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Frau (45) sucht Märchenprinz für Neuanfang Polly hat genug! Schluss mit dem eintönigen Hausfrauendasein im irischen Vorort … Ein neues Abenteuer muss her – und das beginnt für Polly mit einer Kontaktanzeige in einer Zeitung. Denn für einen Märchenprinzen ist es auch mit 45 noch nicht zu spät, oder? Und tatsächlich, ein geheimnisvoller Witwer namens Keith meldet sich mit einem Brief, der ihr Herz höherschlagen lässt. Einziger Haken: Er lebt in London. Aber für die Chance auf ein Happy End ist Polly bereit, ihre grüne Insel zu verlassen. In London angekommen, muss sie jedoch feststellen, dass Keith von seinem Glück noch nichts weiß … Wird sie das Herz dieses verschlossenen Mannes erobern? Oder kehrt sie mit einem Koffer voller Träume und einem gebrochenen Herzen nach Irland zurück? Ein warmherziger und humorvoller Liebesroman der irischen Bestsellerautorin für Fans von Liv O'Malley und Nora Roberts!
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Seitenzahl: 478
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Polly hat genug! Schluss mit dem eintönigen Hausfrauendasein im irischen Vorort … Ein neues Abenteuer muss her – und das beginnt für Polly mit einer Kontaktanzeige in einer Zeitung. Denn für einen Märchenprinzen ist es auch mit 45 noch nicht zu spät, oder? Und tatsächlich, ein geheimnisvoller Witwer namens Keith meldet sich mit einem Brief, der ihr Herz höherschlagen lässt. Einziger Haken: Er lebt in London. Aber für die Chance auf ein Happy End ist Polly bereit, ihre grüne Insel zu verlassen. In London angekommen, muss sie jedoch feststellen, dass Keith von seinem Glück noch nichts weiß … Wird sie das Herz dieses verschlossenen Mannes erobern? Oder kehrt sie mit einem Koffer voller Träume und einem gebrochenen Herzen nach Irland zurück?
eBook-Neuausgabe Juli 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »The Seduction of Mrs. Caine« bei Headline, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Muschelherz« im Schneekluth Verlag.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1996 by Mary Ryan
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 für die deutsche Ausgabe by Schneekluth Verlag GmbH, München
Ein Unternehmen der Verlagsgruppe Droemer Weltbild
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © senyumanmu /Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)
ISBN 978-3-98952-982-3
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Mary Ryan
Irland-Roman
Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher
Für Nora
Jäh drängte sich ein Missklang ein
Ermüdet lösten sich die Tänzer aus den Reih’n
Oscar Wilde
»Das Haus der Dirne«
»Wir machen einen Spaziergang im Stadtpark, sobald der Regen etwas nachlässt«, versprach Bernard Whiston, und Herbie, an den die Bemerkung gerichtet war, keuchte voller Vorfreude und wedelte mit dem Schwanz. Bernard sah sich um, weil er sichergehen wollte, dass er alleine war, bevor er sich freimütig im Spiegel über dem offenen Kamin musterte und mit gewohntem Sarkasmus sein Spiegelbild ansprach.
»Du bekommst immer mehr Ähnlichkeit mit einem Geier, alter Junge. Trotzdem könnte es schlimmer um dich stehen! Miller sieht einem Krallenaffen immer ähnlicher, und Warren ist von einem Wiesel kaum noch zu unterscheiden.« (Dies bezog sich auf zwei seiner Freunde, die demselben Club angehörten wie er.) »Geier besitzen immerhin Würde ... und einen gewissen Hochmut. An sie wagt sich keiner so schnell ran ...«
Durch die Terrassentür konnte er seinen Schwiegersohn Keith draußen im Garten herumwerkeln sehen. Sogar bei Regen ging Keith der Gartenarbeit nach. Wie alt ist er jetzt eigentlich, fragte sich Bernard. Mal überlegen ... er war sechsundzwanzig, als er Marguerite geheiratet hat, und das ist dreißig Jahre her. Also ist er sechsundfünfzig ... Bei Zeus, langsam holt er auf! Wenn er nicht aufpasst, ist er unversehens ein Langweiler in mittleren Jahren ...
Bernards Blick fiel auf das Porträt seiner verstorbenen Tochter an der gegenüberliegenden Wand; er dachte an seine Enkelin Mo, die eigentlich Sophie hieß und jetzt in New York für eine Anwaltsfirma arbeitete, mit der er einmal zu tun gehabt hatte. Er gedachte sogar seiner Frau, die sich mit fünfzig von ihm hatte scheiden lassen, nur um im darauffolgenden Jahr zu sterben (wegen Mangel an Aufregung, wie er vermutete). Gelegentlich ließ er sein Leben an sich vorüberziehen. Manchmal kam es ihm eigenartig kurz vor, im Grunde war so wenig geschehen ... Dann wieder erschien es ihm, als würde es bis in die Unendlichkeit zurückreichen.
»Ich bin so alt wie die Sünde«, gestand er Herbie, ein offenes Wort von Hund zu Hund sozusagen. »Aber was soll’s! Zeit ist reine Einbildung! Das Einzige, was wir alle wirklich nötig haben, ist ein bisschen Aufregung.«
Er griff nach seiner Zeitung und setzte sich damit ans Fenster, doch seine Augen wanderten immer wieder zu der Gestalt im Regenmantel draußen im Garten. »Diese Introvertiertheit kann dem Jungen nicht gut tun ... Ich muss mir da etwas einfallen lassen ...«
Die Siedlung erstreckte sich in die Ferne, soweit das Auge reichte, und dahinter erhoben sich die Berge. Polly fragte sich oft, wie die Häuser wohl von oben aussahen. Vermutlich ziemlich geometrisch – in exakten Reihen angeordnete Hundehütten. Manchmal wünschte sie sich, am Rande der Siedlung zu wohnen; dann befänden sich hinter ihrem Haus nur noch von Wolkenmustern überzogene Wiesen, und sie könnte vom Küchenfenster aus die grüne Ebene sehen, die bis zum Fuße der Berge reichte. Ihr Traum von Freiheit beschränkte sich auf solche Ausblicke.
Die Namen der Straßen und Sackgassen der Siedlung gemahnten an Waldidylle: The Grove, The Willows, The Copse. Es gab die Beeches Road, obwohl es zwanzig Jahre her war, seit hier Buchen ihre Zweige ausgestreckt hatten. In den Ashgrove Lawns, der Sackgasse, in der Polly wohnte, standen Doppelhäuser mit kleinen Gärten; manche waren sehr gepflegt, während andere sichtlich unter Kindern und Haustieren zu leiden hatten. Doch alle diese Häuser wirkten wie Zwerge neben dem Willow House in ihrer Mitte, das von der merkwürdigen Atmosphäre einer längst vergangenen Epoche erfüllt schien.
Im inneren Kreis der wuchernden Vorstadt lag das Dorf, ein malerisches Kuriosum, das sich trotz des kürzlich errichteten Einkaufszentrums ein Ambiente des vergangenen Jahrhunderts hatte bewahren können. Der neue Einkaufskomplex war auf einem Brachfeld neben dem alten Kirchhof des Arbeitshauses errichtet worden. Das Arbeitshaus selbst, halbverfallenes Mahnmal früherer Armut, hatte man abgerissen, um Platz zu schaffen für die Pyramide mit der Glaskuppel und den sich selbsttätig öffnenden Türen. Hier gab es auf zwei Etagen die verschiedensten Geschäfte, eine Sporthalle, die sich Fitnesscenter nannte, und ein Café. Aus diesem Gebäude kamen an einem Freitagnachmittag im Februar zwei Frauen; ein Schaudern durchfuhr sie, und sie zogen ihre Schals enger um den Hals, um sich gegen den Ostwind zu schützen. Die eine war Polly, die andere ihre Nachbarin und Freundin Susan O’Brien.
»Polly«, sagte Susie und strich eine rote Haarlocke zurück, die der Wind ergriffen hatte, »kennst du den von der Frau, die das Baby gekidnappt hat?«
»Nein.«
»Fünfzehn Jahre später brachte sie es zurück. Ha ... ha ... Und rate mal, wer es nicht wiederhaben wollte? Ha ha ...« Polly, die mit Susies seltsamem Sinn für Humor wohlvertraut war, lachte zwar, blickte aber ein wenig genervt zum bedeckten Himmel hinauf.
Eigentlich hieß Polly Pauline Caine. Sie und Susie waren Nachbarinnen und bewohnten die Häuser Nr. 14 und 15 von Ashgrove Lawns. In ihrer Sackgasse, die Anschluss an die Hauptstraße der Siedlung hatte, reihten sich etwa dreißig Häuser um einen Wendeplatz.
Nur die Gegenwart von Willow House, das allein auf einem weitläufigen Grundstück stand und mit einem hohen Zaun umgeben war, verlieh Ashgrove Lawns einen Hauch des Ungewöhnlichen.
Die Besitzer von Willow House, die Familie Reeves, hatten einst über das Land geherrscht, auf dem die Siedlung errichtet worden war. Doch dann waren schlechte Zeiten für sie angebrochen, und die letzte ihres Geschlechts, Muriel Reeves, hatte die Ländereien als Baugrundstücke verkauft und einen Teil des beträchtlichen Erlöses in die Renovierung des Herrenhauses gesteckt.
Manchmal dachte Polly an den Tag ihres Einzugs in Ashgrove Lawns zurück; damals, vor zwanzig Jahren, hatte sie wenig Selbstbewusstsein besessen, denn ihre zweideutige Position als Nachfolgerin von Martha, Rorys erster und einzig rechtmäßiger Ehefrau, war ihr überdeutlich bewusst gewesen. Susie, die nebenan wohnte, hatte ihre Ankunft bemerkt und ihr immerhin noch zwei Stunden Zeit gelassen, bevor sie an die Tür klopfte.
»Willkommen in Arkadien«, hatte sie gesagt und Polly ein Glas selbst gemachter Orangenmarmelade überreicht. Später, als sie zusammensaßen und sich zwei Gläser Sherry genehmigten, gab Susie Polly ein paar Tipps im Hinblick auf die anderen Nachbarinnen. »Diese Laura Flanagan an der Ecke brauchst du überhaupt nicht zu beachten, genauso wenig wie die ach so vornehme Dame in dem Riesenkasten gegenüber ...«
Polly hatte Laura Flanagan bald kennen gelernt; sie wohnte in einem der drei freistehenden Häuser am Ende der Sackgasse, wo diese in die Hauptstraße mündete. Laura war die nicht mehr ganz taufrische Witwe eines Steuerberaters und gab sich der Illusion hin, das gesamte Universum kreise nur um sie. Polly hatte auch die Bekanntschaft von Muriel Reeves gemacht, der reservierten, geheimnisvollen jungen Frau, die auf der anderen Straßenseite in Willow House wohnte, die letzte Angehörige der alteingesessenen Landbesitzerfamilie. Eines Tages war sie ihr im Dorf begegnet, und Susie hatte die beiden einander vorgestellt.
»Muriel ... das ist Polly Caine. Sie wohnt in Nummer 14. Polly, das ist Muriel Reeves ... sie wohnt in Willow House.«
»Ach ja, Rorys neue Frau!« Muriels Stimme war klar und deutlich wie Kristallglas. »Ich hoffe von Herzen, dass Sie sich in Ashgrove Lawns wohlfühlen werden.«
Die Herrin von Willow House besaß eine Aura der Andersartigkeit, als wäre sie mittels einer Zeitmaschine aus der Vergangenheit in die Gegenwart befördert worden. Alles an ihr verriet, dass sie Wert auf ihre Erscheinung legte: ihre Stimme, ihre Haltung, ihre strenge Frisur – sie hatte ihre blonden Haare nach hinten gekämmt und zu einem Knoten aufgesteckt –, ihre makellose Kleidung; vor allem aber ihr korrektes Benehmen, geradezu überkorrekt in einer Zeit der Zwanglosigkeit. Polly hatte sich anfangs von ihr eingeschüchtert gefühlt, aber sie hatte sich leise bedankt und erwidert, wie gut ihr der Blick von ihrem Fenster auf Willow House gefiele. »Wenn ich morgens hinausschaue, habe ich immer das Gefühl, als hätte ich eine Reise in die Vergangenheit gemacht ... Es verleiht der ganzen Straße eine wunderbare Atmosphäre ...«
Dann war Polly rot geworden und hatte sich gefragt, ob sie womöglich zu überschwänglich gewesen sei. Das Schwärmen lag ihr eigentlich gar nicht, aber sie hatte ihre Worte durchaus ernst gemeint. Sie war auf dem Land aufgewachsen, als Kind hatte ihr nichts den Blick auf den Horizont verstellt, und als Studentin hatte sie in einem großzügigen, wenn auch altersschwachen georgianischen Haus gewohnt, wo sie sich mit anderen Studentinnen eine Wohnung teilte. Nur Rory und Susie und Willow House versöhnten sie mit der Sackgasse. Früher hatte sie stets lautstark ihre Abneigung gegen die Vorstadt bekundet: »In so eine Hundehütte ziehe ich nicht, nein danke ... Ein bisschen Luft zum Atmen, ein bisschen Ambiente oder ihr könnt es vergessen ...«
Das war natürlich gewesen, bevor sie eines Montags um die Mittagszeit in einem Feinkostgeschäft in der Upper Leeson Street Rory Caine begegnet war, bevor die Leidenschaft von ihr Besitz ergriffen und sie sich eingebildet hatte, dieses Gefühl würde bis in alle Ewigkeit andauern und niemals seine Gültigkeit verlieren.
Damals hatte diese Ewigkeit gerade erst begonnen. Muriel hatte ihre neue Nachbarin gemustert und lächelnd gesagt: »Warum kommen Sie nicht vorbei ... Sie beide ... warum kommen Sie heute Abend nicht auf einen Drink vorbei?«
»Anscheinend hast du Eindruck gemacht auf die feine Dame!«, sagte Susie später, als sie über die Straße auf die Tore von Willow House zugingen. »Warte nur, bis du ihren Palast gesehen hast ... Geld spielt da keine Rolle. Weißt du, als die Siedlung neu gebaut wurde, gab sie jedes Jahr eine Gartenparty – als sei sie verzweifelt bemüht, alle kennen zu lernen. Aber seit zwei Jahren hat sie uns nicht mehr eingeladen. Wahrscheinlich sind wir ihr nicht fein genug, schließlich ist sie ja etwas Besseres!«
Doch als Muriel an diesem Abend ihre beiden Nachbarinnen in ihrem Salon empfing, zeigte sie eine merkwürdige Schüchternheit, als bäte sie um Nachsicht für die Wechselfälle des Glücks. »Wissen Sie, erst nach dem Verkauf der Ländereien konnte ich es mir leisten, das Haus herzurichten. Davor lebten wir – meine Mutter und ich – wie unter einem Sieb. Auf dem Treppenabsatz standen Eimer, weil es durchs Dach hereintropfte. Es war wie in der Arche Noah. Damals haben wir ziemlich primitiv gehaust ... ziemlich ländlich ... zwischen uns und dem Dorf stand kein einziges Haus.«
Muriel nippte an ihrem Glas und sah ihre beiden Gäste an. »Als sie starb, habe ich mich entschieden, das Land zu verkaufen ... aber die Arche habe ich behalten!«
»Nettes Bötchen!«, meinte Susie prompt und ließ den Blick über den seidenen Chinateppich und die Antiquitäten schweifen. »Aber wo haben Sie all die Tiere einquartiert?« Und Muriel lachte plötzlich, ein fröhliches, hemmungsloses Lachen, das, wie Polly schien, mehr durch Susies Großspurigkeit hervorgerufen wurde als durch ihren kleinen Scherz.
Polly hatte die schönen Stücke in Willow House bewundert und dann schüchtern ihre Vorliebe für Antiquitäten eingestanden. Susie beeilte sich zu versichern, Polly sei eine Expertin – hatte sie vor ihrer Heirat nicht in einem Antiquitätengeschäft gearbeitet?«
»Wirklich?«, fragte Muriel. »Dann kennen Sie sich wohl recht gut aus?«
»Ich habe Kunstgeschichte studiert, und danach war ich zwei Jahre bei Adams, das war eigentlich mehr eine Lehrzeit ...«
Ein paar Tage später traf Muriel Polly im Dorf, als sie gerade mit der gedankenverlorenen Miene einer Verliebten vor der Auslage eines kleinen Antiquitätengeschäfts stand. Mit feierlich ernster Miene betrachtete Polly eine weiße italienische Marmorstatuette; das dazugehörige Preisschild bezifferte sie auf fünfzig Pfund.
»Was fesselt denn so Ihre Aufmerksamkeit?«, fragte Muriel. Polly deutete auf die kleine weiße Marmorstatue, ein Mädchen von zeitloser Anmut. »Ist sie nicht phantastisch?«
Muriel musterte die Statuette interessiert. »Ja ... Wollen Sie sie kaufen?«
»Das kann ich mir nicht leisten!«
»Polly«, sagte Muriel nach einer Weile, »wäre es möglich, dass Sie ein Inventar der Sachen in meinem Haus erstellen ... für Versicherungszwecke? Ich wollte Sie ohnehin fragen ...«
»Mit dem größten Vergnügen.«
Polly hatte den folgenden Samstag in dem alten Haus verbracht und die Antiquitäten katalogisiert, ihre Feinheiten mit Muriel diskutiert und dabei allmählich jene Schüchternheit abgelegt, die sie zuweilen fast erdrückte. In Willow House gab es Dinge aus dem achtzehnten Jahrhundert, eine Sheraton-Vitrine, frühes Coalport-Porzellan, Silber mit altem irischem Feingehaltsstempel. Es gab Porträts von Menschen, die mit ernster Miene aus einer seit zwei Jahrhunderten verflossenen Epoche zu ihnen herüberblickten. »Das ist eine Handarbeit meiner Ururgroßmutter«, erklärte Muriel und hielt eine wunderschöne Leinentischdecke in die Höhe; sie war bestickt und mit Spitze eingefasst. In den Schubladen fand sich altes Leinen, Spitzendeckchen und ein Tischtuch für eine Festtafel, das so schön war, dass es eine Sünde gewesen wäre, es zu benutzen. Doch im Lauf des Tages wurden aus Vitrinen und Schränken noch geheimnisvollere Gegenstände ans Licht geholt; unter anderem Fotografien in Silberrahmen, die kopfunter in einer Schublade lagen. Polly bekundete ihr Entzücken über die Rahmen, doch als sie sah, dass nicht nur das Glas zerbrochen war, sondern dass man auch die Gesichter absichtlich unkenntlich gemacht hatte, befiel sie ein merkwürdiges Unbehagen, so als lauere im Kern von Muriels Leben etwas Dunkles, das sie zu überwältigen drohe, wie die Fäulnis in einem nach außen hin makellosen Apfel.
Bevor sie ging, fragte sie: »Wie steht es mit alten Büchern – Erstausgaben vielleicht ...?«
Sie standen in der Halle. Dunkelrot und bernsteinfarben fiel das Licht durch das Buntglasfenster am Treppenabsatz auf die gegenüberliegende Wand.
Muriel deutete auf eine geschlossene Tür. »Ach, die sind alle in der Bibliothek. Sie ist abgeschlossen ... ich fürchte, der Schlüssel ist verloren gegangen.«
»Oh ...«, machte Polly und verstummte. Muriel erkundigte sich, was sie ihr für ihre Arbeit schuldig sei.
»Ich könnte einer Nachbarin für etwas, das mir so viel Vergnügen bereitet hat, nichts berechnen ...«
Ein paar Tage später traf ein kleines Paket im Haus Nummer 14 ein, das die italienische Statuette enthielt. Auf der beigelegten Karte stand nur: »Liebe Polly, ein kleines Zeichen des Dankes. Muriel.«
Das war nun zwanzig Jahre her. Die Marmordame verschönerte nach wie vor Pollys Wohnzimmer, aber die beiden Nachbarinnen hatten sich mehr und mehr voneinander entfremdet, obwohl Muriel ihr stets im Vorbeigehen zuwinkte und Polly oft anbot, sie im Auto mitzunehmen, wenn sie sich im Dorf begegneten. Es war fast so, als sei Muriel in einer früheren Zeit stecken geblieben, als lebe sie unter einer Glasglocke. Als Polly versuchte, mehr über sie herauszufinden, erfuhr sie, dass Muriel sitzen gelassen worden war. Über die näheren Umstände wusste niemand Bescheid; es ging das Gerücht, ihr Verlobter sei Arzt gewesen. Einen Freund hatte sie offenbar nicht. Abgesehen von den exotischen Auslandsreisen, die sie jedes Jahr unternahm (es fielen Namen wie Antigua und die Seychellen), lebte sie praktisch wie eine Einsiedlerin. Doch als Polly und Sue ihre Kinder bekamen, erschien sie mit gravierten silbernen Taufbechern bei ihnen und ließ wehmütige Bemerkungen über das Glück ihrer Nachbarinnen fallen.
»Ach die!«, meinte Susie aufgebracht. »Das sind doch nur schöne Worte! Oder hat sie dir etwa angeboten, Babysitter zu spielen?«
»Es war sehr nett von ihr, vorbeizukommen und ein schönes Geschenk mitzubringen«, sagte Polly, der Susies schroffer Ton nicht behagte.
»Das schon ... aber ich glaube, sie denkt, dass Freundschaft käuflich ist.«
Polly widersprach, aber da sie wusste, dass Susie Muriel nicht mochte, zögerte sie, die Beziehung zu ihr zu vertiefen; und so war ihre aufkeimende Freundschaft, die auf gemeinsamen Interessen beruhte, mehr oder weniger todgeweiht.
Die Zeit verging, und alles veränderte sich, leise und fast unmerklich. Aus den süßen Babies wurden Teenager, die nun keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den bezaubernden Kleinkindern aufwiesen, die sie einst gewesen waren. Sie waren laut, aggressiv und eigensinnig und interessierten sich vor allem dafür, ihre Eltern niederzumachen, ihre Pickel mit verschiedenen Salben zu bekämpfen und sich mit lärmender Musik zuzudröhnen.
Und auch das Leben forderte seinen Tribut. Susies Mann Fergus, der in der Computerbranche arbeitete, stand kurz vor der Entlassung. Er hatte unter anderem ein Programm entwickelt, das es auf der Basis von Fraktalgeometrie ermöglichte, umfangreiche Programme zu komprimieren, aber da das Unternehmen seine Forschungsabteilung verkleinerte, wurde er plötzlich nicht mehr gebraucht.
Pollys Mann Rory, der an der staatlichen Schule des Ortes Geschichte unterrichtete, war nicht zum Fachbereichsleiter aufgestiegen, wie er es sich erhofft hatte, und suchte bei der Beschäftigung am Computer Trost, wo er jeden freien Augenblick damit verbrachte, eine Datensammlung zur europäischen Frühgeschichte zusammenzustellen, da er beabsichtigte, über dieses Thema ein Buch zu schreiben. Gelegentlich versuchte er Polly dafür zu interessieren, die sich zwar für Geschichte erwärmen konnte, nicht aber für den Computerjargon. Fergus unterstützte ihn, indem er Suchstruktur-Algorithmen entwarf, die bei der Zusammenstellung der Querverweise helfen sollten.
Susie hatte trotz Mutterschaft ihre Teilzeitstelle als Anwaltsgehilfin bei William Penston nicht aufgegeben, der im Dorf eine gut gehende Kanzlei besaß. »Penston und Co., Anwälte und Notare« stand in kühnen Goldlettern auf seinen Fenstern. William Penston hatte die Kanzlei von seinem verstorbenen Vater geerbt, hatte aber die Inneneinrichtung modernisiert, sodass die großen Aktenbündel mit Testamenten und verstaubten Papieren, die früher die Wände säumten, nun den Blicken entzogen waren. Er trug einen kleinen rotgrauen Schnurrbart und wies gewisse Ähnlichkeit mit einem Terrier auf. Doch abgesehen davon, dass er sich gelegentlich zu sehr aufspielte, war er nett, und darum – und aus Trägheit – blieb Susie all die Jahre bei ihm. Dass ihr Mann Fergus auf William Penston eifersüchtig sein könnte, kam ihr dabei nicht in den Sinn.
Die unterwürfige, schüchterne Polly, die ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter treu erfüllte, hatte sich nichts vorzuwerfen, wenn sich der Pfarrer bei der Predigt über das schreckliche Schicksal sogenannter Schlüsselkinder ausließ; wenigstens in dieser Hinsicht war sie nicht verwundbar, denn sie arbeitete nicht außer Haus. Rory war strikt dagegen gewesen. »Eine Frau, mit der ich verheiratet bin, braucht nicht zu arbeiten«, hatte er geprahlt, als sie ihren Hausstand gründeten.
Damals war Polly damit zufrieden gewesen. Solange die Kinder klein waren, freute sie sich, dass sie die Muße hatte, ausgiebig mit ihnen zu schmusen, sie auf ihrem Rücken reiten zu lassen und mit ihnen zu scherzen. Später, als ihr diese Art von Leben zu eng und zu eintönig zu werden begann, musste sie zu ihrem Ärger feststellen, dass sie wertvolle Zeit verloren hatte, in der sie beruflich hätte weiterkommen können – Zeit, die nicht mehr aufzuholen war.
Sie hatte Kunstgeschichte studiert, ihre berufliche Laufbahn aber hintangestellt. Neben den wunderbaren Babies gab es noch einen anderen Grund, warum sie sich ohne weiteres damit abgefunden hatte, sich auf die Rolle des Hausmütterchens zu beschränken. Sie war Rorys zweite Ehefrau, wenn sie sich überhaupt Ehefrau nennen durfte, da er vor dem Gesetz nach wie vor mit Martha verheiratet war; daher glaubte sie, die konventionellen Moralvorstellungen verletzt zu haben, und bekämpfte ihre heimlichen Schuldgefühle, indem sie sich bemühte, ihre Rolle als Hausfrau und Mutter möglichst perfekt auszufüllen. Das war in Ordnung gewesen, solange sie noch schrecklich verliebt war, sich danach sehnte, dass Rory sie berührte und küsste, dass sein Körper auf sie reagierte und beide den Zauber der gemeinsamen Stunden genossen.
Andere Wünsche, die sich mit der Zeit einstellten, unterdrückte Polly. Ohnehin war sie zutiefst schüchtern, ein Handicap, das so lähmend auf sie wirkte wie Stottern oder partielle Lähmung. Zudem war sie gläubige Katholikin, sie glaubte an aufopfernde Pflichterfüllung und die verschiedenen anderen frommen Gebote, die vor allem auf Frauen gemünzt waren. In diesen Glauben rettete sie sich vor dem wachsenden Unbehagen, das sie peinigte. Der Glaube gestattete ihr, sich einzureden, ihr Schicksal sei unabänderlich, und wenn die leise innere Stimme, die Bewegung und Veränderung forderte, überlaut wurde, entband der Glaube sie von der beängstigenden Aussicht auf eine radikale Neugestaltung ihres Lebens.
Polly blieb vor dem Tor von Nummer 14 stehen. Hinter ihr ließ die zögernde Februarsonne die Mauern von Willow House aufleuchten.
»Ich muss jetzt rein und weitermachen«, sagte sie zu Susie. »Schade, dass du nicht zum Essen kommen und Michelle kennen lernen kannst. Sie klingt richtig nett!«
Sie sprach von der Besucherin, die sie am Abend erwarteten, der Verlobten ihres Bruders Tom. Sie befand sich auf Geschäftsreise in Irland und wollte ihre zukünftige Schwägerin und deren Familie kennen lernen. Polly hatte Susie und Fergus auch eingeladen, aber sie hatten schon etwas anderes vor.
»Ach ja ... du hast mir ja erzählt, dass sich dein mysteriöser Bruder endlich verlobt hat«, sagte Susie. »Er hat sich ziemlich viel Zeit gelassen, nicht wahr?« Susie kicherte, und als ihr Blick auf ihr eigenes Haus fiel, sagte sie unvermittelt: »Lieber Himmel, ich muss neue Gardinen besorgen. Das war dieser verdammte Hund ...«
Polly, die in Gedanken noch bei ihrem Bruder und seiner Verlobten war, konnte diesem Gedankensprung nicht gleich folgen. Aber dann sah sie den Schmutz auf den weißen Stores von nebenan, die an einer Ecke angeknabbert waren, und da fiel ihr auch Wags wieder ein, das neue Haustier der Zwillinge.
»Meine Mutter hätte sie nie ins Haus gelassen ... Hunde!«
»Da hatte sie verdammt recht«, meinte Susie. »Ich drehe dem kleinen Teufel noch den Hals um ...« Entschlossen griff sie nach ihrer Einkaufstasche, legte den kurzen Weg zu ihrer Haustür zurück und schloss sie auf. Ein freudiges Kläffen war zu hören, dann ertönte Susies Stimme:
»So, du kleine Ratte. Ich schicke dich nach China, wo Hunde wie du im Eintopf landen ... He! Hör auf ... Okay ... okay ... Immer mit der Ruhe, ich hab’ dich ja auch lieb ...« Nun ging auch Polly ins Haus, machte die Tür hinter sich zu und stellte die Einkaufstüten auf den Tisch. Ihre Arme fühlten sich an wie ausgekugelt; sie setzte sich kurz und betrachtete die Einkäufe, den Tisch, den Fußboden, den sie gewischt hatte, bevor sie wegging, die tickende Küchenuhr mit dem roten Minutenzeiger, der behäbig seine Runden drehte. Es war drei Uhr. Jason kam um halb vier von der Schule heim und Peter um sechs vom College, ungefähr um die gleiche Zeit wie sein Vater, der nach dem Unterricht gern noch in der Schule blieb, um Hefte zu korrigieren. So konnte er sich, wenn er nach Hause kam, ganz seinem Computer widmen.
Polly holte ihr abgegriffenes Lieblingskochbuch heraus, schlug das Rezept für Boeuf Bourguignon nach und trank eine Tasse Instantkaffee, während sie es durchlas. Dann stand sie auf und begann zu kochen, schnitt Fleisch und Speck, schälte die Schalotten und den Knoblauch. Das Haustier der Familie, eine rundliche Tigerkatze, die keinen richtigen Namen hatte und einfach nur Cat gerufen wurde, erschien draußen am Fenstersims. Als sie Polly erblickte, miaute sie, erst klagend und dann gebieterisch, wie es einer bedeutenden Katze zukam, die nach ihrer Dienerin rief. Polly seufzte, fuhr jedoch in ihrer Arbeit fort und versuchte das Wehklagen am Fenster so lange zu ignorieren, bis sie den Wein dazugegeben und die Kasserolle in den Backofen geschoben hatte. Dann öffnete sie die Hintertür, und Cat, die ihre vornehme Haltung wiedergefunden hatte, kam mit hocherhobenem Schwanz hereinstolziert und marschierte geradewegs auf ihren Napf zu, der in der Ecke bei der Spüle stand. Der Napf enthielt ein paar Fleischbrocken, die Polly hineingeworfen hatte; Cat verspeiste sie rasch und deutete durch sachtes Miauen an, dass sie noch nicht satt war. Polly seufzte erneut, holte eine Dose Katzenfutter, öffnete sie und gab etwas von dem unangenehm klebrigen Inhalt in den Napf.
65 Pence!, dachte sie, als ihr Blick auf das Preisetikett fiel (billigeres Futter strafte Cat nämlich mit Verachtung). Eine Dose reicht für einen Tag. Das Jahr hat 365 Tage. Das macht 237 Pfund im Jahr. Mal zwölf, was der durchschnittlichen Lebenserwartung einer Katze entspricht. Außerdem mussten wir sie sterilisieren lassen, und als sie damals von dem Auto angefahren wurde, war sie im Tierkrankenhaus. Bis sie abkratzt, haben wir für diese Katze über dreitausend Pfund ausgegeben!
»Du bist nicht gerade billig, Cat«, sagte Polly. »Das ist dir bisher vielleicht entgangen, aber mir nicht ...« Dann dachte sie: Mein Gott, das Zeug stinkt ja zum Himmel. Sie nahm den Napf und stellte ihn nach draußen vor die Hintertür. Cat eilte ihr mit mitleiderregendem Miauen nach.
Als Polly nach dem Kochen die Küche sauber gemacht hatte, ging sie nach oben. Die Kinderzimmer sahen fürchterlich aus, besonders Jasons, dessen Socken unter dem Bett verstreut lagen. Polly hatte kürzlich beschlossen, nicht mehr hinter ihren Söhnen herzuräumen, und so widerstand sie der Versuchung, Ordnung zu schaffen, machte beide Türen schnell wieder zu und ging in ihr Schlafzimmer, das auf den hinteren Garten blickte. Sie setzte sich an die Frisierkommode und betrachtete prüfend ihr Gesicht. Sie hatte sich zuvor im Spiegelglas eines Schaufensters gesehen, in dem Damenwäsche für den Valentinstag ausgestellt war, sich aber rasch wieder abgewandt. Jetzt nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und sah genauer hin, suchte nach Falten und drehte das Gesicht zum seitlich einfallenden Licht. Falten hatte sie noch nicht, aber ihre kurzen Haare waren unscheinbar und graumeliert. Sie stand auf und musterte mit nüchternem Blick ihren Körper, bemerkte resignierend den Rettungsring um die Taille und ihre matronenhafte Gestalt in dem alten Trainingsanzug.
Draußen verblasste allmählich das Tageslicht, und die Dämmerung setzte ein. Vom Spielplatz hinter ihrem Garten drangen die Stimmen von Jugendlichen zu ihr herüber. Für einen Augenblick meinte sie, Jasons Stimme herauszuhören. Sie sah aus dem Fenster, aber die Buchsbaumhecke am Zaun war inzwischen so hoch geworden, dass sie ihr die Sicht versperrte.
Einem Impuls folgend, ging sie in sein Zimmer und blickte auf die Sackgasse hinaus. Der einzige Mensch, den sie sah, war Sharon O’Brien, Susies Tochter, die mit der Schultasche über der Schulter nach Hause kam. Polly beobachtete, wie Sharon in die Einfahrt einbog, zu Nummer 14 hochblickte und schnell wegsah, als sie Polly am Fenster bemerkte. Ein nettes Mädchen, dachte Polly. Aber dann kehrten ihre Gedanken zu Toms Verlobter zurück, und sie fragte sich, wie sie wohl sein mochte. Polly hatte ihren Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen und während der ganzen Zeit nicht einen Brief von ihm erhalten. Bis er ihr dann vor sieben Wochen mitgeteilt hatte, er habe sich verlobt. Die Karte, die er aus London schickte, war maschinengeschrieben und enthielt darüber hinaus nur die kurze Nachricht, seine Verlobte Michelle werde in Kürze geschäftlich in Irland zu tun haben und gedenke bei dieser Gelegenheit Polly und Rory zu besuchen.
Polly hatte sich über dieses erbärmliche Lebenszeichen geradezu närrisch gefreut. Sie hatte es immer bedauert, dass es zu diesem dummen Zerwürfnis mit Tom gekommen war. Er war ihr jüngerer Bruder, ihr kleiner Prinz, für den sie während der Kindheit bei all seinen Streichen ihren Kopf hingehalten hatte. Dass sie ihn verloren hatte, war ihr wunder Punkt, an den niemand rühren durfte.
»Ich werde immer auf dich aufpassen«, hatte sie ihm versprochen, als er vier war und sie sieben und sie zu Tante Rita in der Nähe von Tipperary aufs Land zogen, nach diesem schrecklichen Unfall, bei dem ihre Eltern umgekommen waren.
Als sie ihm sagte, dass sie Rory zu heiraten gedenke, hatte er erklärt, sie habe völlig den Verstand verloren.
»Wovon soll er dich denn ernähren ... wo er doch bereits eine Frau hat? Willst du den Rest deiner Tage in Armut verbringen? Und außerdem, der Kerl ist ein Maulheld ... Er ist nicht gut genug für dich! Und du mit deinem Spatzenhirn merkst es nicht mal ... Wenn sich ein Maulheld und ein Spatzenhirn zusammentun, was kommt dann wohl dabei heraus?«
Polly war für diese Argumente unempfänglich, obwohl sie ahnte, dass in den bösen Worten ihres Bruders ein Körnchen Wahrheit steckte. Rory hatte bereits eine Frau, und er hatte kein Geld. Aber er war kein Maulheld; er war wirklich sehr intelligent. Allerdings vermutete sie, dass sie selbst keine überragenden Geistesgaben besaß und ihr Urteilsvermögen von Leidenschaft und Hoffnung getrübt war. Außerdem war Tom jünger als sie, und es stand ihm nicht zu, ihr die Leviten zu lesen. Folglich hatte sie wütend reagiert.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram und misch dich nicht in mein Leben ein!«
»In Ordnung ... ich halte mich raus! Aber heul dich dann bloß nicht bei mir aus!«
»Hau doch ab! Du hast kein Recht mir zu sagen, was ich tun und lassen soll!«
Er hatte sie beim Wort genommen und war abgehauen. Ihre Beziehung hatte einen Sprung bekommen und war dann ganz zerbrochen. Ursprünglich hatten sie einander nur einen Denkzettel verpassen wollen. Polly wollte, dass er ihre Privatsphäre achtete, sie wollte seinen Respekt. Sie befand sich im Griff einer Macht, die sie blind machte, aber sie mochte nicht hören, dass sie blind sei. Als sie es schließlich selbst merkte, hatte sie sich die Suppe bereits eingebrockt, und ihr Anstand wie auch ihr Stolz geboten ihr, sie nun ganz allein auszulöffeln.
Sie hatte versucht, die Beziehung zu Tom zu kitten, indem sie ihm Karten zum Geburtstag und zu Weihnachten schickte, aber er hatte diese Geste nie erwidert. Die Erfahrung, dass ihr geliebter Bruder, der einzige Mensch, auf den sie immer gezählt hatte, sie im Stich ließ, sie angriff, sie verurteilte und dann aus seinem Leben strich, diese Erfahrung führte dazu, dass sie ganz für sich ihre Lebenseinstellung überdachte und zu dem Schluss kam, dass Beziehungen wie ein stürmisches Meer ohne sicheren Hafen seien. Die Folge war, dass sie sich noch bereitwilliger mit ihrer überstürzten Ehe identifizierte, da sie zu der Überzeugung gelangt war, es gebe nichts Besseres, auf das es sich zu warten lohne.
Vielleicht aber hatte sich genau in dem Augenblick, da sie die Karte von ihrem Bruder erhielt, die seine bevorstehende Hochzeit ankündigte, ihre Unzufriedenheit geregt; eine Unzufriedenheit, die möglicherweise schon seit Jahren unter der Oberfläche schwelte. Angesichts der immer noch spürbaren inneren Dynamik im Leben ihres Bruders, dessen Gestaltung noch nicht abgeschlossen war, das immer noch wunschgemäß verändert werden konnte, empfand sie das Dasein, das sie selbst führte, als lächerlich. Polly ertappte sich dabei, dass sie sich auf den Anruf von Michelle freute, weil er ihr das Gefühl vermitteln würde, wieder im Kreis der Familie aufgenommen worden zu sein. Aber der Anruf blieb aus. Ach, Tom, dachte sie, warum rufst du nicht an und sprichst mit mir? Sie versuchte es bei der britischen Auskunft, doch seine Nummer stand nicht im Telefonbuch und seine Adresse hatte sie nicht.
»In meinem Leben geschieht nichts Aufregendes«, beklagte sie sich bei Gott, als sie am Sonntag zur Messe ging. »Ich verbringe das einzige Leben, das mir gegeben ist, als Stütze der Familie, und du sitzt ganz selbstgefällig da oben, in deinem kleinen goldenen Tabernakel, und lässt zu, dass meine Kräfte vergeudet werden.«
Polly erweckte den Eindruck, glücklich zu sein; sie besaß die Ausstrahlung einer Frau, die ihr Leben im Griff hat; bei Veranstaltungen wie Gemeindefesten und Schulbasaren beteiligte sie sich tatkräftig. Aber im privaten Bereich, wo sie eigentlich zu Hause war, keimte eine Verzweiflung in ihr, die sie kaum noch unterdrücken konnte.
Ihre Zukunftsaussichten waren trostlos. Die Kinder würden aus dem Haus gehen, und sie würde bleiben, wo sie war, verwelken und verkümmern, aber nach wie vor dienen. Sie wußte, dass Rory sie kaum noch wahrnahm, zumindest nicht als Frau; und weil er, der Mensch, dem sie ihr Leben gewidmet hatte, sie nicht sah, fiel es ihr schwer, sich selbst wahrzunehmen. Dadurch wurde ihr Selbstwertgefühl so untergraben, dass es kaum noch vorhanden war.
Als sie die goldene Tür des Tabernakels betrachtete, aus dem sie sich Hilfe erhoffte, dachte sie, von Panik ergriffen – wie immer, wenn sie es wagte, über die Zukunft nachzusinnen: »Was soll ich tun? Was kann ich tun?«
Polly brauchte Gott, aber Gott hüllte sich in Schweigen. »Du könntest mir ein Zeichen geben«, bat Polly. »In der guten alten Zeit war das doch deine Stärke ... zumindest steht es so in der Bibel ...«
Der Zweifel, der in letzter Zeit ebenfalls immer stärker wurde, dass sich auf dem Altar in Wirklichkeit nichts befand außer wertvollem Zierrat, veranlasste sie zu einer anmaßenden Forderung: »Wahrscheinlich gibt’s dich gar nicht, soviel ist mir schon klar. Ich verlange aber trotzdem, dass du mir etwas schickst, ein Wunder, einen Engel zum Beispiel, der Schwung in mein langweiliges Dasein bringt!«
Aber das große Wunder blieb aus, und im Lauf der Zeit vergaß sie ihre Forderung an den Schöpfer wieder. Im Rückblick kam sie ihr sogar ziemlich albern vor. Statt sinnlose Forderungen an übersinnliche Wesen zu stellen, übte sie sich in Resignation und Entsagung.
Schließlich kam der Anruf der künftigen Schwägerin doch; Michelle hatte eine melodische Stimme mit amerikanischem Akzent und erklärte, sie brenne darauf, Polly kennen zu lernen. Und so hatte Polly sie gleich für den nächsten Freitag zum Abendessen eingeladen, um sie in die Familie einzuführen.
Als sie nun vor der Frisierkommode stand und ihr Spiegelbild betrachtete, fragte sie sich, wie Michelle aussehen mochte.
Polly wusste weder, wie alt sie war, noch, was sie beruflich machte. Sie holte den neuen Pullover, den sie im Schlussverkauf erstanden hatte, aus dem Schrank; dazu zog sie einen engen schwarzen Rock an, hatte aber mit dem Knopf am Bund zu kämpfen.
Sie hörte, wie unten die Hintertür auf- und wieder zuging. Dann wurde der Kühlschrank geöffnet, und Geschirr klapperte.
»Bist du das, Jason? Finger weg vom Salat im Kühlschrank, und auch von der Mousse au chocolat ...!«
Sie eilte hinunter. Es war gefährlich, den siebzehnjährigen Jason unbeaufsichtigt in der Küche zu lassen. Er besaß einen gewaltigen Appetit, und nichts Essbares war vor ihm sicher. Er sah seine Mutter an, als sie in die Küche kam, und blickte dann kummervoll auf die Mousse in der Glasschüssel, die er aus dem Kühlschrank genommen hatte und die nun nicht mehr ganz so schön war. Polly sah, dass er sich einen großzügigen Löffel voll genehmigt hatte.
»Die Mousse ist für heute Abend – die Verlobte von deinem Onkel Tom kommt doch heute. Du hättest aber auch ruhig erst fragen können«, sagte Polly bestürzt, als sie den Schaden sah. »Das muss ich dann wohl mit Schlagsahne tarnen.« Jason seufzte vernehmbar. Er war fast eins achtzig groß und unglaublich mager für jemanden, der an einem Tag mehr vertilgen konnte als sie in einer Woche. Seine Stirn war mit Pickeln gesprenkelt, und die Überreste der Salbe, mit denen er sie behandelte, schimmerten unappetitlich gelb.
»Gibt es denn in diesem Haus überhaupt noch irgendwas zu essen?«
»Du kannst dir ein Käsebrot machen. Es gibt auch Schokoaufstrich oder Erdnussbutter ...«
»Ich meine richtiges Essen, Mama.«
»Da musst du dich bis zum Abendessen gedulden ...«
Jason seufzte erneut und noch lauter als zuvor. Cat, die ihre Mahlzeit draußen beendet hatte, sprang auf den Fenstersims und starrte die beiden an. Der Ostwind war nicht nach ihrem Geschmack, und sie forderte mit leicht drohendem Unterton Einlass.
»Scher dich zum Teufel, Cat«, sagte Jason, während er sich dick Erdnussbutter auf eine Scheibe Brot strich.
»Wie war’s in der Schule?«, fragte Polly.
»Langweilig, wie immer.«
»Wie ist es dir mit der Französischarbeit ergangen?«
Jason kaute nachdenklich. »Vierzig Prozent ... Immerhin bin ich durchgekommen«, fügte er hinzu, als er das enttäuschte Gesicht seiner Mutter sah. »Die meisten in der Klasse haben nicht bestanden! Es war ziemlich schwer!«
»Du musst schon mehr bringen, wenn du studieren willst ...«
Jason schnitt eine Grimasse. »Ich kriege die verdammten Noten schon noch. Du machst dir zu viele Sorgen, Mama ...«
»Und du machst dir nicht genug Sorgen!«
Jason aß sein Brot auf, spülte es mit einem halben Liter Milch hinunter und ging nach oben. Die Katze miaute erneut, diesmal ungehalten und drohend; offenbar war ihre Geduld erschöpft, und sie hatte nicht vor, noch länger lieb und nett zu sein. Polly öffnete die Hintertür, und das Tier sprang hastig von seinem frostigen Sitz am Fenster, wusste sich jedoch wieder zu benehmen, sobald es das Haus betrat. Cat verzog sich in den Katzenkorb unter dem Regal in der Küche, wo Wörterbücher und Atlanten aufbewahrt wurden. Mit einigen Kreisbewegungen machte sie es sich auf dem Kissen bequem, rollte sich ein und gab vor zu schlafen, hielt jedoch ein Auge halb offen, nur für den Fall, dass noch etwas Aufregendes geschah. Sie erinnerte sich dunkel an einen Besen, mit dem ihre Herrin sie eines Morgens zur Tür hinausbefördert hatte, nachdem sie in einer Ecke des Flurs ein Häufchen erbrochenes Katzenfutter gefunden hatte.
Polly räumte Jasons Teller, das Glas und das Messer vom Tisch ab und bemerkte dann die Schmutzspur, die er auf dem Boden hinterlassen hatte. Sie hastete auf den Flur und sah, dass der zuvor makellose olivgrüne Teppichboden mit Erdklümpchen übersät war, die sich von Jasons Sohlen gelöst hatten; die Spur setzte sich die Treppe hinauf fort. In ein paar Sekunden hatte er die Arbeit des halben Vormittags zunichte gemacht, den sie damit verbracht hatte, überall sorgfältig zu saugen.
»Jason«, brüllte sie, »hol den Staubsauger und mach den Dreck weg, den du auf der Treppe hinterlassen hast! Aber zieh zuerst deine Stiefel aus ...«
Jason erschien auf dem Treppenabsatz und blickte über das Geländer. »Welchen Dreck?«, fragte er empört. Dann sah er die Bescherung. »Sch ...«, murmelte er, kam aber dann herunter, holte den Staubsauger aus der Abstellecke unter der Treppe hervor und begann sauber zu machen.
»Und wenn du das erledigt hast«, fuhr Polly fort, »kannst du dir dein Zimmer vornehmen. Da sieht es aus wie auf einer Müllhalde! Und ich bin nicht deine Sklavin!«
»Ich muss noch was für die Schule tun«, entgegnete Jason. »Einen Aufsatz für Geschichte ...«
Polly seufzte. Diese Ausrede war das bewährte Patentrezept gegen alle Forderungen, die sie stellte.
»Dann lass zumindest deine Socken frei«, sagte seine Mutter erbittert. »Unter deinem Bett vegetieren so viele vor sich hin – es ist wirklich ein Wunder, dass sie noch kein Entlassungsgesuch eingereicht haben. Vor deiner Tür steht ein Wäschekorb. Was glaubst du wohl, wozu der da ist?«
Jason murmelte eine abfällige Bemerkung über mütterlichen Sarkasmus. Dann ging er in sein Zimmer, sammelte die Socken ein, die unterm Bett lagen, und schleuderte sie in den Weidenkorb auf dem Flur.
Polly war erschöpft. Jasons Widerwillen war überdeutlich zu spüren; er tat ihre Anordnungen verächtlich ab. Sie fragte sich, ob er vielleicht Recht hatte, ob sie wirklich eine pedantische alte Nörglerin war, die anderen das Leben schwer machte. Aber sie hatte keine Vergleichsmaßstäbe und wusste nicht, wie sie das Problem lösen sollte. Instinktiv neigte sie dazu, sich mit den Grenzen abzufinden, die ihr gesteckt worden waren, Grenzen, die sie bereits mit der Muttermilch eingesogen hatte. Sie war in einer Atmosphäre groß geworden, in der die Familie und mütterliche Aufopferung die wichtigsten Werte darstellten. Doch in letzter Zeit kamen diese automatischen Reflexe immer mehr mit der hartnäckigen inneren Stimme in Konflikt, die ein Recht auf ihr eigenes Leben einforderte.
Um sich abzulenken, griff Polly nach einem Staubtuch und begann, die Möbel in Wohn- und Esszimmer sorgfältig abzustauben. Liebevoll verweilte sie bei der italienischen Statuette auf dem Kaminsims, die ihr Muriel vor so vielen Jahren geschenkt hatte, dem Pfeilerspiegel mit dem Goldrahmen und dem viktorianischen Intarsientisch. Diese beiden Stücke hatte sie vor ein paar Jahren auf einer Auktion erstanden, sie dann gesäubert und restauriert.
Weniger enthusiastisch widmete sie sich Rorys Computer, der in einer Ecke des Esszimmers stand. Neben dem Computertisch mit der Arbeitslampe stand ein Bücherregal. Es war mit Geschichtsbüchern und kleinen Taschenbüchern mit Titeln wie Tipps und Tricks für Word for Windows vollgestellt.
Sie blickte in den kleinen winterlichen Garten hinaus, dem so offenkundig die Hand des Gärtners fehlte, sah die Schneeglöckchen, die zaghaft ihre kleinen weißen Köpfe neigten, sah die verwilderte Buchsbaumhecke am Zaun und malte sich aus, wie schön dieser Garten sein könnte – mit einer Terrasse, einem mit Natursteinen gepflasterten Weg zum Schuppen, einem hübschen kleinen Rasen, der nicht von Teenagern zertrampelt wurde, ein paar Rosensträuchern, die in Ruhe blühen durften.
Dann holte sie ihr Damastleinentischtuch heraus und deckte den Tisch. Als das erledigt war, ging sie wieder in die Küche und begann zu backen. Sie wollte zum Gemeindeflohmarkt einen Schokoladenkuchen beisteuern.
Als Rory nach Hause kam, holte sie den Kuchen gerade aus dem Ofen. Sie hörte das Auto in der Einfahrt, die Wagentür, die zugeschlagen wurde, seine Schritte auf dem Weg zur Hintertür, das dumpfe Geräusch, als er seine dicke Aktentasche abstellte. Die alte Erleichterung – dass er sicher daheim angekommen war, dass er keinen Unfall gehabt hatte, dass er nicht zu Martha zurückgekehrt war – stieg in ihr auf, ungeachtet dessen, dass inzwischen zwanzig Jahre vergangen waren und Martha ihn wahrscheinlich gar nicht zurückhaben wollte.
»Hallo, Liebling«, sagte sie.
Rory war sechsundvierzig Jahre alt, mittelgroß und mager; sein Haar war schütter, und er trug eine Brille. Er hatte seine festgefügten Ansichten; über Geschichte und einige andere Themen, nicht zuletzt über den Umgang mit Computern, wusste er eine ganze Menge, und er war jederzeit bereit, interessierte Mitmenschen an seinem Kenntnisschatz teilhaben zu lassen. Alles im Leben stellte er auf die solide Grundlage von Logik und Vernunft. Für alberne Gefühlsregungen hatte er keine Zeit. Dessen ungeachtet funktionierte sein Gedächtnis im Alltag nicht immer einwandfrei, und so kam es, dass er gelegentlich seine Kinder verwechselte oder vergaß, wo er sein Gebiss gelassen hatte. Diese Kinkerlitzchen waren jedoch unbedeutend im Vergleich zu den Fragen, die ihn beschäftigten, Fragen zu historischen Problemen und zu der wachsenden Komplexität von Computerprogrammen.
Rorys Ohren waren in den vergangenen Jahren haarig geworden. Polly mochte seine haarigen Ohren, und wenn ihn die Kinder in ihrer Gegenwart (niemals in seiner) ›Hobbit‹ nannten, so wurden sie nicht sonderlich scharf getadelt; der Name ließ an ein Geschöpf denken, das zugleich friedfertig und liebenswert war. Friedfertig war Rory gewiss, es sei denn, er suchte gerade seine Socken oder seinen Schlüssel oder seine Unterhosen oder seinen neuen Pullover – oder wenn man ihn am Computer störte. Bei solchen Anlässen kam es zu kurzen, aber heftigen Wutausbrüchen, und er schimpfte über diese verdammten Kinder.
Um seine Sachen vor ihrem Zugriff zu schützen, hatte er sich eine schwere lederne Pilotentasche mit Kombinationsschloss besorgt, in der er seine Unterwäsche und seine Socken aufbewahrte. Doch selbst unter Verschluss verschwanden diese Dinge auf mysteriöse Weise. Jason hatte bei dem Kombinationsschloss alle Familiengeburtstage durchprobiert und dabei offensichtlich die Zauberformel entdeckt.
Polly verschwieg Rory, dass der Pullover, den er vermisste, in einem Nachtklub verschwunden war und dass dieses Missgeschick auf das Konto seines jüngeren Sohnes ging. Der Pullover war, wie Jason Polly versicherte, weg gewesen, als er sich nur einmal kurz umdrehte. Es war nicht seine Schuld. Es war die Schuld der Nachtklubinhaber, weil sie Penner ins Lokal ließen.
»Insgesamt macht das dann also eine Lederjacke, einen Regenmantel, eine Levis-Jacke und einen teuren Pullover, die nun verschiedenste junge Leute in Dublin und Umgebung kleiden ... Du solltest besser auf deine Sachen aufpassen, vor allem wenn die Sachen eigentlich deinem Vater gehören ...«
»Es war nicht meine Schuld«, wiederholte Jason mürrisch.
»Du hättest deine Jacke an der Garderobe abgeben können.«
»Das kostet Geld, Mama. Immerhin ein Pfund!«
Polly gab auf. Schließlich kaufte sie bei Penneys für fünfundzwanzig Pfund eine Jacke für Jason als Ersatz für die, die ihm im Nachtklub gestohlen worden war.
»Die kann ich nicht anziehen!«
»Warum nicht? Sie ist warm, sogar schick ...«
»Aber es merkt doch jeder gleich, dass sie nur fünfundzwanzig Pfund gekostet hat«, erklärte Jason. Er riss die Augen auf und runzelte entsetzt seine pickelige Stirn.
»Das ist natürlich hart! Aber ich muss davon ausgehen, dass sie nächste oder übernächste Woche wieder verschwunden ist und mir dann nichts anderes übrig bleibt, als noch einmal eine neue zu kaufen.«
»Die ziehe ich nicht an!«, knurrte Jason. »Ist schon gut, Mama. Du kannst so gemein sein, wie du willst ... Es macht mir nichts aus zu frieren!«
Jetzt sah sie Rory an, versuchte abzuschätzen, wie müde er war, sehnte sich heimlich nach einem lieben Wort oder einer Berührung.
Rory sagte: »Hallo, Polly«, stellte seine große Tasche ab und verschwand im WC. Anschließend ging er ins Esszimmer und kam mit verdrießlicher Miene wieder heraus. »Warum ist der Tisch im Esszimmer gedeckt? Bekommen wir etwa Besuch?«
»Ja ... hast du es etwa vergessen? Michelle kommt zum Abendessen.«
»Und wer ist Michelle?«
»Ich habe einen Bruder namens Tom«, bemerkte Polly kühl; sie erinnerte sich genau, ihm in den letzten achtundvierzig Stunden mindestens zweimal erklärt zu haben, wer Michelle war. »Er wird bald heiraten. Michelle ist seine zukünftige Frau. Ich habe dir das schon vor einiger Zeit gesagt. Und gestern Abend habe ich erwähnt, dass sie zum Essen kommt!«
»Was ich gerne wissen würde, ist, warum er jetzt auf einmal ankommt ... und uns seine Auserwählte schickt. Zwanzig Jahre lang hat er sich nicht um uns geschert!«
»Ich bin sehr froh, dass sie kommt!«, entgegnete Polly. »Ich halte nichts davon, sich in alle Ewigkeit böse zu sein!«
Rory brummte, zog einen Stuhl an seinen Tisch heran, schaltete den Computer ein und und vertiefte sich in seine Arbeit. Offensichtlich war er nun nicht mehr ansprechbar; seine Stimme verlangsamte sich, so dass er sich anhörte wie Hal, der kranke Computer in 2001: Odyssee im Weltraum. Polly sehnte sich danach, das Gespräch fortzusetzen, über Toms Verlobte zu reden, über Susies jungen Hund, über Laura Flanagan, die beinahe von einem Doberman angefallen worden wäre (wie ihr besagte Dame im Einkaufszentrum erzählt hatte), über Jasons schlechte Noten (stets ein wunder Punkt) und darüber, ob sie sich neue Vorhänge fürs Wohnzimmer leisten konnten. Aber an Rorys Haltung erkannte sie, dass es sinnlos war, mit ihm zu reden. Er würde auf alles, was sie sagte, verlangsamt wie ein Roboter reagieren, da er in Gedanken woanders war. Sobald er vor dem Bildschirm saß, ergriff der Computer von ihm Besitz.
Peter kam kurz nach sechs vom College heim. Er war sehr groß, einsneunzig, sah gut aus und hatte blaue Augen. Er trug eine runde Brille mit einem schmalen schwarzen Gestell, mit der er an einen Revolutionär aus dem neunzehnten Jahrhundert erinnerte.
»Wie geht’s meiner liebsten Mama?«, fragte er und beugte sich über sie.
Polly blickte ihn liebevoll an. Das war ihr Erstgeborener, das sieben Pfund schwere Wunder, das ihren Glauben an die natürliche Geburt zerstörte, das es so eilig hatte, das Licht der Welt zu erblicken, dass es sie beinahe zerrissen hätte, und das drei Monate lang nahezu ununterbrochen schrie, bis sie nahe dran war, den Verstand zu verlieren. Doch als die Kolik vorüber war und er ihr sein erstes Lächeln schenkte, ein strahlendes Lächeln, das bereits Intelligenz verriet, war sie für alles entschädigt. Manchmal verglich sie seine hünenhafte Gestalt von heute mit dem kleinen Wurm, den sie damals gestillt hatte.
»Was hast du mit meinem Baby gemacht?«, fragte sie ihn einmal, als er ihr stolz verkündete, er sei jetzt einsachtzig.
»Aber ich bin doch dein Baby, Mama«, hatte er mit Leidensmiene erwidert.
Jetzt ließ er seinen Segeltuchrucksack mit den Büchern auf den Boden fallen, warf einen Blick ins Esszimmer, um sich zu vergewissern, dass sein Vater wie gewohnt am Computer saß, und erklärte dann, er sei am Verhungern.
»Was gibt’s zu Abend ... es riecht köstlich!«
»Heute essen wir erst um acht ... wir haben Gesellschaft!«
»Wen?«
»Die Verlobte deines Onkels Tom, Michelle. Ich habe es dir doch gestern gesagt.«
»Im Ernst?« Er machte ein langes Gesicht. »Ich bin nicht da.«
»Warum nicht? Ich habe sie eingeladen, damit sie die Familie kennen lernt.«
»Ich habe der Bande versprochen, dass wir uns um acht treffen. Aber ich bin zurück, bevor sie geht.« Polly kannte die Mitglieder der Bande und sie wusste, dass eine von ihnen, ein Mädchen namens Elsa Rattigan (die liebevoll Rats genannt wurde) besondere Anziehungskraft auf Peter ausübte.
Polly seufzte und sagte, wenn dem so sei, dann solle er lieber jetzt gleich essen, aber Peter wühlte bereits im Gefrierschrank.
»Hamburger ... du würdest sie nicht kaufen, Mutterherz, wenn du wüsstest, was da drin ist ...«, erklärte er. »Fischstäbchen ... Essen für Schwule ... ah ... Pizza ... mit Käse ... das ist okay.«
»Ich schiebe sie für dich ins Rohr«, sagte Polly. »Du solltest jetzt lieber duschen und dich umziehen.« Sie riss den Karton auf, legte die Pizza auf einen hitzefesten Teller und stellte ihn auf ein freies Gitter im Backofen.
»Ist das Pickelmonster zu Hause?«, erkundigte sich Peter.
»Dein Bruder ist kein Pickelmonster!«, tadelte Polly. »Und zieh deine Stiefel aus. Jason hat heute schon den Dreck im ganzen Haus verteilt.«
»Aber sie sind völlig sauber«, wandte Peter ein.
»Zieh sie aus!«
Peter gehorchte, schnürte seine schwarzen Doc Martens-Stiefel auf und stellte sie neben Cat. Er kraulte sie zwischen den Ohren, und sie begann zu schnurren, hob den Kopf und sah ihn hoheitsvoll an. Dann ging er auf den Flur hinaus, blieb kurz an der Esszimmertür stehen und sagte: »Hallo, Vater. Kennst du mich noch? Ich bin’s, dein Sohn ...«
Rory blickte stirnrunzelnd auf den Bildschirm. »Ich versuche mich zu konzentrieren, Jason. Stör mich jetzt nicht ...«
»Ja, Papa. Tut mir wirklich leid, Papa«, erwiderte Peter lammfromm.
Polly in der Küche fing leise an zu lachen. Von jäher Heiterkeit überwältigt, musste sie sich setzen. Cat sah sie verständnisvoll an, als wolle sie sagen, wenigstens sie könne die beiden Jungen auseinanderhalten und sie werde nie dem Bann des Computers erliegen, solange noch eine Dose Katzenfutter im Haus sei.
Peter erschien wieder an der Küchentür. »Hast du mein blaues Hemd gesehen, Mama?«
»Ich habe es erst kürzlich gebügelt ... es ist in deiner Kommode.«
»Da ist es aber nicht«, sagte Peter mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
»Jason, du Idiot! Du hast mein Hemd genommen ... mein gutes blaues ...«
»Nein, hab’ ich nicht«, entgegnete Jason.
»Und was ist dann das hier, du Lackaffe?«, rief Peter triumphierend. »Unter deiner grauenhaften Jeans begraben. Ich hätte Lust, dir den Hals umzudrehen, du verlogener Scheißkerl!«
»Dazu musst du dir aber erst mal Verstärkung holen.«
»Hört auf zu streiten!«, rief Polly von unten herauf. »Peter, lass deinen Bruder in Ruhe lernen! Ich bügle dir ein anderes Hemd.«
Durch die Esszimmertür sah sie ihren Mann, der ihr den Rücken zuwandte. »Diese verdammten Kinder«, murmelte er, um gar nicht erst den Gedanken aufkommen zu lassen, er könne vom Computer aufstehen und eingreifen.
Polly ging nach oben, verhinderte eine Schlägerei, schickte Peter aus Jasons Zimmer und ermahnte Jason, sich nicht an den Sachen seines Bruders zu vergreifen. Dann holte sie Peters cremefarbenes Hemd aus der Wäschekammer und fragte ihn, ob ihm dieses auch recht sei. Als er laut seufzend meinte, das müsse es wohl, nahm sie das Hemd mit nach unten, holte das Bügelbrett heraus und bügelte es. Als sie damit fertig war, klappte sie das Brett zusammen, wobei sie sich den Zeigefinger einklemmte. Sie stöhnte laut auf; unter der Haut bildete sich eine schmerzende Blutblase. Sie fragte sich, ob Rory wohl ihren leisen Aufschrei gehört hatte, aber offensichtlich war er ihm entgangen; die Tastatur im Esszimmer jedenfalls klickte genauso fröhlich wie zuvor. Sie saugte an der Wunde, dann fiel ihr ein, dass sie noch das Feuer im Wohnzimmerkamin vorbereiten und anzünden musste. Als das erledigt war, erinnerte sie der Geruch nach heißem Käse daran, dass Peters Imbiss fertig war; sie nahm die Pizza aus dem Backofen und rief nach ihm.
Er kam in Unterhemd und Unterhose herunter und roch, als hätte er in Aftershave gebadet; als er das gebügelte Hemd über der Stuhllehne sah, sagte er: »Danke, Mama.« Er setzte sich an den Tisch, um seine Pizza zu essen. Mit hochgezogenen Augenbrauen und Unschuldsmiene sagte er dann: »Mama, ich ... könntest du mir vielleicht zehn Pfund borgen ...«
Obwohl die Haushaltskasse fast leer war, wollte Polly nicht nein sagen. Sie rechnete rasch durch, an welchen Ecken und Enden sie noch sparen konnte, holte ihre Tasche, nahm eine Zehn-Pfund-Note aus ihrem Geldbeutel und gab sie ihm. »Du kannst morgen die Hecke schneiden. Das Geld wächst nicht auf Bäumen, weißt du.«
»Ich dachte aber, das tut es!« Er grinste. »Danke ...« Er ging wieder nach oben, um sich anzuziehen, war nach kurzer Zeit wieder da, sagte: »Wiedersehen, Mama«, warf einen Blick ins Esszimmer und säuselte: »Leb wohl, Vater.«
Nach kurzem Schweigen fragte Rory, ohne sich umzudrehen: »Was? Was hast du gesagt, Jason?«
Peter zwinkerte seiner Mutter zu und ging zur Hintertür hinaus.
Als er fort war, erklärte Polly Rory, der nach wie vor im Esszimmer saß und ihr nach wie vor den Rücken zuwandte: »Gerade eben hat dein Sohn Peter mit dir gesprochen, nicht Jason!«
»Oh ...«
»Du hast zwei Söhne. Beide wohnen in Ashgrove Lawns 14. Ich nehme an, du weißt, wo das ist!«
Rory drehte sich um und sah sie fragend an. Er lächelte einfältig.
»Michelle wird in fünfzehn Minuten da sein«, fuhr sie fort. »Warum machst du dich nicht fertig?«
»Ich bin fertig ...«
»Du bist computersüchtig!«, rief Polly wütend, als ihr klar wurde, dass er nicht die Absicht hatte, sich von der Stelle zu rühren. »Du könntest wenigstens ein frisches Hemd anziehen!«
»Um Himmels willen! Ich bin mitten in einem wichtigen Gedankengang ...«
Polly zog sich ins Wohnzimmer zurück und stellte fest, dass sich Jason inzwischen hier eingefunden und den Fernseher eingeschaltet hatte.
»Ich dachte, du wolltest lernen.«
»Wie soll man in diesem Haus lernen? Kaum hab’ ich angefangen, ist Peter reingekommen und hat mich drangsaliert.«
»Du hättest eben sein Hemd nicht nehmen dürfen!«
»Er bedient sich ja auch ständig bei mir!«
Polly wusste, dass er Recht hatte. Sie sah ihrem Sohn ins Gesicht, sah seine Unruhe, seine Unsicherheit und gespielte Tapferkeit.
»Ist schon gut«, sagte sie und zerzauste ihm die Haare.
In diesem Augenblick klingelte es. Als sie zur Tür ging, um zu öffnen, steckte sie den Kopf ins Esszimmer. »Rory«, zischte sie, »mach den verdammten Computer aus. Sie ist da!«
Die junge Frau stand vor der Tür und hielt eine Flasche Wein im Arm. Polly holte sie rasch aus dem schneidenden Wind herein, nahm ihre Hand und begrüßte sie herzlich. Michelle schien um die dreißig zu sein. Sie trug ihre langen schwarzen Haare nach hinten gekämmt. Ihr Parfum wehte in kleinen Wolken heran, die bernsteinfarbenen Augen leuchteten aus dem ungetrübten Weiß. Sie war schön, was aber nicht in einer Regelmäßigkeit der Züge begründet lag, sondern in einer Aura des Exotischen, die sie umgab.
»Hallo«, sagte sie. »Ich war schon so darauf gespannt, euch kennen zu lernen. Tom hat mir viel von euch erzählt!«
»Bitte glauben Sie kein Wort von dem, was er sagt«, meinte Polly mit einem Seitenblick auf ihren Mann; mit einem Mal fühlte sie sich unsicher. Was findet so ein junges Mädchen an Tom, überlegte sie. Und dann fragte sie sich: Was mag er ihr bloß über uns erzählt haben?
Rory, der lautlos aus dem Esszimmer herbeigekommen war, zeigte sich plötzlich von seiner höflichsten und liebenswürdigsten Seite; er führte den Gast ins Wohnzimmer, wo Jason den Fernseher abgestellt hatte und nun den Versuch unternahm, sich möglichst unauffällig aus dem Staub zu machen.
»Das ist unser jüngerer Sohn Jason«, sagte Polly. Jason schüttelte Michelle die Hand, murmelte, er müsse noch einen Aufsatz fertigschreiben, und verließ verlegen den Raum.
Rory übernahm das Ausschenken der Getränke. Michelle entschied sich für ein Glas Weißwein. Polly fragte, wie es Tom ginge, was er mache, ob bei ihm alles in Ordnung sei. Michelle antwortete nicht sofort. »Es geht ihm gut ... Er ist sehr beschäftigt ...«
»Wir haben uns vor Jahren zerstritten«, erklärte Polly, die meinte, ihrem Gast müsse es merkwürdig erscheinen, derart ausgefragt zu werden. »Es war wirklich albern, aber nach einer Weile bekommt so etwas eine Eigendynamik – und dann erscheint es einem unabänderlich ...«