Das Harz-Massaker
1. Der Ruf der Tiefe
Die Sonne stand noch hoch über den bewaldeten Gipfeln des Harzes, als der abgenutzte Transporter von Urban Explorers Germany auf einen holprigen Schotterweg abbog. Im Inneren herrschte eine Mischung aus gespannter Erwartung und leichtem Unbehagen. Julian, der Kopf der kleinen Gruppe und Initiator des YouTube-Kanals, dessen Abonnentenzahlen in den letzten Monaten stetig kletterten, grinste breit. „Seht ihr das? Perfektes Licht für den Intro-Shot! Der Harz liefert heute ab.“
Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Lena, die Mastermind hinter der Kamera und Schnittgenie. Ihre roten Haare leuchteten im Gegenlicht, und ihre Augen, normalerweise wachsam und analytisch, spiegelten heute eine ungewohnte Faszination wider. „Hoffen wir, dass die Location auch so liefert, Julian. Die letzten Kommentare waren … gemischt.“ Sie spielte auf die leicht sinkenden Klickzahlen an. Standard-Lost-Places waren eben nicht mehr genug.
Hinten auf der klapprigen Sitzbank lümmelten sich Ben und Sophie. Ben, der Muskelprotz der Gruppe, dessen primäre Aufgabe es war, schwere Ausrüstung zu schleppen und im Notfall Türen einzutreten, starrte auf sein Handy. „Empfang ist schon wieder weg“, murmelte er. „Sollten wir nicht langsam da sein?“ Sophie, die Jüngste und auch die Historikerin des Teams, blätterte in einem alten, zerlesenen Buch über Harzer Sagen. Ihr sanftes, nachdenkliches Gesicht zeigte einen leichten Ausdruck von Besorgnis. „Laut meiner Recherche sind wir hier am Arsch der Welt. Keine Zivilisation, keine Handynetze. Nur … Stille.“ Sie schlug das Buch zu. „Und alte Geschichten. Sehr alte Geschichten.“
Julian winkte ab. „Genau das wollen wir doch! Authentisch! Unberührt! Stellt euch vor, was wir hier finden können. Eine ganze, vergessene Siedlung! Bergbauruinen aus dem 17. Jahrhundert! Das wird ein Hit!“ Er bremste abrupt, als der Weg in einer kleinen Lichtung endete. Vor ihnen erstreckte sich ein Dickicht aus dichten Bäumen, dahinter, kaum sichtbar durch das Blätterdach, ragten schemenhaft dunkle Silhouetten empor.
„So, Team“, sagte Julian und drehte sich um. Seine Augen leuchteten. „Das ist es. Die verlassene Bergbausiedlung Bärenbruch. Seit über 300 Jahren von der Landkarte verschwunden, vergessen von der Zeit. Und wir sind die Ersten, die sie wirklich zeigen werden.“
Sie stiegen aus dem Transporter. Die Luft war kühl und feucht, erfüllt vom Geruch feuchter Erde und Moder. Über ihnen zog der Wind durch die Baumkronen und erzeugte ein leises, wisperndes Geräusch, das an ferne Stimmen erinnerte. Ben wuchtete seinen Rucksack mit der Drohne und der schweren Beleuchtung auf den Rücken. Lena checkte ihre Kameraausrüstung. „Die Drohne schicken wir gleich mal los, Julian? Oder erst mal zu Fuß erkunden?“
„Erst mal zu Fuß“, entschied Julian. „Wir wollen das Gefühl rüberbringen, wie es ist, in dieses Niemandsland einzudringen. Authentizität, Leute, Authentizität!“
Sie folgten einem kaum noch erkennbaren Pfad, der tiefer in den Wald führte. Je weiter sie gingen, desto dichter wurde die Vegetation. Moosbewachsene Steine, umgestürzte Bäume und Farn überwucherten den Waldboden. Sophie, die ein paar Schritte vorausging, hielt plötzlich inne. „Seht mal!“
Durch die Bäume brach der Blick auf etwas, das einst eine Mauer gewesen sein musste. Von Efeu überwuchert, schien sie aus dem Boden zu wachsen, eher Teil der Natur als von Menschenhand geschaffen. Dahinter, wie dunkle Augenhöhlen in einem Schädel, zeichneten sich die ersten Gebäude ab. Verfallene Hütten mit eingestürzten Dächern, gespenstisch wirkende Fensteröffnungen, die ins Nichts blickten.
Ein unheimliches Gefühl breitete sich aus. Es war keine Faszination mehr, sondern etwas Schweres, Unterdrückendes. Sogar Julian schien für einen Moment die Worte zu fehlen. Er holte seine Handykamera heraus, um die ersten Aufnahmen zu machen, aber der Bildschirm blieb schwarz. Kein Empfang. Kein Signal. Nichts.
„Okay, vielleicht doch ein bisschen abgelegener, als ich dachte“, murmelte er, versuchte, die aufkommende Anspannung mit einem Scherz zu überspielen. „Mehr Lost Place geht nicht!“
Sie traten auf einen kleinen, moosbedeckten Dorfplatz, der von den verfallenen Gebäuden umschlossen war. In der Mitte stand ein alter Brunnen, dessen Seil und Eimer längst verrottet waren. Der Geruch nach feuchtem Holz und Moder war hier intensiver. Ein leises Geräusch, wie das Rascheln trockener Blätter, ließ sie alle zusammenzucken. Es war nur der Wind, aber in dieser Stille klang es unnatürlich laut.
Lena zückte ihre professionelle Kamera. „Ich filme jetzt einfach mal drauf los. Dieses Gefühl… das muss ich einfangen.“ Sie schwenkte die Kamera über die Ruinen. Plötzlich zuckte die Linse. Ein kurzes Bildflackern, dann war alles wieder normal. „Komisch“, murmelte sie. „Hatte ich noch nie.“
Ben stand neben einer besonders verfallenen Hütte und trat vorsichtig gegen eine lose Holzplanke. Ein leises Knarren erfüllte die Luft. „Das hält hier alles nicht mehr viel aus“, sagte er. „Hoffentlich sind die Minen stabiler.“
Sophie ging langsamer, ihre Augen suchten den Boden ab. Sie bückte sich und hob einen kleinen, verrosteten Gegenstand auf. Es war ein alter, handgeschmiedeter Nagel, verbogen und von Erde verkrustet. „Man spürt die Geschichte hier“, sagte sie leise. „Die Menschen, die hier gelebt haben…“ Sie blickte sich um, und für einen Moment schien es, als würde ein Schatten an einer der Ruinen vorbeihuschen, zu schnell, um ihn wirklich zu fassen.
Julian spürte eine leichte Gänsehaut. „Okay, Leute, ich hab’s mir anders überlegt. Wir machen ein paar Aufnahmen hier oben, und dann… dann gehen wir zum Herzstück. Die Mine. Da wartet das wahre Abenteuer.“ Er zeigte auf eine dunkle Öffnung in einem Hang am Rande der Siedlung, die wie ein offener Schlund in die Tiefe gähnte. Ein eisiger Hauch entwich der Öffnung, kalt und schwer, als würde die Erde selbst ausatmen. Ein leises, fast unhörbares Flüstern schien aus der Dunkelheit zu kommen, ein Versprechen oder eine Warnung – niemand wusste es genau. Die Tiefe rief.
2. Schatten der Vergangenheit
Der eisige Hauch, der aus dem Mund der Mine quoll, war wie ein kalter Atemzug aus einer anderen Zeit. Er schien nicht nur die Haut zu kühlen, sondern auch die Gedanken zu durchdringen, einen Hauch von Jahrhunderte altem Staub und Geheimnissen mit sich tragend. Julian, der seine Kamera fest im Griff hatte, versuchte, die aufkommende Beklemmung abzuschütteln. „Okay, Leute, lasst uns das hier professionell angehen. Erstmal die Umgebung der Mine filmen, dann bereiten wir uns auf den Abstieg vor.“ Seine Stimme klang ein wenig zu forciert, um wirklich überzeugend zu sein.