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Zeit der Liebe – Zeit des Umbruchs Irland, 1920er. Laut ihrem Ehemann hat Kitty Delaney alles, was man sich als Frau nur wünschen kann: ein hübsches Haus, einen respektvollen Gatten und ein Kind in Aussicht. Doch hinter der Fassade der Zufriedenheit verbirgt die aufgeweckte Kitty eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung. Als sie Paul Stratton kennenlernt, sieht sie in dem geheimnisvollen Gutsbesitzer einen Ausweg aus der Eintönigkeit ihres Alltags – seine Ideen und seine Leidenschaft entfachen in ihr ein Feuer, das ihr Ehemann Leonard niemals wecken konnte. Während der Unabhängigkeitskrieg das Land spaltet, steht Kitty bald vor einer unmöglichen Entscheidung: Soll sie der Pflicht gehorchen oder dem Ruf ihres Herzens folgen? »Ein sanftes Flüstern im Wind« war nach Erstpublikation ein Nr. 1 Bestseller. Die Romane der irischen Autorin verkauften sich über 300.000 Mal weltweit. Ein bewegender Roman über eine starke Frau, die im Irland der 20er Jahre für sich einsteht – für Fans von Maeve Binchy und Nora Roberts.
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Seitenzahl: 595
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Irland, 1920er. Laut ihrem Ehemann hat Kitty Delaney alles, was man sich als Frau nur wünschen kann: ein hübsches Haus, einen respektvollen Gatten und ein Kind in Aussicht. Doch hinter der Fassade der Zufriedenheit verbirgt die aufgeweckte Kitty eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung. Als sie Paul Stratton kennenlernt, sieht sie in dem geheimnisvollen Gutsbesitzer einen Ausweg aus der Eintönigkeit ihres Alltags – seine Ideen und seine Leidenschaft entfachen in ihr ein Feuer, das ihr Ehemann Leonard niemals wecken konnte. Während der Unabhängigkeitskrieg das Land spaltet, steht Kitty bald vor einer unmöglichen Entscheidung: Soll sie der Pflicht gehorchen oder dem Ruf ihres Herzens folgen?
eBook-Neuausgabe September 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1990 unter dem Originaltitel »Whispers in the Wind« bei Headline Publishing, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Flüstern im Wind« bei Schneekluth.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1990 by Mary Ryan
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 der deutschsprachigen Ausgabe bei Schneekluth Verlag GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Jiraphat.N /Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)
ISBN 978-3-69076-025-6
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Mary Ryan
Irland-Roman
Aus dem Englischen von Günter Löffler
Meinen Eltern
Charlotte und Pierce
zum Gedenken
Ich hatte zwei, drei Male dich geliebt,
bevor ich dein Gesicht und deinen Namen kannte.
John Donne
Der alte Mann packte die Haushälterin am Arm, seine Finger gruben sich in ihr Fleisch. »Wo willst du hin?«
»Sie braucht einen Arzt, Sir. Ich gehe ihn holen.«
Sein Griff zog sich schmerzhaft zusammen. »Ein Arzt kommt mir deswegen nicht ins Haus!«
Sein Atem roch nach Whisky. Sie fürchtete ihn, aber sie war auch sehr besorgt. »Wenn sie stirbt, sind Sie schuld, Sir!« Der Alte stöhnte. »Gottes Fluch ist schlimmer als der Tod.«
»Sie vergessen Gottes Barmherzigkeit, Sir. Sie ist sehr jung – und sehr unschuldig, trotz allem, was passiert ist.« Sie strebte fort, und er ließ sie los. Dabei starrte er sie mit seinen rot umränderten Augen an. »Unschuldig, ach so?« Er lachte gequält. »Es gibt keine Unschuld hier. Der Fluch Gottes lastet auf dem Haus.«
Sie erschauderte. »Kann ich wenigstens Mrs. Finnerty holen, Sir?«
Seine Augen verengten sich. Wieder lachte er freudlos. »Das wäre durchaus angemessen.«
Er wandte sich schwankend ab. Am Ende der Diele blieb er stehen und rief ihr nach: »Wenn es da ist, sag mir Bescheid – hörst du!«
In der geöffneten Haustür drehte sie sich zu ihm um. Er hatte das Kinn vorgeschoben, und seine Mundwinkel waren herabgezogen.
Sie trat hinaus in den Regen.
Wenn sie sich später die Ereignisse dieses Tages ins Gedächtnis rief, waren ihre Erinnerungen bruchstückhaft: der Lauf durch die nassen Felder, die schneidende Kälte, die Begegnung mit Mrs. Finnerty, die sie etwa auf halbem Wege traf.
»Ich weiß, Mädchen«, sagte Mrs. Finnerty, als sie ihr die Geschichte erzählen wollte und unter dem schwarzen Tuch fröstelnd die Schultern zusammenzog.
»Und er redet fortwährend von einem Fluch«, flüsterte die Wirtschafterin, doch die alte Frau erwiderte nichts.
Das Mädchen warf sich in ihrem Bett herum und biß die Zähne aufeinander. Mrs. Finnerty preßte die Hände auf den dicken Bauch; schrubbte sie sich anschließend in heißem Wasser; dann drangen ihre knorrigen Finger zwischen den Schenkeln vor. Es war still in dem Raum. Man hörte nur das Gemurmel der alten Frau, das Knistern des Feuers und das Knarren des Betts, wenn das Mädchen unter den Schmerzen einer Wehe den Körper krümmte. Sie gab keinen Laut von sich.
Mrs. Finnerty hielt ihr schmales Handgelenk und beobachtete ihr Gesicht. Die Lippen waren trotzig zusammengepreßt, die Augen fest geschlossen, die langen Wimpern in die Haut gegraben.
»Sie läßt sich von dem Schmerz nicht unterkriegen«, murmelte Mrs. Finnerty vor sich hin. »Bei so einem Willen hat sie wenig Frieden zu erhoffen.«
Die Haushälterin ging nach unten, um mehr heißes Wasser zu holen.
Langsam verrann die Nacht. Die Gestalt im Bett bewegte sich krampfhaft, griff in die Locken, verkrallte sich; Schweiß rann ihr ins Haar.
Die Haushälterin brühte Bouillon auf und versuchte dem Mädchen einige Löffel davon zwischen die Lippen zu flößen. »Damit du bei Kräften bleibst«, erklärte sie sanft. Das Mädchen öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. »Vielleicht hilft es, wenn du dich an mir festhältst?«
»Ich würde dir nur weh tun, Ellie«, flüsterte das Mädchen stockend. Sie biß wieder die Zähne zusammen, bäumte sich auf, wehrte sich gegen die Kraft, die sich ihrer bemächtigen wollte.
Mrs. Finnerty schob ihr eine mit Roßhaar bedeckte weiche Kugel zwischen die Zähne. Die Wirtschafterin sah sie mißtrauisch an.
»Beruhige dich«, sagte die alte Frau gereizt. »Es ist aus Mohn gemacht. Es wird ihre Schmerzen lindern.« Das Kind kam kurz nach der Morgendämmerung zur Welt. Die Haushälterin wisperte, daß sie Angst davor habe, was ihr Herr zu tun gedenke, daß er befohlen habe, von der Geburt unterrichtet zu werden.
»Sag ihm nichts.« Mrs. Finnerty durchtrennte die Nabelschnur und nahm den nachgiebigen Körper in die Hände, prüfte ihn, drehte ihn.
Das Neugeborene machte ein schmatzendes, pfeifendes Geräusch, als es Luft ansaugte; dann ließ es ein leises Heulen hören, das an Stärke gewann und sich zu einem schrillen Schrei steigerte.
Mrs. Finnerty seufzte. Ihr Gesicht verriet Erleichterung. »Das Kind ist großartig«, sagte sie.
Sie wusch das brüllende Baby, und die Haushälterin brachte angewärmte Handtücher, in die sie es wickelte.
»Ein prachtvoller kleiner Junge«, raunte sie dem Mädchen zu, das sich ihr Kind ansah und nickte. Ihre Augen waren von der Erschöpfung glasig geworden.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und flog krachend gegen die Wand. Schwankend stand der alte Mann da, mit einer Miene der Verzweiflung, und roch nach Schnaps. Er zeigte auf das Bündel in den Armen der Haushälterin. »Gib es her.«
Die Haushälterin wich zurück, barg das Baby sicher an ihrer Brust.
»Der Junge lebt und ist gesund«, sagte Mrs. Finnerty ruhig, in sachlichem Ton. »Wenn ihm etwas zustößt, melde ich es der Polizei, dann erfährt es die ganze Welt.«
»Ich drehe dir deinen Hexenhals um!« rief er aus und torkelte mit geballten Fäusten auf sie zu.
Sie sah, wie er näherkam. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Er starrte sie wild an, seine Blicke verschmolzen mit ihren. Da blieb er stehen, ließ die Arme schlaff herabsinken und glich einem Menschen, der mitten im Schreiten vergessen hat, weshalb er losgegangen ist. Er wandte den Blick ab.
»Gehen Sie schlafen, alter Mann«, sagte sie ermattet. »Solche Sachen wurden vor langer Zeit einmal gemacht.« Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Sie hörten, wie er den Treppenabsatz entlangschlurfte.
»Ich kann nicht mit dir reden; ich kann mich bei dir nicht anlehnen. Warum versuchst du nicht, mich zu erreichen? Ich bin am Verhungern!«
Kitty legte sich den Vortrag zurecht, den sie Leonard gern halten würde. Sie saß neben dem Herd und betrachtete mit widerstrebenden Gefühlen den kleinen Stuhl, den Sheila hatte anfertigen lassen – für sich und das Kind, das sie unter dem Herzen getragen und auf diesem Stuhl zu stillen gedacht hatte. Arme tote Sheila! Sie wollte einen einfach nicht in Frieden lassen. Immer wieder erschienen Sachen von ihr, obwohl Kitty eingesammelt und in dem großen Mahagonischrank des Nordzimmers verstaut hatte, was zu finden gewesen war: Kleidungsstücke, Schuhe, Unterwäsche; aber schlug man ein Buch auf, konnte ein Zettel mit Sheilas sauberen Auf- und Abstrichen zum Vorschein kommen, vielleicht eine alte Einkaufsliste, wie Kitty sie erst am Tag zuvor entdeckt hatte. Und nun hatte Leonard auch noch diesen kurzbeinigen, gedrungenen Stuhl aufgestöbert und war fast beleidigt gewesen, weil es ihr an Begeisterung gemangelt hatte.
Armer Leonard auch, wenn man es richtig bedachte. Sheila, für acht Jahre seine Ehefrau, war dabei gewesen, ihm das zu geben, was er sich mehr als alles auf der Welt gewünscht hatte; aber das Kind hatte nur einmal geschrien, wie Kitty aus seinem Munde wußte, und die Mutter war am selben Tag gestorben, hatte sich etwas später, »in der Morgendämmerung, davongestohlen«. Es hatte ihn sentimental und melancholisch gemacht, obwohl er neuerdings nicht mehr darüber sprach. Hat der Kummer sie getötet, fragte sich Kitty, weil all die Monate der Erwartungen und Gebete mit einem einzigen dünnen Aufschrei endeten? Nun ja, eine Frau von vierzig war schon ein bißchen alt für das erste Kind; andererseits war es schlimm genug, mit sechsundzwanzig schwanger zu sein wie sie selbst. Noch sah man nichts, Ausgang des dritten Monats, aber sie scheute die Aussichten des nächsten halben Jahres, wenn sich ihr Leib wie ein aufgeblasener Luftballon runden und ihre Mädchenzeit vorbei sein würde.
Schwangerschaft war ein Zustand, in den man allzuleicht geriet. Ein neues Leben ergreift von dir Besitz, als ob du auf die Herrschaft über deinen Körper verzichtet hättest; deine Geruchsempfindlichkeit steigert sich, bis alles unerträglich wird; die Übelkeit, das Sodbrennen, die Zartheit der Brüste. Über Nacht fast verwandelst du dich in ein Gefährt, bist kaum noch ein Mensch. Demgegenüber entwickelt sich freilich ein Gefühl der Macht, weil du imstande bist, etwas derart Außergewöhnliches zu tun; als gewöhnlich betrachtest du es nur bei anderen Menschen. Doch Kitty hatte nicht gewollt, daß es so bald geschah; eine Periode der Wonne an der Seite von Leonard hatte sie sich ausgemalt, eine Zeit gegenseitiger Liebe.
Sobald sich Dr. Kelly mit der Bestätigung verabschiedet hatte, daß sie »sehr wohl guter Hoffnung zu sein« scheine, war das Buch, in dem sie gelesen hatte, durch das Zimmer geflogen, hatte ein ungestümer Schmerz von Enttäuschung in ihr getobt. Es war demütigend rechtschaffen, sieben Monate nach der Hochzeit verantwortungsbewußt schwanger geworden zu sein, vorbildlich seine Pflicht erfüllt zu haben, zu spüren, daß du dir schwerwiegende Veränderungen aufgebürdet hast, die nicht deiner Kontrolle unterliegen. Wenn schon, hatte sie in ihrem Zorn gedacht, mit einer Stricknadel könnte ich es abtreiben, und zugleich gewußt, daß sie dazu nicht imstande wäre.
Später hatte sie schuldbewußt das Buch aufgehoben und beim Wegstellen bemerkt, daß der Einband beschädigt war: Tennyson hatte sie gelesen, Morte d’Arthur, und war von seiner hypnotischen Schönheit entzückt gewesen. Wenigstens diese Liebe zur Poesie war etwas, was sie mit Leonard gemein hatte, aber er würde wütend werden, wenn er wüßte, daß sie eines seiner Bücher ramponiert hatte. Sie sah noch seine Miene, als der Arzt bestätigt hatte, daß sie in anderen Umständen war, das zufriedene halbe Stirnrunzeln, den gedämpften Stolz. Wo blieb das Entzücken darüber, daß sie ihm geben würde, was er sich am meisten wünschte? Wenn er sich überhaupt geändert hatte, dann war er seitdem höchstens nachlässiger geworden, als ob er wüßte, daß sie jetzt gut und sicher in der Falle saß.
Sie kochte vor Zorn und Frustration. Sie saß in der Falle, würde mit diesem neuen Leben trächtig werden und in den Hintergrund abgeschoben sein, wie das ganze leblose Mobiliar. Wie selten er sich ihr jetzt voll Leidenschaft näherte; eine Gattin war schließlich nur ein Teil des Besitzes, und was du besitzt, ist selbstverständlich dein. Sie hatte eine Art Verehrung erwartet; er begegnete ihr mit distanzierter Höflichkeit. Sie lechzte nach seiner Liebe, seiner Berührung. Doch wie konnte sie ihm dies erklären?
Der Kessel auf der heißen Platte begann zu summen, und Kitty erhob sich, holte die kleine Teekanne von ihrem Schrankbrett herunter, spülte sie gut mit siedendem Wasser aus. Dann nahm sie den Kessel vom Kaminvorsprung und brühte ihren Tee. Es war spät, halb zwölf. Annie, das Dienstmädchen, schlief in einem Raum gleich neben der Küche. Sie würde bald fortgehen, um zu heiraten, und Ersatz hatten sie sich noch nicht gesucht. Ich muß in dieser Sache bald etwas tun, nahm sich Kitty vor. Sie würde ihr Glück im St. Bride’s versuchen, dem Mädchenwaisenhaus nahe der Stadt.
Leonard war unterwegs. Er hatte gesagt, er wolle Frank Ledwith wegen des Gutes Stratton aufsuchen. Ihr hing das Gut Stratton zum Hals heraus. Es war ja reizend, wenn die Leute Gelegenheit bekamen, Land zu kaufen, aber Leonard hatte deshalb kaum noch einen Augenblick Zeit für sie.
Fast jeden Abend fand irgendeine Zusammenkunft statt, bei der über die Aufteilung des Grundbesitzes verhandelt wurde. Kitty war einmal mit dem Fahrrad dort gewesen, um sich das herrschaftliche Wohnhaus anzusehen, einen quadratischen Kalksteinklotz, von Balustraden flankierte Steinstufen, über die man zur Vordertür gelangte, ein Grundstück mit georgianischen Fenstern, Fensterläden, undichten Dachrinnen und dem Bogen einer schmucken Auffahrt, die zu Torweg und Pförtnerhäuschen führte. Mrs. Mooney und ihre Nachkommenschaft bewohnten dieses Häuschen. Die einzige Person, die sich in dem großen Gebäude selbst aufhielt, war Mrs. Devine, die Haushälterin.
Der junge Stratton befand sich auf dem Heimweg, und die Verpachtung des Grundbesitzes, einer zweitausend Acre großen Fläche – zu einem Preis von 25 000 Pfund –, war bereits beschlossene Sache. Lediglich die Domäne und ein Stück Farmland, groß genug, um sie zu versorgen, wollte er behalten. Die Einzelheiten der Transaktion waren in der Gegend gut bekannt, ebenso die Tatsache, daß der Gutsherr während des Krieges den Rang eines Majors bekleidet hatte, verwundet und wegen Tapferkeit ausgezeichnet worden war.
Mrs. Devine, unterstützt von Mrs. Mooney, hatte vollauf zu tun, das Haus für seine Heimkehr vorzubereiten. Kitty entnahm das all dem Klatsch nach den Sonntagsmessen. Wie muß einem Menschen zumute sein, fragte sie sich, der in so ein Haus zurückkehrt, den Blick über die Waldungen und ausgedehnten Rasenflächen schweifen läßt und weiß, daß dies alles ihm gehört. Das Haus ähnelte dem, das ihrer Großmutter Ellen als Erbteil zugedacht gewesen war – Lady Ellen Wallace, der Abtrünnigen, die ihren katholischen Hauslehrer geheiratet hatte, und enterbt worden war.
Kitty nahm The Irish Times vom Sims der Durchreiche und setzte sich an den Tisch. Sie blätterte in den Seiten, während sie von ihrem Tee nippte. Die Anzeigen interessierten sie.
JB Korsetts mit Seitenfederung – die Korsetts von Rang. Vorbei sind die Tage, als die Figur das Korsett kontrollierte. Nunmehr ist das Korsett so gestaltet, daß es die Figur kontrolliert.
Mit Vorderseitenschnürung von 1 bis 6 Guineen.
Die Skizze einer drallen Dame unter der »Kontrolle« ihres Korsetts, das sie von der Brust bis zu den Oberschenkeln bedeckte, blickte die Leserin verschämt an.
Kitty prustete verächtlich. Zwecklos, mich jetzt über Korsetts aufzuklären!
Auch für Seife wurde Reklame gemacht.
Wenn Ihr vollkommener Waschtag zu Ende geht, ist es an der Zeit, die Vorzüge Ihrer Seife der Marke Sunlight aufzulisten.
Montag wird gewaschen. Muß Annie erinnern, mehr Seife zu besorgen. Mrs. Mooney kam gewöhnlich, um zu helfen, und rumpelte in einer Art rhythmischer Raserei die Sachen das Waschbrett rauf und runter, wobei sie mit Annie non stop die Angelegenheiten der Gemeinde besprach.
Es gab einen Artikel über Zwischenfälle auf dem Lande.
Die stabile Polizeikaserne zu Creggan, die Ostern den Wochenendfeuern widerstand und im Viehtriebgebiet von Kilgarvin liegt (South Westmeath), wurde gestern Morgen völlig niedergebrannt.
Plötzlich schlich sich Furcht in Kittys Magengrube. Warum war Leonard so spät unterwegs? Die Zeitung strotzte immer von schrecklichen Geschichten; entsetzliche Unruhe herrschte im Lande; viele Polizisten, Angehörige der Royal Irish Constabulary, waren kaltblütig ermordet worden, und die Regierung schickte jetzt Nachschub, Männer, die jüngst in England rekrutiert worden waren, um die RIC zu verstärken. Freischärler hatten in einigen Teilen des Landes Menschen erschossen; Notizzettel, die an ihre Kleidung geheftet waren, besagten, daß es sich bei den Getöteten um Spione gehandelt habe. In Dublin bestand Ausgangssperre; nächtliche Überfälle auf Privathäuser durch Soldaten, die nach Verdächtigen suchten, waren gang und gäbe. In der Stadt Cork gärte es ebenfalls; erst letzten Monat war dort Thomas MacCunain, der Oberbürgermeister, erschossen worden, vermutlich in einem polizeilichen Vergeltungsakt. Der eigene Pfarrbezirk war soweit ruhig, doch in der Kaserne von Tubbercullen sollen einige Polizisten kürzlich den Dienst quittiert haben.
»Kitty, es gibt Elemente hierzulande, denen die Engländer ganz zu Recht den Fuß in den Nacken setzen«, hatte ihr Vater einmal gesagt.
Sie stellte sich sein Gesicht vor, die wirren grauen Augenbrauen, den hohen Nasenrücken, den festen, eigensinnigen Mund, den Ausdruck seiner großen Güte. Bei seinem Tode hatte sie sich körperlich und seelisch verwaist gefühlt. Zwei Jahre lag das zurück; der Leichenzug nach Glasnevin, das Klappern des losbröckelnden Lehms, als der Sarg in die Grube gesenkt wurde. Fahr wohl, Paps, mein Lieber. Der salzige Geschmack von Tränen und Schleim, das Gefühl zu treiben, zu ertrinken. Welche Freude hatte es ihm, dem Lehrer an einer Knabenschule, bereitet, als sie Zweitbeste ihrer Klasse in Carysfort geworden war. Obwohl er sich sehr dafür aussprach, daß Frauen vernünftigen Beschäftigungen nachgehen sollten, hielt er nichts von ihrem Wahlrecht und hatte ihr zehn Jahre vorher untersagt, mit Mary zur Rotunda zu gehen, um Christabel Pankhurst sprechen zu hören. Mit finsteren Blicken hatte er auch jeden jungen Mann weggegrault, der sie besuchen gekommen war. Was er wohl zu Leonard sagen würde?
Kitty hatte ihren Mann im Zug nach Cork kennengelernt. Mary war von ihrer Schule dorthin zur Teilnahme an einer Lehrerkonferenz delegiert worden, und Kitty hatte sie begleitet, sich eine Abwechslung gegönnt, die erste seit dem Tode ihres Vaters. In Kingsbridge hatten sie den Zug erreicht; alles war dort aufregend gewesen: das geschäftige Treiben, das Zischen und Stampfen der Lokomotiven, der Rauchgeruch, selbst das große Schild mit der Aufschrift Great Southern Railways . Kitty war wenig gereist, und die Fahrt nach Cork bedeutete ein Erlebnis.
Während sie mit Mary plauderte, wurde ihr bewußt, daß sie der Mann in der gegenüberliegenden Ecke ihres Abteils musterte. Sie sah hin, schaute in zwei dunkle Augen, bemerkte das vergnügte, sanfte Lächeln auf seinen Lippen. Er beteiligte sich an ihrem Gespräch, erzählte ihnen von seiner Schule in Tubbercullen in der Grafschaft Roscommon und beeindruckte Kitty sehr angenehm; sein Lebensalter (Kitty schätzte ihn auf etwa vierundvierzig, womit sie recht hatte) und seine vornehme Erscheinung verliehen ihm ein Fluidum von Klugheit und Weltkenntnis. In Cork lud er die jungen Damen zum Essen ein. Auch kehrte er mit ihnen nach Dublin zurück, und statt von dort sofort nach Tubbercullen weiterzureisen, hielt er sich noch eine Zeitlang in der Stadt auf, um mit Kitty einige Ausflüge zu machen. Dann schrieb er ihr aus Tubbercullen, und wiederholt kam er nach Dublin zurück, wo er ihr den Hof machte. Ende des Sommers heirateten sie schließlich. Er verkörperte eine Mischung zwischen ihrem Vater und dem gefühlvollen, scharfsinnigen Ideal, das ihr als ihr künftiger Mann immer vorgeschwebt hatte. Neben ihm fühlte sie sich äußerst sicher.
Mary aber hatte sich entsetzt gezeigt. »Warum willst du ihn heiraten? Bei ihm wirst du lebendig begraben sein!« Begraben war der richtige Ausdruck. Tubbercullen erwies sich als der ödeste Winkel der Welt, den Kitty je betreten hatte.
Als sie im August geheiratet hatten, mußten sie unverzüglich nach Tubbercullen aufbrechen, ohne sich Zeit für richtige Flitterwochen gönnen zu können, denn in der folgenden Woche fing die Schule wieder an. Ihre Kusinen und Freundinnen, darunter auch Mary, geleiteten sie zum Abschied nach Kingsbridge. Durch das Fenster des Zuges, der sie westwärts bringen sollte, warf ihnen Kitty ihr kleines Bukett zu. Mary standen die Tränen in den Augen – ein ganz merkwürdiger Anblick. Auch als sich Kitty später an die Szene erinnerte, war sie gerührt wie damals und fühlte einen Klumpen in der Kehle.
Um ihren frischgebackenen Ehemann zu beeindrucken, trat sie ihm den Erlös aus dem Verkauf des Vaterhauses ab. Das Geld aber, das ihr Lady Ellen, ihre Großmutter, vermacht hatte und das ihr ein Einkommen von fünfzig Pfund pro Jahr sicherte, behielt sie für sich. Bei dieser bescheidenen Rente drängte sich unwillkürlich ein Vergleich mit dem Vermögen auf, das ihre Großmutter um ein Haar geerbt hätte: Ländereien in Sligo und Leitrim, ein großes Landhaus, ein Stadthaus am Ely Place in Dublin – wenn, ja wenn sie nicht »bekehrt« worden wäre! Kitty erinnerte sich noch dunkel an sie: eine kleine Frau in Schwarz mit Hörrohr, die vor sich hin murmelte: »Gott sei Dank bin ich katholisch, Gott sei Dank bin ich katholisch«, und dabei den Rosenkranz durch die Finger gleiten ließ. Wie hatte man es geschafft, daß sie so stolz darauf war, Katholikin zu sein? Kitty glaubte nicht recht daran, daß Protestanten zur Verdammnis verurteilt waren, obwohl man es ihr eingeredet hatte. Sie fand es schwer, sich einen Gott vorzustellen, der weniger anständig als sie selber war.
Während der Zug sie in ihr neues Leben trug, lehnte sie den Kopf gegen Leonards Schulter. Sie roch seine reinliche Wärme und fragte sich stumm, wie es wohl wäre, nachts neben ihm zu liegen, Nacht für Nacht neben ihm zu schlafen, bis einer von ihnen starb. Sie spürte seine Vitalität und dachte ein wenig ängstlich an die Intimitäten, die zwischen ihnen sein würden, daran, was Eheleute zu machen pflegen, wenn sie in ihren Betten allein sind. Geküßt zu werden, sich streicheln zu lassen müßte schrecklich aufregend sein, aber was den Rest betraf, war sie sich ihrer Gefühle nicht so sicher. Es schien ihr ein bißchen weit zu gehen.
Gegen Abend erreichten sie den Bahnhof von Tubbercullen. Mehrere Meilen waren sie durch eine armselige Landschaft gefahren, hatten Steinwälle gesehen und Häuschen, die dringend umgedeckt werden müßten. Die Sonne ging unter, schmale rosa Streifen erleuchteten den Himmel im Westen.
»Willkommen, gnädige Frau«, grüßte Billy Kelleher, der Stationsvorsteher, nachdem Leonard sie bekannt gemacht hatte, und sie lächelte und gab der kleinen Person in der dunklen Uniform die Hand. Dann näherte sich ein zweiter Mann, um das Gepäck zu holen. Er nickte Leonard zu und tippte sich an die Mütze, wobei er Kitty einen listigen Seitenblick zuwarf.
»Kitty, das ist Tommy O’Brien. Er arbeitet für mich – für uns, besser gesagt.«
»Gratuliere, gnädige Frau; gratuliere, Master Delaney.« O’Brien zog die Mütze, setzte sie wieder auf und grinste einfältig, während er ihren Koffer aufnahm.
Ein zweirädriger Einspänner wartete draußen vor dem Bahnhofstor. Leonard half ihr hinein und legte ihr die Reisedecke um die Beine. Sie fühlte, wie erleichtert er war, zu Hause zu sein.
Der Wagen fuhr an und rollte eine Landstraße entlang, die direkt am Bahnhof endete. Einen anderen Verkehrsweg schien es nicht zu geben. Tommy kutschierte schweigend. Die Schirmmütze hatte er tief in die Stirn gezogen.
»Das ist ein Privatweg, Kitty. Er führt durch Land, das den Strattons gehört, der großen Grundbesitzerfamilie dieser Gegend.«
Tommy murmelte dem Pferd barsche Ermahnungen zu, und es fiel in Trab.
»Ist es ein umfangreiches Gut?« fragte Kitty.
»Nun ja, das war es bisher. Jetzt soll das Land aufgeteilt und an mehrere Pächter abgegeben werden. Tatsächlich bin ich einer der Treuhänder.«
»Was bedeutet das?«
»Das heißt, daß ich mit dem Vollzug des Wechsels zu tun habe; das Land wird nämlich in meinem Namen erworben – in meinem und in dem des anderen Treuhänders, Frank Ledwith, den du wahrscheinlich demnächst kennenlernen wirst. Zum Zweck der Übernahme des Grundbesitzes haben wir eine Pächtergenossenschaft gebildet.«
»Du mußt wohl ziemlich stark beschäftigt sein.«
»Ja. Ich hoffe, daß du es nicht allzu langweilig findest.« Er drückte ihr die Hand und deutete auf einige Schornsteine, die sich in der Ferne über den Baumwipfeln erhoben. »Das ist das Tubbercullen House, in dem die Strattons wohnen. Feines Haus, im Ganzen genommen. Allerdings haftet ihm ein alter Aberglaube an. Ich muß dir gelegentlich davon erzählen.«
»Was für ein Aberglaube?«
»Oh, es ist nur ein Pisheog.«
Kitty blickte verständnislos drein.
»Ach ja, ich vergaß, daß du ein Stadtmädchen bist«, sagte Leonard lächelnd. »Pisheog ist abergläubischer Unsinn, der in der Folklore wurzelt. In diesem Fall geht es angeblich um einen Fluch.«
Kitty erschauderte.
Sie wünschte, daß Leonard den Arm um sie lege, um das wachsende Gefühl der Einsamkeit zu vertreiben, aber Tommy beobachtete sie verstohlen aus den Augenwinkeln, und Leonard saß kerzengerade neben ihr.
Schon bald gelangten sie auf die Hauptstraße, wo sie links abbogen; dann näherten sie sich einer Wegkreuzung, die Leonard kurz »das Kreuz« nannte. Hier wandten sie sich nach rechts und folgten einer Straße, die kaum besser als der Ackerweg der Strattons war. Ein kleines Stück weiter stand eine Baumgruppe am Straßenrand, und dahinter war ein Haus zu sehen. Tommy zügelte das Pferd, das danach im Schritt lief.
»So, da wären wir«, sagte Leonard ruhig. »Wir sind daheim.«
Daheim, das war ein L-förmiges Haus aus behauenen Steinen mit sechs Fenstern, die zu einem hübschen Gehölz zwischen dem Gebäude und der Straße hinaus gingen. Die Stirnseite stand im rechten Winkel zur Straße.
»Wir fahren durch das vordere Tor, Tommy, weil das Haus Mrs. Delaney neu ist.«
Tommy stieg ab, um das Tor zu öffnen, und Leonard ergriff die Zügel. Er lenkte den Wagen auf den kiesbedeckten Hof. Obwohl sich die Dämmerung verdichtete, entging es Kitty nicht, daß die Vorderseite einen ungehinderten Ausblick auf die umliegenden Felder bot. Sie sah sich neugierig um, als Leonard ihr beim Aussteigen half. »Leonard, es ist schön.« Sie bemerkte den Ausdruck des Vergnügens auf seinem Gesicht.
»Früher wohnte hier der Hauptverwalter der Strattons, solange sie einen beschäftigten«, sagte er.
Er bediente den Klopfer, und eine aufgeregte Annie öffnete. Sie hätte sich beim besten Willen nicht denken können, wer da an der Vordertür sei, erklärte sie.
Kitty stand vor der Schwelle und war gespannt, ob Leonard sie hinübertragen würde, doch ihm schien nichts dergleichen einzufallen. Sie beobachtete Tommy, der Pferd und Wagen wegbrachte, und plötzlich haßte sie ihn und das eisige überlegene Lächeln auf seinen Lippen.
Leonard nahm sie beim Ellbogen und führte sie in die geflieste Diele, dann weiter in das Wohnzimmer, wo ein Torffeuer im Kamin brannte. Der Raum war gut geschnitten, strahlte aber keine Atmosphäre aus. Auf dem Kaminmantel stand die Fotografie eines Paares, er sitzend, sie stehend, eine schmale, schlichte Frau mit schüchternem Gesichtsausdruck. Es dauerte eine Weile, ehe Kitty ihren Mann erkannte, einen viel jüngeren Leonard, und die Frau, die neben ihm stand, müßte demnach Sheila, seine erste Gattin, sein.
Sie starrte das Bild an. Das Gefühl, ein Eindringling zu sein, überwältigte sie, und ihr kam die Erkenntnis, daß Leonard schon eine ganze Geschichte hinter sich gehabt hatte, als er ihr das erste Mal begegnet war. Sie bemerkte, daß auch er verwirrt das Bild ansah, es dann herabnahm und in ein Schubfach des Sekretärs in der Ecke legte. Als er sich umdrehte, wich er ihren Blicken aus.
Das war ihre Ankunft. An diesem Abend ging sie als erste zu Bett, zog sich aus, von Hemmungen erfüllt, und schlüpfte in ihrem neuen Nachthemd aus Satin nervös zwischen Bezug und Laken. Dies war das Bett, das er mit Sheila geteilt hatte. Hier hatte sie gelacht, mit ihm gesprochen, ihn geliebt, hier war sie gestorben.
Er kam später, hatte im Badezimmer die Sachen abgelegt und schlüpfte eifrig neben sie. Er küßte sie und erfüllte wortlos seine eheliche Pflicht, während sich Kitty, verblüfft und starr, auf die Lippen biß, um ihre Schmerzensschreie zu ersticken. Dann wälzte er sich herum und war im Nu eingeschlafen. Sie lag noch lange wach und lauschte seinen Atemzügen.
Am nächsten Tag sammelte sie Sheilas Kleider ein, um sie im Nordzimmer zu verstauen. Doch Sheilas Lieblingsstuhl stand noch im Salon; ihr kleines Schreibpult zierte die Fensternische des Speisezimmers, ihr Füllfederhalter lag griffbereit unter der Platte.
Eine Woche darauf wurde Kitty Hilfslehrer. Sie übernahm das Amt ihrer Vorgängerin Flaherty, die nach Mrs. Mooneys Worten »aus Eifersucht« zurückgetreten war, als sie von Leonards Heirat gehört hatte. Sie selbst trat eine Stelle an, die in der Grafschaft Longford frei geworden war. Kitty wurde mit Pastor McCarthy bekannt, dem Gemeindepfarrer und Manager der Schule, der sich anerkennend über sie äußerte. Nicht viel später traf ein Dokument ein, das sie unterschreiben sollte. Es berechtigte dazu, ihr Gehalt direkt an den Gatten auszuzahlen. Sie unterschrieb, ohne zu überlegen.
Kitty kehrte aus ihren Träumereien in die Gegenwart zurück. Sie leerte die Tasse, wobei sie sich bemühte, die Teeblätter nicht mitzuschlucken. Noch kein Lebenszeichen von Leonard. Vielleicht hatte man ihn irrtümlich für einen Spitzel gehalten oder für einen Polizisten, und er war überfallen worden. Vielleicht war er mit dem Fahrrad verunglückt. Sie konnte die Ungewißheit nicht länger ertragen.
Besorgt nahm sie die Lampe vom Tisch, wanderte in die Diele und dann in das Wohnzimmer. Sie hatte den Raum in einem Elfenbeinton tapezieren lassen; die Gardinen mußten auch noch erneuert werden. Die wollte sie kaufen, wenn sie das nächste Mal nach Dublin kam. Sie stellte die Lampe hin, setzte sich für einen Augenblick ans Klavier und suchte einige Notenblätter. Doch das Klavier war noch verstimmt; außerdem würde sie Annie wach machen. Im Kamin glühte noch schwach die Asche. Sie legte ein paar Torffasern nach, um das Feuer zu unterhalten.
Sie betrachtete das Hochzeitsbild, auf dem sie und Leonard zu sehen waren und das jetzt die Kaminfassung schmückte. Da fiel ihr die andere Fotografie ein, die von Leonard und Sheila, die ursprünglich dort gestanden hatte. Was hatte er damit gemacht? Ob sie noch in dem Fach des Sekretärs lag? Sie durchquerte das Zimmer, um nachzuforschen, zog behutsam den Kasten auf, doch er enthielt nichts als Papiere. Dann schob sie den geschwungenen Deckel zurück, der sich leicht bewegen ließ. Das Bild lag mit der Vorderseite nach oben in einer Ecke. Eifersucht durchzuckte sie. Er bewahrte es hier auf, um es sich jederzeit anschauen zu können, wenn er sich an den Sekretär setzte. Mochte er seine erste Frau auch nie mehr erwähnen – er pflegte die Erinnerung.
Zwischen den Papieren fand sie eine zusammengefaltete Landkarte, zog sie heraus und breitete sie aus. Eindeutig erkannte sie die Umrisse eines großen Hauses mit Auffahrt; winzige Bäumchen rundherum markierten die Wälder. Eine rote Grenzlinie umriß das Gebiet. Es war natürlich der Grundbesitz der Strattons. Man sah den Bahnhof und die Landstraße, die dort hinführte. Auch die alte Gutskirche war eingezeichnet, ebenso der kleine Friedhof. Gestrichelte Linien zeigten den Verlauf der Pfade durch die Wälder. An einer Stelle war die rote Grenzlinie unterbrochen; über der Lücke stand, mit grüner Tinte geschrieben, ein X; ein zweites grünes X befand sich unweit des Hauses in einem Waldstück.
Warum besaß Leonard eine Karte von dem Grundbesitz anderer Leute? Es mußte etwas mit der Aufteilung des Landes zu tun haben. Wozu aber brauchte er eine Skizze des Herrenhauses? Hatte Leonard nicht gesagt, daß Mr. Stratton die Domäne behalten wolle?
Sie schloß den Sekretär sorgfältig, ergriff die Lampe und fühlte sich wie eine Diebin, als sie auf Zehenspitzen zur Küche schlich. Im Wohnzimmer surrte die Uhr und schlug zwölf. Es war Mitternacht. Ob sie hinausgehen sollte, überlegte sie. Vielleicht war er verletzt und bedurfte der Hilfe.
Sie stand noch unschlüssig mitten in der Küche, da hörte sie einen Schlüssel im Schloß der Hintertür schnarren. Sie fuhr zusammen, ihr Herz schlug höher. Er war zurück, wohlbehalten. Doch kaum, daß sie ihre Welt in Sicherheit wußte, wogte auch der Ärger wieder hoch.
Leonard machte die Tür hinter sich zu, schloß ab und verriegelte sie. »Noch auf, Kitty? Du solltest im Bett liegen und schlafen.«
»Ich hatte Angst um dich. Warum kommst du erst jetzt? Fast jede Nacht kommst du so spät nach Hause.«
»Du weißt, auf mir lastet schwere Verantwortung«, erwiderte er gereizt. Er legte Hut und Mantel ab und ging kurz in die Diele, um sie aufzuhängen.
»Warum bin ich nie eine davon?« Sie wünschte, die Bemerkung zurücknehmen zu können; bitter und scharf war es ihr herausgerutscht.
Leonard schloß die Dielentür. »Ich möchte wissen, was du noch willst, Kitty. Du hast alles, was sich eine Frau nur erträumen kann, ein behagliches Heim, die Achtung des Gatten, und bald wirst du auch dein Kind haben.«
Er hob die Stimme nicht beim Sprechen, aber seine Stimme klang abweisend. Er ging in die Speisekammer und tauchte mit einem Glas Milch wieder auf, trank schnell und stellte das Glas in das Spülbecken. Dann wandte er sich ab, um zu Bett zu gehen.
Kitty rang mit ihrer Wut. »Glaubst du, das füllt mich restlos aus?«
Eine Art Haß regte sich in ihr. Sie war so lange aufgeblieben, hatte auf ihn gewartet, und er trank einfach seine Milch aus, gab ein paar Plattheiten von sich und ging schlafen. Nicht einmal reden würde er noch mit ihr, solange sie nicht zuckersüß war und die Freundlichkeit in Person. »Du liebst mich nicht ... Ich bin nur deine Gefangene!«
Er prallte zurück und starrte sie zornig an. »Manchmal dürste ich so vor Lebenshunger, daß ich spüre, ich könnte alles tun, alles sein«, fuhr sie fort, »aber das ganze Leben, das ich habe, ist das Kontingent, das du mir zuteilst. Was für ein Dasein ist das, meinst du wohl?«
»Sprich nicht so laut, Kitty«, zischte Leonard und deutete auf die Tür der Mädchenstube.
Kitty senkte die Stimme. »Unterbrich mich nicht, Leonard. Warum mußt du mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe? Kannst du dir nicht ausrechnen, wie langweilig das für mich ist?«
Sie hatte wieder lauter gesprochen; ihr Herz raste vor Empörung. Sie brauchte seine Liebe, aber sie bestand darauf, daß er sie ernst nahm. Ihre Gefühle überwältigten sie. Wenn sie doch kühl bleiben, sich beherrschen könnte! Es war still geworden. Leonard runzelte mißmutig die Stirn. »Nun, Madam«, sagte er schließlich in ernstem Ton, »da du völlig erschöpft zu sein scheinst, möchte ich lediglich bemerken, daß du die Dinge arg verzerrt siehst. Ich will nur zuversichtlich sein, dich das letzte Mal in dieser Art reden gehört zu haben.«
Festen Schritts verließ er den Raum.
Ihr brannten die Tränen in der Kehle. »Er hat kein Wort von dem begriffen, was ich gesagt habe«, teilte sie der Teekanne mit und setzte sie im Spülbecken ab. Sie nahm die Lampe hoch, regulierte die Flamme und folgte ihrem Mann. Elektrisches Licht, wie sie es von zu Hause kannte, war viel angenehmer. Sie wünschte, sie könnten sich eine Leitung legen lassen; aber er würde einen derartigen Vorschlag wahrscheinlich als eine ihrem »Zustand« entsprungene Marotte abtun.
Würde es immer so sein? Weil sie gedemütigt worden war, fühlte sie sich im Unrecht. Wenn ein Fünkchen Wahrheit in ihren Worten gesteckt hätte, hätte er ein Einsehen haben müssen.
Später, als sie beide im Bett waren, lauschte sie angespannt in die Dunkelheit. Auch er schlief noch nicht. Er lag stocksteif da und hatte ihr den Rücken zugekehrt.
»Es tut mir leid, Leonard ... Kannst du mir verzeihen?«
»Natürlich verzeihe ich dir, Kitty. Du bist müde. Frauen in deinem Zustand sind oft überreizt. Lege dich künftig rechtzeitig schlafen.«
»Ja, gut ... Wir brauchen ein neues Mädchen, da uns Annie jetzt verläßt«, sagte sie. »Ich bin sicher, wir könnten aus dem Mädchenwaisenhaus umgehend jemand bekommen.«
»St. Bride’s?« murmelte Leonard schläfrig. »Warum nicht?«
Wieder trat Stille ein. Seine Atemzüge wurden tiefer. Er war eingeschlafen.
Jaja, Kitty, sagte sie sich, nun weißt du Bescheid. Hübsches Stück Selbstaufgabe, nicht einmal das zieht mehr. Weine nicht, du Närrin. Die Verzweiflung schüttelte sie, doch sie müßte schlafen; am nächsten Tag war Schule.
Rund zwölf Meilen von Tubbercullen entfernt, im Schlafsaal des Waisenheims, lag Eileen wach und fand keine Ruhe. Am nächsten Tag wurde sie sechzehn; bald würde die Schwester eine Arbeitsstelle für sie ausfindig machen, und sie würde St. Bride’s verlassen, um in die Welt zu ziehen. Wie ihre Freundin Kathleen, die im Vorjahr abgegangen war, ihr aber nicht mehr schrieb. Einer Ewigkeit gleich streckten sich die zurückliegenden sechzehn Jahre in die Vergangenheit, und die Zeit blieb nicht stehen; noch einmal sechzehn Jahre, dann war sie alt. Sie wäre froh, weggehen zu können, auf eigenen Füßen zu stehen. Schließlich standen die Dinge in St. Bride’s nicht mehr sehr günstig für sie, seitdem Ruth O’Regan Streit mit ihr hatte. Alle Mädchen schnitten sie, das machte den Aufenthalt im Waisenheim unerträglich, zumal Kathleen fort war. Begonnen hatte alles im Herbst, an einem Montagmorgen, während des Religionsunterrichts für die älteren Mädchen, wie ihn die Schwester jeden Montag ab halb zehn erteilte. Zu dieser Zeit waren Messe und Frühstück beendet, die Kleinkinder abgefüttert und frisch gewindelt. Ein Baby, das man kürzlich eingeliefert hatte, war Eileen anvertraut worden. Das hatte Ruth eifersüchtig gemacht, weil die Wahl nicht auf sie gefallen war. Als ob jemand, der alle Sinne beisammenhatte, ausgerechnet eine wie Ruth auswählen würde.
An jenem Montagmorgen hatte Eileen auf der zweiten Bank gesessen, hinter Alice Shortt und Ruth, und mit einem Ohr dem Gebrabbel von Schwester Rosalie über die Hauptwerke der Barmherzigkeit und die Sieben Todsünden gelauscht. Der Platz neben ihr war leer gewesen, weil die Schwester ihre Nachbarin Kathleen auf einen Botenweg geschickt hatte. Plötzlich merkte Eileen, daß Ruth Süßigkeiten naschte; ihr Unterkiefer bewegte sich leicht, und wenn sie schluckte, bebte ihr Hals. Eileen hatte nichts Süßes mehr gegessen, seitdem Vater Murphy zu ihnen gesprochen und Bonbons verteilt hatte. Damals war es ihr gelungen, zwei zu erwischen, aber das eine, das sie unter ihrem Kopfkissen versteckt hatte, war gestohlen worden. Sie knuffte Ruth sanft in die Seite. »Gib mal eins her.«
»Hau ab!«
Schwester Rosalie richtete den Blick auf Eileen, die sofort eine nachdenkliche Miene aufsetzte. Sie konnte die Schwester ganz gut leiden und wollte keinen Ärger haben. Manchmal studierte sie das Gesicht der Nonne und fragte sich, wie es wohl früher ausgesehen haben mochte, als es noch jung gewesen war und nicht so gedunsen. Ihre Wangen waren ganz mit roten Äderchen besprenkelt, und ihr großer Mund erinnerte Eileen an ein Pferdemaul; denn sie hatte fleischige Lippen und große Schneidezähne.
»Hast du geschwatzt, Eileen Ward?«
»Nein, Schwester.«
Die Nonne schürzte die Lippen. »Viel wirst du von hier vielleicht nicht mitnehmen, aber mir wäre der Gedanke angenehm, daß du eine kleine Ahnung von deiner Religion hast. Nun, welches sind die Sieben Todsünden?«
Der Stoff saß bei Eileen ziemlich gut. »Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Trägheit des Herzens.« Sie leierte es wie aufgezogen herunter.
Ruth meldete sich. Sie hatte ihr Bonbon aufgelutscht. »Was ist Wollust, Schwester?«
Schwester Rosalie sah sie an und seufzte. »Sünden des Fleisches, Ruth O’Regan. Sachen machen, die man mit Männern nicht machen sollte!«
Ein allgemeines hörbares Einatmen folgte, dann Gekicher. »Ihr habt keinen Grund, so blöde zu grinsen«, sagte Schwester Rosalie. »Es war die Art von Sünde, der es die meisten zu verdanken haben, daß sie jetzt hier sind.« Sie wurde rot. Mit dem Mittelfinger der rechten Hand schlug sie den Takt auf dem Pult, kurz und scharf klopfte der kurze, harte Nagel.
»Laßt-euch-nicht-mit-einem-Mann-ein-ehe-ihr-mit-ihm-verheiratet-seid!«
Die Mädchen wechselten Blicke, grienten verstohlen. Das war eine Formel, die man der Schwester mit Sicherheit entlocken konnte, wenn man sie ordentlich stimuliert hatte. Eileen zählte, wie oft es auf der Platte pochte. Sechs Klopfer, stellte sie fest. Manchmal waren es nur fünf. Sie hätte sich ausschütten können vor Lachen, senkte den Kopf und versuchte das Wiehern, das sich Luft verschaffen wollte, zu unterdrücken. Als sie den Blick hob, waren die Augen der Schwester auf sie gerichtet.
»Hinaus, Eileen Ward, und komm mir nicht zurück, bis du gelernt hast, dich zu benehmen.«
Eileen erhob sich wütend und ging zur Tür. Diese Ruth da war an allem schuld. Sie warf die Tür ins Schloß, daß es krachte. Die Schwester schickte ihr Alice nach, die sie zurückholte, damit sie die Tür leise schließe.
»Kehre das Laub auf dem Fahrweg zusammen«, sagte die Schwester zornig. »Das hilft dir vielleicht, dich abzukühlen.«
Später, als Eileen dabei war, das welke Laub zusammenzufegen, kamen Ruth und Alice.
»Deine Mutter war ‘ne Hure«, erklärte Ruth gesprächig, und Alice grinste erwartungsvoll. »Die Schwester sagt, daß sie eine war.«
»Das hat sie nicht getan!« entgegnete Eileen heißspornig.
»Das hat sie wohl getan; sie sagt, sie war eine Prostituierte!«
»Dann muß es eben deine Mutter gewesen sein, von der sie gesprochen hat.«
Ruth warf den Kopf zurück. »Meine Eltern waren verheiratet; sie wurden getötet.«
Eileen schwang den Besen gegen Ruth. Das Mädchen wich aus, rannte den Weg hinunter und rief Beleidigungen aus. Auch Alice machte sich davon.
Eileen drängte die Tränen zurück. Ob die Schwester das wirklich gesagt hatte, überlegte sie. Sie hätte Ruth umbringen können.
Schwester Rosalie trat heraus, die Perlen des Rosenkranzes klapperten an ihrer Seite. »Ich habe es satt, dich beim Balgen zu erwischen, Eileen. Wenn du hier fertig bist, gehst du in die Küche und meldest Schwester Margaret, ich schicke dich zum Helfen.«
»Es ist nicht fair«, wandte Eileen ein.
»Wage keine Widerrede!« entgegnete Schwester Rosalie. Die stumpfe Röte kehrte in ihr Gesicht zurück. »Setze deine Arbeit fort, und dann geh in die Küche, wenn du Mittag etwas zu essen haben willst.«
Eileen gehorchte. Es war nicht fair, aber sie gehorchte. Schwester Margaret war dick und plump. Gewöhnlich hatte sie schmutzige Fingernägel. Sie bohrte in der Nase und rollte das Produkt die Röcke ihrer Nonnentracht runter. Eileen mochte sie. Sie wußte, daß die Nonne ebenfalls Dampf vor Schwester Rosalie hatte und stets danach trachtete, auf die Toilette zu entkommen, wo sie in Ruhe die Zeitung lesen konnte. Sie war zwar stets einige Tage alt, aber das störte Schwester Margaret nicht.
Während Eileen Kartoffeln schälte, überlegte sie, ob an der Geschichte etwas Wahres sein könnte. War ihre Mutter wirklich eine schlechte Frau gewesen? Auf dem Küchenbord prangte eine alte Büchse, die ihr, solange sie zurückdenken konnte, geholfen hatte, sich ein Bild vom Gesicht ihrer Mutter zu machen. »Oatfields Reine Süßigkeiten« stand dort unter einem Frauenporträt, »Mädchenmischung«. Es war wichtig, rein zu sein. Schwarze Verzweiflung senkte sich herab. Wenn ihre Mutter schlecht gewesen war, dann war sie selbst eine Sünderin, weil sie sich nach ihr sehnte.
Als Schwester Margaret sagte, sie könne gehen, sah sie nach Ursula. Das Baby war schon wach und schrie. So wechselte sie die Windeln und gab ihr die Flasche, nachdem sie die Milch in heißem Wasser angewärmt hatte. Der Gummipfropfen war porös, und die Milch wurde so reichlich in Ursies Mund gepumpt, daß das Kind manchmal würgte und sabberte. Eileen beobachtete, wie ekstatisch sie beim Füttern die kleinen Zehen verkrampfte. Ein säuerlicher, käsiger Geruch ging von dem Baby aus. Schweißperlen bedeckten die kleine Stirn. Warum schwitzt sie jedes Mal, wenn sie gefüttert wird? Wie konnte man sich wegen Milch und einer alten braunen Bierflasche so erhitzen und aufregen.
Später, nach dem Abendessen, das aus Tee und Margarinebrot bestand, spielte Eileen ein Weilchen mit Ursie, legte sie trocken und fütterte sie noch einmal, wusch die Windeln aus, die sie an dem Tag verwendet hatte, dann stahl sie sich in das Klassenzimmer, in dem am Morgen die religiösen Unterweisungen stattgefunden hatten. Lang und schmal war der Raum, ausgestattet mit mehreren Reihen von Bänken, die auf die nackten Dielen des Fußbodens geschraubt waren. An der hinteren Wand hing ein Bild des Heiligen Herzen Jesu. Es stellte Jesus dar, der den Blick zum Himmel hob und auf sein mit Dornen gespicktes Herz deutete. Eine kleine rote Lampe brannte unter dem Bild, und darunter befand sich der Bücherschrank, der einmal braun gewesen war. In dem roten Dämmerlicht suchte Eileen zwischen den Schulbüchern nach einem Lexikon, das sie aufschlug und in dem sie das gewünschte Stichwort fand: »Prostituierte. Eine Frau, die ihren Körper gegen Bezahlung zum Geschlechtsverkehr anbietet.« Sie klappte das Buch zu und stellte es an seinen Platz zurück, dann setzte sie sich auf eine Bank, spürte das kalte Eisenbein an ihrer Wade, und die Worte brannten wie Feuer: »Die ihren Körper gegen Bezahlung zum Geschlechtsverkehr anbietet.«
Kathleen hatte ihr von Geschlechtsverkehr erzählt, wie die Männer in einen eindrangen und wie der übelste Typ Frauen sie es für Geld machen ließen. War ihre Mutter so eine gewesen, die einen Mann, überhaupt jeden Mann, wenn er nur zahlte, sein abscheuliches Ding reinstecken ließ? War ihr Vater einer von diesen Dreckskerlen gewesen? So einer wie der alte Mick, der früher die Pferde versorgt hatte und hinter dem Pflug hergegangen war. Sie erinnerte sich an das Aufleuchten seiner wäßrigen Augen, an seine nassen Küsse und daran, wie sie weggerannt war, als er ihr den Rock hochzuheben versucht hatte. Damals war sie zwölf gewesen. Sie hatte sich gescheut, irgendetwas der Schwester zu verraten, aber Mick war dabei überrascht worden, wie er bei einer anderen das gleiche getan hatte, und rausgeflogen. Sie erinnerte sich auch, wie seltsam es sich angefühlt hatte, wenn er mit seiner Hand über ihre gerade erst wachsenden Brüste gefahren war.
Sie ließ den Kopf auf die rauhe Tischplatte mit den eingeritzten Initialen und Daten sinken und wußte, daß es niemanden gab, zu dem sie gehörte oder je gehört hatte. Die Mutter auf der Bonbonbüchse existierte nicht. Vielmehr war sie wahrscheinlich irgendeine grobe und schmutzige Frau gewesen, die sie nicht schnell genug hatte loswerden können, und ihr Vater war vermutlich ein geifernder, häßlicher Mann wie der alte Mick gewesen. War sie selbst nicht jemand, der besser ungeboren geblieben wäre? In dem Schrank hinter der Wandtafel stand eine große Flasche mit Tinte, die dazu gebraucht wurde, die Tintenfässer aufzufüllen. Wenn sie die trank, würde es sie vergiften. Damit wäre die ganze Sache ein für allemal erledigt. Die Tinte war kalt und schmeckte nach Metall. Sie stürzte sie schnell hinunter und wartete darauf zu sterben. Wie lange es wohl dauern würde? Die anderen Mädchen zogen sich in den Schlafsaal zurück und würden sie vermissen. Im Magen war ihr kalt und übel. In ihrem Mund haftete ein Geschmack von Kreide.
Sie hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde. »Jesus, Maria un’Joseph!«
Eileen drehte sich um und sah Kathleen, die eine Hand vor den Mund preßte und sie anstarrte. »Was hast du gemacht – um Jesses willen?«
Eileen betrachtete die schwärzlichen Spritzer auf ihrer Kleidung. »Geh weg, Kathleen; ich versuche, mich zu vergiften.«
Für einen Augenblick war es still.
»Wülste aufstehn un’ das rausbringen!« Angst war in Kathleens Augen getreten. Sie kniete neben Eileen nieder und prüfte die Flasche. »Du hast alles ausgetrunken ... Ich hole gleich die Schwester.«
»Tu das nicht!«
Eileen spürte, wie sich ihr Magen hob. Dann würgte sie und spie Tinte und ihr Abendessen auf den Fußboden. Zweimal übergab sie sich noch; der saure Geruch des Erbrochenen lag im Raum. Kathleen, die inzwischen zum Kinderzimmer gerannt war, um Lappen zu holen, beseitigte die Unordnung. Ihrer Freundin warf sie ein feuchtes Handtuch zu, und Eileen rieb sich verlegen die Tinte aus dem Gesicht; dann rubbelte sie auf ihrer braunen Schürze, doch die Flecken dort ließen sich nicht entfernen.
»Warum wollteste denn sterben?« erkundigte sich Kathleen, als sie fertig aufgewischt hatte. Tränen standen ihr in den Augen, und sie sah Eileen vorwurfsvoll an.
»Arrah ... Ich hab so über meine Mutter nachgedacht ...«
»Wie deine Mutter?«
»Schwester Rosalie sagte, sie war ‘ne Prostituierte.«
»So was hat sie nie gesagt.«
»Na, Ruth O’Regan sagt aber, sie hat.«
Kathleen prustete verächtlich. »Was weiß diese dumme Kuh denn überhaupt? Warte man, wenn ich die morgen erwische ... Der trete ich die Kaldaunen zum Hintern raus. Dein Glück, daß ich heute Abend im Kinderzimmer Dienst hatte. Wenn dich eine von den anderen gefunden hätte ...« Eileen brach in Tränen aus. »Oh, Kathleen, ich dachte, daß ich niemand hätte, dabei hatte ich die ganze Zeit doch dich!«
»Klar hast du mich.«
»Und so soll es immer bleiben, ja?« fragte Eileen.
»Klar ... Wie fühlst du dich jetzt?«
»Mittelmäßig.«
»Na, dann los.«
Sie folgte ihrer Freundin durch den Korridor, bemerkte, wie dürr sie war und wie komisch sie beim Laufen die Beine schmiß, wie eine Art seltsames Insekt. Sie wußte, daß Kathleen keinem Menschen die »Kaldaunen zum Hintern« raustreten konnte; sie war zerbrechlich und hatte Mühe, Gleichgewicht zu halten. Ein starker Windstoß würde sie umwerfen.
Wegen der Tintenflecke auf ihren Sachen machte man ihr die Hölle heiß, aber die Schwester entschied schließlich zugunsten der Angeklagten, nachdem Eileen erklärt hatte, sie habe ein Gebet aufschreiben wollen, als ihr plötzlich schlecht geworden sei und sie die Tinte verschüttet habe.
»Und gegen die Tinte in den Tintenfässern hattest du was?«
»Sicher, die waren alle so gut wie leer.«
Eileen lauschte auf die Geräusche, die von den Schläfern um sie her ausgingen, die sanften Atemzüge, das gelegentliche Schnarchen, das verrückte Zähneknirschen, das Nuala Dooley hervorbrachte. Kathleen hatte manchmal im Schlaf gesprochen. Wo mochte sie jetzt stecken, und warum schrieb sie nicht? Eileen konnte nicht schlafen. Eine namenlose Unruhe erfüllte sie, und sie gab sich wieder ihren Erinnerungen hin.
Nicht lange nach dem Vorfall mit der Tinte war Kathleen Hals über Kopf, außer sich vor Aufregung, in das Kinderzimmer gestürmt. »Rate, was passiert ist! Schwester hat ‘n Job für mich.«
Eileen stellte die Flasche ab, ließ Ursie »Bäuerchen« machen und versuchte ihr Herz zu beschwichtigen. »Geh nicht weg. Bitte sie, daß du noch eine Weile hierbleiben darfst.«
»Oh, Eileen ... Es is’ aufrejend. Außerdem kommste bestimmt selber bald raus.«
Eileen betrachtete das Gesicht ihrer Freundin, die langen, blonden Wimpern, die kleine, gerade Nase. »Wo ist es denn?«
»Athlone. Bei einer Zahnarztfamilie. Tür öffnen, saubermachen. Ein Klacks. Wollen Sie bitte im Wartezimmer Platz nehmen, gnädige Frau? Eileen, ich kann dir sagen, das wird großartig sein. Sixpence wöchentlich un’ Unterkunft un’ freie Kost. Was sagste nun?«
Eileen überschlug es im Kopf. »Nach einem Jahr hast du ein ganzes Pfund. Und mehr. Hast du nicht ‘n Bleistift da?«
Kathleen lachte. Dabei entblößte sie ihre kleinen, ebenmäßigen Zähne. »Nee, hab ich nich’. Na los, freu dich schon. Ich schreibe gleich, wenn ich angekommen bin.«
Eine Woche später war Kathleen von einem Einspänner abgeholt worden. Beim Abschied hatte sie Eileens Geschenk getragen, eine fast neue, rote Baskenmütze, die aus der letzten Kleidersendung der St. Vincent de Paul Society für das Waisenhaus stammte. Sie hatte fröhlich gewinkt, bis der Wagen durch das Tor gefahren war.
Eileen seufzte in der Dunkelheit. Kathleens erster Brief fiel ihr ein. »Entschuldige, daß ich mich nicht eher gemeldet habe«, hatte sie in ihren großen, sorgfältigen Zügen geschrieben. »Ich habe main eignes Zimmer hier. Die Familje ist anständig aber es gibt eine Menge Arbeit. Sonntags habe ich frei. Letzten Sonntag habe ich einen Soladen kennengelernt. Er ist sehr net zu mir. Wir waren im Kihno. Sage es nicht Schwester. Schreib bitte bald. Du fehlst mir schrecklich. Tschüß, Kathleen.«
Eileen hatte sich die größte Mühe gegeben, sauber zu schreiben.
»Liebe Kathleen,
danke für dainen Brief. Die Schwester sagt ich soll dir sagen mit dem Mann nicht auszugehn. Sie lahs dainen Brief ehe ich ihn kriegte. Sie sagt daine Rechtschreibung ist schlecht. Bitte pas auf dich auf. Ich hoffe, sie nehmen dich nicht zu sehr ran.
Tschüß, Eileen.«
Den Brief hatte sie Schwester Rosalie gegeben, die ihn einwerfen sollte. Die Nonne hatte ihn seufzend durchgelesen. »Wäre er an jemand anders gerichtet, würde ich ihn noch einmal abschreiben lassen. Wenn du wieder Post von ihr bekommst, notiere deine Antwort zunächst mit Bleistift und zeige sie mir.«
Kathleen hatte jedoch nur noch einen Brief geschickt, in dem sie über Müdigkeit klagte und den Soldaten nicht wieder erwähnte. Eileen schrieb noch einmal, doch Kathleen reagierte nicht. Neulich hatte Eileen Schwester Rosalie gefragt, warum ihre Freundin wohl schweige. Die Schwester hatte sich nur zornig abgewandt.
Der Streit mit Ruth verschärfte sich, als Ruth Ursula mit einer Nadel pikste; sie sagte, sie habe es getan, weil sie es nicht mehr ertragen könne, daß der dreckige, kleine Balg jedesmal zu plärren anfange, wenn sie in seine Nähe komme. Eileen meldete das Vorkommnis der Schwester, die Ruth einen Schlag ins Gesicht versetzte und ihr drohte, sollte sich so etwas wiederholen, rufe sie die Polizei. Ruth lief von einer zur anderen und erzählte allen, daß Eileen sie verpetzt hatte. Seitdem wollte niemand mehr mit ihr sprechen. Aber wenn sie jetzt nur einschlafen könnte, würde sie vielleicht wieder schön von der Erzherzogin träumen.
Außer Ursie und ihrer eingebildeten Mutter auf der Bonbondose war die Erzherzogin die einzige Person, die Eileen ins Herz geschlossen hatte. Ein Bild von ihr, das aus einer alten Zeitung stammte, bewahrte sie zwischen den Seiten eines Schreibheftes auf. In der Zeitung waren einige Kleidungsstücke verpackt gewesen, die die St. Vincent de Paul an das Waisenheim geschickt hatte. Zweimal jährlich trafen solche Kleidersendungen ein, und die Bündel wurden in der Diele auf dem Fußboden abgestellt. Den Mädchen fiel die Aufgabe zu, sie unter Kontrolle der Schwester zu verteilen. Als die letzte Spende angekommen war, hatte Eileen geholfen, die Bündel aufzuschnüren und die Kleidungsstücke zu sortieren. Die alten Zeitungsbogen hatte sie sorgsam zusammengefaltet und überlegt, wo sie für Schwester Margaret versteckt werden könnten. Dabei war ihr das Foto eines jungen, schönen Mädchens aufgefallen. Später hatte sie lange das liebliche Gesicht betrachtet und darüber nachgesonnen, was es so anziehend mache. Es war offen und sanft und seine Schönheit nahezu überwältigend. Es gab keine derartigen Gesichter in St. Bride’s.
Doch der Text unter dem Bild hatte ihr einige Schwierigkeiten bereitet. So war sie damit zu Schwester Margaret gegangen, die den Wortlaut langsam vorgelesen hatte: »Die Erzherzogin Tatjana Nikolewna aufgenommen in ...« Die Zeitung war zerrissen, und der Schlußteil des Textes fehlte.
»Wer ist sie?« hatte Eileen ehrfurchtsvoll gefragt. Die einzigen »Erze«, von denen sie je gehört hatte, waren Erzengel und Erzbischöfe.
»Sie is’ ‘ne Ausländerin, da bin ich sicher.« Schwester Margaret hatte die Lippen geschürzt und nachdenklich die Stirn gerunzelt. »Vielleicht isses ‘ne Ruhsin. Diese ruhsischen Prinzessinnen haben alle ein Erz vor dem Titel.« Eine Prinzessin also war das schöne Mädchen! Eileens Herz hatte gerast.
Abend für Abend nahm sie vor dem Schlafengehen das Bild heraus und sah es sich an. Manchmal träumte sie von ihr. In den Träumen pflegte die Erzherzogin zu lächeln und führte sie zu einem Palast, der mit Gold und Edelsteinen gefüllt war. Auch an diesem Abend grübelte Eileen, wie zauberhaft das Leben dieser Prinzessin sein müsse, dann fielen ihr endlich die Augen zu.
Wochen vergingen. Die Osterglocken blühten auf, und die schrecklichen, scharfen Märzwinde wichen einem milderen, regnerischen Wetter. Eines Sonntags sprach Vater Murphy in der Kapelle von den Überfällen, die auf Polizeikasernen verübt wurden. Er bat die Mädchen, für das Land zu beten; ehrenwerte Christenmenschen, sagte er, die bestrebt waren, ihrer Arbeit nachzugehen, wurden von feigen Halsabschneidern ermordet, und zu ihrer Entschuldigung führten die Mörder an, daß sie es für Irland täten. Als ob diese Verbrechen dem Land irgendetwas einbrächten, außer daß sie seinen guten alten Namen besudelten. Von Schwester Margaret wußte Eileen, daß landauf, landab – vor gar nicht langer Zeit – in einer einzigen Nacht hundertfünfzig Kasernen niedergebrannt worden waren. Doch alles, was außerhalb des Waisenheims geschah, kam ihr unwirklich vor, besonders dann, wenn es sich nicht in unmittelbarer Nähe vollzog. Und Schwester Margaret hatte gesagt, daß aus England neue Polizisten einträfen, die dem Treiben ein Ende setzen würden.
An dem Donnerstag, der den mahnenden Worten Murphys folgte, schickte Schwester Rosalie nach Eileen. Eileen ließ die Kartoffeln, die sie geputzt hatte, in der Spüle liegen, wischte sich die Hände ab und eilte durch den Korridor zum Büro. Dabei überlegte sie fieberhaft, welche Gründe die Schwester haben könnte, sie rufen zu lassen. Eigentlich, fand sie, konnte es nur einen Grund geben. Sie klopfte, trat ein und betrachtete ängstlich die Nonne, die an ihrem Tisch saß, den Federhalter in der Hand, und den Blick geistesabwesend auf einige Zahlen gesenkt hielt. Eileen trippelte hin und her.
»Laß um Himmels willen das Zappeln sein, Eileen, und setze dich.«
Eileen überlegte erstaunt, warum das Gesicht der Schwester rot und geschwollen war. Sie mußte geweint haben. Ihre Augen waren entzündet, und sie hatte einen harten Zug um den Mund.
»Ich habe eine Stelle für dich – bei einem Lehrer und seiner Frau.«
Eileen starrte Schwester Rosalie an. Das ganze letzte Jahr hatte sie mit diesem Augenblick gerechnet, doch jetzt, da er gekommen war, fühlte sie sich benommen, als ob von einer anderen die Rede wäre. Dann regte sich Angst.
»Er ist der Direktor der Nationalschule in Tubbercullen, und sie unterrichtet ebenfalls«, fuhr die Schwester fort. »Sie hat kürzlich ein Kind verloren und braucht dringend Hilfe. Der Name ist Mr. und Mrs. Delaney. Krame also deine Sachen zusammen; Sonnabend schicken sie jemand, der dich abholt.«
Das sind ja nur zwei Tage, überlegte Eileen. »Aber ... was wird aus Ursie, Schwester?«
»Für Ursula ist gesorgt.«
»Sie ist noch sehr klein, Schwester. Vielleicht sollte ich ein bißchen länger bleiben?«
»Nein. Du bist sechzehn. Wir füttern hier ohnehin schon mehr als genug Esser durch.«
Eileen ließ den Kopf hängen.
»Du wirst Kost und Logis haben«, teilte ihr die Schwester in freundlicherem Ton mit. »Und sechs Pence die Woche für den Anfang ... Was hast du von dir aus dazu zu sagen? Ein Dankeschön stände wohl außer Frage, nehme ich an.«
»Danke, Schwester.«
»Ich hoffe, du weißt noch, wie ihr euch zu benehmen habt, besonders, was wir euch über den Umgang mit Männern beigebracht haben.«
»Ja, Schwester.«
Die Nonne musterte Eileen einen Augenblick lang scharf. Dabei biß sie die Lippen zusammen, wie es ihre Art war, wenn sie noch etwas auf dem Herzen hatte. »Du kannst jetzt gehen, aber halte dich morgen bereit, mich nach St. Jude’s zu begleiten, gleich nach dem Mittagessen. Es ist an der Zeit, daß du mit eigenen Augen siehst, worüber wir gesprochen haben.«
Eileen kehrte an ihre Arbeit zurück. Sie putzte die Kartoffeln fertig, wischte den Fußboden der Küche, dann ging sie hinaus, um Ursie trockenzulegen und zu füttern. Das Baby strampelte mit den dicken Beinchen, die sich wie Kolben bewegten, und Eileen küßte den kleinen runden Bauch, bevor sie an der Windel die Sicherheitsnadel zudrückte. Die ganze Zeit empfand sie eine stürmische Aufregung, die von Furcht überlagert war.
»Ich will mein Bestes tun, Gott, aber du wirst dich um mich kümmern müssen.«
Doch weshalb wollte die Schwester sie zur St. Jude’s bringen? Sie wußte, die Nonnen leiteten diesen Betrieb, die einzige Wäscherei in der Stadt, aber sie wußte auch, daß es zugleich ein »Zufluchtsort« für gestrauchelte Mädchen war. Sie halfen beim Waschen und entbanden dort. Viele der Säuglinge landeten später in St. Bride’s. Wahrscheinlich war Ursie eine von ihnen, obwohl die Schwester dergleichen natürlich nie angedeutet hatte.
Der nächste Tag war ein Freitag, und halb zwölf wurde gegessen. Die Kartoffeln waren ausnahmsweise ziemlich mehlig; die der letzten Zeit hatten Eileen an wässerige Seife erinnert. Ein nebelgleicher Dampfschwaden lagerte im Refektorium vor dem Gemälde der heiligen Jungfrau Maria.
Sie hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen. Was sollte werden, wenn Mr. und Mrs. Delaney mit ihr nicht zufrieden waren und sie zurückschickten? Nein, das wäre schrecklich. Und warum brachte die Schwester sie zur St. Jude’s? Vielleicht wollte sie ihr zeigen, wie ordentlich gewaschen wurde? Alice Shortt kam ebenfalls mit. Auch für sie hatte die Schwester eine Stelle gefunden, bei einem Ladenbesitzer in der Stadt. Gedankenverloren aß Eileen ihren Milchreis und war wütend, als sie merkte, daß sie ihn genußlos verspeist hatte. Gewöhnlich gab es Milchreis nur an Sonntagen.
Nach beendetem Mahl holte sie ihren Mantel aus dem Schlafsaal. Er war ihr zu groß, und in den Taschen klafften Löcher. Sie war noch nicht dazu gekommen, sie zu stopfen, und nahm sich vor, es zu besorgen, sobald sie zurückkehrte. Um Ursie kümmerte sich an diesem Nachmittag eine andere.
Halb zwei verließ die Schwester ihr Büro. Sie trug ihren schwarzen Umhang und winkte die beiden Mädchen zur Haustür hinaus in den wartenden Zweispänner. Ihre Miene erschien Eileen noch düster, aber verweint sah sie nicht mehr aus. Christy, der Mann für alles, der den alten Mick abgelöst hatte, kutschierte zum Tor hinaus auf die Hauptstraße. Ein Auto fuhr vorbei, und das Pferd legte die Ohren an und scheute in den Strängen. Christy zügelte es, bis das Auto außer Hörweite war.