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Amerikanisches Gold, irische Herzen Irland, 1869: Getrieben von Armut und dem Versprechen eines besseren Lebens, verlässt der junge Tom Walsh seine grüne Heimat. Nur dreißig Dollar und ein unbändiger Wille begleiten ihn in das ferne Amerika, wo er die Schicksalsschläge seiner Kindheit hinter sich lassen will. In den rauen Bergen Colorados findet Tom wider Erwarten sein Glück – das Entdecken einer großen Goldader katapultiert ihn zu Reichtum und Ansehen. Doch das neue Leben im Glanz der amerikanischen Oberschicht hat seinen Preis, den Jahre später besonders seine Tochter, die willensstarke Schönheit Evalyn, zu spüren bekommt. Denn als sie ihren Vater überzeugt, den legendären Hope-Diamanten zu kaufen, ahnt sie nicht, dass ein alter Fluch auf dem wunderschönen Schmuckstück liegt, der Evalyns Leben und das ihrer Familie für immer verdunkeln wird ... Die fesselnde Geschichte einer willensstarken Auswanderertochter – für Fans von Charlotte Jacobi und Anna Jacobs.
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Seitenzahl: 1012
Veröffentlichungsjahr: 2025
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eBook-Neuausgabe Oktober 2025
Die Originalausgabe erschien erstmals 2001 unter dem Originaltitel »Hope« bei HEADLINE BOOK PUBLISHING, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Diamantenlicht« bei Lübbe.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2001 Mary Ryan
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Lazy_Bear /Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (ma)
ISBN 978-3-69076-789-7
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Mary Ryan
Historischer Roman
Aus dem Englischen von Cécile E. Lecaux
dotbooks.
Zum Gedenken an Thomas F. Walsh und Evalyn Walsh McLean. Und für Seán, in Liebe und Dankbarkeit.
You’ve got the wind, and ships; your dream’s come true.
Was it the way you thought your dream would be?
The story books would paint that ocean blue;
each mile for you was stitched in salt at sea.
... the world you stumbled on you
hardly knew a random clash of hemispheres undressed
each member of the then known world, but you
saw glimpses of God-promised lands.
Did you foresee how crassly rich this earth
would prove in sprouting seed and forcing birth
from powder spores secreted in your hands?
Whatever motives we ascribe to you
another world replaces one we knew.
»... Er war ein außerordentlich feinsinniger Mensch, stets großzügig, warmherzig, ritterlich und freundlich – ein typischer westamerikanischer Gentleman.«
(Aus dem Eintrag über Thomas Francis Walsh in der »National Encyclopaedia of American Biography«)
Carraig Mor, Clonmel, Irland, 1856
Der Junge hatte rotes Haar und Sommersprossen.
Der Hühnerstall, in dem er barfuß stand, war erfüllt vom Geruch des Federviehs und dem leisen Gackern der Hennen. Er trat hinaus in den bewölkten Tag, ging durch die Regenpfützen, um seine Füße zu säubern, kam an der mickrigen Fuchsie vorbei, die seine Mutter an der Hauswand gepflanzt hatte, und betrat schließlich durch die halb geöffnete Tür das weiß getünchte Haus. Er hielt vier noch warme Eier an die Brust gedrückt. Er legte vorsichtig eins nach dem anderen auf den Tisch aus Kiefernholz und warf einen ängstlichen Blick auf seine Mutter, die Wäsche auf eine Leine vor dem Kamin hängte. Es roch nach feuchter Wolle.
»Vier Eier!«, rief Margaret. »War das alles?«
»Mehr konnte ich nicht finden, a Mhamaí«, entgegnete Tom. »Die braune Henne ist wieder weg.«
»Dieses nichtsnutzige blöde Huhn!«
Margaret strich die Haarsträhnen zurück, die sich durch den Dampf der nassen Kleider aus den Kämmen gelöst hatten. Sie war 37 Jahre alt, hatte rotgoldenes Haar, blasse Haut und dunkelblaue Augen. Sie richtete sich auf, bog mit einem leisen Stöhnen den Oberkörper zurück und stützte dabei eine Hand gegen das schmerzende Kreuz. Der Junge fragte sich flüchtig, warum seine Mutter in den letzten Wochen einen so dicken Bauch bekommen hatte.
»Das Vieh kommt in den Kochtopf, wenn es sich nicht bald auf seine Pflicht besinnt!«, fügte Margaret drohend hinzu.
Tom stellte sich das verrückte Huhn vor, wie es gerupft und ausgenommen in dem schwarzen pota mór garte, der am Haken über dem Feuer hing. Empörung verdrängte seinen Hunger.
»Aber sie kann doch nichts dafür«, sagte er leise. »Sie muss einfach ein Nest bauen ...«
Margaret nahm die Eier und legte sie in eine Keramikschale auf dem Schrank. Sie würden in ein, zwei Tagen verkauft werden, zusammen mit den anderen, die bis dahin noch gelegt werden würden. Jedes Ei war kostbar – es brachte einen weiteren Farthing der Miete ein –, und die Eigenheiten der braunen Henne waren ein ernstes Problem. Als sie das bedrückte Gesicht ihres sechsjährigen Sohnes sah, musste Margaret wider Willen lächeln.
»Da sie einen so leidenschaftlichen Fürsprecher hat, werden wir die Todesstrafe noch einmal aussetzen ...« Sie lachte, und ihm wurde wieder leicht ums Herz.
Das Feuer hinter ihr war niedergebrannt, und Tom nahm ein paar Torfstücke aus dem Weidenkorb, beugte sich über die Feuerstelle mit den Kesselhaken und legte sie auf die Glut. Trotz aller Vorsicht wirbelte gelbe Asche auf, ihr folgte eine Wolke aromatischen Rauches, der zum Kaminsims aufstieg, auf dem Margarets drei heiß geliebte, mit Rosen bemalte Teller standen – die letzten eines ganzen Services, das einmal ihrer Großmutter gehört hatte. Dort lag auch die Pfeife seines Vaters, die lange tönerne dúidín, gleich neben der Geige, auf der sein Vater an manchen Abenden mit geschlossenen Augen selbstvergessen spielte.
Über dem Sims hing ein rußgeschwärztes, aus Schilfgras geflochtenes Crois Naomh Brid – ein Sankt-Bridget-Kreuz –, und darüber war eine Wäscheleine gespannt, zwischen Balken, durch die man das Reetdach sehen konnte.
Als Tom sich umdrehte, ruhte der zärtliche Blick seiner Mutter auf ihm.
»Danke, a stórín«, sagte sie leise. »Du bist ein lieber Junge!« Sie ließ sich auf die Bank sinken und gab wie so oft in letzter Zeit vor Erschöpfung einen Seufzer von sich.
Tom stand barfuß und zweifelnd auf den Steinfliesen und fragte leise: »Geht es dir gut ...?«
Da sein Vater ihr verboten hatte, schwer zu heben, und sie bei jeder Gelegenheit fürsorglich drängte, sich zu schonen, wusste er, dass auch er sie entlasten sollte. Aber insgeheim fürchtete Tom, dass sie krank war. Sie war seine Welt; er liebte sie inbrünstig und bedingungslos. Kürzlich, als er nicht hatte schlafen können, war er zur Tür des Zimmers geschlichen, das er mit Michael und Maria teilte, und hatte unbemerkt seine Eltern beobachtet, die zusammen vor dem Kamin saßen. Er hatte sich vor der Kopfnuss gefürchtet, die er sich einhandeln würde, wenn er von seinem großen Bruder erwischt wurde, aber der Anblick seiner Eltern vermittelte ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Sein Vater hatte seine Pfeife in die Asche im Kamin entleert und den Pfeifenkopf ausgeklopft, um den verkohlten Tabakrest zu lösen, bevor er alles auf den Sims zurücklegte. Dann hatte er sich zu seiner Frau hinabgebeugt. Tom hatte gesehen, wie seine Mutter ihm den Kopfkissenbezug zeigte, den sie mit einem Streifen weißer Spitze versah, an dem sie über ein Jahr gearbeitet hatte.
»Darauf bette mich zur letzten Ruhe ... vorausgesetzt, Gott will mich haben!«, hatte sie halb im Scherz gesagt.
Seán hatte den Kopf geschüttelt und auf Irisch entgegnet: »Sprich nicht so, meine Liebste.« Dann hatte er sie auf den Kopf geküsst und war in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer auf der anderen Seite der Küche verschwunden. Margaret, die allein am Kamin zurückgeblieben war, hatte noch einen letzten Stich ausgeführt, dann den Faden abgebissen und ihr Werk begutachtet. Anschließend hatte sie die Handarbeit beiseitegelegt, sich schwerfällig auf den Boden gekniet und den Blick auf das Sankt-Bridget-Kreuz gerichtet. Leise hatte sie in einem Gemisch aus Irisch und Englisch ein Gebet gesprochen.
»AThiarna, halte deine schützende Hand über meine Familie. Schütze und leite sie ... Schenke mir ein gesundes Kind ... Und ich bitte dich, erweise dich in deiner Güte dieses Mal gnädig, und schone mich ...«
Die Worte, deren Sinn er nicht ganz verstanden hatte, gingen Tom seitdem nicht mehr aus dem Kopf.
»Natürlich«, sagte Margaret nun. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?« Ihre Stimme klang belustigt, aber ihr Blick ruhte voller Liebe und Zärtlichkeit auf ihrem jüngsten Sohn.
»Weil ...« Tom zuckte die Schultern. Er konnte es ihr nicht sagen, weil er selbst nicht recht wusste, wovor er sich fürchtete. Sein Blick fiel auf ihren Bauch, und seine Augen weiteten sich, als dieser sich bewegte.
Margaret folgte seinem verblüfften Blick, lachte und streckte die Arme nach ihm aus. »Komm her.«
Tom legte den Kopf an die Brust seiner Mutter und hörte das dumpfe Pochen ihres Herzschlages.
Schließlich legte sie ihm eine Hand unter das Kinn, hob seinen Kopf und schaute ihn an. »Du weißt doch, dass wir bald noch ein Baby bekommen, oder?«
Er nickte. Die Kinder wussten um ein neues Geschwisterchen und freuten sich darauf. Babys wurden von Feen gebracht, obwohl Michael, der schon elf war, Zweifel daran geäußert hatte.
»Und woher wird es kommen, a Mhamaí?«, fragte Tom jetzt in die Stille hinein, während seine Mutter nach den richtigen Worten suchte.
Margaret warf einen verstohlenen Blick über die Schulter in Richtung der offenen Tür, legte seine Hand auf ihren Bauch und sagte in verschwörerischem Tonfall: »Was fühlst du?« Plötzlich bewegte sich ihr Bauch erneut unter der Schürze, als hätte er ein Eigenleben. Sie lachte über seinen erschrockenen Aufschrei.
»Das ist nur das Baby, a stór. Da wartet es, im Warmen und geschützt, bis es Zeit ist, auf die Welt zu kommen.«
Toms Kinnlade klappte herunter.
»Es ist so lebhaft wie ein echter Riley«, fügte Margaret mit einem fröhlichen Lachen in den Augen angesichts der Verwirrung ihres Sohnes hinzu. »Das Kleine kann es kaum erwarten, endlich herauszukommen und uns alle in Augenschein zu nehmen!«
»Aber wann wird es ...?«
»Bald, denke ich, a leanbh. Und dann hast du ein neues Brüderchen oder Schwesterchen.«
»War ich auch ...?«, fragte Tom leise, als ihm die Bedeutung des Gesagten aufging.
»Natürlich warst du, apheata dílís. Und du warst geborgen und glücklich unter meinem Herzen!« Dann fügte sie hinzu: »Sprich mit niemandem darüber. Das ist unser Geheimnis!«
Als Tom mit dem feierlichen Ernst eines Erwachsenen nickte, legte sie ihm die Hände auf die Schultern, schaute ihm in die Augen und flüsterte: »Du wirst mich doch stolz machen, oder ...?«
Tom grinste verlegen.
»Sag mir, dass du mich stolz machen wirst.«
»Ich werde es versuchen«, entgegnete Tom und trat von einem Fuß auf den anderen – er fühlte sich unbehaglich angesichts des plötzlichen Ernstes seiner Mutter.
Seine Mutter lachte und tätschelte seine Wange. »Ab mit dir zum Kartoffelacker. Geh deinem Vater helfen. Und finde um Himmels willen diese óinseach von Henne.«
Auf dem Weg zum Acker überlegte Tom, wie das neue Baby aus dem Bauch herauskommen würde, und stellte sich eine kleine Tür im Bauch seiner Mutter vor. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie er in ihrem Bauch gewesen war, wurde aber von dem Regenbogen abgelenkt, der sich über die Felder spannte und der Wiese der Farrellys zu entspringen schien. Er wusste, dass die Feen am Fuß eines Regenbogens einen Kessel voller Gold zurückließen. Er sprang über eine niedrige Mauer und lief auf diese Stelle zu, aber wie bei jedem seiner vorausgegangenen Versuche wich der Regenbogen immer weiter vor ihm zurück.
Tom fand die Henne in der Nähe des Ackers, wo sie sich unter einer Hecke in Flussnähe ein Nest gebaut hatte. Sie gab langgezogene, unglückliche glucksende Laute von sich und breitete die Flügel schützend über das Nest, als Tom sich näherte. Er rief nach seinem Vater, dessen drahtige Gestalt er weiter oben am Hang sehen konnte. Bei ihm waren Toms Geschwister, Michael und die fünfjährige Maria. Sie lasen Steine vom Kartoffelacker auf, eine notwendige Maßnahme vor dem Pflanzen.
»A Dhaidí, a Dhaidí!«, rief Tom laut, um das Rauschen des Flusses zu übertönen, der an ihm vorbei zu den tiefer gelegenen Feldern strömte.
Sie kamen herbeigelaufen. Seine Geschwister lachten, während sein Vater nur säuerlich den Mund verzog und nach der Legehenne griff, die immer noch stur auf dem Nest hockte.
»Soso, Fräulein, machst mal wieder Extratouren, ja?«
Die Henne gackerte empört.
»Sie sollte im Parlament sitzen!«, fügte Seán hinzu, hob sie hoch und klaubte die drei Eier aus dem warmen Nest. Er steckte sie in die Tasche. »Sie würde auch nicht mehr Sinn machen als die anderen dort! Sie wäre wenigstens eine Stimme für Irland!«
Unter den Arm seines Besitzers geklemmt, schaute der Vogel sich mit wippendem rotem Kamm verzweifelt um.
»Wo ist das?«, fragte Tom. »Das Parlament?«
»In London, du kleiner Idiot«, entgegnete Michael verächtlich. »In England, wo sie die Gesetze machen.« Seine Züge verdüsterten sich. »Das hat der Lehrer uns in der Schule beigebracht! Sie beschließen in England Gesetze für uns.« Dann fügte er leise hinzu: »Darum zahlen wir auch Pacht für Land, das früher uns gehört hat!«
»Hat euch das auch der Lehrer beigebracht?«, fragte Seán.
»Nein. Das hat Josie Farrelly gesagt.« Michael blickte trotzig zu seinem Vater, als wollte er ihn herausfordern, das abzustreiten. »Stimmt es, Vater, dass Gesetze gegen Katholiken erlassen wurden, die es den englischen Protastuní erlaubten, ihnen das Land wegzunehmen? Ohne dafür zu bezahlen?«
Seán konnte die Wut seines Sohnes gut verstehen.
»Das ist richtig. Aber das ist lange her«, erwiderte er ohne große Überzeugung. Erst acht Jahre zuvor, während der großen Hungersnot, hatte er zusammen mit einer kleinen Schar von Glaubensgenossen draußen vor dem Gerichtsgebäude von Clonmel gestanden, als man die Anführer des »Jungen Irland« zum Tode durch Erhängen und Vierteilen verurteilt hatte. Erst acht Jahre war es her, dass er gesehen hatte, wie die 17. Husaren mit Kanonen, Kavallerie und Infanterie zusammen mit den Scots Greys auf edlen Pferden und in tiefroten Umhängen die wöchentlichen Ladungen Fleisch und Weizen den Suir hinunter von Clonmel nach Waterford eskortiert hatten, von wo aus sie nach England verschifft wurden.
Aber seit der Hungersnot schien das Land resigniert zu haben: Eine Million Iren war gestorben, und eine weitere Million war ausgewandert; das Land war übersät mit verlassenen Dörfern, und über allem lag ein Mantel der Trauer. Die Tenant League, eine Organisation, die sich für faire Pacht und eine angemessene Bezahlung der Pächter einsetzte, war zum Scheitern verurteilt.
»So weit liegt das noch gar nicht zurück!«, widersprach Michael vehement. »Josies Großvater erzählt Geschichten aus der Zeit, als alles noch ganz anders war und das Land hier noch den Walshs gehörte ...«
Seán dachte an die Dokumente, die er selbst in den Händen seines Großvaters gesehen hatte, Papiere aus dem letzten Jahrhundert, die die Enteignung besiegelten – Urkunden, laut derer das Land der Walshs Ausländern übereignet worden war. Er wusste, dass es in der Zeit der Penal Laws, als die Katholiken gezwungen worden waren, ihr Land aufzugeben, üblich gewesen war, das enteignete Land von den neuen Eigentümern zurückzupachten. Jeder, der sich dagegen auflehnte, lief Gefahr, verhaftet, eingesperrt, deportiert oder gehängt zu werden. Obwohl sein Sohn noch so jung war, hatte Seán plötzlich Angst um ihn.
»Nun, wann immer es beschlossen wurde«, sagte er, »es bringt nichts, sich heute darüber aufzuregen. Die alten Zeiten sind vorbei.«
»Wie kann es ›vorbei‹ sein, wenn sie uns das Land nicht zurückgegeben haben?«
Seán musterte seinen ältesten Sohn, der bereits auf der Schwelle zum Mannesalter stand, und erkannte, dass dieser begonnen hatte, sich gegen die väterliche Autorität aufzulehnen. Bald würden ihre Überzeugungen aufeinanderprallen, und das Althergebrachte würde, dem Lauf der Dinge folgend, unterliegen.
»Weil der Recht hat, der die Macht hat, Junge, zumindest so lange, bis eine neue Ordnung die Welt regiert! Merk dir das, und such keinen Ärger.«
Michael betrachtete seinen Vater verächtlich. »Hast du Angst vor ihnen, Vater?«
Tom sprang zur Seite, als sein Vater Michaels Ohr packte.
»Jetzt hör mir mal gut zu. Vor sieben Jahren habe ich erlebt, dass viele Menschen hier in der Gegend Gras gegessen haben. Ich habe sie mit grün verfärbtem Mund tot im Graben liegen sehen. Und ich schwöre bei Gott, dass das Allerwichtigste in diesem Land ist, zu verhindern, dass es jemals wieder eine solche Hungersnot gibt. Du, Mami und ich können von Glück sagen, dass wir überlebt haben!«
»Josie sagt, es hätte damals reichlich zu essen gegeben in Irland, nur die Kartoffelernte sei ausgefallen. Er sagt, die restliche Ernte sei wie jedes Jahr nach England verschifft worden, der ganze Weizen, das ganze Fleisch ...« Tränen traten in seine Augen. »Warum waren wir ihnen so egal, Vater? Warum haben sie uns die Nahrungsmittel weggenommen und uns sterben lassen?«
Seán wagte nicht, sich auf ein Gespräch über dieses bittere Thema einzulassen. Stattdessen blickte er hinauf zu den grauen Wolken, die sich über ihnen zuzogen, und streckte eine Hand aus, um die ersten Regentropfen zu fühlen.
»Geht nach Hause, jetzt gleich, sonst werdet ihr noch nass«, sagte er streng und gab seinem Sohn damit zu verstehen, dass die Diskussion beendet war.
»Tommy«, rief er lauter nach seinem jüngeren Sohn, der der Unterhaltung anfangs noch stumm gelauscht hatte, dann aber zum Fluss gelaufen war und gerade Anstalten machte, den Wasserfall zu überqueren. »Tommy. Komm zurück.«
Aber Tommy war zu sehr in die Herausforderung vertieft, die Felsen von An Cailleach zu überqueren. An Cailleach bedeutete auf Irisch so viel wie »Hexe« oder »hässliches altes Weib«, und in diesem Fall war damit eine tiefe Schlucht gemeint, die der Fluss auf dem Weg aus den Bergen zur tiefer gelegenen Farm gurgelnd zwischen zwei hohen Felsen passierte. Diese Felsen dienten den Mutigen als Mittel zur Überquerung, allerdings nur, wenn der Fluss kein Hochwasser führte. Tom seinerseits stellte sich vor, er würde die Niagarafälle überqueren, von denen er in der Schule gehört hatte.
Aber er rutschte aus. Er trat an einer glitschigen Stelle auf, stürzte, verdrehte sich dabei den Knöchel und tauchte vollständig unter, ehe er einen tiefhängenden Ast vom Ufer zu packen bekam. Er schrie.
Sein Vater ließ das Huhn los – das sofort zu seinem Nest zurücklief – und zog seinen Sohn aus dem Wasser.
»Das kommt davon, wenn man nicht hören kann«, schimpfte Seán und ohrfeigte Tom. Dann fischte er die Überreste der Eier aus der Hemdtasche. »Und deinetwegen habe ich die Eier zerbrochen.«
Tom zitterte. Er war erleichtert, den eisigen Fluten entkommen zu sein, machte sich Vorwürfe wegen der Eier, war niedergeschlagen, weil er die imaginäre Prüfung nicht bestanden hatte, und sein Fuß schmerzte. Er versuchte aufzutreten, aber es tat zu weh.
Dann hörten sie einen Schrei, der den ganzen Hang hinauf bis zum Kartoffelacker hallte. Es war seine Mutter, und sie rief seinen Namen. Er fuhr herum und sah sie bergauf hasten, keuchend vor Anstrengung.
»Was ist passiert?«, fragte sie japsend und blickte schon aus der Entfernung von einem zum anderen. »Ich war gerade draußen im Garten ... und habe jemanden schreien hören. Warst du das, Tommy?«
»Es geht ihm gut, alles in Ordnung. In Gottes Namen, Frau, beruhige dich. In deinem Zustand den ganzen Hügel heraufzulaufen ...«
Maria rannte zu ihr hin. »Mam, Mam, es war Tommy, es war Tommy ... Er war auf dem Fluss und hat sich am Fuß wehgetan.«
Margaret kam über den Acker auf ihn zu. Tom sah ihr besorgtes, liebevolles Gesicht. Er liebte ihre anmutigen Bewegungen und das lange Haar, das sich aus den Kämmen löste und im Wind flatterte.
Hinter ihr lag das Tal mit Kilduncan House, in dem der Verwalter des Grundbesitzers wohnte, verborgen inmitten eines kleinen Wäldchens, und davor ihre eigene weiß getünchte, reetgedeckte Hütte und der botharín, der durch ihre Farm hindurch zur Straße führte. Der Hof umfasste zwanzig Hektar, und der Ertrag aus den Kartoffeln reichte aus, um sie zu ernähren, wenngleich die Einkünfte insgesamt kaum die Pacht deckten. Die Pacht in Irland war hoch – doppelt so hoch wie die in England. Aber die Pächter hatten keine andere Wahl, als zu zahlen. Die Industrie wurde künstlich gebremst, damit sie der britischen Industrie keine Konkurrenz machte, und wer kein Land bewirtschaftete, hatte kaum Chancen zu überleben. Darum verkauften sie abgesehen von Kartoffeln alles, und jeder Penny wurde in der Blechbüchse unter dem Bett seines Vaters gespart für den Unglückstag, an dem Steven Lurgan, der verhasste Verwalter Lord Kilduncans, in dem großen Haus am Ende der Birkenallee die Pacht kassierte. Sein Herr lebte in London und überließ es seinem Verwalter, seine irischen Güter auszuquetschen.
»Was hast du dir getan, Tommy?«, fragte Margaret und betrachtete besorgt ihren Jüngsten, der auf dem Boden hockte und sich den Knöchel hielt.
» Tá sé maith go leor«, sagte der Vater des Jungen. »Er wird es überstehen. Er hat sich nur den Knöchel verstaucht. Ich habe ihm verboten, zum An Cailleach zu gehen, aber er musste trotzdem vom großen Felsen springen. Wenn wir zu Hause sind, werde ich ihm den Hintern versohlen.«
»A Mhamaí!«, heulte der Junge auf und blickte flehend zu seiner Mutter.
»Du wirst nichts dergleichen tun, Seán Walsh«, entgegnete Margaret immer noch schwer atmend. »Er kann nichts für sein Temperament!« Sie beugte sich hinab und streckte die Arme nach ihm aus. Tom klammerte sich an ihren Hals, und sie schwankte einen Moment unter seinem Gewicht.
»Du kannst ihn nicht tragen, Margaret«, protestierte Seán. »Versuch es also gar nicht erst!«
Margaret konnte den Armen ihres Kindes nicht widerstehen, schrie jedoch auf, kaum dass sie ihn hochgehoben hatte, und sank mit ihm zusammen auf den feuchten Boden. Der Schmerz war so stark, dass der Junge in ihren Armen ihn beinahe hören konnte.
»Mammie!«, rief er erschrocken und bog den Oberkörper zurück, um sie anzusehen. »Mammie ...«
»Was ist?«, wisperte Seán besorgt. »Cad tá ort?«
Während sie ihre Kinder dazu erzogen, Englisch zu sprechen, bedienten Seán und Margaret sich des Irischen, wenn die Kinder sie nicht verstehen sollten. Die alte Landessprache war eigentlich verboten und wurde den Kindern in der Schule gewaltsam ausgetrieben, aber sie beherrschten sie trotzdem besser, als sie selbst zugaben, und unterhielten sich flüsternd auf Irisch, wenn keine Erwachsenen in der Nähe waren.
»Es geht mir gut!«, entgegnete sie auf Englisch und zwang sich zu einem Lächeln, aber Tommy entging nicht, wie sie zitternd Luft holte. »Alles bestens. Lass mich nur einen Moment hier sitzen und ausruhen. Zeig mir deinen Knöchel, Tommy.«
Ganz sachte tastete sie seinen nackten Fuß und das Bein ab, drückte und zog vorsichtig, wobei der Junge vor Schmerzen das Gesicht verzog. Aber als sie plötzlich die Lippen zusammenpresste und die Augen schloss, wusste er, dass die Schmerzen in seinem Knöchel nichts waren im Vergleich zu dem, was seine Mutter fühlte.
»Nichts gebrochen«, fuhr sie mit unnatürlich ausdrucksloser Stimme fort. »Aber er schwillt bereits an, und du wirst eine Woche nicht gehen können. Du solltest tun, was dein Vater sagt, und nicht so unartig sein!« Sie verstummte und atmete scharf durch ihre zusammengebissenen Zähne ein.
Sie blickte zu ihrem Mann auf, der sie sorgenvoll beobachtete, und sagte schroff: »Bring ihn heim, Seán.«
Tom entging die Furcht in den Augen seines Vaters nicht.
»Erst helfe ich dir, Margaret.«
»Du kannst zurückkommen und mich holen, wenn du die Kinder nach Hause gebracht hast! Es ist besser so.« Dann senkte sie die Stimme und sagte auf Irisch die Worte, die Tom bis ins Grab verfolgen sollten: »Táim ag cur fulla.« Ich blute. Ängstlich hielt Tom Ausschau nach Blut, konnte jedoch nirgends welches sehen.
Sein Vater wurde kreidebleich. »Ich schicke Michael zu Mrs. Hegarty«, sagte er.
»Gut, a ghrá.« Margaret zupfte an seinem Ärmel und blickte zu ihm auf. »Es geht mir gut. Es geht nur etwas zu früh los, das ist alles.«
Sie blickte auf Tommy, der weinte und sich auf die Unterlippe biss. »Geh jetzt. Daddy kommt mich gleich holen. Mit mir ist alles in Ordnung.«
Maria krallte sich an die Röcke ihrer Mutter und schrie »Nein, nein, NEIN ...«, als ihr Vater versuchte, ihre Finger von dem Stoff zu lösen. Schließlich gehorchte sie, blickte jedoch schluchzend zu ihrer Mutter zurück.
»Hör endlich auf damit«, schimpfte ihr Vater ärgerlich. »Deine Mutter wird wieder gesund.«
Tom, der von seinem Vater getragen wurde, hielt den Blick so lange wie möglich auf seine Mutter gerichtet und winkte ihr über Seáns Schulter hinweg zu, aber sie winkte nicht zurück, sondern ließ sich flach auf den Boden zurücksinken, so als unterhielte sie sich mit dem Himmel.
Seán legte Tom ins Bett, brachte die anderen Kinder zu den Farrellys und kehrte dann zurück zum Kartoffelacker, um seine Frau zu holen. Tom humpelte zur Tür des Zimmers, das er mit seinen Geschwistern teilte, und beobachtete durch den Türspalt, wie sein Vater seine Mutter auf den Armen in die Küche trug. Ihr Rock schien nass zu sein – vom Acker, wie er vermutete, bis er sah, dass die Hemdsärmel seines Vaters blutverschmiert waren. Er unterdrückte einen Aufschrei und wartete beklommen. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren wie die Trommeln der rot uniformierten Soldaten, die er einmal in Clonmel gesehen hatte.
Mrs. Hegarty kam. Sie unterhielt sich kurz mit seinem Vater, legte ihren schwarzen Schal ab und eilte dann in das andere Schlafzimmer. Sie schloss die Tür hinter sich. Tom wartete. Sein Vater tauschte das blutige Hemd gegen ein sauberes von der Leine am Feuer, setzte sich dann vor den Kamin und verbarg den Kopf in den Händen. Der Feuerschein tanzte über die geweißten Küchenwände, schimmerte auf der alten Milchkanne in der Ecke, auf dem Schrank mit dem spärlichen Geschirr und den wenigen emaillierten Blechtellern, auf der schwarz lackierten Bank und dem sugán-Stuhl am Kamin. Plötzlich sprang sein Vater auf, und Tommy hinkte zurück zum Bett und stellte sich schlafend. Die Silhouette seines Vaters verdunkelte die Türöffnung.
»So schlimm kann das mit dem Knöchel nicht sein ...«, murmelte sein Vater auf Irisch.
Seán kehrte zurück in die Küche und setzte seine Wache am Feuer fort. Die Nacht brach herein. Tom nickte ein, wurde jedoch von Geräuschen aus dem Zimmer seiner Eltern geweckt. Er hörte erst Mrs. Hegartys Stimme und dann ein schreckliches Stöhnen. Er bezog wieder seinen Posten an der Tür und sah, wie die Hebamme herauskam und heißes Wasser aus dem alten schwarzen Kessel in einen Zuber schüttete. Einen Augenblick warf der Kerzenschein aus dem Zimmer Schatten an die Küchenwände, dann war sie wieder fort, und die Schlafzimmertür wurde geschlossen.
Nach einer Weile hörte er leises Babygeschrei. Tom sah seinen Vater aufspringen. Mrs. Hegarty erschien wieder in der Küche, und die beiden besprachen sich leise. Sie schüttelte den Kopf.
Als sein Vater in dem Zimmer verschwand, in dem seine Mutter lag, humpelte Tom durch die Küche zur offenen Tür des Elternschlafzimmers. Auf den Anblick, der sich ihm bot, war er nicht vorbereitet.
»A Mhamaí!«, flüsterte er und hielt sich am Türrahmen fest, überwältigt vom Blutgestank und dem blutgetränkten Bett seiner Eltern. In der kleinen Holzwiege lag ein in ein Handtuch gewickeltes winziges Baby mit verschrumpeltem rotem Gesicht, aber Tom war ganz auf einen anderen Vorgang fixiert. Er sah zu, wie sein Vater die Hände seiner Mutter an sein Gesicht drückte und ihr auf Irisch den Act of Contrition ins Ohr flüsterte.
Die Hebamme kniete nieder. Tom sah, wie sein Vater seine Ehefrau in die Arme schloss und sie auf den Mund küsste. Er hörte sein eigenes gequältes Schluchzen über das Weinen des Neugeborenen hinweg und hinkte zum Bett seiner Mutter, das Feuer in seinem Knöchel ignorierend. Sein Vater drehte sich um und stand auf. Sein eingefallenes Gesicht glühte, und er zog seinen Sohn unsanft aus dem Zimmer.
»Bleib draußen, du amadán ... Du hast schon genug Unheil angerichtet.«
Darauf schlug er dem Jungen die Tür vor der Nase zu. Tom schauderte, erdrückt von Schuldgefühlen. Er schmeckte Tränen und Nasenschleim. »A Mhamaí!«, schrie er hysterisch und trommelte mit den Fäusten an die Tür.
Gleich darauf kam Mrs. Hegarty in die Küche und zog ihn an ihren Busen.
»Du hast ein kleines Schwesterchen! Sie ist wunderschön ...«
Tom war seine kleine Schwester im Augenblick völlig gleichgültig. Er wand sich in den Armen der Hebamme; er wusste, dass sie nur versuchte, ihn abzulenken, und das machte ihm nur noch mehr Angst.
»Ich will zu Mammie.« Seine Zähne klapperten. »Ich will Mammie sehen. Was ist mit ihr? Warum blutet sie ...? Es ist meine Schuld ... es ist nur meine Schuld.«
Die Hebamme drückte ihn fest an sich. »Es ist nicht deine Schuld, mein Herz. Es war Gottes Wille. Du kannst sie morgen früh sehen. Sie ... sie ist eingeschlafen.«
Sie wickelte ihn in eine Decke und bandagierte seinen Knöchel.
Am Morgen war Margaret mit der besten Tagesdecke zugedeckt, die sie immer in der Truhe vor dem Fenster aufbewahrt hatte; ihr Kopfkissen steckte in dem Bezug, den sie mit der selbst geklöppelten Spitze verziert hatte. Es duftete leicht nach Lavendel. Tom stand mit seinem Vater und den Geschwistern an ihrem Bett. Er griff nach Margarets Händen, die gefaltet auf ihrer Brust ruhten, und bemerkte, dass sie sich steif und kalt anfühlten. Sein Vater sagte gepresst, sie wäre von ihnen gegangen, im Bett sei nur noch ihre sterbliche Hülle, und bei diesen Worten funkelte er Tom böse an. Michael war sehr blass; Tränen quollen aus seinen Augen, liefen lautlos über seine bleichen Wangen und in seinen Mund.
Plötzlich schluchzte Maria: »Ich habe es gesehen ... ich habe es gesehen ... als wir oben bei An Cailleach waren ...«
»Hör auf damit«, ermahnte Seán seine Tochter. »Hör sofort auf mit dem Unsinn!« Tommy stieg die Whiskyfahne seines Vaters in die Nase, und er sah, dass seine Augen gerötet waren.
Später am Tag kamen die Nachbarn. Die Männer nahmen ihre Mützen ab, und die Frauen knieten sich wehklagend neben das Bett.
»Wie heißt sie ... die Kleine?«, hörte Tom eine von ihnen Mrs. Hegarty fragen, die das Baby in der Küche in den Armen wiegte.
»Margaret«, antwortete die Hebamme. »Sie wird den Namen ihrer Mutter tragen.«
Aber Tommy interessierte sich nicht für seine Schwester, würdigte sie kaum eines Blickes. Und er weinte auch nicht, als die Nachbarn versuchten, ihn zu trösten, sondern starrte nur wie in Trance vor sich hin. Als er schließlich einschlief, gelang es kaum, ihn wieder zu wecken.
Die Totenwache dauerte zwei Tage, und in dieser Zeit war Margaret keine Minute allein. Dann begruben sie sie, und zwei Tage und Nächte wachte rund um die Uhr jemand an ihrem Grab.
Drei Wochen später blickte Michael seinen Vater beim Abendessen anklagend an und fragte: »Warum steht kein Kreuz an Mammies Grab? Ich bin nach der Schule auf dem Friedhof gewesen, und es steht immer noch kein Kreuz dort.«
Sein Vater antwortete nicht gleich. Dann sagte er leise und schroff, wobei er den Blick abwandte, um seinem Sohn nicht in die Augen sehen zu müssen: »Ich bin kein Steinmetz, und wir haben kein Geld.«
Michael nahm ein Stück Torf aus dem Korb und schleuderte es quer durch den Raum. Es prallte gegen die Wand und brach auseinander.
»Du arbeitest, a Dhaidí«, schrie er mit Tränen in den Augen. »Den ganzen Tag, jeden Tag. Ich arbeite vor der Schule und wenn ich von der Schule heimkomme. Maria arbeitet: Sie liest Steine auf, bis ihr fast das Kreuz bricht. Tommy arbeitet. Und trotzdem reicht unser Geld nicht einmal für ein Kreuz auf Mammies Grab! Und ich weiß auch, warum«, fuhr er mit vor Wut und Trauer schriller Stimme fort. »Weil die Sasanaigh uns alles genommen und uns zu Sklaven gemacht haben!«
»Genug davon!«, wetterte sein Vater. »Was in diesem Land geschehen ist, war nicht das Werk der Engländer. Das hat die Regierung veranlasst. Regierungen scheren sich einen Dreck um Menschen, erst recht nicht um das eigene Volk, und das wüsstest du auch, wenn du nur ein bisschen besser über englische Geschichte Bescheid wüsstest.«
»Alles, was ich weiß, ist, dass meine Mutter nur einen Haufen alter Steine als Grab hat!«, fuhr Michael fort und brach in Tränen aus.
»Sie braucht kein Kreuz«, entgegnete sein Vater streng. »Sie hat ein Hügelgrab. Vor langer Zeit haben wir unsere Königinnen auf diese Weise bestattet. Und ihr Grab ist das Grab einer Königin.«
»Tommy weigert sich zu sprechen, und essen tut er auch nichts«, erzählte Seán Pater Doyle, dem Gemeindepriester, bei einem seiner Besuche. »Er beachtet das Baby nicht, weckt uns aber häufiger als die Kleine nachts auf, weil er im Schlaf weint. In der Schule sitzt er einfach nur da. Der Lehrer macht sich Sorgen um ihn.« Er senkte die Stimme. »Er meint, der Junge glaubt, er sei schuld ...«
Der alte Priester musterte sein Gegenüber eindringlich und fragte leise: »Und warum sollte er das glauben?«
»Weil er tatsächlich schuld ist«, sagte Seán bitter. »Wenn er auf mich gehört hätte, wäre sie nicht den Hang heraufgelaufen ... in ihrem Zustand. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte«, fügte er stöhnend hinzu und starrte den Priester aus rot geränderten Augen trotzig an. »Ich würde dem Teufel meine Seele verkaufen und das mit Freuden ...«
Der Priester senkte den Kopf und blickte unter buschigen Brauen zu Seán auf.
»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte er streng. »Dein Sohn ist sechs Jahre alt, ein kleines Kind, das unter der Last seiner aus den Fugen geratenen Welt zerbricht. Willst du, dass er dem Wahnsinn verfällt? Möchtest du ihn an eine Finsternis verlieren, von der es kein Zurück gibt?«
Seán verbarg das Gesicht in den Händen.
»Und halt den Teufel da raus, Seán Walsh ... der hat seine Ohren nämlich überall.«
In der Ferne waren Kinderstimmen zu hören. Der Priester wartete. Der Wind strich rauschend um das Haus, und das Feuer seufzte, als die Torfbrocken zu glühender Asche zerfielen. Seán richtete sich auf und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht. Michael tauchte in der Tür auf, seine Schulbücher in den Händen. Er grüßte Pater Doyle respektvoll auf Irisch.
»Dia dhuit, a Athair!« – Gott mit Euch, Vater!
»Wo ist dein Bruder?«, fragte der Priester.
»Tommy kommt gleich. Maria versucht immer wieder, ihn zum Sprechen zu bringen, aber er scheint sie gar nicht zu hören!«
Pater Doyle beobachtete Tom, als dieser die Küche betrat, und sah die Qual auf den kindlichen Zügen, registrierte, wie der Blick einen Moment auf seinem Vater ruhte.
»Würdest du mich ein paar Schritte begleiten, Tommy?«, fragte Pater Doyle.
Der Junge reagierte nicht, und so nahm der Priester ihn an die Hand, verließ mit ihm die warme Küche und ging mit ihm über den Hof, wobei er sanft auf ihn einredete. Er führte den Jungen hinauf zum Kartoffelacker. Die Osterglocken öffneten in der Schlucht beim An Cailleach gerade ihre gelben Trompetenköpfe. Der Junge starrte auf den Wasserfall und fing an zu zittern.
»Du musst deine Mutter sehr vermissen, Tommy«, sagte der Priester leise. »Aber das, was passiert ist, war ein schrecklicher Unfall.«
Urplötzlich stieß der Junge einen Klagelaut aus, der über den Acker und hinab ins Tal hallte. Der freundliche alte Priester schloss ihn mit Tränen in den Augen in die Arme und hielt ihn fest. »Es ist ein schrecklicher Verlust, aber sie ist jetzt im Himmel und hat es dort gut. Und sie liebt dich immer noch und wacht über dich. Und Tommy ...« fügte er hinzu, hob den Kopf des Jungen an und schaute ihm fest in die Augen: »Es war nicht deine Schuld.«
»A Mhamaí ...l«, schrie Tom. »A Mhamaí, a Mhamaí ...« In den Armen des alten Priesters ließ er seinen ganzen Schmerz heraus.
Als sie ins Haus zurückkehrten, warf Tom einen Blick in die Wiege, und während Pater Doyle mit Seán sprach, schob Tom dem Baby einen Finger in die kleine Hand. Michael, der am Küchentisch Hausaufgaben machte, sah, dass sein Bruder geweint hatte.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Tommy?«, fragte er leise.
Tom kam zu ihm herüber und blickte auf die Rechenaufgaben auf der Seite im Heft. Unter dem Heft schaute ein Stück Papier hervor mit einem Text, der aussah wie ein Gedicht. Michael warf einen verstohlenen Blick über die Schulter und reichte den Zettel dann seinem Bruder.
Tommy las die ersten Zeilen:
O Irland, erhebe dein Haupt
Dein Tag wird kommen ...
»Das ist die Prophezeiung des Heiligen Malachy«, zischte Michael. »Es geht um Irland ... eines Tages ...«
Als die Dämmerung hereinbrach, schlüpfte Tom aus dem Haus und lief zum alten Friedhof neben der kleinen Kirche. Normalerweise hätte er sich in dem Bewusstsein der sterblichen Überreste, die hier ruhten, gefürchtet, ganz allein herzukommen, aber an diesem Tag hatte er keine Angst und nahm das Ächzen der Bäume und das Pfeifen des Windes kaum wahr. Er steuerte geradewegs den neuen Steinhaufen an.
»A Mhamai«, flüsterte er.
Er hockte sich neben das Grab und rief nach ihr. Nach einer Weile fühlte er Wärme in sich aufsteigen; ihre Liebe füllte ihn aus. Es war, als würde er nach der Schule mit ihr am Feuer sitzen und lachend eine Tasse frische Buttermilch trinken.
»Ich verspreche es, a Mhamai ...«, flüsterte er, legte das Gesicht an die Steine und dachte an das, worum sie ihn am letzten Tag ihres Lebens gebeten hatte.
In den folgenden Jahren holte Tommy manchmal heimlich den Kissenbezug mit Spitzenrand hervor und vergrub sein Gesicht darin.
Eines Tages, fünf Jahre nach dem Tod seiner Mutter, überraschte sein Vater ihn mit dem Kissenbezug in der Hand in seinem Zimmer.
»Was machst du da?«
»Ich denke nur an sie.«
»Erinnerungen sind schön und gut«, sagte Seán, »aber du musst nach vorne blicken und dir eine Zukunft aufbauen.« Er legte Tom flüchtig eine Hand auf den Kopf. »Wenn deine Mutter hier wäre ...«
Tom blickte zu seinem ergrauten Vater auf, sah die Tränensäcke unter seinen Augen und den von harter Arbeit gebeugten Rücken. Er empfand die Berührung seiner Hand als Geste der Segnung und Vergebung.
»Ich weiß, Vater«, entgegnete er leise.
Am Abend betrat Michael, inzwischen gerade sechzehn, die Küche, zog neben der Tür die Stiefel aus und ging an den Kamin. Seine durchnässten Kleider dampften. Es regnete durch den Schornstein in den Kamin, und die Tropfen fielen zischend ins Feuer.
»Ein ungemütlicher Tag«, bemerkte er. Er drehte sich zu seinem Vater. »Wir werden das Feld düngen müssen, wenn der Weizen überhaupt wachsen soll!«
»Der Markt für Weizen ist sowieso zusammengebrochen«, erwiderte Seán achselzuckend. »Es kommt so viel aus Amerika herein, dass die Preise im Keller sind. Und«, fügte er säuerlich hinzu, »Lurgan wird die Pacht trotzdem weiter erhöhen.«
»Zieh die nassen Sachen aus«, drängte die zehnjährige Maria ihren Bruder, »sonst holst du dir noch den Tod.«
Maria führte jetzt den Haushalt, und die Schule hatte in dem Maße gelitten, in dem sie mehr und mehr in die Rolle der Ersatzmutter hineingewachsen war. Da ihr eine normale Kindheit verwehrt geblieben war, war sie ungewöhnlich still für ihr Alter und betrachtete die Dinge aus ihrer ganz eigenen Perspektive heraus. Sie liebte es beispielsweise, ins Feuer zu schauen. Ihr Vater bezeichnete dies als Tagträumerei, aber ihre Geschwister wussten, dass sie Dinge sah, die sich in der Hitze der tanzenden Flammen verbargen. Tom brachte ihr bei, was er selbst in der Schule lernte, überließ ihr sein Lesebuch und freute sich, dass sie fast ebenso schnell lesen lernte wie er. Hin und wieder schaute der Lehrer mit dem einen oder anderen Buch vorbei und brummte, welche Schande es sei, dass ein so kluger Verstand vergeudet werde.
»Sie ist ein Mädchen«, entgegnete ihr Vater hierauf jedes Mal. »Was sollte Bildung ihr nützen?«
Die Familie setzte sich zum Abendessen an den Tisch. Es gab Kartoffeln und einen Krug Buttermilch. Seán, der an diesem Abend schlecht gelaunt und mürrisch war, sagte ein Tischgebet auf und richtete dann das Wort an Michael, während er sich Kartoffeln nahm. »Hast du den Kartoffelacker fertig gepflügt?«
»Ja. Aber ich habe es satt, zu versuchen, etwas aus diesem Hof zu machen. Es bringt nichts, hier zu bleiben. Ganz egal, wie sehr man auch schuftet, es ist doch alles vergeblich!«
»Ich habe es dir schon mal gesagt, und ich wiederhole es wieder: Die Dinge in diesem Land werden sich ändern, wenn Gott den Zeitpunkt für gekommen hält.«
»Vielleicht. Aber für mich wird dieser Zeitpunkt zu spät kommen, Vater! Ich habe nur dieses eine Leben.«
In der folgenden Stille blickte Maria beunruhigt vom Vater zum Bruder. Tom hielt den Blick auf den Teller gerichtet. Er dachte an seinen Schultag, an das Lob für seinen Englischaufsatz und die Hausaufgaben, die er nach dem Essen noch machen musste. Er war müde. Nachdem er aus der Schule gekommen war, hatte er Torf gestapelt, Kartoffeln geerntet und geholfen, das Loch in der Hecke zu stopfen, durch das der Esel der Farrellys aufs Feld gelaufen war. Seamus Farrelly, sein Schulkamerad und Freund, hatte ebenfalls mit angepackt und Aste herbeigeschleppt, die bei einem heftigen Sturm im Februar von einer Esche ganz in der Nähe abgebrochen waren. Anschließend hatte Tom noch die neue Kuh gemolken, eine Friesin und der ganze Stolz seines Vaters.
An Tommys Seite am Tisch saß die kleine fünfjährige Margaret, die alle Peggie nannten. Sie war das von allen geliebte Nesthäkchen und noch so klein, dass nur das Gesichtchen mit den großen blauen Augen und den kastanienbraunen Korkenzieherlocken, die ihr bis weit über die Schultern fielen, und die schmalen Schultern über die Tischplatte ragten. Tom spürte, dass die greifbare Spannung sie bedrückte. Sie schob ihren Teller weg.
»Iss«, befahl Seán.
Die Augen des kleinen Mädchens füllten sich mit Tränen. Widerwillig zog sie den Teller wieder zu sich heran und schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund. Tom schenkte seiner Schwester ein aufmunterndes Lächeln.
Als Peggie sich gleich darauf trotzig weigerte, weiterzuessen, schickte ihr Vater sie verärgert zu Bett.
»Aber ich will nicht ...«
Maria, die ihren Teller bis auf den letzten Krümel geleert hatte, ließ sich von ihrem Stuhl gleiten. »Ich bringe sie zu Bett. Komm, Peggie. Ich weiß eine neue Gutenachtgeschichte nur für dich ...«
Die Kleine folgte der älteren Schwester.
Nach einer Weile kam Maria zurück, räumte die leeren Teller ab und stellte sie in die alte emaillierte Waschschüssel, wobei sie ihrem Vater und ihrem älteren Bruder nervöse Blicke zuwarf. Die beiden stritten inzwischen jeden Abend. Sie setzte sich auf den Schemel vor dem Feuer. Tom sah, dass sie sich das Haar gekämmt und hinter die Ohren geklemmt hatte. Es glänzte im Feuerschein. Er war stolz auf den kleinen dreibeinigen Schemel, den er im Winter für sie angefertigt hatte, damit sie dichter am Feuer sitzen konnte. Sie schöpfte heißes Wasser aus dem schwarzen Kessel, gab es über die Teller und fing an, diese abzuwaschen.
Tom stand auf, holte sein Aufgabenheft und einen Bleistift, setzte sich wieder an den Tisch und machte sich daran, die Rechenaufgaben zu lösen, die der Lehrer ihnen aufgegeben hatte.
Seán seufzte. Er blickte durch das kleine quadratische Fenster auf den Fuchsien-Strauch, den Margaret kurz vor ihrem Tod gepflanzt hatte, und von dort auf den botharín, der hinunter zur Hauptstraße führte, die im schwindenden Licht grau schimmerte.
Er ging in sein Zimmer und kehrte mit einem dicken Buch voller Eselsohren zurück, das er aufschlug, noch ehe er wieder auf der Bank Platz genommen hatte. Er blätterte um, bis er das Gedicht gefunden hatte, das er an diesem Abend lesen wollte: »Elegie geschrieben auf einem ländlichen Kirchhof« von Thomas Gray.
Er las es laut vor, Vers für Vers, wobei seine Stimme weich der Kadenz folgte. Anschließend holte er seine Fiedel vom Kaminsims und spielte eins seiner Lieblingsstücke: »An Cualainn«. Die Kinder lauschten den melancholischen Klängen, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen: Maria trocknete das Geschirr ab, räumte es weg und wischte den Tisch ab, während Tom weiter Hausaufgaben machte; nur Michael saß müßig da, für den Moment durch Verse und Musik besänftigt. Die kleine Peggie schlich zur Schlafzimmertür und hörte ebenfalls zu, wobei sie verträumt am Daumen lutschte.
Als Seán fertig war, legte er die Geige weg, saß lange schweigend da und starrte ins Feuer, ehe er schließlich seine Pfeife vom Kaminsims nahm. Michael fasste das als Wink auf und erhob sich.
Aber sein Vater wollte offenbar noch mit ihm sprechen. »Ich habe heute Denis Farrelly getroffen«, begann er. Mit einem zusammengerollten Stück Papier zündete er seine Pfeife an, wobei er sich dem Feuer zuneigte und mit saugenden Geräuschen an der Pfeife zog. »Seine Kuh hat gestern gekalbt. Ein kleiner Bulle.«
Michael setzte sich wieder, betrachtete seinen Vater jedoch mit einem Ausdruck, der an Verachtung grenzte.
»Hat er dir auch erzählt, dass Josie nach Amerika auswandert, Vater? Er sticht in drei Wochen von Queenstown aus in See.«
Er wandte sich seinen Geschwistern zu, riss die Augen auf und sagte in spöttisch übertriebenem Tonfall: »Er geht weg ... fährt mit einem großen Schiff über den Atlantik, man stelle sich das vor!«
»Er hat es mir gesagt«, sagte Seán kühl. »Aus der Ferne sieht jede Wiese grüner und saftiger aus.«
»Er hat sich der Unionsarmee angeschlossen! Sie haben ihm eine Fahrkarte geschickt.«
»Tatsächlich?«
»Ich werde auch gehen«, verkündete Michael trotzig. »Sobald ich kann.«
Seán machte ein finsteres Gesicht. »Du wirst in keine fremde Armee eintreten. Es bringt Unglück, sich den Wünschen seines Vaters zu widersetzen. Wenn dein Bruder mir vor fünf Jahren gehorcht hätte ...« Er warf einen Blick auf Tom, sah, wie dieser zusammenzuckte, und führte den Satz nicht zu Ende.
»Amerika oder die Bruderschaft«, erwiderte Michael und bezog sich auf die neue Organisation, von der im ganzen Land nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde.
Man nannte sie die Fenier oder die Irisch Republikanische Bruderschaft.
Sein Vater antwortete nicht gleich, aber seine Augen unter den grauen Brauen blitzten, und er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Man wird dich als Sträfling nach Australien deportieren oder hängen.«
»Sieh mal, Vater, ich kann aus eigener Kraft Weggehen ... und den Atlantik überqueren. Amerika ist ein großes neues Land und braucht starke Männer.« Er starrte seinen Vater eindringlich an und blickte dann auf Maria. »Maria kann mich begleiten! Und Tommy auch, wenn er möchte.«
»Nein, das können sie nicht«, sagte sein Vater wütend und erhob sich. »Sie sind noch Kinder. Und ich brauche einen Sohn, um das Land zu bestellen.«
»Wir haben kein Land, Vater«, sagte Michael, wobei er die Stimme senkte, als habe er selbst erkannt, dass er zu weit gegangen war. »Siehst du das denn nicht? Wenn du Land haben möchtest, musst du es dir anderswo suchen! Wir mögen ja irgendwann einmal Grundbesitzer gewesen sein, aber heute gehört alles Kilduncan! Und Tommy«, fügte er hinzu, »ist kein Farmer. Sieh ihn doch an, wie er dasitzt über seinen Rechenaufgaben! Und dann seine Schulleistungen – wie gut er lesen und schreiben kann. Er ist nicht zum Bauern geboren, sondern zum Gelehrten, jawohl!«
»Ich werde eines Tages Land besitzen«, sagte Tommy ruhig und blickte ernst von seinem Aufgabenheft auf. »Ich werde alles Land zurückkaufen, das den Walshs früher gehört hat, und ich werde es Daddie schenken!«
Michael lachte höhnisch. »Ach ja? Und womit willst du das bezahlen?«
»Du solltest Tommy nicht auslachen«, sagte Maria langsam. Sie starrte wie gebannt ins Feuer, scheinbar fasziniert von dem, was sie in den Flammen sah. Sie sprach völlig monoton und ausdruckslos. »Wenn er erwachsen ist, wird er ...«, begann sie, wandte sich dann abrupt zu ihrem Bruder um und rief »ADhia ...« Als sie dem Blick ihres Vaters begegnete, fügte sie auf Englisch hinzu: »Ich hatte gerade ein furchtbar merkwürdiges Gefühl.«
Michael nahm seine Mütze vom Haken. Er lachte wieder. »Du solltest nicht Gott anrufen, Maria, wenn du uns in den Genuss deiner Prophezeiungen kommen lässt. Merkwürdig trifft es sehr genau! Vater, ich gehe rüber zu den Farrellys.«
»Trink nur nichts von ihrem poitín«, warnte sein Vater; er sprach vom illegal gebrannten Kartoffelschnaps der Nachbarn. »Das Teufelszeug ist stark genug, um Tote aufzuwecken.«
Als die Tür hinter Michael zugefallen war, wandte Tom sich seiner älteren Schwester zu, die ihn mit einem sonderbaren Blick ansah.
»Was glaubst du denn, was ich Merkwürdiges tun werde, Maria?«, fragte er leise. Er wusste, dass Maria, auch wenn sein Vater und sein Bruder es nicht wahrhaben wollten, manchmal Dinge wusste, von denen andere nichts ahnten.
Sie schüttelte den Kopf, hob eine Hand an den Kopf und blickte wieder ins Feuer. »Ich versuche, es noch einmal zu fühlen ... Es war, als würdest du ... einer der Hohen Könige werden.«
»Ich habe dich schon mehr als einmal gewarnt, mit diesem Unsinn aufzuhören«, knurrte ihr Vater. »Du weißt, was Pater Doyle vom Wahrsagen und In-die-Zukunft-Sehen hält, kleines Fräulein. Du musst endlich mit diesem Unsinn aufhören. Es ist nicht richtig!« Ärgerlich zog er an seiner Pfeife.
Maria holte Flickarbeiten aus einer Kiste in einer Ecke der Küche, brachte sie zu ihrem Schemel am Feuer und fädelte im Licht der Flammen einen Faden ein.
»Ich würde schon gerne mit nach Amerika gehen, Vater«, sagte Tom nach einigen Minuten leise, als er glaubte, sein Vater hätte sich so weit beruhigt, dass er das Thema wieder anschneiden konnte. »Dort könnte ich Geld verdienen, um unser Land zurückzukaufen.«
Aber Seán bedachte seinen Sohn nur mit einem gequälten Blick. »Du willst Carraig Mór verlassen? Irland? Red keinen ráiméis, und hör nicht auf das, was dein Bruder sagt. Wenn du Geld verdienen willst, erlerne ein Handwerk. Du hast geschickte Hände. Auf diese Weise könntest du deinen Lebensunterhalt verdienen und trotzdem später das Land bestellen.«
»Was für ein Handwerk meinst du, Vater?«
»Nun, du könntest Maurer werden, oder Schmied ...«
»Ich würde lieber mit Holz arbeiten, Vater.«
Sein Vater dachte einen Moment nach und paffte, und beißender Tabakrauch breitete sich in der Küche aus.
»Donald Grubb, einer der Mühlbauer unten in Clonmel würde dich vielleicht als Lehrling nehmen«, sagte er schließlich. »Wie würde dir das gefallen? Er würde zwar für seine Mühe ein Lehrgeld nehmen, aber irgendwie würden wir das schon schaffen. Du könntest ein solides Handwerk erlernen und müsstest niemals hungern, solange in diesem Land Mühlen und Zimmerleute gebraucht werden.«
Tom dachte darüber nach. Plötzlich sah er sich selbst etwas so Großes wie das Rad einer Wassermühle bauen, sah, wie es sich im Wasser drehte, das Werk seiner Hände. Wenn er zu so etwas fähig war, war er doch sicher auch in der Lage, nach Amerika zu gehen, oder? Seine Züge erhellten sich.
»Das wäre großartig, Vater.«
Tom beendete damit die lange Bruchrechnung, schlug sein Englischheft auf und schrieb in Schönschrift den vom Bildungsministerium vorgegebenen Vers ab:
Ich danke Gott und Krone beizeiten
Die so unvergleichlich gütig sind
zu machen aus mir in diesen christlichen Zeiten
Ein glückliches englisches Kind
Aber er war nicht ganz bei der Sache.
Ich werde nach Amerika gehen, sagte er sich. Irgendwann.
Gleich nachdem er mit zwölf Jahren die Schule abgeschlossen hatte, ging Tom zu Donald Grubb in die Lehre. Er verabschiedete sich von seiner Familie und seinem Freund Seamus Farrelly und begab sich nach Clonmel.
Sein neues Zuhause war geprägt vom Duft frischer Sägespäne. Er schlief in der Mühle in einem Kastenbett, von dem Mr. Grubb grinsend meinte, es werde ihm als Sarg dienen, wenn er unachtsam wäre. Die Mahlzeiten nahm er zusammen mit der Familie seines Lehrherrn ein. Donald weihte ihn in die Geheimnisse des Holzes ein – erklärte ihm, dass Eiche für dauerhafte Konstruktionen wie Mühlräder bestimmt war, Esche und Buche für Karren, Kiefer für einfache Tische und anderes Mobiliar, Hickory für Werkzeuggriffe und Wagenräder. Er lernte mit Hobel und Beitel, Hammer und Schraubenzieher umzugehen und mit der Laubsäge gebogene Linien und mit der Ablängsäge Hirnschnitte auszuführen.
Donald brachte ihm bei, wie man mit dem Zollstock maß – »zweimal messen, einmal schneiden« – und wie man Holz mit Dampf in jede gewünschte Form bringen konnte.
Manchmal hatte er Heimweh und sehnte sich nach der heimischen Küche, seinen Geschwistern und dem Gesicht seines Vaters. Aber er wusste, dass er stark sein musste. Er war zwölf Jahre alt; seine Kindheit war vorbei.
Er hielt durch. Sonntags las er – die Bibel, die Werke William Shakespeares, sämtliche Zeitungen, Pamphlete und Magazine, die er im Grubb-Haushalt in die Finger bekam. Sein Meister sah das gern.
»Lesen ist gut«, pflegte er zu sagen. »Das hält den Geist rege! Hauptsache, du lässt dich nicht von einem dieser Skandale ablenken, über die man zuweilen in der Zeitung stolpert ...«
Tom nickte. Ihn interessierten andere Dinge. Das Handwerk, das er erlernte, machte ihm Spaß. Er liebte den Umgang mit Holz.
»Holz ist ein nobles Material«, sagte Donald Grubb. »Es lebt und spricht zu dir. Ihm gebührt Respekt. Verschwende es niemals.«
Seán war alt geworden und hatte inzwischen die meisten Zähne verloren. Die Farm war schäbiger denn je – sie hatte Toms Ausbildung finanziert und auch lange ohne seine Arbeitskraft auskommen müssen. Maria war zu einer jungen Frau gereift, und die kleine Peggie entwickelte sich langsam zu einer wahren Schönheit.
Verbitterung und Unrast prägten das Leben auf dem Land. Michael wurde unnatürlich still, schlich sich nachts aus dem Haus und kehrte erst im Morgengrauen zurück. Sein Vater hatte längst seine Autorität und die Gewalt über seinen hitzköpfigen Sohn verloren. 1867 kam es zum Aufstand der Fenier. Er wurde von Intellektuellen organisiert und angeführt und verlief sehr gesittet. Einige Polizeihauptquartiere wurden besetzt, ehe die Rebellion niedergeschlagen werden konnte. Michael verschwand ganz plötzlich, nachdem er sich einige Tage eigentümlich verstohlen verhalten hatte, und hinterließ die Nachricht, dass er in die amerikanische Unionsarmee eingetreten sei.
Tom stapfte weiter barfuß in Donald Grubbs Mühle durch Holzspäne, den Duft frischen Sägemehls in der Nase. Die Jahreszeiten gingen ineinander über, und die Jahre verstrichen. Er wartete geduldig und beharrlich auf das Erwachsenenalter, mit nur einem Ziel vor Augen – Amerika.
Als seine Ausbildung sich dem Ende näherte, erzählte er seinem Lehrmeister von seinen Träumen.
»Ich kenne jemanden in Boston«, sagte Donald. »Einen gewissen Mr. Vandermeer. Er besitzt eine Sägemühle und ein Bauunternehmen. Mein Vetter war bei ihm beschäftigt und sagt, er wäre immer auf der Suche nach Zimmerleuten, die etwas von ihrem Handwerk verstehen. Warum schreibst du ihm nicht? Ich werde dir eine Empfehlung schreiben, die zeigt, was in dir steckt.«
Und so setzte Tom einen Brief auf in der gestochen scharfen Schrift, die er in der Schule gelernt hatte.
Sehr geehrter Mr Vandermeer,
ich stehe kurz vor dem Abschluss meiner Lehrzeit bei Mr. Donald Grubb, Mühlbauer in Clonmel. Ich bin ein guter Zimmermann und lege ein Empfehlungsschreiben von Mr. Grubb bei, das dies bestätigt. Ich möchte emigrieren und bin auf der Suche nach einer Anstellung. Gerne würde ich von Ihnen hören, falls Sie eine freie Stelle haben, für die ich geeignet wäre.
Hochachtungsvoll
Thomas Francis Walsh
Er las noch einmal ebenso glücklich wie verlegen das Empfehlungsschreiben seines Meisters, ehe er es faltete und zu seinem Brief in den Umschlag steckte. Das Empfehlungsschreiben lautete wie folgt:
Sehr geehrter Mr. Vandermeer,
Thomas Francis Walsh war in den vergangenen sieben Jahren mein Lehrling und hat seine Pflicht stets treu erfüllt. Er ist heute ein Meister seines Fachs und außerdem einer der anständigsten jungen Männer, die ich kenne. Er trinkt nicht, ist fleißig und von tadellosem Charakter. Ich kann ihn vorbehaltlos empfehlen.
Aber die Wochen verstrichen, ohne dass eine Antwort aus Amerika eintraf. Träume, sinnierte Tom, brauchen Zeit.
Bei einem Besuch zu Hause im letzten Monat seiner Lehrzeit, fand Tom seinen Vater im Bett vor.
»Nur eine Erkältung«, sagte der alte Mann. »Deine Schwestern haben so lange auf mich eingeredet, bis ich schließlich nachgegeben habe, und den armen Seamie Farrelly haben sie mit derselben Hartnäckigkeit dazu gebracht, die meiste Arbeit zu tun. In ein, zwei Tagen bin ich wieder auf den Beinen. Und jetzt erzähl von dir.«
»Ich bin bei Grubb bald fertig, Vater.«
»Die Jahre vergehen«, krächzte der alte Mann. »Ich nehme an, du willst in die Fremde ziehen wie dein Bruder!«
Tom betrachtete das eingefallene, ausgezehrte Gesicht seines Vaters. Die Pflicht stellte sich ihm in den Weg wie ein Dämon aus der Hölle. Wie sollte er gehen, wo er doch hier so offensichtlich gebraucht wurde?
»Nein, Vater«, sagte er langsam, obwohl ihm dabei ganz schwer ums Herz wurde. »Ich werde bei dir bleiben.«
»Geh nur, wenn du musst«, entgegnete sein Vater traurig und hustete. »Ich habe darüber nachgedacht. Es ist dein Leben. Ich habe das meine gelebt und nicht das Recht, dir im Weg zu stehen.«
Peggie kam aus der Küche herein.
»Armer Daddie«, sagte sie, beugte sich hinab und streichelte sein faltiges Gesicht. »Ich werde immer bei dir bleiben.«
Ihr Vater tätschelte ihre Hand. »Du bist erst dreizehn, a stór. Auch du wirst eines Tages flügge werden.«
Peggie schüttelte das Bett auf, wobei sie melodisch vor sich hin summte und schließlich anfing zu singen, während sie eine Decke aus einer Kommode am Fenster holte.
Tom lauschte. Aus irgendeinem Grund rührte ihn die Anmut seiner Schwester und stimmte ihn traurig.
»Du brauchst mich hier«, sagte er abrupt. »Ich werde bleiben, Vater.«
»Glaubst du wirklich? Maria hat einen Brief, der dich sicher umstimmen wird.«
Maria, die beim Melken gewesen war, betrat durch die zweigeteilte Tür die Küche, in einer Hand einen Eimer mit warmer, schäumender Milch. Sie stellte den Eimer auf den Tisch, wusch sich die Hände und erschien gleich darauf in der offenen Schlafzimmertür; hinter ihr stand hechelnd Finn, der Mischling, den Seamus Farrelly ihr als Welpen geschenkt hatte.
»Zeig deinem Bruder den Brief«, befahl ihr Vater.
»Welchen Brief?«, fragte sie unschuldig.
»Zeig ihn ihm, Mädchen.«
Umständlich kramte sie in ihrer Schürzentasche. »Ich weiß nicht, wo ich ihn hingetan habe ... O aDhia, wo ist er nur?« Sie warf ihrem Bruder einen schelmischen Blick zu. »Ah, da ist er ja!«
Sie reichte Tom einen Umschlag mit amerikanischen Briefmarken und kehrte dann zurück in die Küche. Tom warf einen Blick auf seinen Vater, öffnete den Umschlag und holte den Brief heraus. Dreißig Dollar fielen auf das Bett.
Das Begleitschreiben war kurz, und er erkannte Michaels Handschrift.
Mehr kann ich euch nicht schicken, aber es wird für eure Überfahrt reichen. Sie schicken uns nach Westen, um gegen die Indianer zu kämpfen. Schreibt mir zu Händen meines Regiments und lasst mich eure Entscheidung wissen.
Tom wich dem Blick seines Vaters aus. Er folgte Maria in die Küche. Dort roch es nach frischer Milch, die sie gerade durch ein Musselintuch in eine Schüssel goss. Mit strahlenden Augen blickte sie zu ihm auf.
»Wirst du gehen?«
Tom war ganz aufgeregt, zögerte jedoch noch. »Ich würde schon gerne, Maria«, sagte er nach einer Weile.
Sie senkte die Stimme. »Wenn du gehst, Tommy, gehe ich mit dir.«
Peggie war in der Zwischenzeit hereingekommen und hörte ihre Worte. Das Lied erstarb auf ihren Lippen. Ein tief unglücklicher Ausdruck trat auf ihr Gesicht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Eine Woche später traf die Antwort von Mr. Vandermeer ein. Er bot Tom eine Stelle an für einen Lohn von drei Dollar die Woche bei freier Unterkunft. Die Probezeit würde sechs Monate betragen, aber Tom könne versichert sein, dass er für mindestens zwei Jahre bleiben könne, wenn man mit ihm zufrieden war.
Tom zeigte seinem Vater den Brief.
»Drei Dollar die Woche bei freier Unterkunft!«, rief dieser aus. »Das kann dir hier niemand bieten! Langsam fange ich an zu glauben, dass Michael vielleicht doch Recht hatte. Bis sich in Irland etwas ändert, sind wir alle längst tot! Geh. Ich wünsche dir alles Glück der Welt.«
Tom antwortete Mr. Vandermeer, dass er das Angebot annähme. Er habe aber auch eine Schwester, die eine großartige Haushälterin sei. Ob Mr. Vandermeer vielleicht jemanden wüsste, der Verwendung für eine Haushälterin habe? So oder so wusste er jedoch, dass sich sein Leben unwiderruflich verändert hatte. Er war neunzehn und ein junger Mann, der danach gierte zu leben.
