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Eine Familiensaga im Irland des 20. Jahrhunderts Durch Zufall fällt der Irin Kate Healy das alte Tagebuch ihrer Großmutter in die Hände. Die vergilbten Seiten entführen sie in die 1920er Jahre, wo die junge und willensstarke Ellen Healy gegen die Konventionen ihrer Zeit rebelliert. Ihr Traum, Lehrerin zu werden, scheint unerreichbar, und ihre Liebe zu dem Engländer Guy Forrister wird von allen Seiten bekämpft. Doch in den Wirren des Irischen Unabhängigkeitskrieges entflammt ihre Leidenschaft erneut … Mit jedem Eintrag enthüllt Kate nicht nur das Schicksal ihrer Großmutter, sondern auch ein Familiengeheimnis, das bis in die Gegenwart reicht und Kates Leben für immer verändern könnte … Ein mitreißender Generationenroman in Irland für Fans von Maeve Binchy und Katie Fforde. »Mary Ryan schreibt mit einer solchen Leidenschaft, dass man beim Lesen das Gefühl hat, man befinde sich in jeder Zeitepoche, die sie beschreibt.« – Amazon-Leserin
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Seitenzahl: 749
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Durch Zufall fällt der Irin Kate Healy das alte Tagebuch ihrer Großmutter in die Hände. Die vergilbten Seiten entführen sie in die 1920er Jahre, wo die junge und willensstarke Ellen Healy gegen die Konventionen ihrer Zeit rebelliert. Ihr Traum, Lehrerin zu werden, scheint unerreichbar, und ihre Liebe zu dem Engländer Guy Forrister wird von allen Seiten bekämpft. Doch in den Wirren des Irischen Unabhängigkeitskrieges entflammt ihre Leidenschaft erneut … Mit jedem Eintrag enthüllt Kate nicht nur das Schicksal ihrer Großmutter, sondern auch ein Familiengeheimnis, das bis in die Gegenwart reicht und Kates Leben für immer verändern könnte …
eBook-Neuausgabe Oktober 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »Clonmore« bei St. Martin's Press, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Mondstunden« bei Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2006 by Mary Ryan
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Copyright © der Neuausgabe 2025dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Man888 / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)
ISBN 978-3-69076-224-3
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Mary Ryan
Irland-Roman
Aus dem Englischen von Ulrike Werner-Richter
For Megan
Dublin, September 2001
Die Krähen lauerten. Sie hockten auf den Telegrafenmasten entlang der vierspurigen Straße, äugten von Bäumen und Hecken. Plötzlich flogen sie auf. Eins der Tiere prallte gegen die Windschutzscheibe, glitt über das Autodach und hinterließ eine blutige Spur. Kate konnte den Kopf der Krähe deutlich sehen, nahm den Schnabel, die starren Augen wahr und hörte das vorwurfsvolle Krächzen ihrer Artgenossen.
»Um Gottes willen«, wisperte Eva.
Kate trat das Gaspedal durch. Im Rückspiegel erkannte sie die gefiederten Überreste des Tieres auf der Straße. Die anderen Vögel waren davongeflogen und nur noch als dunkle Umrisse im Westen zu erkennen. Kate warf ihrer Tochter einen Blick zu.
»Was um alles in der Welt?«
Eva schüttelte den Kopf.
»Das hätte nicht geschehen dürfen. Dafür sind sie zu intelligent!«
Am Kreisverkehr verlangsamte Kate ihre Fahrt und bog in die Ausfahrt zum Flughafen ein. Ihre Hände waren schweißnass, ihre Kehle ausgetrocknet.
»Geh nicht!«
Die Worte entfuhren ihr, ehe sie darüber nachdenken konnte.
»Aber Mami!«, rief Eva. »Lass dich doch von so etwas nicht aus der Fassung bringen!«
Aus dem Augenwinkel konnte Kate erkennen, wie aufgeregt Eva war. Sogar ihr Körper schien in Richtung Flughafen zu drängen. Reiß dich zusammen, befahl sie sich.
»Das kommt davon, dass du dir noch nie über schlimmere Dinge als ein zusammengefallenes Soufflé Sorgen machen musstest«, fügte Eva mit einem tiefen Seufzen hinzu. »Aber Fliegen ist wirklich eine sichere Sache. Schon immer!«
Kate stoppte den Wagen vor der Abflughalle und drehte sich zu ihrem einzigen Kind um.
»Tschüss, Mami!« Eva beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Entschuldige meine freche Bemerkung. Bis in zwei Wochen!«
Sie sprang aus dem Auto.
»Tschüss, Liebes. Grüß Julian von mir.«
Eva wuchtete ihren schweren Koffer aus dem Kofferraum und warf ihrer Mutter noch eine Kusshand zu, bevor sich die Automatiktüren zur Abflughalle vor ihr öffneten. Im letzten Augenblick wandte sie sich noch einmal um. Sie schien kurz zu zögern, als ob sie sich plötzlich Sorgen machen würde. Dann verschwand ihr wippender Lockenkopf im Flughafentrubel.
Kate fädelte sich in den fließenden Verkehr ein und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Als sie an einer Ampel halten musste, fischte sie ein Taschentuch aus dem Handschuhfach und wischte sich die Hände ab.
Hysterische alte Ziege, schalt sie sich. Der Morgen ist schön. Alles ist bestens. Fliegen ist sicher. Julian ist ein feiner Kerl und liebt meine Eva von ganzem Herzen. Und nächsten Juni feiern wir Hochzeit in Rathcormac. Hoffentlich spielt das Wetter mit.
Doch die merkwürdige Leere ließ sich nicht verdrängen. Irgendetwas stimmte nicht. Es ist fast wie ein Omen, dachte sie, dabei glaube ich doch eigentlich gar nicht an so einen Unsinn. Trotzdem verspürte sie nicht die geringste Lust, in ihr leeres Haus zurückzukehren. Sie griff nach ihrem Handy und blätterte durch die Einträge, bis sie Joans Nummer gefunden hatte. Joan wohnte in Bray und war mit Kate zur Schule gegangen; »verrücktes Zeitalter«, pflegte Eva gerne über die Schulzeit ihrer Mutter zu lästern. Joan war sofort am Telefon.
»Hättest du vielleicht Zeit, mit mir zu Mittag zu essen?«
»Heute nicht, Kate. Gleich kommt jemand wegen der Heizung, und ich möchte nicht, dass die mir das ganze Haus in die Luft jagen!«
Kate lachte pflichtschuldigst.
»Nicht schlimm. War auch nur so eine Idee!«
»Du klingst irgendwie bedrückt.«
»Ich habe Eva gerade zum Flughafen gebracht. Sie trifft sich zum ersten Mal mit ihren zukünftigen Schwiegereltern.«
»Mach dir keine Sorgen, Katie. Du warst immer schon viel zu ängstlich. Erinnerst du dich an deine Albträume? Du hast ja wirklich mehr als einmal so laut geschrien, dass der ganze Schlafsaal geweckt wurde!«
Kate lachte zwar, aber Joan hatte mit dieser Bemerkung unabsichtlich in einer ihrer Wunden gebohrt. Ihre Albträume waren alte Bekannte, liefen immer gleich ab und weckten sie regelmäßig nachts auf.
»Fahr doch ein bisschen durch die Gegend und gönn dir irgendwo ein nettes Mittagessen«, schlug Joan vor. »Und denk an unser Bridge-Treffen am Samstag.«
Kate versprach, es nicht zu vergessen. Sie schaltete ihr Handy ab und entschloss sich, dem Rat ihrer Freundin zu folgen. Alles war besser, als vor sich hinzubrüten oder nach Rathcormac zu fahren, wo ihr Cathals Geist auf Schritt und Tritt folgte. Obwohl sein Tod inzwischen über ein Jahr zurücklag, war er in ihren Gedanken immer noch absolut präsent. Bis auf heute. Heute musste sie ständig an Eva und den merkwürdigen Vorfall auf dem Weg zum Flughafen denken. Sie durchquerte die Stadt in Richtung Süden. Im Glen of the Downs wollte sie einen ihrer Lieblings-Orte aufsuchen.
Ihr fiel wieder ein, auf welch merkwürdige Weise sich Julian und Eva kennen gelernt hatten: in einem Internet-Chatroom. Ihre hart arbeitende Eva, die eine Geschäftsbeteiligung anstrebte, hatte wenig Zeit für soziale Kontakte und sich der Technologie anvertraut, um einen Partner zu finden. Wie durch Magie war Julian in ihrem Leben aufgetaucht – ein herbeigerufener Flaschengeist.
»Er ist einfach toll, Mami«, hatte Eva nach dem ersten Treffen geschwärmt. »Ein vollendeter Gentleman!«
»Die alte Welt hinterlässt eben doch ihre Spuren in der neuen«, hatte Kate zu ihrer Tochter gesagt. »Trotzdem, Liebes – sei vorsichtig! Du kennst ihn kaum!«
Inzwischen wusste Kate, dass Julian Lynch in Rhode Island geboren worden war. Er war NAN-Administrator – Eva hatte ihrer Mutter geduldig erklärt, dass es sich dabei um die Abkürzung für Networking Wide Area handelte – und arbeitete für Intel in Leixlip in der County Kildare. Somit hatte er nicht nur Arbeit im Land seiner Vorfahren gefunden, sondern sogar genau in der Grafschaft, aus der die Familie stammte. »Cill Dara – Kirche der Eiche«; er benutzte die Worte der alten Sprache wie eine Art Mantra.
Jetzt arbeitete er in New York. Für Eva schien er der perfekte Partner zu sein. Sie vergötterte den schlaksigen jungen Mann und lachte über seine Schrullen.
Kate versuchte, der Ursache für ihre Unruhe auf den Grund zu gehen. Der hässliche Zusammenprall mit der Krähe; die Art, wie ihre Tochter Julian kennen gelernt hatte, der trotz allem in gewisser Weise noch immer ein Fremder war; das Gefühl, dass in ihrem Inneren etwas zu brodeln schien und offenbar mit den Albträumen zu tun hatte. In der letzten Zeit war es schlimmer geworden. Oft wachte sie nachts schweißgebadet auf.
»Wechseljahre«, hatte ihr Arzt lapidar festgestellt. »Vielleicht sollten wir eine neue Pille ausprobieren!«
»Lieber nicht«, war ihre Antwort gewesen.
Er hatte ihren Blutdruck gemessen und ihr Herz abgehorcht.
»Ich gebe Ihnen eine Überweisung für ein EKG«, erklärte er anschließend mit professionellem Stirnrunzeln. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Die gute alte Pumpe muss eben ab und zu überprüft werden.«
Ehe sie sich versah, war Kate im Glen of the Downs angelangt. Seine Schönheit berührte sie, wie jedes Mal. Die zartblättrigen Bäume links und rechts der Schnellstraße zeigten die ersten rotgoldenen Tönungen des nahen Herbstes.
Kate parkte vor dem Avoca Centre, gönnte sich eine üppige Portion Lachs mit Brokkoli, schmökerte im Buchladen herum und kaufte ein Wok-Kochbuch. Anschließend machte sie einen Spaziergang unter den alten Eichen – möglicherweise Relikte eines alten Waldes. Doch das Unbehagen vom Morgen kam wieder. Eva kommt doch in zwei Wochen zurück, versuchte sie sich zu beruhigen. Sei vernünftig, fahr nach Hause und füttere die Katze.
Sie setzte sich wieder ans Steuer und fuhr die N 11 entlang; in Merrion Gates bog sie ab und nahm die Straße, die nach Sandymonnt und zum Meer führte, zur East Link Bridge, der Enge von Howth und nach ›Rathcormac‹.
Kate hatte das Tor offengelassen. Sie fuhr die Auffahrt hinauf und stellte fest, dass das Unkraut schon wieder spross, obwohl sie erst zwei Wochen zuvor gesprüht hatte. Als sie vor dem Haus anhielt, schoss ihre Katze Ming aus einem Blumenbeet hervor und versteckte sich in den Büschen.
»Puss, puss, puss.« Kate stieg aus dem Auto und lockte die Katze. »Komm her, Dummerchen.«
Ming ließ sich überreden. Nachdem Kate die Haustür aufgeschlossen hatte, sauste die Katze schnurstracks in Richtung Küche.
Kate blieb in der Eingangshalle stehen. Der Raum war groß und hing voller Gemälde, deren Anblick ihr jedes Mal von neuem Freude bereitete. Rechts lag das Wohnzimmer, dessen Panoramafenster eine weite Aussicht über die Bucht von Dublin bot, links das Esszimmer, das mit einer Falttür von der Bibliothek getrennt war. Früher hatte die Bibliothek ihrer Mutter und ihrem Großvater als Atelier gedient, sie selbst benutzte den Raum dagegen einfach als zusätzliches Wohnzimmer.
Ein buntes Bogenfenster in der Treppenkehre warf farbige Lichttupfer auf den verblichenen rosa Teppich. Ziemlich staubig hier, dachte Kate. Ich bin eine miserable Hausfrau. Kein Wunder, bei meiner ständigen Müdigkeit. Die Standuhr ihres Großvaters surrte und schlug drei Uhr.
In der Küche miaute Ming ihre leere Schüssel an und warf Kate einen vorwurfsvollen Blick zu. Gibt es heute etwa kein Mittagessen?, schien sie zu fragen. Ich bin eine nette Katze, warum werde ich so schlecht behandelt?
»Ich bin ja schon da!«, sagte Kate, als das Maunzen sich in Fauchen verwandelte. Sie öffnete eine Dose Katzenfutter, löffelte es in Mings Schüssel und setzte den Wasserkessel auf, während Ming in Sekundenschnelle alles verschlang.
Sie sah auf die Uhr. Evas Flugzeug war mittags gestartet. Die Hälfte der Flugzeit hatte sie jetzt schon hinter sich. Julian würde sie am JFK abholen.
Kate nahm ihren Tee mit in den Garten, trank ihn, während sie ihre Blumenrabatten inspizierte, stellte dann den leeren Becher auf einem Steintisch ab und ging auf das niedrige Tor zu, das zum Pfad über die Klippe führte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht ging man in dem an grüne Hügel gelehnten Dublin den High-Tech-Geschäften nach.
Kaum hatte sie den Schutz der hohen Lorbeerhecke verlassen, peitschte der Wind Kate das Haar ins Gesicht und nahm ihr fast den Atem. Sie wanderte den steinigen Pfad entlang, lauschte der grollenden See und freute sich, als sie Tom Ruane traf. Tom war ihr Nachbar und ebenfalls verwitwet. Mit seinem Labrador Sunny kam er Kate entgegen.
»Hallo Tom. Der Wind pustet einem ja heute jedes Zipperlein weg!«
»Für Zipperlein bist du noch viel zu jung.«
Sein Leben in der akademischen Welt hatte dem hochgewachsenen Mann aus Cork eine leicht gebeugte Haltung verliehen, doch er war topfit. Jeden Tag lief er mehrere Meilen.
»Ich war eben schon mal bei dir, um dich zu fragen, ob du ein Stück mit mir laufen magst, aber du warst nicht da.«
»Ich habe Eva zum Flughafen gebracht. Sie ist auf dem Weg nach Amerika.«
»Die Schwiegereltern kennen lernen? Sie werden hingerissen sein!«
»Hättest du nicht Lust, heute Abend zum Abendessen zu kommen – ich meine, wenn du Zeit hast?«
Sein Gesicht strahlte vor Vergnügen.
Kate ging nach Hause, bewaffnete sich mit einem Staubwedel und einer Dose Möbelpolitur und machte sich über das Mobiliar her. Schnell waren Wohn- und Esszimmer von ihrem leicht vernachlässigten Aussehen befreit. In der Bibliothek fing Kate bei den Fotos an. Eva bei der Abschlussfeier mit der Entlassungsurkunde, ein Hochzeitsfoto von ihr selbst und Cathal. Sie staubte die älteren Fotos in ihren Silberrahmen ab. Da war das dezent sepiafarbene Hochzeitsbild ihrer Großeltern aus dem Jahr 1912. Die Jungvermählten wirkten stocksteif. Großmutter Ellen trug ein Seidenkleid mit Puffärmeln, der Bräutigam einen unnachgiebig gestärkten Kragen. Ein noch älteres Foto zeigte Ellen in jüngeren Jahren mit taillenlangem Haar; sie hatte sich bei ihrem Bruder Harry und ihrer Cousine Franny eingehängt.
In der Stille der Bibliothek fühlte sich Kate sanft von einem Gespür für andere Zeiten und andere Menschen berührt, das sie schon als junges Mädchen oft fasziniert hatte.
Um kurz nach sieben kam Tom durch die Öffnung in der Hecke, trat in die Küche und stellte eine Flasche Côtes du Rhône sowie einen Beutel mit Schokoriegeln auf die Anrichte. Sunny war bei ihm, klemmte aber erschrocken den Schwanz ein, als Ming ihn anfauchte.
»Ich fürchte, du musst draußen warten, alter Junge«, erklärte Tom dem Hund. »Hier ist das Reich von Prinzessin Ming!«
Kate lachte. Sie schnitt eine Gurke klein.
»Sie ist ein ganz schön strenger Chef!«
»Kann ich dir helfen?«
»Du kannst den Tisch decken. Ich wollte es eigentlich schon längst gemacht haben, aber die Vergangenheit hat mir aufgelauert.«
»Fühlst du dich vielleicht ein bisschen so, als hätte man dir etwas weggenommen, Kate?«, fragte Tom leise, während er das Besteck verteilte.
»Woher weißt du das?«
»Ist mir auch schon passiert!«
Kate fragte sich, ob er seinen Sohn Peter meinte, einen Wissenschaftler, der im französischen Staatsdienst arbeitete. Peter lebte in Paris und war die Quelle für den Wein und die dunkle Schokolade.
»Ich weiß, es ist dumm«, sagte Kate. »Eva ist nur vierzehn Tage weg. Sie kommt zusammen mit Julian zurück, und dann müssen wir uns schon bald um die Hochzeit kümmern. Der Empfang soll hier stattfinden. Ich dachte da an ein großes Zelt ...«
Das Abendlicht beleuchtete die Anrichte aus Pinienholz, auf der blau gemusterte Teller aufgereiht standen. Ming saß mit vollem Bauch zufrieden in ihrem Körbchen und putzte sich. Kate und Tom aßen Eiersalat mit Schinken und Vollkornbrot mit Camembert und gönnten sich dazu den Côtes du Rhône.
Zum Kaffee setzten sie sich in die Bibliothek. Kate schloss das Fenster, trotzdem blieb ein zarter Duft nach Blüten und Seewind in der Luft. Kate schenkte Tom und sich einen Brandy ein. Er leerte seine Kaffeetasse, bevor er sich mit geschlossenen Augen dem Brandy widmete.
»Das Leben könnte schlimmer sein«, sagte er schwermütig, während er mit Kennermiene den guten Tropfen kostete.
Kate musste lachen. »Schön, wie du einen immer wieder auf heitern kannst, Tom!«
»Du lieber Himmel!«, rief ihr Gast, als er schließlich die Augen wieder öffnete. »Wohin man auch blickt – nichts als Porträts der teuren Verblichenen! Du hast wohl ein Faible für deine Vorfahren, Kate. Hast du sie etwa zu deinen Vorbildern erkoren? Macht dich ihr Anblick nie melancholisch?«
»Manchmal schon. Aber ich darf sie nicht stören. Eva sagt, sie sind ein Teil von uns. Sie sagt, sie möchte, dass ihre Kinder sie kennen lernen.«
Der Gedanke blieb wieder wie ein seltsames Omen für die Zukunft im Raum hängen: Evas Kinder. Kate betete, dass die Hochzeit so verlaufen würde, wie sie es geplant hatte. Noch nie hatte sie ihre Tochter so glücklich und so sicher erlebt. Doch dann fiel ihr plötzlich wieder Evas letzter, hilfloser Blick am Flughafen ein.
Tom erzählte vom Leben seines Sohnes in Paris. Obwohl die Wohnungspreise ständig stiegen, hatte Peter sich an der Grenze zum 16. Arrondissement eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern gekauft.
»Gemessen an Dubliner Verhältnissen ganz gute Qualität. Sind Eva und Julian mit ihrer Wohnung am Fluss weitergekommen?«
Kate nickte. »Im Hafenviertel von Dublin – das will schon was heißen!«
»Ein Schaukasten!«, frotzelte Tom. Er wies auf die Fotos ringsum. »Kannst du dir vorstellen, wie die Leutchen hier auf die Vorstellung, oberhalb der Liffey zu wohnen, reagiert hätten?«
Kate lachte. »Sie lebten in einer ganz anderen Welt, Tom. Einer Welt voller Unannehmlichkeiten wie Rebellion, Bürgerkrieg, massenhafter Auswanderung und Schinderei ...«
» ... und sie hatten keine Computer«, fügte Tom hinzu. Er liebte es, im Internet zu surfen. »Wir haben es wirklich gut!« Er hob sein Glas und prostete den hohen Kragen und den seit langer Zeit toten Augen zu.
»Möchtest du noch einen Brandy, Tom?«
»Nein danke, meine Liebe.«
Er seufzte zufrieden, stand auf und dankte Kate für das Abendessen. Sie begleitete ihn zur Küchenveranda, wo Sunny sofort aufsprang und sie schwanzwedelnd begrüßte. Kate beugte sich hinunter, um den Hund zu streicheln.
»Warum bist du so außer Atem, Katie McBride?«, erkundigte sich Tom mit leiser Stimme.
»Mir geht es bestens! Weißt du, Tom«, fügte sie hinzu, als Tom keinerlei Anstalten machte, zu gehen, sondern sie besorgt musterte, »ich glaube, es liegt daran, dass ich heute Morgen auf dem Weg zum Flughafen etwas Komisches erlebt habe. Ein merkwürdiger Unfall ... und dann auch noch mit einer Krähe!« Sie lachte verlegen.
»Erzähle.«
Sie schilderte ihm den Vorfall. Danach fühlte sie sich besser. Tom schüttelte den Kopf.
»Wir Menschen versuchen immer, einen Sinn hinter allem zu finden, Kate. Aber es waren nur Vögel, unvernünftige Vögel. Am besten, du gehst jetzt ins Bett und schläfst dich richtig aus.«
Er küsste sie auf die Stirn und verschwand mit Sunny durch die Hecke. Doch Tom schwante nichts Gutes. In der irischen Mythologie standen Krähen als Symbol für die Morrigan, die Macht des Bösen. Sie verkündeten Krieg, Verderben und Verzweiflung.
Kate ging in die Bibliothek zurück, knipste eine weitere Lampe an und schenkte sich einen zweiten Brandy ein. Sie wünschte, Eva würde endlich anrufen und sagen, dass sie gut angekommen war. Trotz der Lampen schienen die Schatten tiefer zu werden. Kate betrachtete das Porträt ihrer Mutter über dem Kamin. In ihrem perlgrauen Kleid sah sie sehr elegant aus.
Mein Gott, Mama, du warst so schön! Weißt du noch – der Tag, an dem wir Boston verließen? Du warst aufgeregt wie ein Kind, weil es endlich nach Hause ging. Ich war dreizehn. Und Vater freute sich auf seine neue Tätigkeit als Arzt in St. Vincent.
Die schöne Frau im Abendkleid schien Kate versonnen anzuschauen.
Ach, wärst du doch noch hier, Mama. Eva hätte dir bestimmt gefallen.
Kate nippte an ihrem Brandy. Ihr Blick glitt zum nächsten Foto.
Die Großeltern Michael und Ellen starrten sie aus dem Rahmen heraus an. Neben ihnen stand ihre Tochter Mary. Kate hatte die Tante immer nur in den Sommerferien gesehen, da diese in England gelebt hatte.
»Wohin seid ihr nur alle verschwunden?«, fragte Kate laut. Du liebe Zeit!, dachte sie. Habe ich etwa einen Schwips? Sie brachte Kaffeetassen und Gläser in die Küche. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
»Hallo, Mama!« Evas Stimme klang klar und deutlich. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich heil und gesund angekommen bin. Julian hat am Flughafen auf mich gewartet, und wir waren zusammen essen. Er hat sich heute freigenommen.«
Kate legte die Hand schnell über die Sprechmuschel, damit Eva ihren erleichterten Seufzer nicht mitbekam.
»Ist ja toll, Liebes! Hast du keinen Jetlag?«
Eva lachte. »Kein bisschen! Wir haben uns am Flughafen ein Taxi genommen und sind an ganz vielen kleinen Holzhäusern vorbeigekommen. Es war wie im Kino. Und dann die Wolkenkratzer! Schon vom Hochschauen wird man schwindelig! Manchmal denke ich, ich bin auf einem fremden Planeten gelandet.« Sie senkte die Stimme. »Morgen ist es so weit.
Julian hat morgens einen Termin in Manhattan. Ich gucke mich in der Zwischenzeit ein bisschen in der Stadt um. Nach seinem Termin treffen wir uns, gehen irgendwo im hundertsten Stockwerk essen und fahren dann nach Rhode Island zu seinen Eltern. Hoffentlich mögen sie mich.«
»Keine Sorge, sie mögen dich bestimmt. Richte ihnen einen schönen Gruß von mir aus und sage ihnen, dass ich mich darauf freue, sie bald kennen zu lernen.«
»Ich rufe dich morgen Abend an. So gegen zehn Uhr eurer Zeit.«
»Das ist lieb von dir.«
»Tschüss, Mami. Ich hab dich lieb!«
Sie legte auf.
Unwillkürlich rechnete Kate nach, wann Eva zurückkommen würde. Am fünfundzwanzigsten. Die Zeit bis dahin schien ihr unendlich lang. Aber morgen würde Eva wieder anrufen. Und auf Eva konnte man sich immer verlassen.
Aufgemuntert machte sie sich auf den Weg nach oben. Langsam stieg sie die Treppe hoch und öffnete die knarrende Tür zu dem etwas angestaubten Zimmer, in dem sie die unvollendeten Gemälde ihres Großvaters, die frühen Werke ihrer Mutter und einige Aquarelle von Großmutter Ellen und Cousine Franny aufbewahrte.
Unter dem Oberlicht stand ein viktorianischer Damensessel mit einem wackeligen Bein, ein Fundstück vom Trödelmarkt. Eva wollte ihn in ihre neue Wohnung mitnehmen. »Ein paar Antiquitäten müssen einfach sein, Mama«, hatte sie gesagt. »Für ein charaktervolles Ambiente.« Kate hatte beschlossen, den Sessel während Evas Abwesenheit restaurieren zu lassen und sie damit zu überraschen. Letzte Woche hatte sie bei Murrays den perfekten Stoff gefunden und auch schon einen Kostenvoranschlag erhalten.
Kate zog den Sessel an die Tür. Dabei hätte sie beinahe einen Karton voller Krimskrams umgeworfen – Zeug, das schon vor ihrer Geburt dort verstaubt war. Neben verblichenen Drucken in angeschlagenen Rahmen und einem Stapel alter Postkarten entdeckte Kate ein in Leder gebundenes Tagebuch mit einem verrosteten Schloss. Sie nahm das Büchlein in die Hand. Als Kind hatte das Schloss sie immer von weiteren Forschungen abgehalten, doch als sie jetzt drückte, sprang es plötzlich auf. Sie fühlte sich fast wie eine Grabschänderin. Trotzdem wischte sie sich den silbrigen Staub von den Fingern, öffnete das Tagebuch und sah, dass Seite um Seite dicht mit einer altmodischen Handschrift bedeckt war. Kate blätterte zum letzten, mit grüner Tinte geschriebenen Eintrag.
»Mein Name ist Ellen, und heute ist mein fünfzehnter Geburtstag.«
Aus dem Tagebuch fiel ein kleines, vergilbtes Foto. Kate hob es auf und betrachtete den jungen, schnurrbärtigen Offizier. Sie drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand in verblichener Tinte ein Name: Guy.
»Und wer warst du?«, fragte sie das leblose Gesicht. Sie rätselte noch einen Moment, dann steckte sie das Foto zurück in das staubige Tagebuch.
Eines Tages würde sie das Tagebuch lesen, nahm sie sich vor. Sie schleppte den Sessel bis zum Treppenabsatz, kam dabei ziemlich außer Atem und setzte sich deshalb für einen Augenblick auf die oberste Treppenstufe, bevor sie hinunterging, Ming in den Garten ließ und die Haustür abschloss. Dann ging sie zu Bett.
Sie träumte ein wirres Durcheinander: Tom, der ihr über sein Brandyglas hinweg zulächelte, Großmutter Ellen in einem Kleid aus der Zeit König Edwards, Eva, die ihr mit einer Krähe auf der Schulter zum Abschied zuwinkte. Kate versuchte, sie zurückzuhalten, doch Eva verlor sich in einer Menschenmenge.
Erschrocken fuhr Kate auf, knipste die Nachttischlampe an und starrte auf die feinen Risse in der Decke. Ihr Herz raste.
Nie würde eine Krähe sich auf ein lebendes Wesen setzen. Nur auf einen Toten.
Kate lauschte den nächtlichen Geräuschen. Blätter rauschten vor dem Fenster, der Wassertank gluckerte, und ab und zu knarrte es leise. Vielleicht gingen irgendwo im Haus Gespenster um. Kate störte es nicht. Bei Gespenstern konnte es sich nur um ihre schöne Mutter Hannah oder um andere Mitglieder der Familie handeln. Ellen vielleicht, oder die mysteriöse Franny.
Behütet meine Eva, flüsterte sie den unsichtbaren Wesen zu. Ich spüre, dass da etwas nicht stimmt.
September 1901
Ellen lehnte ihr Fahrrad im Torfschuppen neben das von Harry, nahm ihre Bücher und ging durch den nassen Garten zur Hintertür. Die Hortensien, die ihre Tante so sehr liebte, trieften vor Nässe. Aus der Dachrinne gluckerte Wasser in die Regentonne.
Ellen schwelgte in Hochgefühlen. Der Schulmeister hatte heute ihre außerordentlichen Leistungen im Umgang mit den Schülern gelobt, und außerdem hatte sich ihr Vater zum Abendessen angemeldet; sie hatte ihn ein halbes Jahr nicht gesehen. Sie öffnete die Küchentür. Anheimelnde Wärme umfing sie.
»Ach, du bist es!« Maggie, die am Herd stand, drehte sich um. »Sehr nass geworden?«
»Teilweise, Maggie. Ich kann nur noch nicht genau ausmachen, welche Teile.«
Sie nahm Hut und Regenmantel ab, hängte sie an einen Haken an der Hintertür und setzte sich, um die Schnürbänder ihrer Stiefel zu lösen. In der Küche duftete es nach brennendem Torf, frisch gebackenem Brot und leckerer Pilzsuppe.
»Ist das etwa meine Lieblingssuppe, Maggie?«
»Ich war nicht ganz sicher, wie üppig die Ernte heute Morgen ausfallen würde«, erwiderte das Mädchen. »Aber Franny hat es geschafft, vor den Maden da zu sein.«
Sie hob den Deckel des schweren Eisentopfs, rührte mit einem Holzlöffel darin herum und fügte im Flüsterton hinzu: »Sie ist völlig aus dem Häuschen. Dein Vater bringt jemanden mit.«
Ellen sah sie an.
»Wen denn?«
Maggie legte einen Finger auf die Lippen. Die Küchentür wurde geöffnet. Das Mädchen verschwand in der Vorratskammer. Tante Harriet trat ein, dicht gefolgt von Ellens Bruder Harry.
Ellens Tante war recht beleibt, trug ihr graues Haar in einem Nackenknoten und legte meistens eine ziemlich strenge Miene an den Tag. Von ihren Dienstboten wurde sie ausnahmslos respektiert, weil sie sich immer fair verhielt.
»Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag, mein liebes Kind.«
»Danke sehr, Tante.«
»Es gibt da ein paar Neuigkeiten. Dein Vater bringt heute jemanden mit, der dich kennen lernen möchte.«
Ellen fiel der veränderte Tonfall der Tante sofort auf. Sie tauschte einen bedeutsamen Blick mit Harry, der ein lautes Stöhnen hören ließ.
»Es ist diese Witwe, die ihr Gepäck verloren hatte, Schwesterherz. Vater erwähnte sie in seinem letzten Brief. Sie hat ihre Krallen nach ihm ausgestreckt!«
»Du befleißigst dich einer ziemlich bildhaften Ausdrucksweise, Harry«, rügte die Tante. »Du wirst sie begrüßen müssen, genau wie ihren Stiefsohn.«
»Stiefsohn?«, wiederholte Harry befremdet. »Wie alt ist denn der kleine Störenfried?«
Die Tante seufzte. »Achtzehn, glaube ich.«
»Tante Harriet«, begann Ellen und blickte ihre leicht verärgerte Tante offen an, »glaubst du, dass Vater diese Frau heiraten will?«
»Ich weiß es nicht, Ellen. Aber er wird euch sicher alles erzählen.«
Nachdem die Tante die Küche verlassen hatte, drehte sich Harry grinsend zu seiner Schwester um.
»Ich habe deinen Geburtstag nicht vergessen, Schwesterherz. Franny und ich haben dir ein Geschenk besorgt. Sie ist gerade dabei, eine Karte dazu zu malen – du wirst dich also noch ein wenig gedulden müssen. Aber du bekommst es sicher noch vor heute Abend.« Und mit gespielter Lässigkeit setzte er hinzu: »Dann will Vater uns also heute seine Herzdame vorstellen. Könntest du dir vorstellen, dass wir ... dass wir vielleicht wieder eine Familie werden?«
»Ach Harry, es wäre doch nicht mehr das Gleiche. Mutter ist doch nun schon sieben lange Jahre tot.«
Vor einiger Zeit hätte die Aussicht, wieder bei ihrem Vater leben zu dürfen, Ellen noch in Entzücken versetzt. Doch nach den vielen Jahren unter dem Dach ihrer Tante war sie sich nicht mehr so sicher. Sie und Harry gehörten inzwischen fest zur Familie der Murphys und wurden wie Geschwister ihrer beiden Cousinen Clare und Francis behandelt; ihr Vater war ihnen fremd geworden. Sie sehnten sich zwar immer noch nach ihm, vermissten ihn aber mittlerweile immer seltener, da sie ihn so gut wie nie sahen. Dass er sich überhaupt wieder einer Frau zugewandt hatte, empfand Ellen beinahe als Verrat.
»Und außerdem hat Mrs Forrister bereits einen Stiefsohn«, erinnerte sie ihren Bruder. Harrys Grinsen wurde breiter.
»Vielleicht interessiert sie sich ja für ein neueres Modell. Wie könnte sie einem derart gutaussehenden und netten Menschen wie mir widerstehen?«
In diesem Augenblick stürmte Franny in die Küche. Die Dreizehnjährige ähnelte mit ihrem rötlich braunen Haar und den grünen Augen ihrer Schwester Clare, die in Dublin wohnte; für deren außergewöhnliche Schönheit war sie allerdings noch zu kindlich. Als ausgemachter Wildfang wagte sie als Einzige in der Familie, ihre Mutter herauszufordern.
»Selbstlob stinkt!«, bemerkte sie zu Harry gewandt.
Wie üblich wirkte sie ein wenig zerzaust. Das in einen Zopf geflochtene dichte Haar hatte sich gelöst und wippte über ihre Schultern, und auf ihrer Schürze prangten Farbflecke; wahrscheinlich hatte sie den Pinsel daran abgewischt. In der Hand hielt sie etwas, das sie sofort hinter ihrem Rücken verbarg, als sie Ellen bemerkte.
»Ich wusste nicht, dass du schon da bist, El«, lachte sie. »Ich bin gerade dabei, dir eine Karte zu malen, aber du darfst sie nicht sehen, ehe wir dein Geschenk verpackt haben.« Leiser fügte sie hinzu: »Hat Mutter dir schon erzählt, dass euer Vater eine Dame mitbringt?«
Ellen nickte. »Sie hat uns auch ermahnt, nett zu ihrem Stiefsohn zu sein.«
»Er heißt Guy«, vertraute Franny ihnen mit spöttischer Stimme an. »Hätten sie ihm nicht einen vernünftigen Namen geben können?«
Maggie trat aus der Vorratskammer, und Ellen nutzte die Gelegenheit, um sich nach oben davonzumachen. Sie war gespannt auf das Geschenk. Zwischen Franny und Harry hatte sich vom ersten Tag an eine Komplizenschaft entwickelt, die inzwischen fester Bestandteil der Hausgemeinschaft war. Voller Erwartung sah Ellen dem Besuch ihres Vaters und der beiden Fremden entgegen. Doch ihre Gefühle waren zwiespältig, denn sie erinnerte sich noch besser als Harry an die Zeiten, als sie beide eine richtige Familie gehabt hatten.
Ellens Zimmer ging zur Vorderseite des Hauses hinaus, sodass man vom Fenster die Weiden überblicken konnte, die sich sanft zum Fluss hin absenkten. Sie hatte das Zimmer von ihrer Cousine Clare geerbt. Clare war seit einem Jahr mit Frank Ahern verheiratet, der als Journalist beim Irish Independent arbeitete, und erwartete gerade ihr erstes Kind.
Im Zimmer standen eine Schubladenkommode, auf der Ellen ihr einziges Familienfoto aufgestellt hatte, ein beweglicher Spiegel, ein weißes Eisenbett mit Messingknäufen, ein Toilettentisch mit Schüssel und Krug, beide mit schwarzen Schiffen auf blauem Wasser bemalt, und der rechteckige Tisch mit ihren Schulbüchern. Ellen betrachtete sich im Spiegel und suchte nach Anzeichen einer neu erworbenen Reife. Doch der Spiegel zeigte immer noch das gleiche, scheue Gesicht mit den großen graublauen Augen.
Stattdessen entdeckte sie etwas anderes. Auf dem Bett hinter ihr lagen zwei in braunes Papier verpackte Päckchen. Sie drehte sich um. Entzückt erkannte sie, dass auf beiden Paketen ihr Name stand: Miss Ellen Healy.
Als Erstes betastete sie das Päckchen, das von ihrem Vater beschriftet war. Es war hart und fühlte sich wie ein Buch an. Das andere Päckchen war weich. Sie wusste, was sich darin verbarg, und riss das braune Papier auf. Wie erwartet fand sie darin das Geburtstagsgeschenk ihrer Tante, ein neues Kleid, das Mrs Lacey, die beste Schneiderin der Stadt, nach einem Schnittmuster genäht hatte. Das Kleid war etwas ganz Besonderes, ein Kleid für sonntags. Ellen hatte noch nie ein so extravagantes Stück besessen. Normalerweise trug sie Clares abgelegte Kleider auf. Sie nahm das Kleid aus dem Seidenpapier, genoss den Duft des neuen Stoffes und schüttelte es glatt. Eilig schlüpfte sie aus Rock und Bluse, streifte das Kleid über, kämpfte erfolglos mit den Rückenverschlüssen, legte den Gürtel um ihre Taille und stellte sich vor den Spiegel. Das Kleid war aus zart puderig blauer Merinowolle. Biesen zierten das Vorderteil; die Ärmel waren oberhalb der Ellbogen leicht gepufft und der hohe Fischbeinkragen aus Batist gearbeitet. Der wadenlange Saum war mit einem Volant besetzt. Die Farbe des Kleides harmonierte mit Ellens Augen und betonte ihre schmale Taille. Irgendwie hatte sie sich plötzlich verändert; sie sah beinahe wie eine Dame aus. Nun ja, nicht ganz, dachte Ellen und begutachtete ihren kindlich flachen Busen. Aber eines Tages würde es so weit sein.
Sie beschloss, das Kleid an diesem Abend zu Ehren ihres Vaters zu tragen, und drehte sich vor dem Spiegel in alle Richtungen, um ihre neue Pracht zu bewundern. Was würde er wohl für ein Gesicht machen, wenn er sah, dass seine Tochter beinahe zur Frau herangereift war?
Ellen hörte das Poltern von Rädern, lief zum Fenster und hob eine Ecke der Spitzengardine. Doch nicht ihr Vater fuhr vor, sondern Krämer O’Hara in seinem Pferdekarren. Ellen beobachtete, wie O’Haras Lehrling das Pferd am Geländer festband, die Kiste mit den Bestellungen aus dem Wagen hob, das Tor in der Lorbeerhecke öffnete und über den Gartenweg nach hinten zum Kücheneingang verschwand. Ihm folgte Jimmy Horan, der junge Nachbar, der jeden Tag nach den Stallungen sah. Fröhlich pfeifend betrat er in Gummistiefeln und Kappe den Garten. Als er die Bewegung hinter der Gardine entdeckte, blickte er hoch und begann mit unbekümmerter Tenorstimme lauthals zu singen.
Ellen lachte, ließ die Gardine fallen und wandte ihre Aufmerksamkeit dem zweiten Geschenk zu. Sie wusste, dass es ein Buch sein musste – das hatte sie bereits ertastet. Doch erst beim Auspacken erkannte sie es. Es war das mit einem winzigen Messingschloss versehene Tagebuch, das einst ihrer Mutter gehört hatte.
Der Brief, den ihr Vater beigelegt hatte, war länger als seine üblicherweise kurzen Mitteilungen.
Liebste Ellen,
zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich möchte dir etwas schicken, von dem ich hoffe, dass du Freude daran hast. Sicher kennst du es und weißt, von wem es stammt, vor allem, wenn du es liest. Deine Mutter hätte bestimmt gewollt, dass du es bekommst; ganz besonders in Anbetracht deiner hervorragenden Schulleistungen. Vor allem die geschichtlichen Aspekte werden dich sicher interessieren – die persönlichen natürlich auch. Beim Lesen fällt dir wahrscheinlich auf, welch ausgezeichnete Chronistin deine Mutter war. Ich hoffe sehr, dass wir uns an deinem Geburtstag sehen, schicke das Geschenk jedoch vorsichtshalber mit der Post, falls ich wider Erwarten verhindert sein sollte.
Dieses Mal komme ich nicht allein zu Besuch. Mrs Forrister wird mich begleiten. Wir beabsichtigen, im kommenden Frühling zu heiraten, und so ist es an der Zeit, dass sie Harry und dich kennen lernt. Sie ist eine liebenswerte Frau. Die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft macht mich sehr glücklich, und ich bin sicher, ihr werdet sie beide willkommen heißen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich das Andenken an eure Mutter immer in Ehren halten werde.
Ellen fuhr mit der Hand über das in Leder gebundene Bändchen. Der Einband war während der langen Zeit weich und an den Ecken dunkel geworden. Beim Anblick der angelaufenen Messingschließe griff sie noch einmal nach dem Päckchen und suchte nach dem Schlüssel. Sie fand ihn in einem Umschlag. Schmerzliche Erinnerungen stiegen in ihr auf. Diesen kleinen Messing-Schlüssel hatte sie nur allzu gut gekannt. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, wie sie aufrecht im Bett saß, das dunkelrote Haar zu einem dicken Zopf geflochten, und in das Büchlein schrieb, das nun in Ellens Händen lag. Ellen steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Schließe sprang auf, und das Buch, das Leben ihrer Mutter, lag offen vor ihr. Sie blätterte zum letzten Eintrag, dessen Schrift so zittrig wirkte, als hätte das Schreiben unendliche Mühe gekostet.
Bald habe ich es überstanden. Vater im Himmel, tröste meinen John. Liebster Herr Jesus, erbarme dich meiner armen Kinder.
Noch einmal empfand Ellen Trauer und Bestürzung, noch einmal machte sie sich Vorwürfe, dass sie in gewisser Weise schuld an der Misere gewesen war. Sie ging zur Kommode und nahm das Familienfoto in die Hand. Es war vor ungefähr zehn Jahren aufgenommen worden und zeigte die jungen Eltern mit ihren drei kleinen Kindern Louise, Ellen und Harry, der damals fast noch ein Baby gewesen war. Ihre hübsche, junge Mutter stand sehr aufrecht, um ihr Kleid mit Turnüre, engem Mieder und spitz zulaufenden Ärmeln ins rechte Licht zu rücken.
Kurz nachdem das Bild aufgenommen worden war, hatte die Tragödie ihren Anfang genommen. Louise war mit gerade einmal dreizehn Jahren gestorben, im Jahr darauf folgte die Mutter ihr ins Grab. Sie hatte darauf bestanden, dass man ihr Bett ins Gartenhaus brachte, das zuvor leergeräumt und für die Kranke vorbereitet worden war.
»Nicht hereinkommen, meine Süßen! Mir geht es nicht gut.«
»Lauft, Kinder. Seid lieb, geht spielen«, hatte Mrs Corrigan, das Kindermädchen, gesagt. Aber sie waren dageblieben und hatten miterlebt, wie ihre Mutter von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde. Und obwohl sie ein Tuch vor ihr Gesicht hielt, hatten die entsetzten Kinder die roten Blutflecken gesehen. Nachdem die Mutter sich den Mund abgewischt hatte legte sie sich erschöpft zurück.
»Seht ihr«, hatte sie geflüstert, »ich habe eine ganz schlimme Erkältung, aber sicher geht es mir bald besser. Bitte, meine Süßen, geht zurück ins Haus. Und kommt besser nicht mehr her.«
Am nächsten Tag beschwerte sich das Mädchen, das mit Ellen eine Schulbank teilte, mit vorwurfsvollem Blick: »Mama hat mir erzählt, dass deine Mutter Tuberkulose hat. Ich mag nicht mehr neben dir sitzen ...«
An das Begräbnis erinnerte Ellen sich kaum. Nur die schwarze Kutsche mit dem Sarg der Mutter und die beiden glänzenden Pferde mit Federbüschen auf dem Kopf hatten sich ihrem Gedächtnis eingeprägt. Tante Harriet war ebenfalls auf dem Friedhof gewesen. Ihr schwarzer Mantel hatte nach Mottenkugeln gerochen, und sie hatte Harry und Ellen später mit zu sich nach Hause genommen. In der Dunkelheit waren sie mit dem Zug gefahren.
»Von jetzt an wohnt ihr bei mir.«
Es hatte geregnet. Harry war eingeschlafen. Das Abteilfenster spiegelte eine müde Frau mit zwei Halbwaisen wider.
Viele Wochen lang waren die beiden Kinder sehr blass und sprachen kaum. Ihre Welt war zusammengebrochen. Sie hatten alles verloren: die Mutter, den Vater und ihr Zuhause. Doch nach und nach zeigte sich, dass Harry und Franny immer besser miteinander zurechtkamen. Die ältere Cousine Clare, die damals vierzehn gewesen war, machte dagegen keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber dem Familienzuwachs, bis sich ihr Misstrauen schließlich in Mitleid verwandelte.
Es dauerte mehrere Monate, bis sich Ellen damit abfand, dass der Tod ihrer Mutter zu einem nach ihrem Verständnis verborgenen göttlichen Plan gehörte. Allmählich fühlten die Geschwister sich in ihrer neuen Schule heimisch und gewöhnten sich an die unregelmäßigen Besuche des Vaters. Er arbeitete zweihundert Meilen entfernt in Tralee und hielt den Kontakt hauptsächlich mit Briefen aufrecht. Irgendwann lief es auf einen einzigen Brief im Monat hinaus, der immer dann kam, wenn der Vater seiner Schwester den Scheck für den Unterhalt der Kinder übersandte.
Seine Abwesenheit verlieh ihm einen geradezu mythischen Status; Ellen und Harry sehnten sich nach der Aura von Macht und Sicherheit, die ihn zu umgeben schien.
Eines Tages war er in der dunkelgrünen Uniform der Polizeitruppe Royal Irish Constabulary zu Besuch gekommen. Sogar seine Waffe hatte er getragen. Sie waren vor Stolz fast geplatzt, doch ihre Tante zeigte sich ganz und gar nicht beeindruckt.
»Ich zöge es vor, wenn du hier nicht in Uniform erscheinen würdest.«
Später hatte Ellen sie gefragt, warum sie ihn nicht in Uniform sehen wollte. Tante Harriet hatte mürrisch geantwortet, dass sie in ihrem Haus keinen bis zu den Zähnen bewaffneten Menschen sehen wollte.
Ellen wusste nicht, dass in dem Land, in dem ihr Vater Polizist war, große Veränderungen vor sich gingen. Während der vergangenen zehn Jahre war das Interesse an der alten, dreihundert Jahre zuvor aufgehobenen gälischen Verfassung erwacht. Mit Begeisterung wandte man sich auch wieder der gälischen Sprache zu, deren Gebrauch die englische Regierung mit so viel Mühe unterdrückt hatte. Dank einer mit Stolz auf ihre ritterliche Vergangenheit gepaarten Vaterlandsliebe verhielten sich die Bürger zunehmend kritisch gegenüber der Polizeitruppe, die in Irland die Ordnung im Sinne einer fremden Macht aufrechterhielt.
John Healy hatte beide irischen Traditionen im Blut. Sein Vater war gälischer Abstammung, während seine Mutter aus einer Familie kam, deren englische Vorfahren im siebzehnten Jahrhundert von der Zerstörung der alten Kultur profitiert und irische Ländereien beschlagnahmt hatten. Sie war im Schloss ihrer anglo-irischen Großeltern geboren, aber später enterbt worden, weil sie ihren katholischen Hauslehrer geheiratet hatte. Dennoch hatte John die Polizeilaufbahn bei der Royal Irish Constabulary eingeschlagen und der englischen Königin den Treue-Eid geleistet.
Ellen hatte nur noch ganz wenige Erinnerungen an ihren Vater, diese aber hütete sie in ihrem Gedächtnis wie einen Schatz. So erinnerte sie sich zum Beispiel, wie er lachend mit ihrer Mutter am Kamin gesessen hatte. Sie und Harry waren damals noch ganz klein gewesen. Sie erinnerte sich, dass er sie an einem Wintermorgen zur Schule begleitet hatte, nachdem sie zuvor auf dem eisglatten Bürgersteig ausgerutscht war. Und sie erinnerte sich auch an die beängstigenden Geräusche, die er gemacht hatte, als er am offenen Sarg der Mutter stand und ihr Gesicht betrachtete. Diese ganzen Bilder waren jedoch nur bruchstückhaft. Im Gegensatz zu diesen Erinnerungsfetzen hatte sie aber auch glücklicherweise einige Bilder jüngeren Datums noch sehr lebhaft vor Augen. Zum Beispiel wie Harry vor zwei Jahren – er war gerade zwölf – zum ersten Mal versucht hatte, den Vater herauszufordern.
»Vater, was ist ein Bullenschwein?«
»Ein ziemlich unfreundlicher Ausdruck für einen Polizisten«, hatte der Vater seufzend geantwortet.
»Die Jungs in der Schule hassen Bullenschweine«, hatte Harry sich noch weiter vorgewagt und seinen Vater dabei bekümmert angeschaut.
»Pöbelhafte Ansichten, mein Junge, nichts als pöbelhafte Ansichten!«
»Du meinst sicher ›populäre Ansichten‹, Vater ...«
Ellen hatte alles mit angehört, und es stieg eine Angst in ihr hoch, die sich fast bis zur Übelkeit steigerte. Maggie hatte ihr erzählt, dass der Vater vor einigen Monaten angegriffen worden war; zwei Männer, die aus dem Nichts erschienen waren und sofort wieder verschwanden, hatten auf ihn geschossen. Die beiden Männer waren nie gefasst worden. An seiner Verletzung hatte der Vater monatelang herumlaboriert.
»Ellen?«
Harry und Franny standen an der Tür.
»Dürfen wir reinkommen?«
Ellen schlug das Tagebuch zu und bedeckte es schnell mit ihrem Arm. Sie wollte es nicht mit ihrem Bruder teilen – es wäre zu schmerzhaft gewesen. Und zu privat für die Cousine.
»Du siehst aus wie eine Prinzessin«, sagte Harry. Er pfiff durch die Zähne, als seine Schwester aufstand und eine Pirouette drehte, um ihr neues Kleid vorzuführen.
»Es ist wunderhübsch«, pflichtete Franny ihm bei, die das Kleid schon bei der letzten Anprobe gesehen hatte. »Wir wollten dir unser Geschenk bringen.« Sie hielt Ellen ein schmales, in braunes Papier verpacktes und mit einer rosa Schleife zusammengebundenes Päckchen entgegen. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Wir haben ganz schön dafür gespart«, brummte Harry. »Sieh also zu, dass es dir gefällt.«
Ellen nahm das Päckchen, knüpfte die Schleife auf, entfernte das Papier und fand eine Schachtel und eine Karte mit gemalten Stiefmütterchen und der Aufschrift »Unserer liebsten Ellen alles Gute zum Geburtstag«.
»Oh! Batist-Taschentücher!«, rief sie, nachdem sie die Schachtel geöffnet und die sorgfältig gefalteten, weißen, mit einer kleinen Stickerei verzierten Tücher in Augenschein genommen hatte. »Wie entzückend! Sie müssen ein Vermögen gekostet haben!«
Sie fiel ihrem Bruder und ihrer Cousine um den Hals. Liebe empfand sie als etwas sehr Wertvolles und nahm sie nie selbstverständlich hin.
»Ich werde sie aufbewahren, bis ich erwachsen bin.«
»Ich frage mich wirklich, wie du dich in einen so engen Fummel zwängen kannst, ohne zu kotzen«, stellte Harry fest. »Willst du das Kleid anbehalten, bis Vater kommt?«
Ellen nickte. »Aber ich brauche jemanden, der mir mit den Verschlüssen hilft.«
Harry erklärte, er wolle noch mit Jimmy reden, und verdrückte sich schnell. Frances half Ellen, die Verschlüsse einzuhaken.
»An deinem Geburtstag solltest du nicht weinen«, sagte sie streng. »Was sollen denn dein Vater und die Gäste denken?«
»Sollen sie doch denken, was sie wollen.«
»Mutter hat erzählt, dass der Stiefsohn einen Freund in Clonmore House hat und deshalb mitkommt.« Clonmore war das prächtige Herrenhaus der Familie Wallace, die lokalen Großgrundbesitzer. »Vermutlich ist er ziemlich vornehm«, fügte sie hinzu, während sie das letzte Häkchen zuschnappen ließ. »Aber trotzdem scheint er neugierig auf irische Kobolde zu sein.«
Ellen musste lachen. Franny trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Ellen gefiel ihr Spiegelbild so gut, dass sie unwillkürlich zu summen begann.
Plötzlich hörten sie unten Hufgetrappel, knirschende Räder, das Quietschen des Tors und Stimmengewirr. Ellen und Franny sahen sich an und stürzten zum Fenster.
Von ihrem Ausguck hinter der Gardine sah Ellen, wie ihr Vater aus der Kutsche auf den feuchten Kies sprang. Schmerzliche Sehnsucht stieg in ihr auf. Er streckte die Hand aus und half einer Lady beim Aussteigen. Das Gesicht der Dame konnte sie nicht erkennen, da es von einem Hut mit modisch gebogener Krempe verdeckt war. Sie trug einen lockeren Mantel, schwarze Handschuhe und ließ ein leises, sinnliches Lachen vernehmen. Franny knuffte ihre Cousine in die Seite, als hinter der Dame ein junger Mann auftauchte. Alles, was sie von ihm sehen konnten, war seine aufrechte Haltung, dunkles Haar, dass er eine Brille trug und eine große Kiste schleppte.
»Da ist der Stiefsohn mit dem ulkigen Namen«, flüsterte Franny und flitzte zur Tür. »Ich gehe runter und erzähle es Harry.«
»Warte, bis ich dich gekämmt habe. Und zieh die schmutzige Schürze aus!«
Aber Franny war schon losgestürmt. Auf dem Weg zur Treppe zerrte sie sich die Schürze vom Kleid.
Ellen band ihr eigenes Haar mit dem weißen Seidenband zurück, das sie sonst nur sonntags benutzte, und machte sich dann nervös auf den Weg hinunter ins Wohnzimmer.
Die Fremden nahm Ellen nur am Rande wahr – die Dame mit dem eng geschnürten Kleid im Sessel neben dem Kamin und den jungen Mann, der gelangweilt am Fenster stand –, sie hatte nur Augen für ihren Vater. Sein letzter Besuch lag mehr als sechs Monate zurück. Ihr fiel auf, dass er in der Zwischenzeit gealtert war; sein Haar hatte mehr graue Strähnen als früher. Doch in seinem dunkelgrauen Anzug wirkte er sehr elegant. Auf seiner Weste prangte die vertraute Taschenuhr mit der silbernen Kette. Ellens sehnsüchtige Liebe zu ihm wallte in diesem Moment heftig in ihr auf und überwältigte sie so sehr, dass sie an der Türschwelle stehen blieb.
»Danke für das Tagebuch, Vater«, sagte sie schließlich mit zitternder Stimme. Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sich nicht lächerlich zu machen, brach sie in Tränen aus, lief auf den Vater zu und schlang ihre Arme um seinen Hals.
John Healy umarmte seine Tochter, zog ein Taschentuch hervor und wischte damit über ihre Augen.
»Mein liebes Kind«, sagte er leise. »Du musst dich nicht so aufregen!«
»Entschuldige, Vater! Es ist nur – wir haben uns so lang nicht gesehen, und mit Mutters Tagebuch kamen all die Erinnerungen wieder. Ich weiß ja, dass du sehr beschäftigt bist«, fuhr sie fort und tat ihr Bestes, sich zu fassen.
Schüchtern wandte sie sich der neben ihrer Tante sitzenden fremden Frau zu, die sie mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und einem nachsichtigen Lächeln betrachtete.
»Lilian, meine Liebe, das ist meine Tochter Ellen«, stellte ihr Vater sie vor. Mit einer ausholenden Handbewegung bezog er auch Harry und Franny in die Vorstellung seiner Familie mit ein, die gerade das Zimmer betreten hatten. »Und das sind mein Sohn Harry und meine Nichte Frances. Kinder, darf ich euch mit meiner Verlobten Mrs Lilian Forrister bekannt machen ...«
Ellen hörte die raue Zärtlichkeit in der Stimme ihres Vaters und bemerkte überrascht, dass sie plötzlich verstand, wie einsam er war. Sie sah in die Augen der Frau, die er heiraten wollte. Mrs Forristers draller Körper steckte in einem modischen, waldgrünen Kleid, dessen Saum über den Boden fegte. Aus dem hohen Spitzenkragen blickte ein hübsches Allerweltsgesicht. Ellen griff nach der ausgestreckten Hand der Frau. Sie war warm und schlaff.
»Schön, dich kennen zu lernen, Ellen. Ich habe schon viel von dir gehört – genau wie von Harry«, fügte sie hinzu, während sie Harry ebenfalls die Hand reichte. »Und natürlich auch von Frances ...«
Harry wandte sich dem jungen Mann am Fenster zu. Mit einer gewissen Großspurigkeit, die seine Schüchternheit überspielen sollte, sagte er: »Sie müssen Forrister sein. Gestatten Sie, dass ich mich selbst vorstelle – mein Name ist Harry Healy, und das ist meine Cousine Franny.«
Guy tauschte mit beiden einen Händedruck.
»Und das ist meine Schwester Ellen.«
Guy nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen. Ellen wurde puterrot.
»Ellen ist nicht an deine kontinentale Lebensart gewöhnt, Guy«, rief Mrs Forrister tadelnd. »Guy verbringt den Sommer immer in Frankreich«, fügte sie hinzu und blickte mit perlendem Lachen in die Runde. »Dort behandelt man junge Damen sehr galant.«
»Ich dachte, Sie wohnen in England«, warf Harry ein.
»In England bin ich zur Schule gegangen, aber in Frankreich besitze ich ein Haus«, erwiderte der junge Mann mit einem Anflug lässiger Arroganz. »Ein verstorbener Cousin meines Vaters hat es mir vererbt. Bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag wird es von einem Treuhänder verwaltet.«
Er lächelte Ellen freundlich zu – wie einem schüchternen Kind. Doch Ellen hatte absolut keine Lust, sich wieder in Verlegenheit bringen zu lassen, und zwang sich, seinen Blick zu erwidern.
»Heißt das, Sie sprechen französisch, Mr Forrister?«, fragte sie.
Er nickte. »In der Tat. Aber bitte, nennen Sie mich doch Guy.«
»Ich kann kein Wort französisch«, platzte Franny heraus. »Ich bin von der Schule geflogen, wissen Sie? Jetzt unterrichtet mich meine Mutter. Hätten Sie vielleicht Lust, sich den Garten anzusehen?«, fügte sie hinzu, nachdem sie einen Blick ihrer Mutter aufgefangen hatte. »Dort bin ich wahrscheinlich am besten aufgehoben.«
»Meine Mutter kümmert sich so gut wie ganz allein um den Garten«, erklärte Franny Guy einige Minuten später, mit der Hand über die prächtigen Blumenbeete wedelnd. Guy sagte, dass er einen schönen Garten wirklich zu schätzen wisse, aber von Gärtnerei absolut nichts verstehe.
»Gärtnern Sie ebenfalls, Miss Healy?«, wandte er sich dann an Ellen, die ein Stück zurückgeblieben war. Ellen erwiderte, sie habe zu wenig Zeit. Daraufhin erklärte Harry, die Gärtnerei sei nur etwas für Weicheier und er persönlich finde, Männer sollten lieber angeln gehen, wobei er Guy Beifall heischend anblickte.
»Der einzige Fluss, in dem ich je gefischt habe, ist die Themse«, sagte Guy. »In der Nähe von Oxford.«
»Sie Glückspilz!«, rief Harry. »Ich habe es bisher nur bis zum Smolteen gebracht – das ist unser Dorfbächlein.«
»Der Smolteen ist kein Bächlein«, beschwerte sich Franny. »Es ist ein richtiger Fluss. Du hast dort schon Lachse gefangen!«
Inzwischen hatten sie die Rückseite des Hauses erreicht. Plötzlich schallte Maggies Stimme aus der offenen Tür: »Harry, junger Freund, ich brauche Torf! Würdest du bitte deinen Allerwertesten herbewegen und dich ein wenig nützlich machen?« Mit einem Weidenkorb erschien sie auf der Schwelle und stützte die Hände auf die Hüften. Als sie jedoch Guy Forrister erblickte, verschwand sie sofort wieder in der Küche.
»Den Korb zu füllen ist meine Aufgabe«, erklärte Harry. »Entschuldigen Sie mich – ich bin gleich wieder da.«
»Ich helfe dir!«, rief Franny und rannte hinter ihm her.
Guy und Ellen blieben allein. Keiner von beiden sagte ein Wort; sie sahen sich nicht einmal an. Ihr Schweigen war angenehm und freundschaftlich, doch beide spürten eine merkwürdige Spannung. Als ob er die intime Stimmung bewusst durchbrechen wollte, zeigte Guy linkisch auf die Rosenbeete neben dem Haus und die blühenden Hortensien vor der Stallmauer.
»Ganz sicher haben Sie mehr Anteil an diesem herrlichen Garten, als Sie zugeben.«
»Leider nein. Ich muss lernen.«
»Tatsächlich?«
»Ich will mich um ein Stipendium bewerben.«
Ellen errötete. Plötzlich befürchtete sie, einen absonderlichen Eindruck auf ihn zu machen.
»Und um was für ein Stipendium wollen Sie sich bemühen?«
»Ich möchte Lehrerin werden. Zuerst muss ich noch meine Oberschulprüfungen ablegen, und danach sind die Prüfungen für das Lehrerstipendium an der Reihe.«
»Gehen Sie anschließend zur Universität?«
Seine Frage zeigte Ellen, wie wenig er über Irland wusste.
»In Irland gibt es keine Universitäten für Katholiken«, murmelte sie. »Selbst wenn sie Mädchen annähmen! Ich müsste nach Frankreich oder Belgien gehen, aber das kann mein Vater sich nicht leisten.«
»Ich dachte immer, der größte Teil der irischen Bevölkerung wäre katholisch.«
»Ist er auch, aber das zählt nicht.«
»Das finde ich sehr merkwürdig«, sagte Guy stirnrunzelnd.
Ellen wollte dem Gespräch unbedingt eine andere Wendung geben und wechselte das Thema.
»Möchten Sie vielleicht den Obstgarten sehen?«, fragte sie. »Ich könnte Ihnen auch die Stallungen zeigen. Wir besitzen ein sehr hübsches Pony. Allerdings möchte ich meine neuen Schuhe nicht unbedingt schmutzig machen.«
Als sie am Stall ankamen, stand Jimmy Horan am Tor und fegte den Mist aus. Er begrüßte sie freundlich.
»Ein wunderschöner Tag heute, nicht wahr?«, rief er zu ihnen hinüber.
»Recht hast du, Jimmy«, antwortete Ellen. »Das war Jimmy Horan«, erklärte sie auf dem Weg zum Obstgarten, in dem sich ein ausgetretener Pfad um die ausladenden Bäume schlängelte. »Er besitzt einen kleinen Bauernhof in der Nähe und hilft uns ab und zu bei der Arbeit, weil meine Tante ihm eine Weide überlassen hat. Er ist mit Harry befreundet.«
Die Bäume im Obstgarten bogen sich unter Äpfeln, Birnen und Pflaumen. Guy nahm Ellens Angebot von den Früchten zu kosten an, wählte eine dicke rote Pflaume und biss herzhaft in das saftige Fruchtfleisch.
»Nächste Woche ernten wir«, erklärte Ellen. »Die Pflaumen werden verkauft, aber die Äpfel lagern wir über den Winter ein.«
Nachdem Guy die Pflaume mit sichtlichem Genuss verzehrt hatte, wischte er sich den Mund mit einem Taschentuch ab und folgte seiner Führerin durch den Obstgarten. Das ungemähte Gras stand hoch, die Pfade waren überwuchert. Ellen drehte sich um und lächelte ihren Gast an. Plötzlich streckte er den Arm aus und griff nach ihrer Hand.
»Wie finden Sie Mrs Forrister, Ellen?«
»Sie ist ... nett«, antwortete Ellen nach einer kurzen Pause. Sie wollte ihn nicht spüren lassen, wie unangenehm ihr die Frage war – und auch nicht, wie aufgeregt sie war, dass er ihre Hand hielt. Dann fügte sie hinzu: »Aber Mrs Forrister ist Ihre Stiefmutter. Sie kennen sie natürlich besser als ich.«
»Sie wurde vor zwei Jahren meine Stiefmutter und zwölf Monate später die Witwe meines Vaters. Für sie waren es zwei bewegte und ziemlich lukrative Jahre.«
Ellen wusste nicht, wie sie auf diese ungewöhnliche Bemerkung reagieren sollte. Erstaunt blickte sie ihren Gast an.
»Ich kann mir also denken, wie Sie sich fühlen«, fuhr Guy fort, »Sie und Ihr Bruder.«
»Ich habe Ihnen doch gar nicht gesagt, wie ich mich fühle.«
»Doch, Ellen, das haben Sie getan. Und zwar in dem Augenblick, als Sie ins Wohnzimmer kamen.«
»Normalerweise bin ich eigentlich keine Heulsuse«, murmelte sie. »Sie müssen mich für ziemlich dämlich halten ...«
Sie löste ihre Hand aus seiner, ging ein paar Schritte vor, drehte sich um und fügte verlegen hinzu: »Aber wir sollten nicht über mich sprechen. Es tut mir sehr leid, dass Sie Ihren Vater verloren haben. Es muss schrecklich für Sie gewesen sein. Ich weiß nicht, was ich täte, wenn mein Vater sterben würde ...« Sie begegnete seinem Blick und sagte hastig: »Genau genommen kommt es mir ein wenig so vor. Jetzt heiratet er, als ob er Mutter vergessen hätte. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Mrs Forrister uns nicht will.«
Guy schwieg und wartete. Vielleicht verstand er, dass sie sich nach einem Zuhörer sehnte. Doch sein Mitgefühl zerstörte das Vertrauen, das sie ihm gegenüber eben noch verspürt hatte.
»Sie müssen mich wirklich für ziemlich lächerlich halten«, sagte sie knapp und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen ab.
»Mich hat sie auch nicht gewollt«, erwiderte Guy. »Aber nachdem ich ein beträchtliches Vermögen geerbt habe, akzeptiert sie mich als schmückendes Beiwerk.« Er zog sein mit Pflaumensaft beflecktes Taschentuch hervor, bot es ihr schüchtern an und sah zu, wie sie sich über die Augen wischte.
»Sind Sie deshalb mitgekommen?«, fragte Ellen leise. »Um ihr als schmückendes Beiwerk zu dienen?«
Guy errötete.
»Ganz bestimmt nicht. Ich bin mit einem Schulfreund verabredet, der in der Nähe wohnt, wollte aber die neue Familie meiner Stiefmutter kennen lernen. Ich bin froh, dass ich es getan habe«, fügte er mit ruhiger Stimme hinzu, »und möchte mich entschuldigen, falls ich in einer für Sie sowieso schon schwierigen Situation Ihre Gefühle verletzt habe.«
Er reichte ihr seinen Arm.
»Sollen wir umkehren?«
Im Esszimmer hatte man kurz zuvor das Feuer im Kamin angezündet; in der Luft lag der rauchige Duft von Torf. Ellen bemerkte, dass der Tisch mit Tante Harriets bester Damastdecke, dem Besteck mit den Elfenbeingriffen und den Kristallgläsern gedeckt war – alles Dinge, die ihr Dasein normalerweise in der Chippendale-Vitrine in der Ecke fristeten.
Ihr Vater und die Tante saßen sich an den Tischenden gegenüber. Mrs Forrister war rechts neben Tante Harriet platziert worden, Guy zu ihrer Linken. Ellen wiederum saß neben Guy. Maggie brachte die Suppe, die Guy schon nach dem ersten Löffel sehr lobte. Franny, die den Platz ihm gegenüber eingenommen hatte, bat ihn, den Satz auf Französisch zu wiederholen.
»Ich möchte nur sicherstellen, dass Sie uns keine Märchen erzählen«, erklärte sie ernst. »Es gibt schließlich eine Menge Leute, die behaupten, sie könnten Französisch.«
»Franny!«, mahnte ihre Mutter mit warnendem Unterton.
»La soupe est vraiment délicieuse, Mademoiselle!«, sagte Guy und grinste zum allgemeinen Gelächter.
Ellen löffelte schweigend ihre Suppe. Sie fühlte sich wohl in Gegenwart dieses zweisprachigen Fremden, der im Obstgarten voller Mitgefühl mit ihr geredet und ihre Hand gehalten hatte, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Sie warf Harry einen Blick zu. Er saß ihr gegenüber und taxierte den Gast, ohne ein Wort zu sagen. Ihren Blick erwiderte er nicht.
Lilian Forrister redete angeregt auf ihre Gastgeberin ein, wobei sie lächelnd lange Zähne entblößte. Doch Ellen beobachtete, wie ihre Augen ununterbrochen im Zimmer umherwanderten und vom Silber auf dem Sideboard bis hin zu den Miniaturen aus dem achtzehnten Jahrhundert über dem Kamin alles abschätzten.
»Das müssen Ihre protestantischen Großeltern sein – wie interessant«, sagte sie gerade. »Waren sie wohlhabend?«
Die Frage blieb unangenehm im Raum stehen, ohne beantwortet zu werden.
»John erzählte mir, dass Sie in Amerika reiche Verwandte haben«, fuhr Mrs Forrister vergnügt fort.
John Healy tauschte einen verlegenen Blick mit seiner Schwester und wechselte das Thema.
Der Lammbraten duftete köstlich nach Rosmarin. John Healy übernahm es, das Fleisch zu zerlegen, und Ellen erkannte, wie viel Freude ihm diese Aufgabe machte.
»Ein knuspriges Stück für dich, meine Liebe«, sagte er zu Mrs Forrister und reichte ihren Teller weiter. Seine Miene zeigte dabei eine nachdenkliche Zärtlichkeit, die seine Tochter erstaunte. Maggie kam mit zwei offenen Weinflaschen und stellte sie auf den Tisch.
»Sehr freundlich von Ihnen, Guy, uns eine Kiste Wein mitzubringen«, rief Mrs Murphy und zeigte auf die beiden Flaschen. »Einen solchen Luxus sind wir gar nicht gewöhnt.«
»Guy ist ein ausgezeichneter Weinkenner«, erklärte Mrs Forrister. »Seine Frankreich-Aufenthalte haben ihre Spuren hinterlassen.«
»Gute Weinkenntnis erfordert mehr Jahre, als ich alt bin«, sagte Guy leise. »Aber diesen Wein habe ich aus einem ganz bestimmten Grund ausgesucht. Wenn Sie einen Blick auf das Etikett werfen, Mrs Murphy, werden Sie den Grund schnell erraten.«
Die Gastgeberin griff nach einer Flasche.
»Cuvée O’Byrne«, las sie laut und sah Guy fragend an. »Sagen Sie, Guy, das ist doch nicht etwa irischer Wein? Auf dem Etikett steht Bordeaux Supérieur.«
»Der Wein stammt wirklich aus Frankreich«, antwortete er. »Aber der Weinberg gehört Leuten mit irischen Vorfahren. In der Gegend von Bordeaux leben viele Iren – manche tragen sogar französische Adelstitel.«
»Ich weiß, warum!«, rief Harry mit glänzenden Augen. »Es handelt sich wahrscheinlich um Nachkommen der Wildgänse!« Er wandte sich an Guy und erklärte wie aus der Pistole geschossen: »Das ist der Spitzname der Iren, die im siebzehnten Jahrhundert nach Frankreich geflohen sind. Die armen Teufel, die zu Hause geblieben sind, hatten nichts mehr zu beißen, nachdem dieser Scheißkerl, König Willie, mit ihnen fertig war.«
»König Willie?«, fragte Guy verständnislos. »Welchen Willie meinen Sie?«
»Wilhelm von Oranien.«
»Ich wusste gar nicht, dass er Irland ausgebeutet hat.«
John Healy hüstelte, warf seinem Sohn einen strengen Blick zu, verkündete der Runde, dass es sich um einen wirklich köstlichen Wein handele, und bot Ellen zur Feier ihres Geburtstags ein Glas an. Erfreut willigte sie ein. »Die Franzosen trinken so etwas wahrscheinlich jeden Tag«, meinte sie an Guy gewandt.
»Wissen Sie, dort drüben fließt der Wein sozusagen in Strömen. Darf ich einen Toast auf Sie ausbringen?«
»Bitte nicht«, wehrte Ellen errötend ab.
