein Bruder verächtlich. »Was willst du denn mit dem? Ihn irgendwo festbinden und zum Opfer darbringen?« Und er schilderte mit viel Liebe zum Detail, was in seinen Augen alles zu einer zünftigen Blutopferzeremonie dazugehörte. »Und was ist, wenn er ein Schweinchen braucht, das ihm sein Bett anwärmt? Hast du dir das schon mal überlegt? Piggys Anwesenheit würde sich für dein Zimmer zweifellos nachteilig auswirken!«

Ich wußte, daß er auf einen irischen Cartoon anspielte, auf den wir vor kurzem in einer alten Ausgabe des Punch gestoßen waren – der gute alte Paddy mit einem Schweinchen im Bett. Die Karikatur hatte mich wütend gemacht, während James sich ausgeschüttet hatte vor Lachen.

Aber mein Vater zeigte für derartige Scherze kein Verständnis. Seine Miene verfinsterte sich. »Was redest du da für dummes Zeug?« donnerte er. »Hast du vergessen, was für glückliche Jahre du in Irland verbracht hast? Das hast du hoffentlich nicht im Lycée gelernt!«

James tat geknickt. »Nein.« In gespielter Zerknirschung ließ er den Kopf hängen. »Tut mir aufrichtig leid, Vater.« Mein Vater sah meine Mutter an, die sich von dem Wortwechsel unbeeindruckt zeigte. Es schien ihr offenbar nicht der Mühe wert, sich dazu zu äußern. Die zunehmende Entfremdung zwischen meinen Eltern war mir schon früher aufgefallen – die höfliche Distanz, die Art, wie mein Vater seine Frau ansah, als erwarte er etwas, das sie nicht geben konnte oder wollte, und wie er sich dann abwandte – voll unausgesprochener Enttäuschung. Meine Mutter schien diese wachsende Distanz nicht weiter zu stören; für sie war die Ehe offenbar eine unveränderliche Konstante und kein dynamischer Prozeß.

Es dauerte Jahre, bis die Hoffnung meines Vaters ganz geschwunden war; wenn sie ins Zimmer kam, blickte er mit einer Art hartnäckiger Erwartung auf, doch jedes Mal wurde rasch klar, daß ihr Augenmerk den Blumengestecken galt oder der Einkaufsliste oder dem Roman, den sie gerade las, oder – und das kam am häufigsten vor – dem Stück, das sie auf dem Klavier spielen wollte. Er saß da, hörte ihr zu und machte ihr ein Kompliment, wenn sie fertig war. Dann lächelte sie und sagte: »Danke, Liebling.« Wir alle wußten, daß sie eine vielversprechende Karriere als Konzertpianistin an den Nagel gehängt hatte, als sie ihn heiratete, und ich vermute, er fühlte sich deswegen in gewisser Weise schuldig. In ihrem Spiel klang eine Leidenschaftlichkeit an, der sie, soweit ich beobachten konnte, in ihrem alltäglichen Leben niemals Ausdruck verlieh. Und obwohl mein Vater ihrem Spiel lauschte und mit Lob nicht geizte, schwanden seine vagen Erwartungen und erstarben schließlich ganz – die Hoffnung auf Freude oder einen kleinen überraschenden Glücksmoment jenseits der Pflicht. »Nicht ganz da« – ich habe oft daran gedacht, daß dieser Ausdruck meine Mutter zu jener Zeit treffend beschreibt. Selbstverständlich war sie geistig völlig normal, aber sie war nie ganz da; es war ihr gelungen, alles Fließende und Unbedachte in ihr praktisch vollkommen zu unterdrücken.

Ostern kam, und Kieran stieg in Euston aus dem Zug. Ein sommersprossiger einjähriger Junge, um einiges größer, als ich ihn in Erinnerung hatte; aber er trug immer noch eine kurze Hose, eine dazu passende Jacke und einen grauen Pulli mit V-Ausschnitt. Er sah sich suchend in der Menschenmenge um. Als er mich entdeckt hatte, sagte er etwas zu der Frau hinter ihm und lief dann den Bahnsteig entlang – um im letzten Moment zu zögern, gebremst von einem plötzlichen Anflug von Zaghaftigkeit, so als sei ihm auf einmal eingefallen, daß die alten Selbstverständlichkeiten ihre Gültigkeit inzwischen verloren haben könnten.

Doch er fand sein Gleichgewicht rasch wieder. »Dan!« rief er und streckte mir seine Hand entgegen. Ich ergriff sie.

»Schön, dich zu sehen«, sagte ich und spürte, wie unangemessen meine Worte waren, spürte den lästigen Kloß im Hals. Ich hatte das Gefühl, als sei inzwischen überhaupt keine Zeit vergangen, als spielten wir wie damals auf dem Gehsteig in Blackrock, mit Kastanien in den Hosentaschen und den Bäumen des Marsh Park hinter uns in der Sonne.

»Du bist groß geworden ... und du klingst so englisch«, sagte er mit seinem altbekannten ansteckenden Grinsen, als hätte er mich bei einem amüsanten kleinen Vergehen ertappt. Dann fügte er hinzu: »Seit wann trägst du denn eine Brille?«

»Erst seit kurzem.«

Mir fiel auf, wie stark seine Aussprache – die Art, wie seine Zunge die Konsonanten umschloß – seiner Heimat verhaftet war. Zum ersten Mal wurde mir bewußt, daß sich meine eigene Sprache verändert hatte, daß ich gelernt hatte, meine Worte mit kühl reservierter Intonation zu artikulieren.

Ich zuckte mit den Schultern. Plötzlich war ich gehemmt. Ich wurde mir meiner Stimme bewußt und meiner neuen Brille, begann mich anders zu fühlen, sah mich mit seinen Augen als jemanden, der auf unerklärliche Weise fremd geworden war, sich verändert hatte in Körpergröße, Gesicht und Stimme.

»Aber ich mag den englischen Akzent«, fügte er großherzig hinzu, »ich finde ihn lustig! Und deine Brille gefällt mir auch.« Kieran gehörte zu jenen Glücklichen, die glauben, es spiele eine Rolle, ob sie etwas mögen oder nicht.

Er drehte sich um und stellte mir seine Tante vor, eine Dame im Tweedkostüm, die gerade meiner Mutter die Hand schüttelte. Anschließend drückte sie auch die meine feierlich und meinte, sie habe schon viel von mir gehört. Dann gingen die beiden Frauen, gefolgt von uns Kindern, den Bahnsteig entlang in Richtung Ausgang.

Damals fühlte ich mich nicht als Kind; ich glaubte vielmehr an der Schwelle zum Erwachsenenalter zu stehen – schließlich hatte ich die magische Grenzmarke von zehn Jahren bereits überschritten. Ich ahnte damals noch nicht, daß sich solche Wendepunkte immer weiter hinausschieben, je älter man wird.

An jenem Abend schauten wir von meinem Zimmerfenster aus auf die Straße und den regen Verkehr hinunter.

»London ist die größte Stadt der Welt«, sagte ich.

»Das stimmt nicht. Tokio ist die größte Stadt der Welt!« »Na, dann eben die größte Stadt Europas!«

Kieran räumte ein, daß dies stimmte, und fragte: »Gehen wir morgen zu Madame Tussaud?«

»Rachel bringt uns hin, wenn ich sie frage.«

»Können wir denn nicht alleine hin?«

Ich zögerte nur einen kurzen Augenblick. Es war mir unangenehm, den Eindruck zu erwecken, ich hinge an Rachels Rockzipfel. »Okay, aber wir müssen uns aus dem Haus schleichen.«

Ich wechselte das Thema, fragte ihn nach der Schule und erfuhr den neuesten Stand der Dinge: Fuggy Murphy hatte die Schule verlassen. Er hatte eine Art Schießpulver zusammengemixt und es mit einer höchst interessanten Wirkung unter seiner Schulbank aufbewahrt; seinen Eltern war daraufhin nahegelegt worden, sich nach einer anderen Schule für ihn umzusehen.

»Der arme Idiot«, sagte Kieran, nicht frei von Bewunderung. »Du hättest den Büffel sehen sollen!«

»Wie ist er denn dahintergekommen?«

»Während der Religions stunde hat jemand ein brennendes Streichholz in Fuggys Fach unter der Bank geworfen, gerade als der gute Rooney sich lang und breit über das Höllenfeuer ausließ. Mann, so ein Rauch! Alles hat gehustet, und wir mußten sogar das Klassenzimmer räumen.« Er machte eine Pause Und schüttelte den Kopf. »Das war toll!«

Ich verstummte vor Neid. In meiner neuen Schule war noch keine Bank in die Luft geflogen. Aber auch ich hatte etwas Eindrucksvolles zu erzählen.

»In der Nähe meiner Schule gibt es ein Museum mit dem Skelett eines Dinosauriers! Es ist ein Brontosaurus!«

Kieran grinste mich an und zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Hör bloß auf! Diese Viecher waren so groß, daß ihre Skelette nirgendwo hineinpassen, es sei denn in einen riesigen Saal. Und außerdem haben sich gar keine Knochen von denen, nur Versteinerungen.«

»Vielleicht ist es ja auch eine Versteinerung, jedenfalls nimmt es die gesamte Eingangshalle ein – und die ist wirklich riesengroß.« Dabei hob ich zur Verdeutlichung die Arme über den Kopf.

Jetzt hatte ich Kierans ungeteilte Aufmerksamkeit. Seine Augen wurden größer. »Oh, Mann«, keuchte er. »Wann können wir hin?«

Doch plötzlich wurde er mißtrauisch: »Woher weißt du eigentlich, daß es ein Brontosaurus ist?«

»Ich weiß es eben! Ich habe im Wizard darüber gelesen!« In jener Phase las ich freiwillig nur Beano, Dandy, Hotspur, Rover oder eben den Wizard. Rachel kaufte mir diese wöchentlich erscheinenden Heftchen, und der Umstand, daß ich sie studierte, entband mich in meinen eigenen Augen von der Pflicht zu ernsthafterer Lektüre. Ich wußte wohl, daß mein Gast sehr belesen und wißbegierig war, und bemühte mich verzweifelt, mit ihm gleichzuziehen.

»Oh ja ... den lese ich auch«, sagte er.

Erst in der U-Bahn am nächsten Tag fiel mir wieder das seltsame Haus im Tal ein, wo Kieran seine Ferien verbrachte. Ich stellte mir den See vor, die Berge ringsum – und plötzlich packte mich die Sehnsucht nach Irland, ein richtiges Heimweh. Ich vergegenwärtigte mir die Stille, den Wind, der durch das Heidekraut strich, den klaren Gesang der Lerche. Ich sah Kieran an, der ganz verzückt dasaß und durchs Fenster aufmerksam beobachtete, wie der Zug in South Kensington einfuhr.

»Wenn wir doch in Dublin auch eine U-Bahn hätten«, meinte er. »Ich würde den ganzen Tag herumfahren!« Dann nannte er mich einen Glückspilz, und ich nickte in aller Bescheidenheit, nicht abgeneigt, mir die Wunder Londons als mein Verdienst anrechnen zu lassen.

Wir vergnügten uns den ganzen Tag im Naturhistorischen Museum, betrachteten den Brontosaurus und eine Menge anderer Ausstellungsstücke in den Glaskästen. Der ungeheure Wissensschatz meines Begleiters verblüffte mich. Undeutlich erahnte ich, daß er der geborene Naturwissenschaftler war, ich hingegen nur ein Beobachter, jemand, der beim Gedanken an Dinosaurier und große Blauwale zwar ehrfürchtig erschauderte, aber wenig Interesse für ihr Innenleben aufbrachte; dasselbe galt für Käfer, Vögel und alle anderen Wunder der Evolution. Doch ich betrachtete es als meine Aufgabe, den Gastgeber zu spielen, und folgte Kieran von Halle zu Halle, von einem Objekt zum nächsten.

Schließlich rückte die Stunde heran, zu der das Museum geschlossen wurde. Als wir die Durchsage hörten, sah mich Kieran mit vor Tollkühnheit funkelnden Augen an. »Weißt du was? Wir verstecken uns. Später kommen wir immer noch raus, durchs Fenster oder so!«

Mich packte heimliches Entsetzen. Ich dachte an Rachel, die nicht einmal wußte, wo wir waren.

»Nein, wir müssen nach Hause. Sie werden sich Sorgen machen!«

»Aber woher denn. Höchstens Rachel. Und zum Abendessen sind wir allemal wieder da. Los, komm ... oder traust du dich nicht?«

Ich ahnte, was hinter seiner Frage steckte. Wenn ich diese Herausforderung ablehnte, war ich für ihn ein Feigling, eignete ich mich nicht mehr zu seinem Freund. Wenn ich diese Herausforderung ablehnte, würde er nicht mehr mein Freund sein, und ich würde das Tal und den See nie besuchen können.

»Und wo willst du dich verstecken?« fragte ich skeptisch. Er zerrte mich hinter eine Glasvitrine, und wir duckten uns, als der Wärter kam und einen letzten Blick in den Raum warf. Ich hielt den Atem an, erwartete, daß seine Schritte näherkommen und er uns heftige Vorhaltungen machen würde. Doch er ging weiter, und wir hörten, wie er die Treppe hinunterstieg und seine Schritte allmählich verhallten.

Nach einer Weile erstarben im Museum alte Geräusche. Wir hörten noch die Stimmen von Menschen, die sich einen Abschiedsgruß zuriefen, dann trat vollkommene Stille ein. Das Abendlicht drang noch durch die Rollläden, doch die Knochen in den Vitrinen sahen jetzt geisterhaft und feindselig aus, als sehnten sie sich nach dem Leben zurück, das aus ihnen gewichen war. Wir gingen hinaus auf den Balkon der Haupthalle und spähten über die Balustrade. Nirgends regte sich etwas.

Angst stieg in mir auf. Plötzlich dämmerte mir, daß unsere Chance, vor dem nächsten Morgen hier herauszukommen, äußerst gering war. Kieran hingegen schien ganz und gar nicht beunruhigt. Er ging zu einem Fenster, schob das Rollo hoch und blickte auf mehrere kleine Innenhöfe im hinteren Teil des Gebäudes hinunter. Er versuchte das Fenster zu öffnen, aber es war verriegelt.

»Was machen wir jetzt?« wollte ich wissen. »Wir sind eingesperrt und müssen die Nacht hierbleiben. Ich habe Hunger. Und wir haben nicht einmal einen Platz zum Schlafen.« »Komm schon, Dan«, sagte er. »Es ist noch früh; wir werden uns was einfallen lassen. Das ist ein Abenteuer!«

Ich lief hinüber zu der Fensterreihe an der anderen Wand, blickte hinaus auf den Vorgarten und das abgeschlossene Tor, klopfte an die Scheibe, um die Aufmerksamkeit der Leute unten auf der Straße auf mich zu lenken; aber sie waren weit weg und bemerkten mich nicht. Kieran packte mich am Handgelenk. »Wir kriegen Ärger, wenn sie uns finden. Wir kommen sehr gut alleine zurecht!«

Er lief das große steinerne Treppenhaus hinunter in die Halle mit dem Brontosaurus. Seine Schritte erzeugten einen Hall; er ließ alle Vorsicht fahren und stimmte ein Indianergeheul an. Ich tat es ihm nach, getragen von dem plötzlichen Hochgefühl der ungewohnten Freiheit, dieses riesige altehrwürdige Gebäude ganz für uns zu haben.

Aber als die Dämmerung hereinbrach und sich die Schatten herabsenkten, gewannen die versteinerten Skelette, die ausgestopften Gibbons und Schimpansen eine neue, furchterregende Dimension. Wie Dracula erlangten sie erst nach Sonnenuntergang ihre Kräfte. Sie waren jetzt unsere Feinde; sie verfolgten uns, lauerten darauf, daß wir unachtsam wurden; sie spitzten hinter der nächsten Korridorecke hervor und lauerten in jedem dunklen Winkel, an dem wir vorbeikamen. Und was das Schlimmste war: Die aus Stein gemeißelten Affen an den romanischen Bögen über der Haupthalle schienen zum Leben erwacht. Lautlos wie Höllendämonen kamen sie auf uns zu geschlichen.

Unterhalb einer Treppe unweit der öffentlichen Toiletten entdeckten wir eine Nische, kauerten uns dort an die Wand und sprachen nur noch im Flüsterton miteinander. Selbst Kieran hatte etwas von seiner Kaltblütigkeit eingebüßt. Bestimmt war er froh, daß ich da war, vielleicht übertrug sich aber auch meine Angst auf ihn. Mit dem Fatalismus von zum Tode Verurteilten teilten wir uns einen Toffeeriegel.

»Was machst du eigentlich in den Ferien?« fragte er mich plötzlich, bemüht, seine Stimme ganz normal klingen zu lassen.

»Ich wüßte schon, was ich gern täte«, platzte ich heraus.

»Lough Corrloch. Glaubst du, das ginge? Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt!«

Kieran seufzte. »Onkel Tim will keine Fremden dort. Es ist nur für die Familie.«

Später, als die Finsternis uns noch beklommener werden ließ, brachten wir den Mut auf zu singen, und diesen Gesang – wenn man ihn denn so nennen konnte – hörte der Kurator des Museums, der noch einmal in sein Büro zurückgekehrt war. Zuerst drohte er uns mit der Polizei, aber als er sah, was er da vor sich hatte und wie verängstigt wir waren, fuhr er uns in seinem Auto nach Hause.

Meine Eltern waren beide daheim und verzehrten sich bereits vor Sorge um uns. Sie hatten sogar eine Vermißtenmeldung bei der Polizei aufgegeben. Meine Mutter sagte kein Wort, legte nur stumm den Arm um mich – und ihr Schweigen war so tief, daß ich fürchtete, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Ich hatte mehr Angst vor ihren Tränen als vor dem Zorn meines Vaters, denn der war vorhersehbar. Aber meine Mutter weinen zu sehen wäre geradezu abnorm gewesen und hätte mein Verständnis von der Wirklichkeit vollkommen auf den Kopf gestellt.

Mein Vater schalt uns tüchtig aus, aber mit derart unverhohlener Erleichterung, daß Kieran und ich uns angrinsen mußten, als wir ins Bett geschickt wurden. Rachel brachte uns Sandwiches und Milch. Sie warf mir einen strafenden Blick zu, der Zerknirschung in mir hervorrufen sollte, sagte aber weiter nichts. Allein ihre zusammengepreßten Lippen ließen mich ahnen, wie heftig ihr Zorn war.

Kieran und ich unterhielten uns lange in dieser Nacht. Anfangs gratulierten wir uns gegenseitig verlegen, dann verfielen wir in Erinnerungen an den Marsh Park. Ich wußte, daß Kieran es gar nicht erwarten konnte, der Klasse zu erzählen, daß er mich wiedergesehen hatte und wir uns im Naturkundlichen Museum hatten einschließen lassen.

Er holte Klassenfotos vom vergangenen Schuljahr aus seiner Tasche. Ich erkannte den von der Schule verwiesenen Fuggy Murphy wieder und auch andere, an die ich mich noch gut erinnerte.

Dann zeigte mir Kieran ein paar Schnappschüsse von Lough Corrloch, die er mitgebracht hatte, weil er dachte, sie würden mich vielleicht interessieren. Ich sah ein altes Steinhaus und ein Mädchen, das ein Hündchen streichelte. »Das ist Helen«, sagte er.

Eines der Fotos zeigte Onkel Tim im Profil und hinter ihm die wilde Landschaft. »Er sieht furchtbar streng aus«, meinte ich.

›Ja und nein. Aber er ist ein bißchen krank, mit seiner Pumpe ist etwas nicht in Ordnung. Er war Lehrer, mußte aber aufhören zu arbeiten. Er liebt diesen See. Er weiß fast alles und ist ständig am Lesen. Du solltest einmal seine vielen Bücher sehen – das ganze Haus ist voll davon.«

»Was passiert mit Lough Corrloch, wenn er stirbt?« wollte ich wissen.

»Keine Ahnung. Ich vermute, er hinterläßt es Tante Dru – oder Helen. Er hat ja keine eigenen Kinder.« »Er könnte es ja auch dir hinterlassen!«

»Ich würde es gar nicht haben wollen!«

»Wieso denn nicht? Es ist doch toll.«

Er zuckte die Achseln, nahm die Fotos wieder an sich und steckte sie in den Umschlag zurück. »Ach ... ist nur so ein Gefühl. Manchmal denke ich, da findet bestimmt niemand sein Glück – ich jedenfalls nicht!«

»Und wieso nicht?«

»Keine Ahnung ... Das ist nur so ein Gefühl.«

»Und Helen?«

»Helen ist eine Nervensäge«, sagte er. »Ständig scharwenzelt sie um mich herum. Sie hat nämlich niemanden zum Spielen dort. Früher durfte sie ihre Freundin Christine mitbringen, aber jetzt nicht mehr.«

»Magst du sie denn nicht?«

»Wen? Christine oder Helen?«

»Helen.«

»Sie mögen? Aber sie ist doch ein Mädchen ...«

»Wenn sie dich so schrecklich nervt, warum gehst du dann überhaupt nach Lough Corrloch? Noch dazu, wenn es dir kein Glück bringt?«

Er dachte einen Augenblick nach. »Ich war immer dort«, murmelte er. »Ich habe jeden Sommer im Tal verbracht. Außerdem kann ich dort haufenweise Bücher lesen und Experimente machen.«

»Was für Experimente?«

»Naja, Dämme bauen und so was. Es gibt einen Fluß und einen Bach und einen Teich ... und dann den See. Und ich kann mit Onkel Tim fischen gehen ... Forellen und sogar Hechte. Ich bin nicht auf Helen angewiesen, weißt du. Sie ist nur eine dumme Gans.«

Am folgenden Tag hatte Rachel auf wundersame Weise ihre Sprache wiedergefunden.

»Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen«, sagte sie, schaute Kieran an und schüttelte den Kopf. »Ich hätte dir mehr Verstand zugetraut«, zischte sie ihn an, »mit dem da einfach abzuhauen und uns allen einen solchen Schrecken einzujagen!« James, der alles mit angehört hatte, sah Kieran mit herablassendem Spott an und meinte dann, als Rachel außer Hörweite war: »Dein alter Freund übt ja wahrlich einen guten Einfluß auf dich aus! Ein solches Heulen und Zähneknirschen hab’ ich ja noch nie erlebt! Ich muß es unbedingt auch mal ausprobieren.« Brüderlich mahnend senkte er dann die Stimme. »Aber die Eltern sind nicht gerade begeistert. Ihr tätet beide gut daran, etwas mehr Zerknirschung an den Tag zu legen.«

Kieran hatte sich bei meiner Mutter bereits entschuldigt, was sie zu freuen schien; als ich selbst daraufhin Abbitte leistete, wurde mir die elterliche Absolution ohne weiteres erteilt.

Seit unserer Eskapade hatte Kieran bei meinem älteren Bruder einen Stein im Brett. Er bemühte sich redlich, freundlich zu meinem Gast zu sein, und schließlich schlug ihn der zum Spott neigende Charme meines alten Freundes vollends in seinen Bann.