Das Guantanamo-Tagebuch unzensiert - Mohamedou Ould Slahi - E-Book
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Das Guantanamo-Tagebuch unzensiert E-Book

Mohamedou Ould Slahi

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Beschreibung

Der Spiegel-Bestseller jetzt verfilmt als »Der Mauretanier« mit Tahar Ramin, Jodie Foster und Benedict Cumberbatch. Todesdrohung, Gewaltanwendung, sexueller Missbrauch: Mohamedou Slahis Geständnis wurde unter Folter erpresst. Er galt jahrelang als einer der Hauptverdächtigen der Anschläge vom 11. September. Doch obwohl ein Gericht bereits 2010 seine Freilassung angeordnet hatte, blieb er bis zum Oktober 2016 inhaftiert. Sein ergreifender Bericht ist die bisher einzige bekannte Chronik eines Guantanamo-Gefangenen, die in der Haft verfasst wurde. Ein schockierend authentischer Bericht, der erstmals in der von US-Behörden unzensierten Fassung vorliegt. Slahis Gefangenschaft dokumentiert fast ein ganzes Jahrzehnt des amerikanischen »Kriegs gegen den Terror«. Donald Rumsfeld – mit der Akte »Slahi« vertraut – autorisierte die Behörden, den mutmaßlichen Al-Qaida- Verschwörer intensiven Verhören zu unterziehen – und nahm dabei auch Folterungen in Kauf. Im Jahr 2005 begann Slahi, seine Geschichte niederzuschreiben, doch erst zehn Jahre später konnten seine Anwälte eine Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen in zensierter Form erwirken. Nach seiner Freilassung 2016 füllte Slahi die geschwärzten Stellen seines emotionalen, stets um Fairness bemühten Berichts über Entführungen und Folter durch Geheimdienste und Militärs und verleiht so seinen Mitgefangenen und Peinigern ein glaubwürdiges Profil, das von Machtmissbrauch und Menschlichkeit erzählt.

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Seitenzahl: 741

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das Guantanamo-Tagebuch unzensiert« von Mohamedou Ould Slahi, Susanne Held

Mohamedou Ould Slahi

DAS GUANTANAMO TAGEBUCH UNZENSIERT

Herausgegeben vonLarry Siems

Aus dem Amerikanischenvon Susanne Held

Tropen Sachbuch

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Guantánamo Diary« im Verlag Little, Brown and Company, London, New York 2015; unzensierte Ausgabe 2017

Tagebuch, unzensiertes Tagebuch und Einführung in die Neuausgabe © Mohamedou Ould Slahi 2015, 2017

Vorbemerkungen und Einleitung zur zensierten Erstausgabe © Larry Siems 2015, 2017

Für die deutsche Ausgabe

© 2015, 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Redaktion: Antje Peter, Berlin

Umschlag: Zero Media GmbH, Münchennach einem Entwurf von Herburg Weiland, München

Manuskript von S. 6, 54, 126, 254, 448 © Mohamedou Ould Slahi, 2015, 2018Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50358-6

E-Book ISBN 978-3-608-11048-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Chronik einer Freiheitsberaubung

Vorbemerkung zum Text und Anmerkungen zur vervollständigten Ausgabe

Das Ende der Geschichte und eine Einführung in die Neuausgabe von Mohamedou Ould Slahi

Das Guantanamo Tagebuch

Jordanien – Afghanistan –

GTMO

Juli 2002 bis Februar 2003

Zuvor

Senegal – Mauretanien

21. Januar 2000 bis 19. Februar 2000

Mauretanien

29. September 2001 bis 28. November 2001

Jordanien

29.

November 2001 bis 19. Juli 2002

GTMO

Nachbemerkung

Anhang

Liste der Abkürzungen

Einleitung der zensierten Erstausgabe von Herausgeber Larry Siems

Der Herausgeber dankt

Für meine verstorbene Mutter, Maryem Mint El Wadia

Chronik einer Freiheitsberaubung

Februar 2000 Nachdem er zwölf Jahre in Übersee – vor allem in Deutschland und kurz in Kanada – studiert, gelebt und gearbeitet hat, beschließt Mohamedou Ould Slahi, in seine Heimat Mauretanien zurückzukehren.

Auf der Reise in seine Heimat wird Mohamedou zweimal im Auftrag der USA festgenommen: zuerst von der senegalesischen Polizei, anschließend von mauretanischen Behörden. Mohamedou Slahi wird von amerikanischen FBI-Agenten wegen angeblicher Beteiligung am sogenannten Millennium-Plot – dem Plan, den Flughafen von Los Angeles zu bombardieren – vernommen. Die Behörden kommen zu dem Schluss, es gäbe keine Anhaltspunkte für seine Mitwirkung, und lassen ihn am 14. Februar 2000 wieder frei.

2000 bis Herbst 2001 Mohamedou lebt bei seiner Familie und arbeitet als Elektroingenieur in Nouakchott, Mauretanien.

29. September 2001 Er wird verhaftet, zwei Wochen lang im Gefängnis festgehalten, erneut von Agenten des FBI wegen des Millennium-Plots verhört. Wieder wird Slahi freigelassen; die mauretanischen Behörden bekräftigen öffentlich seine Unschuld.

20. November 2001 Mauretanische Polizeibeamte suchen Mohamedou zu Hause auf und bitten ihn, sie zwecks einer weiteren Vernehmung zu begleiten. Er entspricht dem Wunsch und fährt im eigenen Auto zum Polizeirevier.

28. November 2001 Ein Flugzeug der CIA bringt Mohamedou von Mauretanien in ein jordanisches Gefängnis in Amman, wo er siebeneinhalb Monate vom jordanischen Geheimdienst verhört wird.

19. Juli 2002 Ein weiteres Flugzeug der CIA bringt Mohamedou von Amman weg. Er wird nackt ausgezogen, seine Augen werden verbunden. Man zieht ihm eine Windel an, legt ihn in Ketten und transportiert ihn zur Luftwaffenbasis Bagram in Afghanistan. Mit diesen Ereignissen beginnt das Guantanamo-Tagebuch.

4. August 2002 Nachdem er zwei Wochen lang in Bagram verhört wurde, wird Mohamedou mit 34 anderen Häftlingen in ein Militärflugzeug verfrachtet und nach Guantánamo geflogen. Am 5. August 2002 trifft die Gruppe ein und wird in der Einrichtung registriert.

2003 bis 2004 Vernehmungsbeamte des amerikanischen Militärs unterziehen Mohamedou einem »Sondervernehmungs-Plan« (Special Interrogation Plan), der von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld persönlich abgesegnet ist. Die Foltermaßnahmen bestehen in Monaten extremer Isolation, einer endlosen Abfolge körperlicher, seelischer und sexueller Erniedrigungen, Todesdrohungen, Drohungen gegen seine Familie und einer vorgetäuschten Entführung in ein Geheimgefängnis.

3. März 2005 Mohamedou verfasst handschriftlich einen Antrag auf eine Habeas Corpus-Verfügung.

Sommer 2005 Mohamedou verfasst in seiner Isolationszelle handschriftlich die 466 Seiten, die die Grundlage des vorliegenden Buches bilden.

12. Juni 2008 Das Oberste Bundesgericht entscheidet im Fall Boumediene vs. Bush mit 5 zu 4 Stimmen, dass Guantanamo-Häftlinge das Recht haben, aufgrund des Habeas Corpus-Gesetzes eine Haftprüfung zu beantragen.

August bis Dezember 2009 James Robertson, Richter beim Amtsgericht, verhandelt Mohamedous Haftprüfungsantrag.

22. März 2010 Richter Robertson genehmigt Mohamedous Gesuch und ordnet seine Freilassung an.

26. März 2010 Die Obama-Regierung legt Berufung ein.

5. November 2010 Das Bundesberufungsgericht Washington, D.C., gibt Mohamedous Fall an den Bundeshof zur erneuten Anhörung zurück. Dort liegt er für mehrere Jahre, ohne dass etwas geschieht.

20. Januar 2015 Das Guantanamo-Tagebuch wird in den USA, in England, in Deutschland und noch in sechs anderen Ländern veröffentlicht. Verlage in neunzehn weiteren Ländern werden im Lauf der folgenden zwei Jahre Übersetzungen publizieren.

2. Juni 2016 Mohamedou erscheint vor dem Periodic Review Board (Ausschuss zur Periodischen Überprüfung) in Guantanamo.

14. Juli 2016 Das Perdiodic Review Board kommt zu dem Ergebnis, dass der Haftaufenthalt Mohamedous in Guantanamo »im Zusammenhang mit Schutzmaßnahmen gegen eine fortgesetzte erhebliche Bedrohung der United States nicht mehr notwendig ist«.

16. Oktober 2016 Mohamedou wird aus Guantanamo entlassen. Wie auf dem Flug nach Guantánamo vierzehn Jahre zuvor ist er mit Fußketten gefesselt und trägt während des gesamten Flugs an Bord eines Militärtransportflugzeugs eine Augenbinde und Ohrenklappen.

17. Oktober 2016 Das Flugzeug landet ungefähr um zwei Uhr nachmittags am Flughafen in Nouakchott, Mauretanien. Wenige Stunden später ist Mohamedou wieder zu Hause bei seiner Familie.

Vorbemerkung zum Text und Anmerkungen zur vervollständigten Ausgabe

Am Ende meiner Vorbemerkungen zum Text, den Redaktionen und Anmerkungen für die erste veröffentliche Ausgabe des Guantanamo Tagebuchs schrieb ich:

Zahlreiche redaktionelle Herausforderungen, die damit verbunden waren, dieses bemerkenswerte Manuskript in Druck zu geben, hängen unmittelbar damit zusammen, dass die Regierung der USA das Werk bis heute ohne zufriedenstellende Erklärung der Zensur unterwirft, die den Autor der Möglichkeit beraubte, an diesem Prozess teilzuhaben. Ich freue mich auf den Tag, wenn Slahi ein freier Mann sein wird und wir sein Werk zur Gänze kennenlernen, so wie er selbst es veröffentlicht hätte.

Nun ist dieser Tag gekommen, und das Werk liegt vor uns.

Am 16. Oktober 2016, 5445 Tage nachdem er selbst zur Polizei der Nation Mauretanien gefahren war, um sich befragen zu lassen, und gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde, wurde Mohamedou aus Guantanamo befreit und kehrte in seine Heimatstadt Nouakchott in Mauretanien zurück. Nur Stunden später unterhielten wir uns über Video – das erste Mal, dass wir uns überhaupt unterhielten –, und wenige Wochen später trafen wir uns persönlich in der Gepäckausgabe des Flughafens Nouakchott.

Seit damals waren wir dann praktisch jeden Tag in Kontakt, via E-Mail, WhatsApp, Skype und Text, – eine der unerwartetsten und außerordentlichsten Freuden meines ganzen Lebens. Viel Zeit verbrachten wir mit der Arbeit an dieser neuen Ausgabe des Guantánamo Diary, mit der die Hoffnung wahr wird, die ich in meinen Vorbemerkungen zur ersten Ausgabe zum Ausdruck brachte und die erfüllt, was Mohamedou für den Augenblick seiner Freilassung mit vorausschauender Klarsicht als eine Verantwortung beschrieben hatte, die er seinen Lesern schuldig war: den Text von den Einschränkungen durch die Zensur der amerikanischen Regierung zu befreien.

Wie Mohamedou in der Einleitung zu dieser neuen Ausgabe erklärt, gestaltete sich dieser Prozess zunehmend als ein Akt der Restauration und Ausbesserung, wie bei einem alten Gebäude oder einem beschädigten Gemälde.

Wenn wir Zugang zu dem noch immer nicht freigegebenen originalen unzensierten Manuskript gehabt hätten, dann hätte man es vielleicht für eine simple Angelegenheit des »Ersetzens« der Schwärzungen durch den getilgten Text halten können. Aber selbst das hätte eine gewisse Überarbeitung über die Schwärzungen hinaus erfordert, da manchmal die Schwärzungen auch solche Sätze und Textteile verstümmelten, die man hätte stehen lassen können, und stellenweise hatte ich auch Formulierungen und Inhalte unter den Schwärzungen falsch interpretiert.

Wir gingen so vor, dass wir diesen Reparaturprozess in mehrere Phasen aufteilten: Wir arbeiteten uns von kurzen Redaktionen von Nomen und Pronomen zu längeren, beschreibenden Passagen vor und dann ganz am Schluss zu den drei sich über mehrere Seiten hinziehenden Tilgungen in der Originalausgabe, zwei, in denen Verhöre mit dem Lügendetektor beschrieben wurden, und einen, der ein von Mohamedou verfasstes Gedicht enthielt. Es war unmöglich, ein Jahrzehnt, nachdem sie verfasst worden waren, den exakten Text zu rekonstruieren, der in diesen längeren Passagen geschwärzt worden war. Stattdessen gaben wir uns alle Mühe, die Szenen, die der zensurierte Text verbarg, so gewissenhaft und genau wie möglich zu rekonstruieren: Mohamedou beschrieb die Szenen ein weiteres Mal, und dann revidierten und bearbeiteten wir diese Absätze gemeinsam. Wir hatten uns vorgenommen, immer so nah wie möglich am Umfang und der Erzählstruktur der ersten Ausgabe zu bleiben. In einem Fall war es allerdings nötig, einen Textblock, der ursprünglich relativ zu Beginn des fünften Kapitels stand, an den Schluss des ersten Kapitels zu verschieben, um die Abfolge der Verhörsitzungen zu korrigieren.

In dieser neuen Ausgabe verweist der leicht schattierte Text – für diejenigen, die diese Version mit der Erstveröffentlichung vergleichen wollen – auf die Stellen, an denen restauriert und repariert wurde.

Nicht eigens ausgezeichnet, doch leicht unterscheidbar über den Vergleich mit der Erstveröffentlichung, sind mehrere Veränderungen in meinen Fußnoten. In der ersten Ausgabe hatten diese Anmerkungen zweierlei Funktionen: Erstens und vor allem sollten die Leser auf Regierungsdokumente und andere für die Öffentlichkeit zugänglichen Informationen hingewiesen werden, die Mohamedous Darstellung bestätigen; und zweitens enthielten die Fußnoten gelegentlich Spekulationen, die sich aus meiner Lektüre des Texts und der bestätigenden Materialien ergaben, Spekulationen bezüglich dessen, was unter den Schwärzungen eventuell verborgen sein könnte. Für dergleichen Spekulationen besteht nun glücklicherweise kein Bedarf mehr, daher wurden mehrere Fußnoten der Erstausgabe getilgt. Die Fußnoten, die stehengeblieben sind, und einige wenige neu hinzugekommene beziehen sich nun ausschließlich auf die Quellen, auf welche interessierte Leser zugreifen können, die das umfangreiche Material zu Mohamedous Martyrium erkunden wollen.

Fünf Jahre, nachdem man mir zum ersten Mal eine Disk mit der zensierten Fassung von Mohamedous handgeschriebenem Manuskript in die Hand gedrückt hatte, bin ich immer noch nicht in der Lage, mir das Ausmaß und die Schwere dieses Martyriums auszumalen und mir vor Augen zu halten, was dieses Martyrium aussagt über den Einsatz meines Landes für so grundlegende Dinge wie das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Manuskript begleitete mich tagein, tagaus, und nun, in der realen Gegenwart seines Autors, kann ich zu meinem großen Glück das Guantánamo Diary als eine tief berührende Geste des Neuaufbaus und der Hoffnung verstehen.

Eines Abends während meines Besuchs in Nouakchott wenige Wochen nach seiner Freilassung, stand Mohamedou am hinteren Tor seines verwitterten Elternhauses am Rand der Sahara und ließ jenen Abend am 20. November 2001 noch einmal aufleben: Wie er sich von seiner Mutter und seiner Tante verabschiedete, ihnen versicherte, dass er in wenigen Stunden wieder zu Hause sein würde, und in sein Auto stieg, um zur Polizeistation zu fahren. Und dann ging uns plötzlich auf, dass es auf die Stunde genau fünfzehn Jahre her war, dass seine schicksalhafte Odyssee begann. Die Zeit schob sich zusammen wie ein Teleskop; ich sah ihn sowohl am Beginn wie am Ende seiner Reise, und ich konnte an der leichten Krümmung seiner Schultern das enorme Gewicht dieser Jahre ablesen.

Ich habe dieses Gewicht seither, während wir an der neuen Ausgabe arbeiteten, häufig gespürt. Mohamedou ist jetzt zu Hause, und mit dieser Ausgabe ist der lange, mühevolle Weg, den er auf sich nahm, um seine Geschichte erzählen zu können, an sein Ziel gekommen. In meiner Eigenschaft nicht als Herausgeber, sondern als amerikanischer Bürger muss ich sagen, dass es weitere Ausbesserungsarbeiten gibt, die noch zu leisten sind. Mohamedou hat seinen Teil dazu beigetragen. Jetzt sind wir an der Reihe.

Das Ende der Geschichte und eine Einführung in die Neuausgabe von Mohamedou Ould Slahi

1.

Jedes Mal, wenn für Guantanamo Bay eine Hurrikanwarnung ausgegeben wurde, hatte ich denselben Tagtraum. Ich stellte mir vor, das Gefangenenlager würde komplett zerstört, und wir alle, Gefangene und Wärter, würden Seite an Seite um unser Überleben kämpfen. In einigen Versionen rettete ich viele Leben, in anderen wurde ich selbst von anderen gerettet, aber irgendwie schafften wir es alle zu entkommen, unversehrt und frei.

Dieselbe Vision hatte ich auch, als sich am 7. Oktober 2016 Hurrikan Matthew in der Karibik aufbaute. Es war vorhergesagt, dass er direkt auf Guantánamo treffen würde, die Lagerleitung beschloss daher, sämtliche Gefangenen – rund siebzig – nach Camp 6, die sicherste Anlage in GTMO, zu verlegen. Man klärte mich auf, dass meine Habseligkeiten den Hurrikan womöglich nicht überleben würden; ich packte also die Bilder von meiner Familie, meinen Koran und die beiden DVDs der TV-Sitcom Two and a Half Men zusammen. Der verantwortliche NCO, ein sympathischer, gut vierzigjähriger hispanoamerikanischer Sergeant Erster Klasse, machte mit einem anderen Häftling aus, dass er mir seinen tragbaren DVD-Player leihen würde, doch die Maschine gab innerhalb weniger Minuten den Geist auf.

Vor meiner Zelle brach zwischen einem Häftling und den Wachen wegen der Temperatur im Block ein Streit aus, ein Streit, von dem wir alle genau wussten, dass er zu nichts führen würde, aber der Häftling hatte nun einmal angefangen und konnte nicht mehr aufhören.

»Ihr Amerikaner – selbst wenn ich euch wie menschliche Wesen behandle, ihr respektiert mich einfach nicht«, schrie er.

»Wir können das auf die einfache oder auf die harte Tour regeln«, brüllten die Wachen zurück. Ich gab mir alle Mühe, sie auszublenden und verbrachte die Nacht damit, auf die Geräusche des Unwetters zu hören, das die Zelle erschütterte, während ich mir eine weitere dramatische Flucht ausmalte.

Am folgenden Morgen schwirrten im Lager Gerüchte über Häftlinge herum, die entlassen werden sollten. Ein Gerücht besagte, es gebe einen umfangreicheren Plan: Ich solle mit Abdul Latif Nasir, einem marokkanischen Häftling, und Soufiane Barhoumi aus Algerien verlegt werden. Wir hatten in all den Jahren so viele Gerüchte gehört, die sich dann eben ein weiteres Mal nur als Gerüchte entpuppten, dass wir wussten: Zum Feiern würde es wieder keinen Grund geben; es war einfach nur ein weiteres Gerücht.

Die echten Neuigkeiten für mich kamen dann jedoch an jenem Nachmittag. Überbringer war eine neue Einsatzleiterin (OIC, Officer in Charge). Sie hatte gerade erst ihren Dienst angetreten, ich hatte sie bislang noch nicht kennengelernt, jetzt aber steckte sie ihren Kopf durch die Öffnung in meiner Zellentür und schenkte mir das strahlendste Lächeln, das ich seit Jahren gesehen hatte.

»Weißt du, dass du bald gehen wirst?«, fragte sie. So grandios hatte sich bislang noch nie ein Einsatzleiter eingeführt: Ich übernehme, und du kannst heimgehen.

Ich wurde in einen anderen Zellenblock verlegt. Ich traf mich mit Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die mich offiziell darüber informierten, dass ich verlegt werden sollte. Die US-Regierung hat einen Horror vor der Vorstellung, dass Häftlinge freigelassen werden, sie spricht daher lediglich von »Transfer« und »Umsiedlung«, als wären wir Transportgut oder Flüchtlinge. Yazan, ein Jordanier, den ich von früheren Begegnungen mit Abordnungen des Roten Kreuzes kannte, fragte, ob ich damit einverstanden wäre, wenn ich in meine Heimat Mauretanien umgesiedelt würde. Ich antwortete, ich wäre mit jedem Transfer einverstanden, den man mir anbieten würde, und zitierte den Titel eines Country-Songs von Chris Cagle: »Anywhere but Here« (Überall, nur nicht hier). Am nächsten Tag riefen mich dann meine Anwältinnen Nancy Hollander und Theresa Duncan aus den USA an, um die Neuigkeiten zu bestätigen. Erst dann konnte ich mir sagen: Jetzt ist es offiziell: Ich verlasse dieses Gefängnis nach so vielen Jahren der Pein und der Erniedrigung.

»Morgen hast du dein Gold Meeting«, teilte mir die neue Einsatzleiterin mit, als ich nach dem Anruf in meine Zelle zurückkehrte. Sie lächelte immer noch.

Das »Gold Meeting« findet im Gold Building statt, einem Gebäude, das für Verhöre gebaut wurde. Anfangs waren die Verhöre nach Guantanamo-Maßstäben gar nicht so übel. Wir beantworteten alle möglichen Fragen vom FBI, der CIA und Offizieren des Militärischen Geheimdienstes, außerdem von Untersuchungsbeamten, die auf Einladung ihrer amerikanischen Kollegen aus der ganzen Welt angereist kamen. Das Gebäude erhielt 2003 ein Facelifting und wurde dann neben dem sogenannten Brown und dem Yellow Building für Foltersitzungen benutzt. Im Gold Building hatte ich in jenem Jahr viele schlaflose, kalte Nächte verbracht, zitternd in meinen Ketten, zahllose geschmacklose MREs [= Meal Ready to Eat – Essensrationen] zu mir nehmend, und das alles zu den Klängen von »Oh say can you see, by the dawn’s early light«, mit denen ich in einer Endlosschleife bedröhnt wurde. Die Sträucher um das Gebäude herum waren mittlerweile verwildert, und das alte Lager Delta Three daneben sah wie ein Friedhof aus. Der Romeo-Block, in dem ich meine letzten Tage verbracht hatte, bevor man mich im Rahmen einer Pseudo-Entführungs-Aktion in ein Boot schleifte, war nur noch ein Trümmerhaufen. Alles war alt und verrostet und verdreckt. Es erinnerte an Szenen in meinen Hurrikan-Träumen.

Im Innern des Gold Building hingegen war alles unverändert. Seine Räume dienten jetzt forensischen Angelegenheiten des FBI und der Armee, Telefongesprächen mit Rechtsanwälten und Zusammenkünften mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Eingerichtet waren sie aber noch genau wie früher, mit den Einwegspiegeln und den angrenzenden Abhörräumen, in denen ein paar Faulpelze von der Joint Task Force (JTF) saßen, auf ihren kalten Cheeseburgern herumkauten, mich beobachteten und sich fragten, wie jemand wie ich hier gelandet war. Es roch sogar noch so wie früher: Kaum war der Geruch an meine Nase gedrungen, hörte ich auch schon das Geräusch, das meine schweren Ketten an jenem Tag gemacht hatten, als ich den Korridor hinunter in einen Raum gezerrt wurde, wo ich Sergeant Mary traf, eine der wichtigsten Befragungspersonen in meinem sogenannten Special Projects Team.

Eines Nachts im August 2003 hatte ich angekettet in einem dieser Räume gesessen und dem Telefongespräch einer meiner Dolmetscherinnen gelauscht. Sie rief ihre Familie in den Staaten an, und sie hatte vergessen, hinter sich die Tür zu schließen. Englisch war wohl ihre Muttersprache, aber mit ihrer Familie unterhielt sie sich auf Arabisch, mit einem weichen libanesischen oder syrischen Akzent. Es war surreal, sie ihre Alltagsgeschichtchen über das Leben in GTMO erzählen zu hören – sehr entspannt, nichts ahnend von dem leidenden Mann im Nebenzimmer, aber zugleich war es genau das, was ich an diesem kalten, unfreundlichen Abend brauchte. Ich wünschte mir, dass ihre wohltuende, melodiöse Unterhaltung kein Ende nehmen würde: Sie war meine Stellvertreterin, sie tat etwas, was ich selbst nicht tun konnte. Ich sah in ihr eine physische und geistige Verbindung zu meiner eigenen Familie, und ich sagte mir: Wenn es ihrer Familie gut ging, dann würde es auch meiner Familie gut gehen. Dass ich meine Einsamkeit abmilderte, indem ich das privat-intime Gespräch eines anderen Menschen belauschte, brachte mich in ein moralisches Dilemma: Ich musste überleben, aber ich wollte auch meine eigene Würde behalten und den Respekt vor der Würde meiner Mitmenschen. Bis zum heutigen Tag tut mir meine Lauschaktion leid, und ich kann nur hoffen, dass sie mir meinen unbeabsichtigten Übergriff verzeihen würde.

Jetzt, für das »Gold Meeting«, hatte ich einen kleinen, braunen arabisch-amerikanischen Dolmetscher Anfang dreißig mit kurzem Haar und Geheimratsecken.

Als ich in den Raum geführt und am Boden festgekettet wurde, fragte er mich auf Arabisch: »Sind Sie aus Westafrika?« Meine Fußfesseln lieferten die Hintergrundmusik für unser Gespräch, die durch das ganze Gold Building hörbar war. Was denken sich eigentlich andere Leute, wenn sie uns in Fesseln sehen?, fragte ich mich immer in solchen Situationen. Finden sie es normal, mit einem festgebundenen menschlichen Wesen zu interagieren? Haben sie wegen uns ein schlechtes Gewissen? Fühlen sie sich sicherer?

»Ja, aus Mauretanien«, antwortete ich lächelnd auf Arabisch.

»Können Sie mich verstehen, wenn ich spreche?« Der Raum war gesteckt voll mit Leuten, die ich nicht kannte, überwiegend hochrangige Militäroffiziere, und ihm kam es offenbar darauf an, geflissentlich zu verstehen zu geben, was für eine entscheidende Rolle er für den Fortgang der Gespräche spielte.

Mein Begleitteam schob den Tisch so nah an mich heran, dass ich mich darauf abstützen und meine gefesselten Füße darunter verstecken konnte, wodurch ich den Eindruck eines entspannten, freien Mannes vermittelte. Ein aktuelles Bild von mir schmückte die Tür.

Wir warteten. Wie überall auf der ganzen Welt hatte es der Big Boss nicht nötig, pünktlich zu sein. Schließlich erscholl dann die Stimme eines Servicebeamten – er schrie so laut, dass man meinen konnte, ein Angriff stehe unmittelbar bevor –, und alle im Raum standen auf.

»Colonel Gabavics, JDG [Joint Detention Group] Commander, vor Ort.« Die Tür öffnete sich, und da stand er, höchstpersönlich. Das war das erste und letzte Mal, dass dieser Mann mit mir sprach.

»Sie werden in einer Woche in Ihr Land überführt. Irgendwelche Fragen?« Da ich mir ein Leben außerhalb von Guantanamo nach so vielen Jahren Einkerkerung kaum mehr vorstellen konnte, hatte ich keine Ahnung, was ich für Fragen stellen sollte. Stattdessen äußerte ich eine Bitte. Ich sagte dem Colonel, ich würde gern meine Aufschriebe mitnehmen – ich hatte während meiner Haft noch zusätzlich zum Guantánamo Diary vier weitere verfasst –, und einige andere Texte und Bilder aus Kursen, die ich in GTMO besucht hatte. Ich sagte, ich würde auch gern mehrere Schachbretter, Bücher und andere Geschenke mitnehmen, die ich von seinen Vorgängern und von einigen meiner Wachen und Vernehmungsbeamten bekommen hatte, Geschenke, die für mich großen sentimentalen Wert hätten. Ich nannte die Namen derjenigen, von denen ich diese Geschenke erhalten hatte – in der Hoffnung, er würde seinen Freunden zuliebe auf meine Bitte eingehen.

»Ich werde mit den Verantwortlichen reden«, sagte er. »Wenn sie einverstanden sind, können Sie die Sachen mitnehmen.« Ich dankte ihm, lächelnd – ich wollte, dass das Treffen harmonisch endete, nicht dass die Situation kippte, indem ich Sachen sagte, die ich nicht sagen durfte.

Der Colonel verschwand ebenso schnell, wie er aufgetaucht war. Das Begleitteam brachte mich dann in ein Zimmer auf der anderen Seite der Halle, wo ich auf zwei uniformierte Frauen traf. Eine Frau, ein magerer brünetter Armee-Sergeant, saß vor einem alten Dell-Desktop, auf dem Windows 7 lief. Sie hörte nicht auf zu lächeln, obwohl ihr Computer ein garantiertes Frustrationssteigerungsmittel war; sie gab alles mindestens zweimal ein, und ständig ließ der PC sie im Stich. Rechts von ihr saß eine Frau, die wohl ihre Vorgesetzte war, jedenfalls was ihren Dienstgrad anging, ein weiblicher Navy-Lieutenant mit adrettem Pferdeschwanz. Auch sie war freundlich, forderte meine Begleiter sogar auf, mir die Ketten abzunehmen.

Daran schloss sich ein Fotoshooting an, für das ich auf fünf unterschiedliche Arten posieren musste: Gesicht zur Kamera, Gesicht rechts, Gesicht links, und zu beiden Seiten noch jeweils 45 Grad. Auf ungefähr ein Dutzend unterschiedliche Arten musste ich auf einem elektronischen Pad meine Fingerabdrücke abgeben. Sie nahmen meine Stimme auf und ließen mich dafür eine auf Englisch verfasste Seite vorlesen: »Mein Name ist Bitte ausfüllen. Ich komme aus Bitte ausfüllen. Ich liebe mein Land«, solche Sachen. Literarisch anspruchsvoller wurde es nicht. Ich muss nervös gewesen sein, denn diesen Stimmerkennungstest bestand ich erst beim zweiten Versuch. Währenddessen versuchte der weibliche Sergeant, meine biometrischen Daten in den alten Computer einzugeben.

Die Leute von meinem Begleitteam fesselten mich wieder und nahmen mich in einen anderen Raum mit, diesmal zu einem FBI-Team.

»Wenn Sie versprechen, dass Sie sich anständig verhalten, sorge ich dafür, dass sie die Ketten abnehmen«, sagte ein türkisch-amerikanischer Agent mit ehrlichem Lächeln. Das FBI-Team nahm mir Fingerabdrücke ab, wofür man die alte Methode benutzte, also meine Finger in Tinte tunkte und auf ein Blatt Papier drückte. Es war ein langer, mühsamer Prozess, der es mir ermöglichte, an dem Agenten meine Türkischkenntnisse auszuprobieren. Während wir redeten, rutschte sein Finger aus und hinterließ einen Abdruck auf dem Papier. Er fluchte, schnappte sich einen frischen Bogen, und wir fingen von vorne an.

»Ich hoffe, das ist das letzte Mal, dass Sie das mit sich machen lassen müssen«, sagte er lachend und händigte mir ein Stück Seife mit Scheuersand, mit dem ich mir die Finger saubermachen konnte. Es waren noch vier weitere Leute vom FBI im Raum, zwei Frauen mittleren Alters und zwei weitere Männer. Das ganze Team unterhielt sich gut mit mir.

»Sie brauchen nicht nur darauf zu hoffen«, versicherte ich ihm. »Sie können Ihren letzten Penny darauf verwetten.«

Dann brachte man mich zu meinem neuen Zuhause, dem Transfer-Lager. Ich kannte dieses Lager ganz genau: Es lag gleich neben der Isolationsbaracke von Camp Echo, wo ich zwölf Jahre lang gelebt hatte. Wenn ich an Verschwörungstheorien glauben würde, dann hätte ich gesagt, dass die Regierung in all diesen Jahren das Transfer-Lager bewusst gleich neben meiner Zelle angelegt hatte, um mein Leiden noch zu vergrößern. So viele Häftlinge wurden während jener Jahre hier durchgeschleust, und ich war jedes Mal der Letzte, der sich von ihnen verabschiedete. Wir redeten miteinander durch den Zaun, der die beiden Lager trennte. Es war tröstlich zu sehen, dass unschuldige Männer endlich freikamen, und ich war glücklich für jeden Gefangenen, der das Transfer-Lager passierte, aber es war zugleich eine quälende Erfahrung, sie gehen zu sehen. Nun war ich der Gefangene, der freigelassen wurde, und ich konnte nicht umhin, mich schuldig zu fühlen. Mich schmerzte der Gedanke, dass ich andere unschuldige Häftlinge zurückließ – ihr Schicksal war nach wie vor in der Hand eines Systems, das im Hinblick auf Gerechtigkeit so kläglich versagt hatte.

»Wir haben dich vermisst, 760«, begrüßte mich einer meiner alten Camp Echo-Wächter, als man die Gurte löste, mit denen ich auf dem Sitz des Transportfahrzeugs angeschnallt war. Während wir durch das Lager gingen, erklärte mir ein Sergeant, eine kleine, blonde Frau mit südlichem Akzent, die neuen Regeln.

»Sie können im Lager überall hingehen, wo Sie wollen, aber Sie dürfen diese rote Linie nicht übertreten. Ehrlich gesagt – mir ist es egal, wenn Sie es machen, aber bleiben Sie nicht allzu lang auf der anderen Seite, denn wenn die das mit der Kamera sehen würden, könnten wir Schwierigkeiten bekommen«, sagte sie, als sie mich zu meinem neuen Zuhause führte. »Wir schieben den Essenswagen bis zu der weißen Linie«, fuhr sie fort und erklärte Prozeduren, die ich nun zum letzten Mal zu hören bekam. Es war wieder eine dieser typischen, sonderbaren Guantanamo-Situationen – der Sergeant und ich liefen umher und unterhielten uns wie alte Freunde und ignorierten die Tatsache, dass ich gefesselt war, vollkommen.

Wegen des Hurrikans waren viele der Verblendungen an den Fenstern der Baracken in Camp Echo entfernt worden, und die Hilfskräfte von einer Fremdfirma – viele stammen aus sogenannten Drittländern, werden sehr schlecht bezahlt und haben alle Hände voll zu tun, die sanitären Anlagen sauberzuhalten – hatten sie noch nicht vollständig ersetzt. Von meiner Zelle aus sah ich eine ganze Welt, die mich viele Jahre lang umgeben hatte – sehr nah, und doch völlig unzugänglich: das Labyrinth der Verhörzimmer; Camp Legal, wo die Gefangenen mit ihren Anwälten zusammentrafen; die Baracke, wo die Übersetzer und Lehrer fernsehen und auf ihr nächstes Treffen mit den Häftlingen warten; und die beiden Gebäude, in die die Häftlinge kommen, um mit ihren Familien per Telefon oder über Skype zu reden. In einem nahegelegenen Parkhaus stellten Leute ihre riesigen amerikanischen Lieferwagen ab, und sie sahen, wenn sie ausstiegen, gelangweilt, ja angeödet von ihren nervtötenden Jobs aus. Durch den Zaun, der meine alte Camp Echo-Spezialbaracke vom Übergangslager trennt, konnte ich sehen, dass mein Garten verschwunden war, nur das Gras war noch da, um das niemand sich gekümmert hatte, und die wenigen Bäume, deren Zähigkeit derjenigen von uns Häftlingen ähnelt, die einigermaßen heil geblieben sind.

In den nächsten Tagen kamen immer wieder Leute von der JTF (Joint Task Force Guantanamo), die mich darüber informierten, wie es mit meinem Transfer weitergehen sollte. Ich erhielt jede Menge Informationen, von den Wachen, von der Einsatzleiterin, dem verantwortlichen Unteroffizier, von einem Offizier der Gesundheitsverhaltens-Einheit (Behavioral Health Unit) und vom Leiter des Ärztlichen Dienstes. Alle brachten sie gute Nachrichten. Man informierte mich, dass meine Sachen zusammengepackt und den Transportleuten übergeben worden waren, und sie zusammen mit mir ins Flugzeug verladen werden würden. Eine Air Force-Pilotin von der BHU[Behavioral Health Unit] sagte, sie hätte vorgehabt, mich am Montag zu sehen, aber jetzt wüsste sie gar nicht, ob ich dann noch da sein würde. Der Leiter des Ärztlichen Dienstes, ein Captain von der Navy, kam persönlich, um mir Malaria-Medikamente auszuhändigen – ein sicheres Zeichen dafür, dass meine Abreise unmittelbar bevorstand. Zwischen diesen Besuchen verbrachte ich den Hauptteil meiner Zeit damit, dass ich mich mit den Wachen über die elektronischen Geräte unterhielt, die ich mir zulegen musste, wenn ich draußen war, und über die besten Methoden, wie ich mir all die Filme reinziehen konnte, die ich in GTMO nicht hatte anschauen dürfen. Sie klärten mich über Streaming-Dienste wie Netflix und Putlocker auf und sogar über illegale Download-Möglichkeiten.

Und dann brach er an, der große Tag: Sonntag, der 16. Oktober 2016. Den ganzen Tag über kamen und gingen Leute in Uniform, die meisten redeten wenig, wenn überhaupt. Es war surreal – als gäbe es auf dem ganzen Stützpunkt nur noch einen einzigen Gefangenen, den es zu versorgen galt. Immer wieder mal kam meine neue Lieblings-Einsatzleiterin, und immer mit ihrem breiten Lächeln. Die Nachtschicht hingegen tauchte gar nicht auf.

»Wo bleibt die andere Schicht?«, fragte ich einen von den Wachen, einen Typen, der mir beigebracht hatte, wie ich mit den neuen Technologien umgehen musste, die nur darauf warteten, mich zu überwältigen.

»Ich fände es toll, wenn sie mir erlauben würden, derjenige zu sein, der dich hier rausholt, und der letzte, der sich von dir verabschiedet«, sagte er. Das Gebet des Spezialisten wurde erhört; er sollte derjenige sein, der mir das letzte Mal Ketten anlegte.

Im weiteren Verlauf des Nachmittags ließ seine Gesprächigkeit dann nach. Alle wirkten ganz feierlich, und vollständiges Schweigen senkte sich herab, als die lächelnde Offizierin zu mir kam und sagte: »Du hast noch zwei Stunden. Wir schließen dich nochmal ein.«

»Jetzt passiert es«, sagte ich zu mir. Ich ging in meine Zelle und hörte, wie einer meiner Wachleute versuchte, die Tür manuell abzuschließen, ein sehr vertrautes Geräusch. Wenn Zivilisten wie Lehrer oder Dienstleister von außerhalb des Lagers kamen, wurden wir auf diese Weise in unseren Zellen eingesperrt. Ich duschte und rasierte mich. Ich zog die neue Häftlingsuniform an, die man mir gegeben hatte. Die alten Kleidungsstücke mussten wie alle meine Habseligkeiten in der Zelle zurückgelassen werden. Ich versuchte fernzusehen, dann ein Buch zu lesen, aber beides gelang mir nicht. Ich ging nur in meiner Zelle auf und ab, betete und sang leise vor mich hin. Es waren die längsten zwei Stunden meines ganzen Lebens.

»Bist du fertig?«, fragte die Einsatzleiterin dann schließlich durch die Öffnung in meiner Zellentür.

»Ja.«

»Kannst du deine Hände durch die Öffnung stecken?«, bat mich einer von der Wache.

Ich streckte meine Hände aus, und die Wachen legten mir die Handschellen um meine Handgelenke, vorsichtig, doch sicher, und fragten, ob sie nicht zu eng säßen. Ich schüttelte den Kopf. Nachdem meine Hände gefesselt waren, öffneten die Wachen die Tür, um mit meinem Oberkörper und den Beinen weiterzumachen. Ich war schockiert zu sehen, wie viele Menschen in diesen kleinen Raum passten. Wohin ich schaute, sah ich Leute in Uniform, unter anderem auch den übereifrigen Übersetzer aus meinem Treffen mit dem Colonel. Aber dieses Mal schaute er nur wortlos zu. Die einzige Gelegenheit, wo ich eine ähnlich feierliche Stimmung erlebt hatte, war bei Begräbnissen. Ich sagte fast gar nichts, nickte nur, wenn mich jemand etwas fragte.

Die Einsatzleiterin führte die Wachen an und unterwies sie, was als Nächstes zu tun war.

»Gehen Sie mit ihm bis zur roten Linie.«

Die rote Linie war ungefähr sechzig Schritte von meiner Tür entfernt. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Herzschlag der Menschen so deutlich hören konnte wie das »Boom Boom Pow« der Black Eyed Peas. Mein Begleitteam war offenbar nervös, und sie gingen zu weit vor. Die Leiterin musste sie anschreien: »Nicht über die rote Linie gehen! Zurück! Zurück!« Die Wachen gehorchten, sie führten mich über die Linie zurück und hielten dann genau davor an.

Ein riesiges Tor öffnete sich, und ein neues Begleitteam kam auf uns zu. Sie übernahmen von meinen Wachen schweigend die Kontrolle über mich. Die übliche Inspektion meiner Fesseln nahmen sie nicht vor; sie sagten kein Wort, als sie mich durch das Tor herausführten.

Dort war eine weitere Gruppe versammelt, darunter auch der Leiter des Ärztlichen Dienstes und ein sehr großer Weißer in Uniform; er hatte einen Rucksack auf, seinen Dienstgrad konnte ich nicht erkennen. Es war dunkel draußen, doch konnte ich sehen, dass er einen Ausdruck mit einem aktuellen Bild von mir in der Hand hatte. Er hielt das Bild neben mein Gesicht, verglich, was er vor sich hatte, und rief dann: »Identität bestätigt.« Die Leute von dem Team sahen aus, als hätten sie eine lange Reise hinter sich. Sie wirkten alle müde, sogar die kleine schwarze Frau, die seit dem Augenblick, da ich meine Zelle verlassen hatte, ihre Videokamera auf mich gerichtet hielt. Eine dünne blonde Frau gesellte sich im Bus, der uns zum Flughafen transportierte, zu ihr, und abwechselnd bedienten sie auf der gesamten Reise nach Nouakchott die Kamera.

»Hast du irgendwelche Beschwerden?«, fragte der Arzt.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er sagte sehr laut: »760, ich erkläre dich für flugtauglich.«

Wir gingen durch zwei weitere Tore. Wir bestiegen einen Bus, der auf eine Fähre verladen wurde. Während der Überfahrt über die Bucht tanzte der Bus wie ein Derwisch in Trance. Wir landeten an der Startbahn, vor der hinteren Öffnung eines Frachtflugzeugs, durch die ein Lastwagen hindurchgepasst hätte. Die Motoren dröhnten, und man musste brüllen, wenn man sich verständlich machen wollte. Ich wurde eine lange Laderampe hinaufgeführt. Sobald wir im Innern des Flugzeugs waren, setzte man mir Ohrenschützer auf und verband mir die Augen, genau wie damals, als ich von der Bagram Air Base nach Guantanamo Bay geschafft wurde. Doch dieses Mal lief alles ohne Schläge oder Schikanen ab. Ich wurde auf einem harten Sitz festgeschnallt, der fast rechtwinklig zur Flugrichtung angebracht war und sich nicht verstellen ließ. Ich wagte nicht, mich zu beklagen, sonst hätten sie es sich womöglich anders überlegt und mich zurück ins Lager gebracht. Während des Flugs verlor ich jedes Zeitgefühl – ich kämpfte gegen den Schmerz, der in meinem Rücken anfing, sich bis zu den Ohren ausbreitete und mich bald von allen Richtungen überwältigte.

Das Flugzeug kam unsanft auf dem Boden auf, und ich spürte, wie mir jemand Augenbinde und Ohrenklappen abnahm. Das erste, was ich sah, war eine Digitaluhr an der gegenüberliegenden Innenwand des Flugzeugs – sie zeigte ein paar Minuten nach 14:00 Uhr an – und mehrere Rekruten im Halbschlaf, die aussahen, als hätten sie keine sonderlich erholsame Nacht hinter sich. Ich spürte, wie vorsichtige Hände sich an meinen Ketten zu schaffen machten, sie fingen in der Mitte an und arbeiteten sich dann nach oben und unten vor.

»Sind wir angekommen?«, fragte ich zaghaft, fast flüsternd.

»Ja«, sagte einer von den Wachleuten neben mir.

»Ist das die Ortszeit?«

»Ja.«

Das mauretanische Wetter war unverkennbar. Es war ein schöner Tag, nicht zu heiß – genau der richtige, warme Empfang, den ich brauchte. Ich wurde – ungefesselt – die Rampe hinunter- und auf die Rollbahn geführt, wo mehrere mauretanische Regierungsbeamte und eine amerikanische Amtsperson warteten. Wir begrüßten uns zwanglos, und die Mitglieder meiner amerikanischen Eskorte begaben sich in die Nähe ihres Landsmannes, wo sie sich in Reih und Glied aufstellten. Nach dem Austausch einiger Höflichkeiten begab sich der Amerikaner zurück in Richtung seines Wagens.

»Wer ist das?«, fragte ich einen der Mauretanier.

»Der amerikanische Botschafter«, sagte er.

»Kann ich ihn begrüßen?«, fragte ich.

Er schickte einen Mann los, der in seiner Nähe stand.

Der Botschafter kam zu mir zurück, und wir schüttelten uns die Hand.

»Willkommen zu Hause«, sagte er.

2.

Als Kind wollte ich immer nur schreiben und unterrichten. Meine Lehrer waren meine Vorbilder. Wenn ich aus der Schule kam, trommelte ich Kinder aus der Nachbarschaft zusammen, deren Eltern sich entweder die Schule nicht leisten konnten oder sie für unnötig hielten, und ich unterrichtete gratis, gab die Lektionen weiter, die ich am Vormittag desselben Tages genossen hatte. Als Tafel benutzte ich Mauern, und – wenn mir die Kreide ausging, die ich in der Schule geklaut hatte – Kohle. Meiner Mutter gefiel das Arrangement gar nicht, und die Ungezogenheit der Kinder, die meine Schüler waren, trug nicht dazu bei, ihre Aufgeschlossenheit zu vergrößern.

Ich entwickelte außerdem einen gewissen Schreibzwang. Ich schrieb ständig überall Sachen auf, Dinge, die mir gerade in den Sinn kamen, wobei ich mich manchmal nicht einmal mehr erinnerte, dass ich sie aufgeschrieben hatte. Mehr als einmal war es mir peinlich, wenn Freunde auf meine intimen Gedanken stießen, die ich in meine Notizbücher und sogar auf die Ränder meiner Schulbücher gekritzelt hatte. Das ging so weit, dass ich für diesen inneren Zwang nicht einmal einen Stift brauchte: Es reichte, wenn ich meine Gedanken mit dem Finger auf meine Hüfte oder in die Luft schrieb. Diese Angewohnheit trieb die Vernehmungsbeamten in Guantanamo in den Wahnsinn; sie unternahmen alles Mögliche, um mich davon abzuhalten, mit dem Finger auf meinen Körper zu schreiben. Sie wussten nicht, dass mir meistens gar nicht bewusst war, was ich tat. Ich wollte ja tun, was sie sagten, aber ich konnte nicht. Ihre Lösung sah dann so aus, dass sie mir die Hände seitlich ganz fest an den Körper fesselten, so dass ich nicht mehr auf meine Beine schreiben konnte. Aber meine Finger bewegten sich trotzdem. Selbst wenn es Ihnen gelingt, mich zum Schweigen zu bringen – ich höre nicht auf zu schreiben.

Als ich in GTMO ankam, war ich wütend. Sobald mir mitgeteilt wurde, dass man mir einen Stift zur Verfügung stellen würde, damit ich an meine Familie schreiben konnte, beschloss ich, einige Blätter von dem Papier zu stehlen, und fing an, auf Arabisch – hauptsächlich nur für mich – meine Geschichte aufzuschreiben. Der Stift war eine Herausforderung, es handelte sich um ein äußerst biegsames Stück Plastik, eher eine biegsame Kulimine als ein Stift. Damit zu schreiben war so ähnlich, als würde man versuchen, einem korrupten Politiker eine geradlinige Antwort zu entlocken. Ich musste den Stift immer wieder schütteln, damit die Tinte nachfloss, so war das Schreiben gleich noch mit einem gewissen Fitnesstrainingseffekt verbunden. Eigentlich war es so gedacht, dass ich den Stift zurückgeben sollte, wenn ich fertig war, aber ich schaffte es, ihn in meiner Zelle zu verstecken. Ich schrieb auch Briefe an meine Familie, allerdings musste man nicht sonderlich scharfsinnig sein, um zu wissen, dass diese Briefe nie bei ihren wahren Empfängern ankommen würden. Sie waren lediglich ein Bestandteil der panischen Informationsbeschaffungskampagne im Lager. Mir war das aber egal. Ich kam der Aufforderung bereitwillig nach und schrieb Briefe, die ich im Geiste an die Stabsmitglieder der Joint Task Force adressierte, c/o Familie Slahi.

Im Mike Block in Camp Delta begann ich im Frühjahr 2003 damit, Tagebuch zu schreiben, in arabischer Sprache. Ich versteckte die Seiten in einem Buch aus der Bücherei, allerdings wurden sie konfisziert, als ich im Juni 2003 in völlige Isolationshaft im India Block verlegt wurde. Und man konfiszierte nicht nur meine Tagebücher. Ich hatte auch Englischlektionen für mich selbst aufgeschrieben, Formulierungen festgehalten, die ich von meinen englischsprachigen Mithäftlingen gehört und die ich in Büchern gelesen hatte, außerdem arabische Gedichte, an die ich mich erinnerte, und mäßig interessante Allgemeinbildungsinhalte. All das wurde ebenfalls beschlagnahmt. Für ungefähr fünf Monate bekam ich weder Papier noch Stift, und danach nur dann, wenn mir Mr. X seinen Stift aushändigte, um »meine Geschichte« für ihn aufzuschreiben oder falsche Zeugenaussagen für die Leute, die mich verhörten. Damals wurden mir die Anfangsseiten meines Tagebuchs und meine anderen Notizen dann auch endlich wieder zurückgegeben, und in der Zwischenzeit hatte ich zwar viele neue Misshandlungskapitel durchlebt, doch konnte ich den Faden nicht wieder aufnehmen. Was ich versucht hatte, über meine Gefangenschaft zu schreiben, war nicht für Geheimdienstler bestimmt, sondern mehr als eine Art Selbstverteidigung für Leser außerhalb von Guantanamo. Mir war damals ganz klar geworden, dass alles, was ich schrieb, lediglich bei den Leuten landete, die mich verhörten – was in GTMO vor sich geht, bleibt in GTMO, unwiderruflich. Selbst wenn die Ketten abgenommen waren, blieben meine Hände an die Seiten gefesselt.

Im Jahr 2004, drei Jahre nach der Eröffnung von Guantanamo, traf das amerikanische Verfassungsgericht endlich eine Entscheidung in einer Frage, die eigentlich schon von Beginn an hätte geklärt werden sollen: Häftlinge in GTMO müssen die Möglichkeit haben, sich gegen die Behauptungen der Regierung zur Wehr zu setzen, dass sie gefährliche Terroristen seien. Der erste Lösungsversuch der Regierung bestand darin, sogenannte Combatant Status Review Tribunals (Berufungsgerichte über den Status von Kämpfern und Sympathisanten) einzurichten, wo Häftlinge erstmals die Möglichkeit erhielten, ihre Einordnung als »feindliche Kämpfer« infrage zu stellen. Ich war nie ein Feind der USA gewesen, hatte nie gegen die USA gekämpft, und ich freute mich, als ich erfuhr, dass ich eine Anhörung vor einem CSRT haben würde. Allerdings verflog dieser kleine Anflug von Optimismus schnell, als der Militärbeamte, der mein »persönlicher Vertreter« (»personal representative«, PR) bei dieser Anhörung sein sollte, zu einem Treffen mit mir in einem leeren Gebäude in Echo Special kam, und zwar in Begleitung der Frau, die auf den letzten Seiten dieses Buchs als leitende Verhörperson auftritt: eine Unteroffizierin des Militärnachrichtendienstes, die ihren Namen mit Amy angab.

Der PR war ein junger weißer Captain von der Air Force Mitte dreißig. Er war ruhig, fast desinteressiert, und kam direkt auf den Punkt. Sein Verhalten sprach Bände über die Art von Prozess, die mir bevorstand – er war ganz offensichtlich davon überzeugt, dass die ganze Angelegenheit rein gar nichts bringen würde. Überwiegend wurde mir durch das Treffen vermittelt, dass er nicht auf meiner Seite stand. Der PR sollte als mein Anwalt fungieren, allerdings erklärte er mir, dass der Gerichtsausschuss die Informationen über meinen Fall, die er mit ihm teilen würde, auswählen konnte. Und er informierte mich darüber hinaus, dass er dem Ausschuss alles mitteilen konnte, was ich ihm privat erzählte, wenn er den Eindruck hatte, dass es als Information wichtig sein könnte. Amy hingegen schien einen Plan zu haben. Sie ermutigte mich, alles zuzugeben, was die Richter mir vorwarfen – sie meinte, damit würde ich mir mein Leben entscheidend erleichtern.

Aber aus irgendeinem Grund rebellierte ich gegen die Vorstellung, die Flinte ins Korn zu werfen. Ich stellte fest, dass mich tief in meinem Inneren die Hoffnung, meine Freiheit zurückzubekommen, nie verlassen hatte. Ich sah ganz klar, dass der Prozess eine reine Show war, doch dachte ich, selbst wenn mein PR und die Vernehmungsbeamtin nicht so engagiert waren, wie man es sich hätte erhoffen dürfen, würden doch vielleicht die Offiziere, die das Richterkollegium bildeten, zuhören und dann womöglich alle in Erstaunen versetzen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass eine demokratische Regierung mit mehr als zweihundert Jahren Erfahrung was die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit anging, tatsächlich Gerichte manipulieren konnte.

Ich bat darum, mich mit Amy besprechen zu dürfen. Der Captain hielt mich für einen Idioten. Wie konnte ich eine Person um Rat fragen, die daran interessiert war, dass ich so lang wie möglich hinter Schloss und Riegel blieb, eine Vernehmungsbeamtin, deren Job davon abhing, dass ich in Haft blieb? Aber ich wollte Amy in Zugzwang bringen; schließlich war ihr damals ja bereits klar, dass ich nichts gegen ihr Land verbrochen hatte. Ich bat sie, mir noch einmal aufzuzählen, was ich bei der Anhörung sagen sollte.

Ihr brach der Schweiß aus. »Ich bin keine Anwältin«, sagte sie nur.

Die Anhörung begann nicht gut. Ich war so nervös, dass ich den Comedy-Fehler beging, bei der Vereidigung zu sagen »Ich, Nennen Sie Ihren Namen, schwöre …«. Alle Anwesenden lachten. Dann aber gab ich mir alle Mühe, den Anschuldigungen zu folgen und sie eine nach der anderen zu widerlegen. Da es Häftlingen nicht gestattet war, bei Gerichtssitzungen anwesend zu sein, wo die sogenannten geheimen Beweise präsentiert wurden – wie etwas gleichzeitig »geheim« und ein »Beweis« sein kann, verschließt sich mir bis heute –, fühlte es sich an, als würde ich mich gegen ein unsichtbares Heer von Anwälten verteidigen. Allerdings hatte ein Mitglied des Gerichts Amy aufgefordert, den Raum während des Verfahrens zu verlassen, wodurch ich mich berechtigt fühlte, ihre Anweisungen zu ignorieren. Ich konzentrierte mich dann ganz und gar darauf, die Fakten meines Lebens so klar und einfach zu formulieren, wie es mir mit meinen recht dürftigen englischen Sprachkenntnissen möglich war.

Das Ergebnis des CSRT war kein Schock; praktisch jeder wurde negativ beschieden. Trotzdem war ich ermutigt. Es hatte mir nicht geschadet, mich selbst zu verteidigen. Es war völlig klar, dass Amy anschließend Zugang zum Protokoll hatte, aber sie kritisierte mich nicht. Und, was wichtiger war, einige meiner Wachen unterstützten mich ganz offen. Einer aus der Eskorte, ein Unteroffizier, der von allen »Marine« genannt wurde, machte sich nach der Gerichtssitzung über die dort geäußerten Beschuldigungen lustig, und er und ein Kollege, den ich als »Big G« kannte, sagten mir, dass ich die Auseinandersetzung im CSRT für mich entschieden hätte. Bei den Wachen nahm jedenfalls meine Glaubwürdigkeit als unschuldiger Mann zu. Ich eroberte mir meine Stimme zurück. Ich dachte erneut über die Vision nach, dass meine Geschichte auch Menschen außerhalb von Guantanamo erreichen könnte.

Diese Gelegenheit ergab sich dann dank der bahnbrechenden Entscheidung des amerikanischen Verfassungsgerichtes zu Gunsten des britischen Bürgers Shafiq Rasul, in welcher der Gerichtshof erstmals vorgab, dass GTMO-Häftlinge gegen ihre Inhaftierung in Habeas Corpus-Verfahren vor Gericht Einspruch erheben können. Endlich würden wir dazu in der Lage sein, unsere Fälle vorzustellen und von Amerikanern beurteilt zu werden, die nicht zum Militär oder zum Geheimdienst gehörten.

Mein erstes Treffen mit meinen Anwältinnen fand Mitte Juni 2005 statt. Ich bereitete mich darauf vor, indem ich eine Zusammenfassung der gesamten Geschichte meiner Festnahmen schrieb. Einer von der Wache überließ mir einen grünen Spiralblock, den ich für diesen Zweck verwendete und den ich mit Daten, Namen und ausführlichen Darstellungen über mein Leben und fünf Jahre ständiger Verhöre füllte. Ich übergab alles Nancy Hollander und Sylvia Royce bei unserem Treffen. Ich hatte großes Glück: Die Häftlinge konnten sich ihre Anwälte nicht aussuchen, und einige brauchten jahrelang, bis sie ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufbauen konnten. Ich hingegen merkte von Beginn an, dass mein Team mir zuhören würde. Sie nahmen den Block an sich und baten mich, weiterzuschreiben.

Ich fing also noch einmal an, dieses Mal holte ich weiter aus und schrieb die ganze Geschichte auf. Um sicherzustellen, dass mein Manuskript nicht beschlagnahmt oder zerstört wurde, schrieb ich in Raten, in Form von mehreren Briefen an meine Anwältinnen. Das hatte zur Folge, dass meine Aufzeichnungen als Anwalts-Mandanten-Material klassifiziert und geschützt waren; die Leute, die mich verhörten, hatten also keinen Zugriff darauf. Jedes Mal, wenn ich einen Abschnitt beendet hatte, bat ich um einen Briefumschlag, faltete die Bögen eng zusammen und schickte sie weg. Der Brief ging an eine sichere Instanz ganz in der Nähe von Washington, D. C., wo sämtliche geschützten Anwalts-Mandanten-Unterlagen aus GTMO aufgehoben werden. In der Isolationsbaracke, die ich mit meinem Wachteam in Camp Echo teilte, schrieb ich Tag und Nacht. Meine Anwältinnen wurden regelrecht bombardiert.

Ich kannte meine Geschichte, aber ich wusste nicht alle Wörter, um sie aufzuschreiben. Ich saß daher häufig mit meinen Wachen zusammen; wir spielten Karten, tranken Tee, und ich schrieb gleichzeitig. Wenn ich mit einem Wort oder einem Ausdruck nicht weiterwusste, fragte ich sie einfach.

»Wie sagt man auf Englisch, wenn jemand plötzlich laut zu weinen anfängt?«

»Burst into tears«, antwortete einer von der Wache, ein Unteroffizier der Navy.

»Wie nennt man jemanden, der im Radio spricht?«, fragte ich. Ich dachte an die Frauenstimme, die ich im Radio gehört hatte, als ich vom Flughafen in Amman zum Gefängnis des jordanischen Geheimdienstes transportiert wurde. Ich konnte ihre verschlafene Stimme durch meine Ohrenklappen hören; die Frau unterbrach die wunderbare Musik immer wieder mit Kommentaren zum aktuellen Wetter. Als das jordanische Team bemerkte, dass ich hören konnte, was im Radio gesprochen wurde, stellten sie es sofort ab und legten stattdessen ein Tonband ein.

»Presenter?«, schlug einer vor.

»Ich bin nicht sicher. Wenn sie Musik spielen?«

»DJ?«, bot ein anderer an.

»Wie sagt ihr zu den Dingern, die sie einem über die Ohren stülpen?«

»Earmuffs?«

»Wenn man kocht und etwas über die Hände zieht, um sie vor der Hitze zu schützen?«

»Mittens?«

»Ja, genau!«

Ich schrieb einen Abschnitt nach dem anderen und achtete immer sorgfältig darauf, die Seitennummerierung durchzuhalten, damit meine Anwältinnen das gesamte Manuskript zusammenstellen konnten. In meinem Kopf hatte ich alles, was ich schreiben wollte: die Wahrheit, wie ich mich an sie erinnerte, ohne Beschönigungen. Mir wurde klar, dass man alles, was man im Kopf hat, in jeder Sprache vermitteln kann, solange man es wirklich will: Man braucht nur Menschen um sich herum, die die betreffende Sprache sprechen, und man darf keine Angst davor haben, Fragen zu stellen oder Fehler zu machen. Ich schrieb, bis ich fertig war, und am 28. September 2005 schrieb ich schließlich »The End«.

Als ich mit diesen Seiten begann, dachte ich, dass ich sie für meine Anwältinnen schrieb, damit sie meine Geschichte kannten und mich gut verteidigen konnten. Aber bald wurde mir klar, dass ich auch für andere Leser schrieb, für Menschen, die nie einen Fuß in das Lager von Guantanamo setzen würden. Über zu viele Jahre hatte die amerikanische Regierung mich zum Schweigen verdammt und das Sprechen für mich übernommen. Sie hatte der Öffentlichkeit falsche Geschichten erzählt, mich mit terroristischen Anschlägen in Verbindung gebracht, und nach wie vor verhinderte sie, dass die Öffentlichkeit irgend etwas über mein Leben erfuhr und darüber, wie man mich behandelt hatte. Schreiben wurde für mich zu einem Mittel, mich gegen das, was die Regierung von sich gab, zur Wehr zu setzen. Ich begriff die Menschheit als meine Jury; ich wollte meinen Fall den Menschen direkt vortragen und von meinen Möglichkeiten Gebrauch machen. Ich war mir nicht sicher, ob aus den Seiten, die ich schrieb und an meine Anwältinnen weiterleitete, jemals ein Buch werden würde. Aber ich glaubte an Bücher und an Menschen, die Bücher lasen; das hatte ich schon immer getan, seit ich als Kind mein erstes Buch in der Hand hielt. Ich stellte mir vor, was es bedeuten würde, wenn jemand außerhalb dieses Gefängnisses ein Buch aufschlagen würde, das ich verfasst hatte.

Neun Jahre sollten vergehen, ehe das tatsächlich geschah. Aber allein nur diese Seiten zu schreiben machte mich schon stärker. Als dann Amy mir zuredete, über meine Misshandlung zu berichten, stimmte ich zu. Sie informierte ihren Boss, einen Oberstleutnant von der Marine namens Forest. Sie setzten sich mit mir zusammen und befragten mich über die geheimen »Sonderprojekt»-Verhöre, die man jahrelang mit mir durchgeführt hatte, und sie teilten mir mit, sie würden einen offiziellen Bericht erstellen. Ende 2005, als ich wieder vor einem anderen Ausschuss auftrat, der die Aufgabe hatte, unsere Fälle zu überprüfen, fühlte ich mich sicher und zuversichtlich genug, um dem Ausschuss viele von den Dingen zu erzählen, die ich im Manuskript beschrieben und Amy erzählt hatte. Heute stelle ich mit einem gewissen Befremden fest, dass es mir in den Tagen damals womöglich mehr darauf ankam, meine Geschichte zu erzählen, als aus Guantanamo rauszukommen. Ich sagte dem Ausschuss, dass ich ein Buch über all das geschrieben hätte, was ich ihnen erzählte, und schlug vor, sie sollten es doch lesen. Sie hörten mir stundenlang zu und stellten viele Fragen. Erst am Ende der Sitzung erfuhr ich, dass dieser Ausschuss nicht befugt war, irgendwelche Entscheidungen bezüglich meines Falls zu treffen. Und noch später, als meine Anwältinnen ein Transkript dieser Anhörung vor dem Verwaltungs-Kontroll-Ausschuss erhielten, stellten wir fest, dass vieles von dem, was ich über die Misshandlungen erzählt hatte, fehlte. Genau in dem Moment, wo ich anfing, die schlimmsten Übergriffe zu schildern, sei, so behauptete die Regierung, das Aufnahmegerät »ausgefallen«.

Jegliche Hoffnung auf Gerechtigkeit von Seiten des GTMO-Systems schwand wieder dahin, und erneut begann ich zu zweifeln, ob meine Geschichte es jemals schaffen würde, an den Zensoren der US-Regierung vorbeizukommen. Aber meine Anwältinnen arbeiteten weiter. Da mein Manuskript als vertraulich eingestuft und ihnen zugeschickt worden war, verblieb die Befugnis, es zur Veröffentlichung freizugeben, beim sogenannten Privilege Team, einer Gruppe überwiegend pensionierter Geheimdienstoffiziere und Regierungsangestellter, die die Korrespondenz zwischen Anwälten und Häftlingen einsehen durften. Doch das Privilege Team weigerte sich, die Briefe freizugeben, aus denen das Manuskript bestand. Stattdessen schlugen sie vor, dass meine Anwältinnen alles wieder an mich in GTMO zurückschickten, und ich sollte dann versuchen, es ihnen mit der regulären Post zukommen zu lassen. Was ich von den Versuchen, Briefe an meine Familie zu schicken, aus Erfahrung wusste: Wenn ich etwas zur Post gab, war das ungefähr so effektiv, wie wenn ich es in den Papierkorb geworfen oder zumindest in einer Zeitkapsel versiegelt hätte. Und wir wussten ebenfalls, dass alles, was ich mit der regulären Post zu schicken versuchte, also auch die besagten Briefe, von der US-Regierung geöffnet und auf die Weise, wie es ihr passte, gegen mich verwendet werden konnte.

Meine Anwältinnen stellten beim Gerichtshof in Washington, D. C., geheime Anträge, um das Privilege Team zu zwingen, das Manuskript zur Veröffentlichung freizugeben. Alles geschah hinter verschlossenen Türen zwischen meinen Anwältinnen, den Vertretern der Regierung und dem Richter. Ich durfte bei diesen Sitzungen nicht dabeisein, ja nicht einmal wissen, was über mein Manuskript gesagt wurde. Der Prozess zog sich über fünf Jahre hin und führte letztlich zu nichts. Meine Anwältinnen durften mir nicht einmal mitteilen, warum das Privilege Team darauf bestand, dass es das Manuskript nicht freigeben konnte oder warum unsere Anträge letztlich scheiterten.

Daher beschlossen meine Anwältinnen und ich, das zu tun, was das Privilege Team vorgeschlagen hatte: das Manuskript nach GTMO zurückzuschicken und auf das Anwaltsgeheimnis zu verzichten. Jetzt waren meine Aufschriebe für die Regierung zugänglich, um in meinem Habeas Corpus-Fall und in sämtlichen Verfahren, die sie womöglich noch gegen mich anzustrengen gedachten, gegen mich verwendet zu werden. Aber das reichte der US-Regierung noch nicht. Die Regierung hob die Geheimhaltung des Manuskripts zwar offiziell auf, bezeichnete es jedoch nach wie vor als »geschützt«, was bedeutete, dass es faktisch immer noch als geheim eingestuft war und nicht veröffentlicht werden durfte. Unsere Frustration hielt an: Wir hatten nicht all diese Jahre gekämpft, damit die Regierung meinen Anwältinnen sagen konnte: »Nur Sie und Ihre Juristenfreunde dürfen das Manuskript lesen.« Meine Anwältinnen unternahmen Schritte, um auch das wieder dem Geheimgericht vorzulegen. Letztlich beschloss die Regierung dann doch, nicht nur die Geheimhaltung des Manuskripts aufzuheben, sondern auch den Status als geschütztes Dokument – ein Schritt, zu dem gehörte, dass all die Schwärzungen hinzugefügt wurden, die man als notwendig für die Veröffentlichung erachtete.

Der ganze Prozess zog sich über fast sieben Jahre hin.

Während dieser gesamten Zeit blieb ich in meiner Isolationszelle in Camp Echo Special. Es gab Phasen, in denen mein Glaube, dass ich eines Tages frei sein würde, auf eine harte Probe gestellt wurde. Ende 2006 oder Anfang 2007 suchten mich zwei FBI-Agenten aus Minnesota auf und befragten mich wegen eines jungen Arabers, der, wie sie sagten, aus Minnesota stammte. Ich hätte ihn gar nicht kennen können, und alles, was ich, wie ich glaubte, über diesen Teil der Welt wusste, stammte aus einer Comedynummer von Chris Rock. Ihm zufolge leben in Minnesota keine Afroamerikaner, und daraus hatte ich geschlossen, dass es wohl in Minnesota auch keine Araber oder arabischstämmigen Amerikaner gibt. Aber da hatte ich mich offenbar getäuscht. Die beiden Männer nahmen mich wegen dieses jungen Mannes stundenlang in die Mangel. Gegen Ende nahmen sie einen meiner Vernehmungsbeamten beiseite und teilten ihm mit, aus der Art, wie ich geredet hätte, ließe sich schließen, dass ich aus GTMO nicht mehr herauskäme, jedenfalls teilte mir das mein Vernehmungsbeamter hinterher, nachdem sie den Stützpunkt verlassen hatten, so mit. Das war wieder einer der vielen, vielen Tage, an denen ich fühlte, dass der Weg zur Freiheit mir ein für allemal verschlossen war.

Aber es gab auch Tage voller Hoffnung. Einer davon war jener Tag im Januar 2009, nach der Amtseinführung von Präsident Obama, als er die Verfügung zur Schließung von Guantanamo unterschrieb. Ich weiß nicht, wie diese Nachricht in der Außenwelt aufgenommen wurde; in GTMO nahmen sie jedenfalls alle sehr ernst. Die Joint Task Force händigte jedem Häftling eine Kopie der Verfügung des Präsidenten aus. Sehr hochrangige Offiziere waren im Lager unterwegs und sprachen mit vielen Häftlingen. Ein Captain der Air Force in seinem Dienstoverall und ein Viersterne-Admiral von der Navy unterhielten sich sogar mit mir. Sie befanden sich in Begleitung mehrerer JTF-Mitarbeiter, unter anderem auch Paul Rester, Direktor des Nachrichtendienstes von GTMO. Diese Delegation wollte sicherstellen, dass im Lager keine unmenschlichen Praktiken mehr angewandt wurden.

Ich war begeistert. Ich räumte das gesamte Gelände um meine Baracke herum auf und kümmerte mich besonders um meinen Garten. Einer von den Aufsehern meinte, ich solle mich doch damit nicht aufhalten, ich würde doch sowieso heimgehen. Aber in Erinnerung an die Geschichte von Guantanamo und weil ich dachte, dass man das Lager vielleicht in der Zukunft wieder für Flüchtlinge nutzen würde, wollte ich, dass es für die, die nach mir hierherkamen, so gut wie möglich aussah. Alle in GTMO – Häftlinge, Vernehmungsbeamte und Aufseher – glaubten fest daran, dass Obama sein Versprechen halten und den Ort schließen lassen würde. Wir wussten, dass einige Häftlinge in die USA verlegt und vor Gericht gestellt werden sollten, aber damals wusste mittlerweile auch jeder, dass ich nichts verbrochen hatte, ich war also ganz sicher, dass das nicht mich betreffen würde. Paul Rester teilte mir sogar mit, dass ich freigelassen werden sollte und dass man mich wahrscheinlich nach Belgien oder Deutschland schicken würde.

Dazu kam es nicht. Allerdings wurde im selben Jahr mein Habeas Corpus-Fall von James Robertson, Richter beim Amtsgericht in Washington, D. C., verhandelt. Etwas mehr als ein Jahr nach Obamas Versprechen erließ Richter Robertson seine Verfügung, die mit den Worten endete: »Das Habeas Corpus-Gesuch ist genehmigt. Salahi muss aus der Haft entlassen werden. Das wird hiermit ANGEORDNET.« Wieder glaubte ich kurz, dass ich heimgehen könnte. Und dann erfuhr ich, dass die Obama-Regierung mehrere Habeas Corpus-Bescheide anfocht, zu denen auch meiner gehörte, und damit war wieder einmal klar, dass ich nirgendwohin gehen würde. Allerdings hatte ich bei der Vorbereitung für die Habeas Corpus-Verhandlung erfahren, wieviel die US-Regierung selbst über meine Behandlung in GTMO bereits veröffentlicht hatte, und die Meinung von Richter Robertson zeigte der Welt, dass das, was die Regierung über mich als Person und meine angeblichen Taten behauptete, nicht zutreffend war. Die Regierung konnte jetzt also nicht mehr argumentieren, meine Version meiner Geschichte müsse weiterhin unter Verschluss bleiben.

Als meine Anwältinnen dann schließlich die zensierte öffentliche Fassung meines Manuskripts erhielten, setzten sie sich mit Larry Siems in Verbindung, und er wählte einige Abschnitte aus dem Text aus und verfasste einen Artikel über mein Martyrium für die Zeitschrift Slate. Es erschütterte mich zu erfahren, dass jetzt Teile des Manuskripts gedruckt erschienen. Ich wollte sie unbedingt lesen, doch waren seit meinem letzten Kontakt mit dem Text acht Jahre vergangen, und ich wollte keine Erinnerungen aufwecken, die ich in der Zwischenzeit erfolgreich verdrängt hatte. Außerdem hatte ich die Sorge, dass mich mein unbeholfenes Englisch stören würde. Aber meine Sorgen erwiesen sich schnell als unbegründet. Natürlich gab es in dem Auszug schmerzliche Momente; die las ich wie der hellwach-schlafende Wolf aus dem arabischen Sprichwort: mit einem offenen und einem geschlossenen Auge. Aber es kam auch vor, dass ich bei der Lektüre bestimmter Szenen lachen musste.

Und dann, endlich, sah ich mein Buch … und zwar im Fernsehen.

Es war am 20. Januar 2015, einem Dienstag, ungefähr um zehn Uhr vormittags. Ich hatte Spanischunterricht bei einem ägyptisch-amerikanischen Vertragsarbeiter der JTF, der sich Ahmed nannte – ein zufälliges Pseudonym, da die Angestellten von Fremdfirmen den Häftlingen ihre Namen nicht mitteilen durften. Ahmed hatte mir gestanden, dass seine Spanischkenntnisse sehr rudimentär waren, aber mir war jede Gelegenheit zum Erwerb von Fremdsprachen willkommen, die GTMO bot, sei es in beiläufigen Gesprächen oder in Kursen. Da ich Ahmeds einziger Schüler war, fand der Unterricht in meiner Zelle statt. Ich hatte an jenem Vormittag das Fernsehgerät eingeschaltet, um einen gewissen Geräuschpegel zu haben und den Unterricht etwas zu beleben, und dann erstarrten wir beide: Der russische Kanal, den ich eingeschaltet hatte – RT – brachte einen langen Beitrag über mein Buch, wozu auch ein Live-Interview mit Nancy Hollander und Larry Siems im Londoner Studio von RT gehörte. An einer Stelle füllte mein Bild den gesamten Bildschirm aus.

»Kennst du den Typen?«, fragte Ahmed grinsend.

Zum ersten Mal spürte ich, wie es ist, in einem Gefängnis frei zu sein – jener Moment absoluter Freiheit, der sich einstellt, wenn man ein Stück seiner verlorenen Würde zurückgewinnt. Ich musste an Tim Robbins in dem Film Die Verurteilten