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Eine Familie, ein Haus, eine Stadt – mitreißend erzählt Sarah M. Broom von der Kunst des Überlebens. "Meisterhaft. Massiv und minutiös zugleich. Wow." Lisa Taddeo Ein gelbes Holzhaus in einem vernachlässigten Viertel New Orleans ist jahrzehntelang das Zentrum der Familie Mae Broom – bis Hurrikan Katrina es zerstört. Ein ganzer Stadtteil wird von der Landkarte gespült und mit ihm die Habseligkeiten und Erinnerungen der Familie. Doch Sarah M. Broom widersetzt sich dem Verlust und der Verdrängung. Lebhaft erinnert sie die Scham, die sie mit diesem Ort verband, die Liebe ihrer Familie und ihren stoischen Widerstand gegen die Gewalt der Natur und der amerikanischen Geschichte. Immer tiefer dringt sie in die Biografie eines Ortes und seiner Bewohner vor und deckt dabei die fatalen Ungleichheiten einer ganzen Gesellschaft auf. Das gelbe Haus ist ein berauschendes Memoir geschrieben mit der erzählerischen Intensität eines Romans.
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Seitenzahl: 642
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Eine Familie, ein Haus, eine Stadt — mitreißend erzählt Sarah M. Broom von der Kunst des Überlebens. »Meisterhaft. Massiv und minutiös zugleich. Wow.« Lisa TaddeoEin gelbes Holzhaus in einem vernachlässigten Viertel New Orleans ist jahrzehntelang das Zentrum der Familie Mae Broom — bis Hurrikan Katrina es zerstört. Ein ganzer Stadtteil wird von der Landkarte gespült und mit ihm die Habseligkeiten und Erinnerungen der Familie. Doch Sarah M. Broom widersetzt sich dem Verlust und der Verdrängung. Lebhaft erinnert sie die Scham, die sie mit diesem Ort verband, die Liebe ihrer Familie und ihren stoischen Widerstand gegen die Gewalt der Natur und der amerikanischen Geschichte. Immer tiefer dringt sie in die Biografie eines Ortes und seiner Bewohner vor und deckt dabei die fatalen Ungleichheiten einer ganzen Gesellschaft auf. Das gelbe Haus ist ein berauschendes Memoir geschrieben mit der erzählerischen Intensität eines Romans.
Sarah M. Broom
Das gelbe Haus
Leben und Überleben einer Familie in New Orleans
Memoir
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Hanser Berlin
Für drei Frauen, mit Liebe und Herz
Amelia »Lolo«
Auntie Elaine
Ivory Mae
Cover
Über das Buch
Titel
Über Sarah M. Broom
Impressum
KARTIERUNG
ERSTE BEWEGUNG — DIE WELT VOR MIR
I AMELIA »LOLO«
II JOSEPH, ELAINE UND IVORY
III WEBB
IV SIMON BROOM
V KURZES STÜCK EINER LANGEN STRASSE
VI BETSY
VII DIE KRONE
ZWEITE BEWEGUNG — DAS HAUS IN TRAUER
I VERSTECKE
II URSPRÜNGE
III DAS HAUS IN TRAUER
IV KARTIERUNG MEINER WELT
V VIERAUGE
VI ANDERSWO
VII INNENRÄUME
VIII ZUNGEN
IX ENTFERNUNGEN
X 1999
DRITTE BEWEGUNG — FLUT
I LAUFEN — 27. August 2005 Harlem / New Orleans / Missouri / Ozark, Alabama
II ÜBERLEBEN — 28. August 2005—4. September 2005 Harlem / Hattiesburg / New Orleans / Dallas / San Antonio
III ANKOMMEN — 6.—29. September 2005 Vacaville, Kalifornien / St. Rose, Louisiana / Tyler, Texas
IV BEGRABEN — 29. September—2. Oktober 2005 St. Rose, Louisiana
V NACHSPÜREN — 3. Oktober 2005 New Orleans East
VI AUSLÖSCHEN — Juli 2006 Wilson Avenue
VII VERGESSEN — August 2006—Januar 2008 New Orleans / Istanbul / Berlin / New York / Burundi, Ostafrika
VIII PERDIDO — Januar—August 2008 Burundi / New Orleans
VIERTE BEWEGUNG — DO YOU KNOW WHAT IT MEANS?NACHFORSCHUNGEN
I ZU GAST
II SAINT ROSE
III SAINT PETER
IV McCOY
V FOTOMOTIV
VI NACHFORSCHUNGEN
VII GEISTER
VIII DUNKLE NACHT, WILSON AVENUE
IX RASENMÄHEN
DANACH
DANKSAGUNG
BILDNACHWEISE
LITERATUR
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Kartier du, was du siehst
Danach kartier ich, was du niemals siehst
Und dann darfst du raten, wessen Karte größer ist?
Kei Miller
Eine Karte lesen zu lernen heißt, von der Kultur des jeweiligen Kartografen indoktriniert zu werden.
Peter Turchi
Von ganz weit oben, in einer Höhe von viereinhalbtausend Metern, aus der Luftbilder aufgenommen werden, ist die Wilson Avenue 4121, die Adresse, die ich am besten kenne, bloß ein winziger Punkt, ein grünlicher Schorf. Auf Satellitenaufnahmen aus noch größerer Höhe löst sich meine einstige Straße ganz in der Stiefelspitze von Louisiana auf. Von dieser Warte aus könnte man meinen, unsere Adresse, jetzt mikroskopisch klein, liege im Golf von Mexiko. Abstand bietet Perspektive, führt aber auch zu Trübungen, Fehlinterpretationen. Mein Bruder Carl wäre aus so großer Höhe nicht zu sehen.
Carl, auch bekannt als mein Bruder Rabbit, versitzt ganze Tage und Nächte an der Wilson Avenue 4121, mindestens fünfmal die Woche, wenn er seine Pflichten als Wartungsarbeiter bei der NASA erfüllt hat und nicht gerade beim Angeln oder sonst am Wasser ist, wo er sich am liebsten aufhält. Viertausendundfünfzehn Tage nach der Flut, weit über jedes menschliche Ermessen von Nachrichtenzyklen hinaus, sitzt da immer noch ein magerer Mann in Shorts, mit weißen, bis zu den Kniescheiben hochgezogenen Strümpfen und einem Goldrahmen um den einen Schneidezahn.
Manchmal trifft man Carl allein auf unserem Grundstück an, wo er auf einer Kühlbox thront, den Blick suchend schweifen lässt, als wartete er auf ein Zeichen, als wartete er auf ein Wunder. Oder aber er sitzt an einem pekannussfarbenen Esstisch mit aufwendig gedrechselten Beinen und hält dort Hof. Dieser Tisch, an dem Carl manchmal sitzt, steht an der Stelle, wo früher unser Wohnzimmer war, jetzt aber statt eines Fußbodens wieder grünes Gras zu wachsen versucht.
Seht dort Carl, wie er mit dem langen Arm gestikuliert, falls ihm gerade danach ist, und eine dunkle Sonnenbrille trägt, auch noch am späten Abend. Seht ihn dort, Rabbit, wie er die Beine an den Knöcheln kreuzt, ein langgliedriger Mann, ganz verknotet.
Ich sehe ihn jetzt dort, vor meinem geistigen Auge, schweigend, mit einem Bier in der Hand. Er babysittet eine Ruine. Aber weder würde er das je so formulieren noch so empfinden; er würde das Gelbe Haus nie auf diese Weise verraten.
Häufig trifft Carl auf Gesellschaft an der Wilson Avenue, wo er Wache hält. Freunde treffen ein und öffnen ihren Kofferraum, Kühltaschen mit geeistem Alkohol kommen daraus zum Vorschein. »Greif zu, Baby«, sagen sie dann. Muss jemand pinkeln, geschieht das dort, wo früher unser Fernsehzimmer war. Oder die Leute benutzen das knallblaue Dixi-Klo, das hinten im Garten steht, da, wo früher der Schuppen war. Das lotrechte Plastikhäuschen ist heute das einzige Bauwerk auf dem Gelände. Auf seiner Tür steht in weißen Druckbuchstaben auf schwarzem Grund: City of New Orleans.
Ich habe einen Stapel von zwölf, dreizehn Büchern über New Orleans, die seine Geschichte erzählen. Beautiful Crescent, New Orleans Yesterday and Today, New Orleans as It Was, New Orleans: The Place and the People, Fabulous New Orleans, New Orleans: A Guide to America’s Most Interesting City. Und so weiter und so fort. Jedes davon habe ich einzeln durchgeblättert, vorbei an umfangreichen Passagen über das French Quarter, den Garden District und die St. Charles Avenue, auf der Suche nach dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, New Orleans East. Es findet selten und spärlich Erwähnung, als Nachsatz. Führungen durch diesen Teil der Stadt gibt es nicht, bis auf die Katastrophen-Bustouren, die seit dem Hurrikan Katrina eine eigene Branche bilden, Besucherinnen und Besucher herumkutschieren und ihnen die große Verwüstung in Gegenden zeigen, die vor der Flut kein Mensch kannte oder je betreten hat, mit Ausnahme ihrer Anwohner.
Stellt euch vor, die Straßen sind totenstill, und einst lebten Menschen in diesen totenstillen Straßen, doch von dem, was ihnen einmal gehörte, ist nichts mehr übrig. Die wenigen Überlebenden, die sich dort noch aufhalten, in diesen Gerippen von Nebenstraßen schuften, tragen blaue Ganzkörperschutzanzüge zum Wegwerfen und Masken über Mund und Nase, damit ihnen der schwarze Schimmel nicht zusetzt, der überall in ihren Häusern wuchert, die Wände erklimmt, glitschig-abstrakte Formen auf dem Fußboden bildet. Und währenddessen, während man sich fragt, ob man überhaupt noch Reste von irgendetwas finden wird, was einem jemals wichtig war, fahren Touristen in klimatisierten Bussen vorbei und knipsen Fotos von dieser ganz persönlichen Verwüstung. In gewisser Weise bestätigt es mich auch, dass die Touristen den entsetzlichen, zerstörerischen Akt zur Kenntnis nehmen, aber trotzdem kommen sie mir wie Eindringlinge vor. Und ich glaube auch nicht, dass die Busse es jemals bis in die Straße geschafft haben, in der ich aufgewachsen bin.
In einem der Bücher von meinem Stapel, das die Vororte beschreibt, ist zwar New Orleans East nicht aufgeführt, dafür aber Jefferson Parish, das bereits jenseits der Stadtgrenzen liegt, sowie etliche Friedhöfe. Friedhöfe zählen meines Wissens nicht als vollwertige Stadtviertel, auch wenn die oberirdischen Grabstätten in der örtlichen Überlieferung gern als »Häuser der Toten« bezeichnet werden.
Auf einem detaillierten Stadtplan, den ich einmal in einer Avis-Filiale bekam, ist das French Quarter zart türkis unterlegt und wird in einem Kasten ganz unten auf der Seite vergrößert. New Orleans East ist abgeschnitten, ein Ort im Außerhalb, eine Leerstelle auf der Karte, die man im Kopf hat. Das mag praktische Gründe haben. New Orleans East ist fünfzigmal so groß wie das French Quarter, es macht ein Viertel der bebauten Stadtfläche aus. Ordentlich kartografiert würde es die ganze Seite verschlucken.
Und so offenbart die Avis-Karte nicht, dass man, um die etwa elf Kilometer vom French Quarter zu dem Gelben Haus zurückzulegen, in dem ich aufgewachsen bin, zunächst auf der Interstate 10 nach Osten fahren muss. Als dieser Abschnitt der Autobahn 1968 eröffnet wurde, waren dafür mehrere hundert gewaltige Eichen entlang der Claiborne Avenue, für meine Mutter und Großmutter noch die Schwarze Einkaufsstraße, gefällt, ihr Wurzelwerk zwangsgeräumt worden. Einhundertfünfundfünfzig Häuser wurden abgerissen, um Platz zu schaffen.
Fährt man also auf der Interstate, sieht man an den Schildern mit der Aufschrift »Vieux Carré Final Exit«, dass man auf dem richtigen Weg ist, aber man nimmt diese letzte Ausfahrt nicht. Man bleibt auf der Schnellstraße.
Nach weiteren sechseinhalb Kilometern kommt man auf eine Brücke, die wir High Rise nennen, weil sie sich so theatralisch über den Industrial Canal hinwegwölbt, der den Mississippi mit Lake Pontchartrain verbindet, das östliche New Orleans aber zugleich vom Rest der Stadt abgrenzt. Oben auf der High Rise kommt es einem vor, als verharre man kurz auf der Schwelle zu einer Entdeckungsreise, aber der Abstieg ist grausam steil.
Recht plötzlich biegt man dann auf den Chef Menteur ab, einen vierspurigen Highway, erbaut auf einem Höhenzug, der früher von verschiedenen Stämmen amerikanischer Indigener überquert wurde, heute aber Autos bis nach Florida oder Texas bringt. Der Chef Menteur trennt das kurze, industrialisierte Stück der Wilson Avenue, in dem ich aufgewachsen bin, von einem längeren Wohngebiet, das hauptsächlich aus Backsteinhäusern besteht und aus meiner Grundschule, ursprünglich nach Jefferson Davis benannt, dem einzigen Präsidenten der Konföderierten Staaten von Amerika, und später dann nach Ernest Morial, dem ersten Schwarzen Bürgermeister von New Orleans. Heute ist sie namenlos — eine grasbewachsene Fläche mit einem Maschendrahtzaun ringsherum.
Noch heute, beim Schreiben, beunruhigt es mich, was es für uns — mich und meine elf Geschwister — bedeutete, den Chef Menteur Highway zu überqueren, damals, wie auch heute, ein weites Meer der Prostitution, wo Autos halten, mitunter halb auf dem Bürgersteig, oder langsam neben einem herfuhren, selbst wenn man nur ein Kind war, das zum Einkaufen losgeschickt wurde; in den Autos saßen fast nur Männer, immer auf der Suche nach dem nächsten Deal.
Die Autos konnten einen auch erfassen und über den Highway schleifen, ohne es selbst zu merken, so wie es meiner Schwester Karen einmal passiert ist, als sie acht Jahre alt war. Oft fanden Raser auf diesem Highway ihr Ende. Auch Alvin, mein Kindheitsfreund, sollte so sterben. Man musste jederzeit damit rechnen, gepackt und entführt zu werden, wenn man gerade auf dem neutral ground, dem »neutralen Boden« des Chef Menteur, stand, wie wir in New Orleans die Mittelstreifen nennen. Oder gesehen zu werden, obwohl man dort lieber nicht gesehen werden wollte, so wie ich, als ich, schon fast eine junge Frau, möglichst niemandem zeigen wollte, wo ich wohnte. Denke ich an den Chef Menteur Highway und an das Abgeschnittensein — vom anderen Ende der Straße, vom Zentrum der Stadt, einfach abgeschnitten —, dann denke ich auch an all dies.
Benannt wurde der Chef Menteur Highway entweder nach einem Häuptling der Choctaw oder nach einem Gouverneur, der zu viele Lügen erzählt hat. Aus dem Französischen übersetzt bedeutet der Name so viel wie »Lügenboss«. Die Poesie der Namen von New Orleans. Das Rathaus steht an einer Straße, die »Verloren« heißt. Perdido.
Ist man also auf den Chef Menteur abgebogen, bleibt man für gut anderthalb Kilometer auf der äußersten rechten Spur. Unterwegs passiert man eine Chevron-Tankstelle, einen Ersatzteilladen und leere Plakatwände, die für gar nichts werben. Man befindet sich mitten im »wahren Niemandsland«, wie es in zahllosen, in den Achtzigern und Neunzigern veröffentlichten Büchern und Artikeln heißt, das mit »verwilderten Gärten und veralteten Plakaten« geschlagen ist und wo sich »ermattete Sechzigerjahre-Gewerbebauten mit martialisch umzäunten Brachflächen […] und nüchternen Siebzigerjahre-Wohnhäusern abwechseln«. Wo »über allem eine generelle Tristesse liegt«.
Rechts und links passiert man heruntergekommene Wohnblocks, Siedlungen, die früher The Grove, The Goose und The Gap genannt wurden und in denen meine heranwachsenden Brüder Verbündete und Feinde fanden und mein Bruder Darryl einmal, mitten auf einer Schulparty, von einer Kugel im Gesicht gestreift wurde. Man kommt an einem leerstehenden Gebäude vorbei, das früher eine Bank war; Mom und ich hielten dort oft am Drive-in-Schalter, wo der Bankangestellte mit dem Einzahlungsbeleg einen Lutscher nach draußen reichte. Man sieht auch das Causey’s Country Kitchen, das Soul-Food-Restaurant, wo nach der Flut ein Luxusreisebus, der zuvor noch auf dem Parkplatz gestanden hatte, in der Theke feststeckte.
Nun näher an unserer Straße entdeckt man Natal’s Supermarket, im Grunde nicht mehr als ein Eckladen, in den Mom mich als Kind immer schickte, um »Leberwurst« zu kaufen. Jahre später, als ich in Berkeley studierte, sah ich, dass diese Leberwurst, die damals praktisch nichts gekostet hatte, hübsch präsentiert und unter der Bezeichnung »Leberpastete« für neun Dollar das Pfund verkauft wurde.
An der Ampel, wo die Wilson Avenue den Chef Menteur kreuzt, biegt man an den Grundmauern rechts ab, auf denen früher einmal eine Reifenwerkstatt stand und davor ein Waschsalon, der meinen älteren Geschwistern 1965 Schutz vor dem Hurrikan Betsy bot.
Ist man dann rechts in das kürzere Stück der Wilson Avenue eingebogen, erscheint auf der linken Seite ein brachliegendes Grundstück, auf dem früher die Tankstelle war und Mr. Spanata aus Italien seinen Familiensitz errichtet hatte. Alles fort. Daneben steht das Häuschen, das Ms. Schmidt, ursprünglich aus dem Westteil der Stadt, bewohnte und nach ihr zu unterschiedlichen Zeiten meine Geschwister Michael, Karen und Byron. Heute lebt dort niemand mehr.
Daneben wiederum (bis auf eines lagen alle Wohnhäuser im kurzen Stück unserer Straße auf der linken Straßenseite) repräsentiert eine Betonplatte das Haus, das die Familie Davis bewohnte, bis sie irgendwann genug vom kurzen Stück der Wilson Avenue hatte und wegzog.
Anschließend kommt man zu Ms. Octavias cremeweißem Shotgun-Haus, das heute ihrer Enkelin Rachelle gehört — der einzig verbliebenen rechtmäßigen Anwohnerin der Straße —, und schließlich erreicht man das, was früher einmal unser Gelbes Haus war.
Meine Mutter, Ivory Mae, hat das Haus 1961 gekauft, da war sie neunzehn Jahre alt. Es war ihr erstes und einziges Haus. In seinen vier Wänden hat sich meine Mutter ihre Welt erschaffen. Zwölf Kinder sind durch seine Türen gegangen: die Nachkommen von Ivory Mae Broom und ihrem ersten Mann Edward Webb, die Nachkommen von Ivory Mae Broom und Simon Broom sowie die von Simon Broom und seiner ersten Frau Carrie Broom. Das sind wir, Simon junior, Deborah, Valeria, Eddie, Michael, Darryl, Carl, Karen, Troy, Byron, Lynette und Sarah. Wir überspannen die Generationengrenzen, sind seit den Vierzigern in jedem Jahrzehnt geboren. Ich selbst kam zehn Stunden vor Beginn der Achtziger zur Welt.
Als Kleinste in einer Familie mit elf älteren Ansichten, elf komplett unterschiedlichen Schlachtrufen, elf fordernden Hör-gefälligst-auf-mich-Stimmen — lauter Varianten der gemeinsamen Geschichte —, als ewiges Baby, wird es zur Überlebensfrage, sich seine eigene Geschichte zu erschaffen. Neutralen Boden kann es in einem solchen Szenario nicht geben.
Und doch, ein Gefühl des Übergriffigen bleibt, des Wissens, dass ich die natürliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stelle, indem ich die Geschichte der Menschen aufschreibe, die mir vorausgegangen sind — die mich gewissermaßen ausmachen.
Als ich Simon, meinen ältesten Bruder, der jetzt in North Carolina lebt, anrufe, um ihm auseinanderzusetzen, was ich alles wissen möchte und warum, äußert er die Sorge, ich könnte, indem ich es hier aufschreibe, alles erschüttern, zerpflücken und niederreißen, was die Familie Broom sich jemals aufgebaut hat. Er möchte heute in der Zukunft leben und die Vergangenheit vergessen. »Da ist so viel, bei dem wir uns unbewusst geeinigt haben, dass wir’s nicht wissen wollen«, sagt er. Als er sich genauer nach dem Projekt erkundigt, antworte ich schwammig und hochtrabend, ich wolle über »Räume, Architektur und Zugehörigkeit« schreiben.
»Zu viel reden macht immer Probleme«, sagt er. Ich schreibe diesen Satz in mein Notizbuch, in dem Moment, als er ihn äußert, genau so, wie er ihn gesagt hat. Ich habe kein Wort hinzugefügt. Ich habe auch nichts weggelassen.
In New Orleans geben wir die Richtung danach an, wo wir uns im Verhältnis zum Mississippi befinden, im Verhältnis zum Wasser. Unser Haus war von Wasser umringt. Fünf Kilometer hinter uns schlängelte sich der Mississippi entlang. Keinen Kilometer entfernt, im Westen beziehungsweise im Süden, lagen der Industrial Canal und der ihn kreuzende Intracoastal Waterway. Lake Pontchartrain befand sich drei Kilometer nördlich. Ganz im Osten lag die Rigolets, ein Wasserweg von Lake Pontchartrain bis nach Lake Borgne, einer brackigen Lagune, die sich zum Golf von Mexiko hin öffnet. Wir waren von Booten, Frachtschiffen und Zügen umgeben, von Ankünften und Abfahrten — keinen Steinwurf weg von der Old Road, wie die Old Gentilly Road bei uns hieß. Mein Vater, Simon Broom, fuhr über die Old Road zur Arbeit bei der NASA. Später fuhr dann mein Bruder Carl über die Old Road zu seiner Arbeit bei der NASA. Dieselbe Straße, die gleiche Stelle als Wartungsarbeiter, zwei unterschiedliche Männer. Jetzt ist die Straße nicht mehr befahrbar, weil mittendrin illegal abgeladene Autoreifen und anderer Müll den Weg versperren. Die Schienen, die oben an der Old Road entlangführen, wurden in den 1870er Jahren im Auftrag der Louisville and Nashville Railroad verlegt, deren Züge in meiner Kindheit und Jugend fast jede Nacht dort vorbeifuhren. Ihr Rattern und Röhren bildete die Geräuschkulisse vor meinem Fenster, bei der ich zu schlafen versuchte. Wäre die Old Road noch frei, würde sie nach Michoud führen, dem Viertel, in dem sich nach dem Vietnamkrieg viele vietnamesische Einwanderer niedergelassen haben, oder zum Friedhof Resthaven, wo Alvin, mein bester Kindheitsfreund, begraben liegt, oder aber zum NASA-Werk, wo die Triebwerke für das Apollo-Raumfahrtprogramm gefertigt wurden und heute Hollywood-Fantasien wahr werden: Die Weiten des ungenutzten Geländes werden oft als Filmkulisse verpachtet.
Indem ich euch hierher zum Gelben Haus führe, verstoße ich gegen alles, was ich je gelernt habe. Ihr wisst ja, unser Haus ist nicht so behaglich für andere, sagte meine Mutter immer.
Bevor das Haus zu dem Gelben Haus wurde, als das ich es mein Leben lang gekannt habe, war es ein grünes Haus, als das es meine elf Geschwister kannten. Die Fakten aus der Welt vor mir prägen mein Leben, sie geben ihm Gestalt und Kontext. Das Gelbe Haus war Zeuge unseres Lebens. Als es zusammenbrach, zerbarst etwas in mir. Fang so an, wie du enden willst, sagte meine Mutter immer. Aber mein Anfang geht mir weit voraus. In einer Hinsicht geben die Abwesenden uns Macht über sich: Sie sprechen kein Wort. Wir können über sie sagen, was wir wollen. Und doch umschweben sie uns weiter, zeigen hinter unserem Rücken mit dem Finger auf uns. Es bleibt kein anderer Weg als der in die Tiefe.
DIE WELT VOR MIR
Unser Unbewusstes ist einquartiert. Unsere Seele ist eine Wohnung. Und wenn wir uns an »Häuser« und »Zimmer« erinnern, lernen wir damit, in uns selbst zu »wohnen«.
Gaston Bachelard
In die Welt vor mir, die Welt, in die ich geboren bin, die Welt, zu der ich gehöre, wurde meine Großmutter Amelia, die Mutter meiner Mutter, 1915 oder 1916 hineingeboren, als Kind von John Gant und Rosanna Perry, einer schattenhaften Frau, über die nur Schnipsel bekannt sind. Nicht einmal die Schreibweise ihres Vornamens ist gesichert. In den Jahren 1910 und 1920 taucht sie kurz in den Volkszählungsunterlagen von Lafourche Parish auf. Aus diesen Aufzeichnungen erfahre ich, dass meine Urgroßmutter in Raceland, Louisiana, lebte, weder lesen noch schreiben konnte und verwitwet war. Neben dem Namen meiner Urgroßmutter wird kein wie auch immer gearteter Beruf angegeben. Das sind die Fakten, wie sie dort verzeichnet stehen, aber hier ist die Geschichte, wie die Generationen sie einander erzählt haben.
Rosanna Perry hatte fünf Kinder: Edna, Joseph, Freddie, meine Großmutter Amelia und Lillie Mae. Die Ärzte hatten Rosanna gewarnt, ein weiteres Kind könne ihr Tod sein; trotzdem kam im August 1921, als Amelia fünf oder sechs Jahre alt war, Lillie Mae zur Welt. Es hieß immer, meine Urgroßmutter Rosanna Perry sei bei der Geburt gestorben, mit vierunddreißig, aber die, die es wissen könnten, leben nicht mehr und können es weder bestätigen noch bestreiten oder alternative Theorien aufstellen, und eine Sterbeurkunde ist nicht aufzufinden. Wie auch immer es gewesen sein mag, Rosanna verschwand.
Ihr Sohn Joseph war das einzige ihrer Kinder, das je mit ihr unter einem Dach lebte. Wohin die anderen vier Kinder nach der Geburt kamen, warum sie dorthin kamen und bei wem sie wohnten, bleibt unklar. Sollte Rosanna bei Lillie Maes Geburt also doch nicht gestorben sein, hätte meine Großmutter Amelia trotzdem keine Mutter gehabt.
Amelia kam auf der Ormond Plantation zur Welt, die nach einer Burg in Irland benannt ist und neben der sämtliche im Louisiana-Kolonialstil nachgebauten Plantagen auf den karibischen Inseln matt und schäbig wirken würden. Bis heute thront die Ormond-Plantage hochmütig, als ginge sie nichts etwas an, über der River Road in Louisiana, einer mehr als hundert Kilometer langen, zweispurigen Straße, eng an die Windungen des Mississippi geschmiegt, dessen Wasser meist hinter Deichen verborgen bleibt, die an Maulwurfshügel erinnern. Aktuelle Reiseprospekte nennen die Straße die »legendäre Great Mississippi River Road«. Von »prachtvollen Häusern, Plätzen voller Leben, gepflegten Gärten und zahlreichen schmucken und adretten Sklavensiedlungen« ist in den Beschreibungen aus der Blütezeit vor dem Bürgerkrieg die Rede, als in Louisiana tonnenweise Zuckerrohr, das »weiße Gold«, angebaut und verarbeitet wurde und den weißen Plantagenbesitzern Reichtum und Macht über Generationen hinweg sicherte.
Nirgendwo aber prahlen die modernen Marketingmaßnahmen damit, wie sich 1811 der größte Sklavenaufstand der amerikanischen Geschichte, eine rund fünfhundert Menschen starke Armee mit dem strategischen Ziel New Orleans, zwei Tage lang die River Road entlangwälzte und nur haltmachte, um sich auf den Plantagen mit weiteren Waffen auszustatten und anschließend die Häuser in Brand zu stecken. Sie kamen damals verhältnismäßig weit, schafften zweiunddreißig von 65 Kilometern, bis eine ortsansässige weiße Bürgerwehr sie aufhielt. Manche der Sklaven entkamen; andere wurden an Ort und Stelle erschossen. Von den Unglücklichen, die vor Gericht landeten, wurden die allermeisten enthauptet, und ihre Köpfe wurden auf Pfählen an den Deichen entlang der River Road zur Schau gestellt — sechzig Kilometer Köpfe, die grausigen Trophäen verknöcherter Weißer.
Heute wird die »säulenbewehrte Pracht« (wie ein aktueller Prospekt es beschreibt) der Plantagen an der River Road von petrochemischen Raffinerieanlagen flankiert und überragt, die aus ihren silbrigen Nüstern giftige Dämpfe ausstoßen.
Lange vor dem Beinahe-Ende, als meine Großmutter ihre eigene Lebensgeschichte bereits vergessen hatte, beanspruchte sie den Juli 1916 als ihr Geburtsdatum, obwohl die offizielle Eintragung erst ein oder zwei Jahre nach dem Ereignis erfolgte. Festgeschriebene Fakten, das wusste Amelia, waren wichtig für Geschichten, selbst wenn sie sich nicht beweisen ließen.
Sie war nach Emelia benannt, der Mutter ihres Vaters John Gant, die sie nie kennenlernen sollte. Grandmothers Namenspatronin herrschte über eine große Familie, die ihr ganzes Leben in St. Charles Parish zugebracht hatte, wo auch die Ormond-Plantage liegt, namentlich in einer Ortschaft, die heute St. Rose heißt, damals aber Elkinsville, nach dem befreiten Sklaven Palmer Elkins, der dort in den 1880er Jahren für sich und seine Familie eine autarke Dorfgemeinschaft begründete, vier unbefestigte Straßen, die nach der Reihenfolge, in der sie entstanden, auch benannt wurden: First, Second, Third und Fourth Street. Die Gants waren hochgewachsene, grüblerische Männer und in der Ortschaft wohlbekannt. Samuel Gant, der Bruder von Amelias Vater, war Pastor der Baptistenkirche Mount Zion, die in späteren Jahren auch Grandmothers Kirche werden sollte: Ihre Totenmesse fand dort statt, und ihr Sohn Joseph versieht dort bis heute seinen Dienst als Diakon.
Zu irgendeinem Zeitpunkt in Amelias Kindheit, wann, weiß niemand so genau, verließ sie ihren Geburtsort St. Rose und kam in das eine halbe Autostunde entfernte New Orleans, um bei ihrer ältesten Schwester zu wohnen. Edna war inzwischen mit Henry Carter verheiratet, von allen nur Uncle Goody genannt. Sie war Zeugin Jehovas, und die kleine Amelia wurde ihre rechte Hand, schleppte den Wachtturm durch die Straßen der Stadt, auf langen Ausflügen zur Rettung armer Seelen, die aber nur wenig Ertrag brachten. Selbst ließ sich Amelia nie bekehren; ihr Geist war zum Widerstand gemacht.
Edna und Uncle Goody wohnten im Westen der Stadt, an der Philip Street, in einer Gemeinschaft aus lauter Frauen, in der sich offenbar alle anders nannten, als sie auf dem Papier hießen, und die Familienbande eher auf Bedürfnissen als auf Blutsverwandtschaft fußten. Auch der Name, den man sich selbst aussucht, so sahen es wohl diese Frauen, kann einen Stammbaum begründen.
Zwei Schwestern der verschwundenen Rosanna Perry waren Teil dieser Gemeinschaft. Die Älteste wurde von allen »Mama« genannt. Mama hörte aber auch auf den Namen Aunt Shugah, angeblich die kreolische Version des englischen Wortes sugar, die das ursprüngliche Wort aber im Grunde nur mit einer leichten Akzentverschiebung versieht. Aunt Shugahs richtiger Name lautete Bertha Riens. Zudem war sie die Schwester von Tontie Swede, was die Abkürzung für sweetie sein sollte. Aunt Shugah war die leibliche Mutter einer Frau, die sich grundsätzlich nur TeTe nannte und für Amelia zur Schwester wurde, obwohl sie in Wahrheit Cousinen waren.
Diese Frauen, die so eng beieinander lebten, bildeten ein Zuhause. Sie waren der reale Ort, an dem Amelia lebte — viel realer als die Stadt New Orleans. In dieser Welt wurde Amelia zu Lolo, eine ganz und gar neue Abwandlung ihres Namens, deren Ursprung niemand dingfest machen kann. Sie wurde nur noch Lolo genannt, niemand sprach je wieder ihren Taufnamen aus, nicht einmal ihre späteren Kinder, was einerseits eine Distanz zwischen Kind und Mutter schuf, andererseits aber auch eine übernatürliche Form der Nähe und des Erkennens.
Lolos Leben beinhaltet stumme Sprünge, für die es nur wenige fassbare Belege gibt. Schließlich aber tauchen hier und da Tupfer von Geschichten auf: Grandmother war ein kleines Mädchen und wohnte bei ihrer Schwester Edna, dann war sie plötzlich vierzehn Jahre alt und lebte in einer Pension an der Tchoupitoulas Street im New Orleanser Viertel Irish Channel.
Neben der jungen Lolo wohnten in dieser Pension auch John Vaughan und seine Frau Sarah McCutcheon, der Frau, die Lolo später »Nanan« nennen und als ihre Mutter betrachten sollte und zu der Lolos Kinder — Joseph, Elaine und Ivory — »Grandmother« sagten. Sie war als Sarah Randolph geboren und durch Heirat zu Sarah McCutcheon geworden; und obwohl sie nicht Lolos leibliche Mutter war, verhielt sie sich doch so, mit allen Rechten und Freiheiten. Manchmal, wenn Sarah McCutcheon aufgebracht war, verkündete sie: »Ich bin die Tochter von Aunt Carolina«, auch wenn niemand wusste, wer diese Aunt Carolina sein sollte. Und niemand traute sich, zu fragen. Es blieb ein verblüffendes Rätsel.
Über Sarah McCutcheon werden zwei Geschichten erzählt: Sie hatte Lolo großgezogen und einmal ein Restaurant geführt, das schließen musste, weil ein Mann, den sie liebte, mit ihrem gesamten Vermögen durchgebrannt war. Zuvor allerdings hatte Sarah Randolph Emile McCutcheon geheiratet und mit ihm eine Zeit lang in St. Charles Parish gelebt. Dort muss sie wohl Lolos Vater, John Gant, kennengelernt haben oder auch Lolos Mutter, Rosanna Perry.
Von Sarah McCutcheon lernte Lolo, das Göttliche im Alltäglichen zu entdecken. Von ihr lernte sie auch, den eigenen Körper zu kleiden und ein Haus so einzurichten, als wäre es ein anzukleidender Körper. Bei ihr sah sie mit eigenen Augen, dass Kochen ein schützenswertes Ritual war, eine regelrechte Séance. Grandma McCutcheon besaß einen gewaltigen, dickbäuchigen Herd aus schwarzem Gusseisen. Das beste Essen, das ich je gegessen habe, da lass ich nichts drauf kommen. Fleischklößchen mit Tomatensoße, Brathähnchen, Fleischeintopf mit Kartoffeln. Sogar die Biscuits machte sie immer selbst. Sie hat Root Beer angesetzt und es in Flaschen abgefüllt. Und dann machte sie immer diese Tomaten, von Salat wussten wir damals ja nichts. Sie schnitt die Tomaten hauchdünn und gab sie mit Essig und Zucker in eine Schüssel. Den Saft tranken wir dann. Dies ist meine Mutter, Ivory Mae, die hier selbst erzählt.
Beim Kochen musste man es richtig machen, denn Lebensmittel trugen alles erdenklich Schlechte und alles erdenklich Gute in sich, und beides wartete nur darauf, freigesetzt zu werden. Aus diesem Grund galt es beispielsweise, vor dem Verzehr einer Gurke deren beide Enden aneinanderzureiben, um das Fieber auszutreiben. Und allen Schleim aus den Okra herauszukochen, bevor man sie servierte. Warum? Danach fragte man lieber nicht, denn Fragen von Kindern und jungen Menschen an Ältere waren nicht gestattet. Man sah Erwachsenen auch nicht in die Augen. Als Kind sprach man mit anderen Kindern. Das diente dem eigenen Schutz.
Aber selbst wenn jemand einmal nach dem Warum fragte, antwortete Sarah McCutcheon meist nur: »Weil die das so sagen.« »Die« waren allwissend und allgegenwärtig und bedurften keiner weiteren Erläuterung.
Jede Mahlzeit war ein Schöpfungsakt, von Grund auf neu ersonnen, in dem sich Aroma und Geschmack vereinigten. Das brachte Sarah McCutcheon Lolo gewissenhaft bei. Und Lolo brachte es ihren drei Kindern bei. Wenn meine Mutter mit ihrer Schwester und ihrem Bruder für eine Mahlzeit Kräuter hackte, mussten diese so fein sein, dass man sie im fertigen Gericht nicht mehr ausmachen konnte. Grob Gehacktes war unkultiviert, es hieß, dass man keine Sorgfalt walten, sich keine Zeit gelassen hatte. Was nicht appetitlich aussah, so brachte Sarah McCutcheon es Lolo bei — und Lolo dann ihren eigenen Kindern —, konnte auch nicht schmecken, und dieser winzige Keim der Überzeugung, dass das Erscheinungsbild den Geschmack bestimmt, wurzelte tief, vor allem in meiner Mutter Ivory Mae, die bis heute nichts isst, was nicht richtig aussieht.
Mit vierzehn war Grandmother, laut den Volkszählungsunterlagen des Jahres 1930, seit einem Jahr nicht mehr zur Schule gegangen. Sie hatte den Unterricht nach der fünften Klasse abgebrochen, konnte also lesen und schreiben. Vor allem aber konnte sie arbeiten, und damit nimmt jede Ichwerdung ihren Anfang.
Lolo arbeitete hart für das, was sie wollte, aber was genau das war, änderte sich ständig. Sie war pragmatisch, ehrgeizigen Menschen, die noch nicht recht am Ziel waren, sagte sie oft: »Mit Geld für Bier kannst du keinen Champagner kaufen.« Die Matriarchin einer Familie, für die Lolo putzte, schenkte ihr oft aussortiertes Porzellan und aufwendige, schwere Vorhänge. Diese schönen, häufig sehr empfindlichen Dinge erforderten eine ganz besondere Behandlung. Es waren Objekte, durch die man langsamer wurde, etwas vom eigenen Ungestüm verlor. Die Familie förderte Lolos Liebe zum Schönen. Entfacht aber hatte sie längst Sarah McCutcheon.
Auch Männer fielen für Lolo in die Kategorie des Schönen. Einer davon war Lionel Soule. Als verheirateter Mann und gläubiger Katholik, dessen Frau keine Kinder bekommen konnte, zeugte er Lolos drei — Joseph, Elaine und Ivory —, anwesend war er aber nur als Name und vermachte Elaine und Ivory damit einen Nachnamen, Soule, der in den richtigen Kreisen etwas über sie aussagte. Lionel Soule stammte von freien People of Color ab; unter seinen Vorfahren war auch Valentin Saulet, ein französischer Sklavenhalter, der in der Gründungsphase der Stadt als Lieutenant bei der französischen Kolonialregierung tätig war. Ein französischer oder spanischer Vorfahr bekräftigte das Geburtsrecht in einer Stadt, die fünfundvierzig Jahre lang unter der Kolonialherrschaft Frankreichs gestanden hatte, danach weitere vierzig Jahre von Spanien regiert wurde und dann noch einmal ganze zwanzig Tage an die Franzosen fiel, bevor sie 1803 an Amerika verkauft wurde, in einer Stadt, in der es schon 1722 eine gesellschaftliche Dazwischen-Schicht gab, die weder aus versklavten Afrikanern noch aus freien Weißen bestand, sondern eben aus People of Color, die häufig über eigenen Besitz verfügten — über Häuser natürlich, mitunter aber auch über Sklaven, und das zu einer Zeit, in der die Kombination der Begriffe »frei« und »People of Color« mehr als selten war. Diese Gruppe — die sich selbst häufig als kreolisch bezeichnete, Franzosen, Spanier und amerikanische Indigene als Vorfahren anführte und, falls nötig und falls ihr danach war, als weiß durchging — erhielt auch Zugang zu Berufsfeldern, die eigentlich den Weißen vorbehalten waren: Künstler (Maler, Opernsänger, Bildhauer) oder Metallarbeiter, Schreiner, Ärzte und Anwälte.
Nicht zuletzt deshalb war mein Onkel Joe verwirrt und enttäuscht, dass er, obwohl Lionels Sohn, den Mädchennamen seiner Mutter, Gant, trug. Er sagt, er habe immer geglaubt, er hieße Joseph Soule, bis er als Erwachsener in die Navy eintrat, wo der Sergeant Joseph Gant aufrief, den Namen auf Joes Geburtsurkunde, und meinen Onkel, so erzählt er es heute, dazu veranlasste, sich suchend umzuschauen »wie der hinterletzte Depp«. Als er von seiner Mutter wissen wollte, warum er den Nachnamen seines Großvaters bekommen habe, sagte diese: »Sei froh, dass du überhaupt einen Namen hast.«
Lolo hatte dunkle Haut, sie war attraktiv und besaß starke, feste Beine, nach denen die Männer gern griffen. Es gibt nur ein Foto von der jungen Lolo — mit zurückgekämmtem Haar und kurzem, eingedrehtem Pony, der über die ganze Breite ihrer Stirn reicht —, aufgenommen im Magnolia Studio, dem einzigen Schwarzen Fotostudio der Stadt. Der Wartebereich war äußerst eindrucksvoll. Zu Werbezwecken hingen drinnen wie draußen Fotografien von »großen und nicht ganz so großen Namen«. Wollte man wissen, ob der Mensch, dem man gerade auf der Straße begegnet war, etwas darstellte, suchte man ihn an den Wänden im Magnolia Studio.
Auf dem Foto trägt Lolo eine Hornbrille im Cateye-Stil und ein puderblaues Kleid mit weißen Akzenten an Kragen und Taschen. Ihre Schuhe sind blendend rot — vom Fotografen nachkoloriert —, ihre Knöchel wirken breit in den Pumps. Sie steht sehr aufrecht da, einen Arm mit leicht geöffneter Hand auf die Säule gestützt, die als Requisit dient, den anderen in die rechte Hüfte gestemmt. Sie hat Augen, die meine Mutter als tanzende und ich als lachende Augen bezeichnen würde. Zu lächeln braucht sie nicht, sie weiß Bescheid.
Lionel Soule bekam seine beiden Erstgeborenen, Joseph und Elaine, nur ein paarmal zu Gesicht, bei hektischen Übergaben, wenn meine Großmutter am Hafen erschien, wo er arbeitete, um gefaltete Geldscheine aus seiner Hand entgegenzunehmen. Auntie Elaine erinnert sich an folgendes Detail: »Bei jedem Wort hörte man seine Dritten laut aufeinanderschlagen, klack, klack, klack.« Und meine Mutter dachte in ihrer frühen Kindheit wie folgt über ihren Vater: Ich habe gar nicht gewusst, dass ich einen Vater habe. Ich habe immer geglaubt, ich bin einfach da. Ehrlich. Ich habe geglaubt, er ist tot. Wenn er nie kommt, habe ich mir gedacht, muss er ja tot sein. Was auch erklärt, warum meine Mutter beim einzigen Mal, als ihr Vater Lionel zu Besuch kam, wegrannte und sich hinter einer Tür versteckte. Anstatt auf sie zu warten oder sie wieder hervorzulocken, ging Lionel Soule und kam nie wieder. Hat man je was Erbärmlicheres gehört?
Grandmother nannte meine Mutter Ivory, nach der Farbe der Stoßzähne von Elefanten. Wer noch am Leben ist und davon erzählen kann, berichtet, Grandmother, die bei Ivory Maes Geburt fünfundzwanzig war, habe sich während zahlloser Mittagspausen in die Elefanten im Audubon-Zoo verguckt, der von der Villa an der St. Charles Avenue, wo sie früher arbeitete, nur einen kurzen Spaziergang entfernt lag.
Uncle Goody rief das Kind nicht bei seinem Farbton, Ivory, sondern bei seinem Geburtsjahr: ’41, als die Weltwirtschaftskrise zu Ende ging — deren Ausläufer Uncle Goody nach wie vor das Leben verhunzten. Ivorys Spitzname wog schwer von einer historischen Entwicklung, die Uncle Goody einfach nicht abschütteln konnte, und Ivory Mae begriff, dass ihr das große Bedeutung verlieh, zumindest, was ihren Uncle Goody betraf. »Wo steckt denn Forty-One?«, sagte er immer.
Forty-One! Mein Geburtsjahr, so hat er mich genannt. Da kommt ja unsere Forty-One. Mir hat’s gefallen. Ich habe mich immer richtig darüber gefreut.
Und es lohnte sich auch sonst, seine Auserwählte zu sein. Uncle Goody war bei der Louisville and Nashville Railroad beschäftigt, er säuberte die Güterwaggons und kleidete sie mit Holz aus. Manchmal ölte er auch die Bremsen der Triebwagen. Zu Hause offenbarte er ein anderes Ich, machte Melasse-Pralinen, die Fäden zogen wie Toffees. War Ivory Mae zugegen, durfte sie immer als Erste probieren. Da habe ich zum ersten Mal erlebt, dass Männer sich mit Süßkram auskennen.
Joseph, Elaine und Ivory: Sagte man einen Namen, setzte man fast immer auch die beiden anderen hinzu. Joseph war drei Jahre älter als Elaine und Elaine zwei Jahre älter als Ivory. Das Trio bildete eine kleine, vertraute Einheit, die keine weiteren Mitglieder aufnahm.
Alle Welt wusste, dass Joseph, Elaine und Ivory zu Lolo gehörten, nicht vom Hautton her, der unbedarfte Beobachter durchaus auf die falsche Fährte bringen konnte (sie hatten alle drei die Hautfarbe ihres Vaters), sondern wegen ihrer Manieren und ihrer Kleidung. Elaine war von den drei Kindern das dunkelste, und ihre Haut hatte die Farbe von Pekannusspralinen, ein sanftes, helles Braun. Es waren geschniegelte Kinder mit einem straff organisierten Leben — Lolos Versuch, ihnen die Kindheit zu verschaffen, die sie selbst nie gehabt hatte. Deshalb strich sie auch überall, wo sie zur Miete einzog, zuallererst die Wände, als könnte sie damit für die Beständigkeit sorgen, nach der sie selbst sich so sehnte. Sie erstand nagelneue Holzmöbel, die aussahen, als wären sie seit Generationen im Familienbesitz — und Joseph, Elaine und Ivory erhielten den Anschein durch tägliches Polieren aufrecht. Lolo kaufte nur in den besten Läden, sie häufte ständig schöne Dinge an, die sie zur späteren Verwendung auf Halde legte. Aber dann fingen diese unberührten Liebesobjekte, Kisten über Kisten, eines Nachts Feuer, und die Familie musste vom Gehweg aus mitansehen, wie eines der von Lolo aufgemöbelten Häuser an der Philip Street in Irish Channel bis auf die Grundmauern niederbrannte.
Von ihrer eigenen Geschichte kannte Lolo offenbar nur die Namen ihrer Mutter und ihres Vaters und die Namen derjenigen, die sie großgezogen hatten. Sie lebte lieber im Moment, hatte verstanden, dass die Erinnerung an Vergangenes oft in Verzweiflung mündet. Lange Zeit, so erzählt es meine Mutter, kam Grandmother immer wieder mit der Geschichte, wie sie unermüdlich darum gebetet hatte, ihre leibliche Mutter, Rosanna Perry, möge ihr im Traum erscheinen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis das Traumbild auftauchte, und als es schließlich kam, eines Nachts im Schlaf, war die Mutter, die sich ihr zeigte, eine Tote, umringt von einer Schar zombiehafter Cousins und Cousinen. Grandmother, von den Kadavern verängstigt, sah sich gezwungen, den bösen Geist der Toten zur Ordnung zu rufen, ihm zu erklären, er solle verschwinden und nie wiederkommen. Verschärft wurde das Ganze dadurch, dass sie den Geist in ihrem Traum nicht einmal rechtmäßig identifizieren konnte, denn sie hatte ihre Mutter ja nie gesehen, weder leibhaftig noch auf einem Foto.
Die Vergangenheit spielte Streiche, das wusste Lolo. Die Gegenwart erschuf man sich selbst.
Womöglich beschloss sie ja deshalb um 1942 herum, ihr Glück in Chicago zu suchen und den sechsjährigen Joseph, die dreijährige Elaine und die zweijährige Ivory in der Obhut von Aunt Shugah und ihrer Tochter TeTe zu lassen.
Auf Lionel Soule folgte ein Mann namens Son, der als Taxifahrer für das Unternehmen V-8 arbeitete, dem einzigen Fahrdienst, auf den Schwarze in New Orleans zurückgreifen konnten. Son brach dann wohl überstürzt nach Chicago auf. Es heißt, Grandmother sei für einen einwöchigen Besuch hinterhergeflogen, aus dem dann ein einjähriger Aufenthalt wurde. Lolo bekam eine Stelle in der Bäckerei, in der auch Son arbeitete. Sie hatte sich vorgenommen, Geld zu sparen, sich eine ehrbare Existenz in einer aufgemöbelten Wohnung in Chicago aufzubauen und ihre Kinder nachkommen zu lassen; aber ihre Abreise muss in ihr wohl das Gefühl wiedererweckt haben, wie es war, von der eigenen Mutter verlassen zu werden, ihre Kinder in den Händen derselben Frauen zu wissen, die seinerzeit sie großgezogen hatten.
Joseph, Lolos Ältester, war eine Herausforderung für die Frauen. »Ich wurde oft versohlt, aber sobald es nicht mehr wehtat, trieb ich gleich wieder irgendwas, was ich nicht durfte«, erzählt er. »Das gehörte einfach zu meinem Wesen.« Elaine heulte, wenn sie nicht gerade gefüttert wurde. »Will Lolo«, jammerte sie in einem fort. »Will zu Lolo.«
In Chicago kam Grandmother schließlich zu Ohren, Joseph, Elaine und Ivory würden nicht anständig ernährt. Von allem, was schiefgehen konnte, erschien ihr just dies besonders unerträglich. »Ich habe mir geschworen, wenn ich erst mal ein Mann bin, werde ich nie wieder Würstchen mit Nudeln essen«, erzählte mir Uncle Joe. »TeTe war wirklich keine gute Köchin, und das bekamen wir jeden Tag vorgesetzt.«
So kehrte Lolo zurück.
Niemand hält sich gern lange damit auf, dass sie überhaupt fortgegangen ist, denn das spricht viel zu laut und verrät viel zu viel. Man könnte sagen, dass sie dieser ganz speziellen Geschichte um ein Haar entkommen ist. Ich male sie mir in Chicago aus, wie sie, im schweren Mantel mit Pelzkragen, gegen die eisige Kälte ankämpft, wie ihre Finger und Ohren erst kribbeln und dann taub werden. Chicago war die Möglichkeit eines Lebens frei von aller fragmentierten Vergangenheit, die Chance, sich eine neue Geschichte von Anfang bis Ende selbst zu erschaffen, aber indem sie ihre Kinder zurückließ, wiederholte sie auch ein uraltes Muster.
Zurück in New Orleans ging Lolo tagsüber putzen, um die Abendkurse an der Coinson’s School of Practical Nurses zu finanzieren, an der sie besonders wegen ihres Erscheinungsbildes bei der Arbeit in Erinnerung blieb: schneeweiß gebleichte Kleider mit passendem Häubchen, dazu frisch gewienerte Schuhe und Strümpfe, die ihre dunkle Haut in scharfem Kontrast umhüllten. Ein Weiß, das man kaum zu berühren wagte. Sie war entschlossen, die Berufsschule abzuschließen, und das tat sie auch und arbeitete schließlich als Krankenschwester am Charity Hospital in Downtown sowie überall in der Stadt für Privatleute, darunter einige, bei denen sie früher bereits geputzt hatte.
Seit Chicago murmelte Grandmother manchmal leise vor sich hin, und wenn sie den Kitt aus den Fenstern nagen müsse, sie werde ihre Kinder nie mehr allein lassen. Meine Mutter hat das selbst gehört. Zudem fing Lolo an, in ihrem vertrauten Frauenzirkel herumzuerzählen, sie sei in Wahrheit die Mutter von sechs Kindern, vor Josephs Geburt habe es bereits Zwillinge gegeben und noch ein einzelnes Kind, alle tot. Ihre Kinder bekamen diese Geschichten mit, schnappten sie im Vorbeiwehen auf und verwahrten sie in sich, um erst viel später davon zu berichten.
Als Ivory Mae sieben war, hatte Grandmother tiefe Wurzeln in einem Haus in der South Roman Street geschlagen, zwischen der Second und der Third Street. Sie hatte einen Hafenarbeiter geheiratet, dreizehn Jahre älter als sie, den die Kinder »Mr. Elvin« nannten und der von fast allen in etwa so geschildert wird, wie Mom sich an ihn erinnert: Er redete immer mit dem Fernseher. Angenehmer Mensch. So ein ganz stinknormaler. Machte alles mit. Und er trank gern.
Der Abschnitt der South Roman Street, in dem sie wohnten, wurde von zwei Kneipen und einem kleinen Lebensmittelladen eingefasst, die wie Briefbeschwerer auf dem Straßenabschnitt lagen. Lebensmittelläden wurden grundsätzlich von Weißen geführt, Bars und Kneipen grundsätzlich von Schwarzen, es sei denn, es war ein »richtig edler Schuppen«, wie Uncle Joe sagt. Aber es war nun mal New Orleans. Hier lebte die Schwarze, arme Bevölkerung in Sichtweite der reichen, weißen beziehungsweise weiß wirkenden. Die Sozialsiedlung beispielsweise lag nur wenige Straßenzüge von den Villen an der St. Charles Avenue entfernt; man bog um eine Ecke, schon war man in einem völlig anderen sozialen Umfeld. Gleich um die Ecke von Lolos Haus, an der Claiborne Avenue, befand sich das Rex Den, eine gewaltige Lagerhalle, wo Festwagen für den Mardi Gras gebaut wurden. Ein paar Straßen weiter, an der Jackson Avenue, lebte TeTe, Aunt Shugahs Tochter, auf deren Veranda man sich am Karnevalsmorgen traditionell einfand, um die Paraden der Krewe of Zulu und der Krewe of Rex anzusehen — Karnevalsclubs mit falschen Königen und Königinnen und einer sehr realen sozialen Hierarchie.
1947 posierten Elaine und Ivory Mae im Magnolia Studio für das einzige Foto aus ihrer Kindheit, das noch existiert. Sie waren angezogen wie Zwillinge, in identischen weißen Kleidern mit Puffärmeln und echten Ansteckblumen an der Brust. Beide trugen schwarze Riemchenschuhe aus Lackleder und weiße Rüschensöckchen. Elaine hat bereits einen sehr entschlossenen Zug um den Mund, ihr Haar fällt ihr in langen Zöpfen den halben Rücken hinunter. Ivory steht etwas linkisch neben ihr, neigt sich weg, das ganze Gewicht auf der Außenkante des linken Fußes. Aber Auntie hält ihre kleine Schwester fest um die Taille, sie führt ihre Körpergröße ins Feld. Es war das letzte Mal, dass Elaine, die nie über eins zweiundsechzig hinauswuchs, größer als ihre kleine Schwester war, die es später auf eins siebenundsiebzig bringen würde. Moms kurzer Zopf steht auf dem Foto nach vorn ab, ihr Mund ist offen, ihre Miene benommen. Sie zieht am Saum ihres Kleides, vielleicht versucht sie ja, die kleine Schürfwunde zu verdecken, die gut sichtbar gleich über ihrem Knie glänzt.
Zu dieser Zeit in ihrem Leben waren Joseph, Elaine und Ivory drei kleine Dienstmägde, gleich nach dem Aufstehen machten sie ihre Betten, fegten, wischten Staub, das ganze Haus hat geglänzt. Wir sind zur Sauberkeit erzogen worden. Lolos Kinder wussten alle, wie man putzt, auch der Junge. »Dreimal darfst du raten, wer immer draußen stand und die Wäsche durch die Mangel drehte? Dein alter Onkel«, erzählte mir Uncle Joe. Wenn zwei von Lolos Freundinnen, die Kinder nannten sie Aunt Ruth und Aunt Agnes, zum jährlichen Mardi-Gras- und Nursing-Club-Ball im Haus an der Roman Street zu Gast waren, bügelten Joseph, Elaine und Ivory ihre Ballkleider auf und legten sie auf dem Bett zurecht, damit die Frauen gleich nach dem Bad hineinschlüpfen konnten. Kamen sie dann von der Feier zurück, fanden sie ein erleuchtetes Gästezimmer vor, ihre Pantoffeln standen vor dem aufgeschüttelten Bett, ihre Nachthemden lagen bereit.
Wenn Joseph, Elaine und Ivory aus der Schule kamen und Lolo auf ihrer Schwesternschule war, erledigten die Kinder die Einkäufe nach dem Zettel, den ihre Mutter ihnen geschrieben hatte, schleppten schwere Taschen die Straße entlang. Elaine war immer schnell mit ihren Haushaltsaufgaben fertig, während Ivory trödelte, ihrer Schwester zusah und die Uhr im Blick behielt, bis kaum noch Zeit blieb und die Mutter bald wiederkommen würde, dann rannte sie hektisch im Haus herum. Mich musste man immer zu allem zwingen.
Selbst auf der Hoffman Junior High School weigerte sich Ivory Mae, im Garten zu arbeiten, weil das nur die Mädchen machen mussten. Ich hab’s halt immer auf Prügel angelegt. Ivory Mae konnte ziemlich frech werden. »Das Mundwerk bringt sie noch mal um«, sagte Grandmother immer. Elaine war der Wildfang in der Familie, spielte mit Murmeln, kletterte auf Bäume, brach sich Schlüsselbein und Beine. »Ich war ein Wirbelwind.« Sie prügelte sich auch mit Jungs, verteidigte ihre kleine Schwester, die sich, wie sie fand, »viel zu viel gefallen ließ«. Wenn Elaine sich nicht gerade prügelte, war sie schüchtern. »Elaine war eigentlich viel ruhiger als Ivory«, erzählt Uncle Joe. »Aber wenn’s mit der Ruhe mal vorbei war, dann brach gleich die Hölle los. Ivory und ich, wir waren beide Kodderschnauzen. Dafür wurden wir entweder gemocht oder gehasst, je nachdem, wo die Leute standen. Elaine war still und sagte gar nichts, aber so viel, wie die sich geprügelt hat, musste sie auch nichts sagen.« Trotzdem bekamen Elaine und Ivory an der Hoffman immer die Hauptrollen bei den Schulaufführungen im Frühjahr, ganz gleich, ob sie wirklich singen und tanzen konnten. Sie hatten helle Haut, »so eine hübsche Farbe«, wie die Lehrerinnen immer sagten. Elaine wurde schon auf der Grundschule, in der zweiten Klasse, zur »Queen of McDonogh 36« erwählt. Elaine hatte so viele Haare, eigentlich nicht ideal, aber sie haben sie gekämmt und alles hochgesteckt. Ein kleines Diadem hatte sie auch. Sie sah unglaublich schick aus. Außerdem war Elaine auf eine Weise unnahbar, die andere regelrecht verschwinden ließ. Manchmal, wenn man mit ihr sprach, hatte man das Gefühl, sie wäre zwar körperlich anwesend, hätte sich aber innerlich hinter dicken Mauern verschanzt.
Joseph wurde vom ersten Augenblick an von den Frauen verwöhnt. Seine Großmutter Sarah McCutcheon schenkte ihm sein erstes Fahrrad. Bei ihr in Irish Channel, wo das Leben für einen kleinen Jungen sehr viel abenteuerlicher war, hielt er sich am liebsten auf. Sarah McCutcheon wohnte nah am Fluss, an der St. James Street, zwischen der Tchoupitoulas und der Religious Street, gleich gegenüber der Reismühle und nur einen Steinwurf von den Bahngleisen entfernt, die am Mississippi entlangführen. Joseph hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, Feuerholz für den Ofen und den offenen Kamin zu sammeln, und das führte ihn oft zu den Gleisen, wo er Altholz aufsammelte, das früher einmal die Waggons der Güterzüge für Warentransporte durchs ganze Land ausgekleidet hatte. Manchmal trieb er sich am Kai herum, wo die Lastkähne entladen wurden, und da platzte einem der Hafenarbeiter auch schon mal ein Sack mit Zucker, Reis, Kaffee oder Bananen, was Uncle Joe dann in seinem Hemd aufsammelte und es Sarah McCutcheon in die St. James Street brachte.
Die Schulen, die Joseph, Elaine und Ivory besuchten — die Woodson Elementary School, die McDonogh 36 Elementary School, die Hoffman Junior High und die Booker T. Washington High School —, behielten die Segregation ihre ganze Schulzeit über bei, auch noch weit über die Urteile in den Fällen Brown vs. Board of Education von 1954 hinaus, die in New Orleans überhaupt erst im November 1960 Ergebnisse zeitigten, als Tessie Provost, Leona Tate und Gail Etienne, drei sechsjährige Mädchen mit bauschigen Röcken, Lackschuhen und riesigen weißen Schleifen im Haar, die bis dahin rein weiße McDonogh 19 Elementary School betraten, wo sie das ganze Schuljahr hindurch die einzigen drei Schülerinnen blieben und in Klassenräumen mit Packpapier vor den Fenstern unterrichtet wurden, das sowohl die Sonne als auch die Schmähungen der tobenden weißen Eltern draußen fernhielt. Am selben Novembertag beendete die Erstklässlerin Ruby Bridges, ein einzelnes Schwarzes Mädchen in Begleitung dreier US Marshals, die Segregation an der William Frantz Elementary, wo sie das halbe Schuljahr hindurch die einzige Schülerin blieb. Zehn Jahre später, an der Schwelle der Siebziger, löste der unbeschränkte Zugang zu Highschools in New Orleans weiterhin Proteste aus. Vierzig Jahre später ist es immer noch faktisch falsch, zu behaupten, dass an den Schulen von New Orleans keine rassistische Diskriminierung mehr stattfände.
Lolo hat uns immer gesagt, wir könnten alles sein, was wir wollen. Als Kinder hatten wir nie das Gefühl, dass Weiße uns irgendwie überlegen sind. Wir fanden immer, wir sind genauso wie die oder sogar besser.
Dabei mussten Joseph, Elaine und Ivory nur auf den Gehweg vor ihrem Haus an der Roman Street treten, dann sahen sie den Taylor-Park mit seinem Schild: No Negroes, No Chinese and No Dogs. Ein seltsamer Anblick, dieser fast menschenleere, abgezäunte Park mitten in einem Schwarzen Viertel. Wenn die Kinder aus dem Viertel in einem Park herumtoben oder schwimmen gehen wollten, mussten sie bis zum Shakespeare-Park an der mehrere Kilometer entfernten Freret Street. »Anscheinend konnten die meisten Schwarzen aus New Orleans nur dorthin«, erzählt Uncle Joe. Um zum Shakespeare-Park zu kommen, mussten sie einen der segregierten Busse nehmen.
In New Orleans, einer auf die Nuance der Hautfarbe fixierten, regelrecht davon besessenen Stadt, war es allerdings noch etwas komplizierter. Meine Mutter Ivory Mae begriff schon früh, welchen Wert ihre helle Haut hatte, ihre Sommersprossen und die Struktur ihres lockigen Haars, die sie als gut bezeichnete. Wie es sich für ein mit zweierlei Maß messendes Vorurteil gehört, zeigte sich die Begünstigung daran, dass die Leute strahlten, wenn sie Ivory sahen, sich aber längst nicht so sehr über Elaine freuten, die sich oft fragte, wieso sie ein paar Nuancen dunkler als Joseph und Ivory war und dichteres Haar hatte, das, wie sie es selbst beschreibt, »ein Albtraum zu kämmen« war.
Als Kind verinnerlichte meine Mutter diese Form des Colorism, und das äußerte sich auf mitunter erschreckende Weise.
Eines Tages saßen Ivory und Elaine mit Grandmothers Schwester Lillie Mae auf der Veranda vor dem Haus an der Roman Street und sahen den vorbeigehenden Leuten zu. Mom war acht Jahre alt. Da kam ein Klassenkamerad vorbei, den Mom »Black Andrew« nannte. Er war auf dem Weg zu Johnnys Lebensmittelladen. Das war nichts Ungewöhnliches. Andrew kam zwei, drei, manchmal sogar vier Mal täglich vorbei, wann immer er ein Fünf-Cent-Stück oder ein paar kleinere Münzen auftreiben konnte, um sich Süßigkeiten zu kaufen. Und jedes Mal, wenn er vorbeikam, starrte er Ivory Mae an, manchmal zwinkerte er ihr auch zu, und sie blickte von ihrem Platz auf der Veranda böse zurück. Sie hänselte ihn: Hey, Black Andrew, hey, kleiner Schwarzer! Die anderen Kinder aus dem Viertel feuerten sie von ihren jeweiligen Veranden aus an, aber das war gar nicht nötig. Sie weiß noch, wie sie ihnen erklärte: Der kleine Schwarze da ist kein Freund von mir.
Er sah aber auch immer so schmuddelig aus. Er war ein richtiger kleiner Schwarzer Junge, mit Kraushaar und allem Drum und Dran. Damit meinte sie, dass seine Haut dunkler war als ihre, vom gleichen Farbton wie die ihrer eigenen Mutter, vom gleichen Farbton wie die von Lillie Mae, der Schwester ihrer Mutter, die direkt neben ihr saß.
»Du hast Nerven, den Jungen einen Schwarzen zu nennen«, sagte Lillie Mae. »Sieh dir mal deine Mutter an. Was hat die wohl für eine Farbe?«
Mama ist doch nicht Schwarz, sagte darauf die kleine Ivory Mae.
Für mich war sie nicht Schwarz. Sie war meine Mama, und meine Mama war nicht Schwarz. Mir kam es vor, als wollen sie meine Mama zu einer von diesen Schwarzen machen, die ich nicht mochte.
»Ich glaube, wir haben sie so gesehen, wie die Weißen sie sahen«, versucht Uncle Joe seine kleine Schwester heute zu erklären. »Als Menschen, die unter uns standen.«
Joseph streunte umher, seine Schwestern spielten immer in Sichtweite der Erwachsenen, außer an den Wochenenden, da erhielten sie einen Vierteldollar, und damit kam man in den Zehn-Cent-Läden an der Claiborne Avenue schon ganz schön weit. Wir kauften uns Haarspangen. Ich habe mir immer die hübschesten Farben ausgesucht. Wir waren adrette Kinder. Wir sahen viel ordentlicher aus als die anderen Kinder um uns herum, so, als hätten wir Geld. Schon als ganz Kleine, mit fünf oder höchstens sieben, trugen wir immer nur Schuhe von Stride Rite. Lolo fand, man braucht gutes Schuhwerk an den Füßen.
»Haltet euch gerade«, ermahnte Grandmother sie immer. Auch wenn sie keinen Cent in der Tasche hatten, musste man ihnen das ja nicht ansehen. »Alles eine Frage der Haltung«, sagte sie. Einen Teil von sich sollten sie stets zurückhalten, sich nie ganz offenbaren, einander mehr wertschätzen als alle anderen und sich von fremden Häusern fernhalten, wo Gott weiß was passieren konnte. Wir waren behütet. Zu Hause besuchen durften wir niemanden. Ich hatte nicht viele Freundinnen. Die Leute blieben für sich. Wir waren einfach nur Elaine, Ivory und Joseph und noch ein paar andere, die auch dazugehörten.
Zu besonderen Anlässen trugen die Kinder Weiß: beim Fotografen, zum Sonntagsgottesdienst in der Divine Mission of God und natürlich im Mai, am John McDonogh Day.
John McDonogh war ein reicher Sklavenhalter gewesen, der im Jahr 1850 sein halbes Vermögen den öffentlichen Schulen von New Orleans vermachte, unter der Bedingung, das Geld solle »auf die Gründung und den Erhalt freier Schulen verwendet werden, zu denen die Armen, und nur die Armen, beiderlei Geschlechts und jeglicher Gesellschaftsschicht und Hautfarbe Zugang erhalten sollen«.
Dieser »Schutzpatron des öffentlichen Schulwesens von New Orleans«, wie er von städtischen Vertretern häufig bezeichnet wurde, stellte daneben noch ein paar weitere Bedingungen — das wichtigste Schulbuch solle die Bibel sein und »noch eine kleine Bitte […], eine geringe Gefälligkeit, um die ich ersuche, es soll auch die letzte sein […], man möge es den Schülern jener freien Schulen, die meiner letzten Ruhestätte am nächsten liegen, gestatten, alljährlich ein paar Blumen auf mein Grab zu pflanzen und diese zu pflegen«.
Die Schülerinnen und Schüler, die auf eine nach McDonogh benannte Schule gingen, besuchten sein Grab tatsächlich einmal im Jahr, manche kamen mit der Fähre über den Fluss dorthin, wo er neben seinen Sklaven auf der McDonoghville-Plantage begraben lag. Selbst nach 1860, als die Familie seine sterblichen Überreste exhumieren und in seine Geburtsstadt Baltimore überführen ließ, versammelten sich die Schulkinder weiter ihm zu Ehren an seiner leeren Grabstätte. Das ging bis 1898 so, dann wurde ihm auf dem Lafayette Square in New Orleans ein Denkmal gesetzt, mit Blick zur Gallier Hall, dem damaligen Rathaus. McDonoghs Bronzekopf blickt stur geradeaus, während unter ihm ein gemeißelter Junge den Sockel erklimmt, um mit einer Hand eine Girlande zur ewigen Ehre um die Büste des Stifters zu schlingen. Am Fuß des Denkmals steht ein bronzenes Mädchen, das die freie Hand des Jungen hält und zu ihm aufblickt.
Am McDonogh Day erschienen sämtliche Schulkinder der über dreißig McDonogh-Schulen in ihren besten weißen Kleidern zu der nach Hautfarbe getrennten Veranstaltung. Schwarze und weiße Schülerinnen und Schüler trafen in jeweils eigenen Bussen ein. Die Schwarzen Kinder mussten in der Sonne warten, bis die weißen Kinder ihre Prozession zu McDonoghs Ehren beendet hatten. Stunde um Stunde standen wir da und schwitzten in unseren schönen weißen Kleidern.
Eine Schulkapelle spielte, und die weißen Kinder versammelten sich vor dem McDonogh-Denkmal und sangen das McDonogh-Lied:
O’ wake the trumpet of renown
Far echoing a hero’s name
McDonogh: let the trumpet blow
And with the garland twine his brow
Extol him with your voices now
Praise to him: all praise to him!
Der Bürgermeister, deLesseps Story Morrison, genannt »Chep«, überreichte je einem Sechstklässler aus jeder weißen Schule symbolisch einen Schlüssel zur Stadt, anschließend kamen die Schwarzen Schülerinnen und Schüler dran. Bis sie die erste Hälfte des Liedes zu McDonoghs Preis und Ehre gesungen hatten, waren meist schon mehrere Schwarze Kinder in der auf sie niederbrennenden Mittagshitze kollabiert und hatten ihre weißen Kleider schmutzig gemacht. Wer noch aufrecht stand, sang weiter, in den Händen die welken Blumen für John McDonoghs Abbild. Die bewusstlosen Schulkinder verpassten die Schlüsselübergabe an je einen Sechstklässler aus jeder Schwarzen Schule.
Es verwundert also kaum, dass sich seit dem John McDonogh Day 1954 zahlreiche Schwarze Schülerinnen und Schüler, Schuldirektoren und Lehrpersonen über Jahre hinweg gegen diese, in den Worten führender lokaler Bürgerrechtler, »unendlich beschämenden und erniedrigenden Strapazen« auflehnten. Von zweiunddreißigtausend Schwarzen Schülerinnen und Schülern in der ganzen Stadt erschienen in diesem Jahr gerade einmal vierunddreißig vor dem Denkmal. Ivory Mae, damals dreizehn, und ihre Geschwister waren nicht darunter.
Danach trugen Joseph, Elaine und Ivory nur noch in der Kirche Weiß. Sarah McCutcheon hatte Lolo und ihre Kinder zur Divine Mission of God geführt. Das Gotteshaus war in einem Shotgun-Doppelhaus untergebracht, zwei Häusern, die sich eine Außenwand teilten: Auf der einen Seite lag die Kirche, auf der anderen der Wohnbereich. Kaum war man drinnen, fühlte man sich, als wäre man irgendwo mitten im Himmel. Erst kam man auf eine kleine Veranda, die etwas höher lag, von da aus in die Kirche. Und dann gab’s nichts anderes mehr. Die Gottesdienste begannen tagsüber, und man verließ sie erst spät am Abend.
Die Divine Mission zählte kaum mehr als fünfundzwanzig Gemeindemitglieder, und alle hingen dem Glauben an, ihr Anführer, Dr. Joseph Martin, sei ein Prophet, einer, der dem Regen zusprechen und ihm Einhalt gebieten konnte. Das habe er, behaupteten etliche, auch schon bei mehreren Gelegenheiten getan, er habe Gewitter warten lassen, damit seine Gläubigen es alle zu ihren Autos schafften, ohne nass zu werden. Es hieß, er habe die entsetzlichsten Hurrikane abgewendet und den Wind besänftigt. Und seine Prophezeiungen beschränkten sich längst nicht aufs Meteorologische. Er sagte voraus, ein kleines Volk werde in Gruppen übers Meer kommen, und später behauptete er, damit die Flüchtlinge aus Vietnam gemeint zu haben, die ab 1975 eintrafen.
Die Gläubigen selbst bezeichneten sich als heilig-katholisch. Ihre Kirche griff auf katholische Rituale zurück, war aber in keinem Kirchenverzeichnis aufgeführt, und auch der Erzbischof besuchte die Gemeinde nicht. Wenn strenggläubige Katholiken wie Joe Gants Freund Harold an einer Messe teilnahmen, behaupteten sie, die Gemeinde verballhorne die katholische Tradition und praktiziere Voodoo. »War eben sehr individuell«, meint Joe Gant dazu.
Im Innern dieser Kirche machten sonst ganz normale Menschen an vier Tagen pro Woche eine Wandlung durch. Die Frauen bewahrten ihre weißen Umhänge in einem hölzernen Wandschrank in der Kirche auf; die Männer trugen lange weiße Gewänder mit weiten Ärmeln und majestätische Kronen aus Filz. Manche trugen auch Stirnbänder, die mit goldenen Sternen besetzt waren. Die Kinder der Gläubigen marschierten wie künftige Propheten den Mittelgang entlang, mit königsblauen Fahnen, die hoch über ihren Köpfen wehten.
Den Chor bildete die ganze Gemeinde. Wenn alle gemeinsam sangen, klang das wie Fanfaren. Wir sind dann immer alle aufgestanden und im Kreis durch die Kirche marschiert.
Oh Daniel he was a good man
Lord, he prayed three times a day
Oh the angels opened up the windah,
just to hear what Daniel had to say
For I thank God I’m in his care.