Das Flüstern des Obsidianherzens
Dark Romance & Romantasy
Mirko Kukuk
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Prolog
Vor langer Zeit, in einer Welt, die von Magie und Geheimnissen durchwoben war, existierten Reiche, deren Schicksal an das Herz ihrer Herrscher gebunden war. Manchmal, wenn Verrat und Leid zu tief gruben, konnte ein solches Herz zu Stein werden. Und wenn das geschah, breitete sich die Dunkelheit aus, nicht nur über Land und Leute, sondern auch in die Seelen derer, die dort lebten. Das Reich des Obsidianherzens, einst ein Hort des Lichts, wurde zu einem Mahnmal dieses Schmerzes. Doch die Legenden flüsterten auch von einer Hoffnung – einer reinen Seele, die die Farben sah und das Potenzial besaß, selbst das tiefste Schwarz zu erweichen. Sie sprachen von einer Bindung, die mächtiger sein sollte als jeder Fluch, einer Verbindung, die die verlorene Symphonie der Herzen wieder zum Klingen bringen würde.
Kapitel 1: Die schweigende Gabe
Die Welt, wie Lyra sie kannte, war eine stille Symphonie aus Farben. Für andere mochte das Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Windes in den hohen Kiefern oder das ferne Bellen der Hütehunde den Klang ihrer Heimat ausmachen. Für Lyra war es das zarte Hellblau der Zufriedenheit, das über den Feldern schimmerte, wenn die Sonne aufging, das warme Goldgelb der Freude, das aus den Herzen der Kinder strahlte, oder das tiefe Dunkelrot der Wut, das wie eine Gewitterwolke über einem Streit lag. Von Geburt an taub, war die Sprache der Hände und die stumme, visuelle Poesie der Emotionen ihre Brücke zur Welt. Es war eine Gabe, die nur sie besaß, ein geheimnisvolles Erbe, das ihre Großmutter als „die Gabe des sehenden Herzens“ bezeichnet hatte.
Lyras Dorf, Eichenhafen, war ein friedlicher Flecken Erde, eingebettet am Rande der Schattenlande. Diese Ländereien waren von einem dichten, dornenbewachsenen Wald bedeckt, der so alt war, dass die Bäume selbst wie versteinerte Erinnerungen aussahen. Hoch über dem Horizont thronte die Obsidianherz-Zitadelle, eine monströse, pechschwarze Festung, von der die alten Geschichten flüsterten, sie sei das Herz eines uralten Fluches und die Heimstatt eines Königs, dessen Namen niemand mehr zu nennen wagte. Für die Dorfbewohner war die Zitadelle ein Tabu, ein Ort der Furcht und der alten Sagen, die man am Lagerfeuer erzählte, um die Kinder zu warnen. Für Lyra war sie eine unheimliche, doch faszinierende schwarze Leere in ihrer Welt der Farben.
Eines frischen Herbstmorgens, als der Duft von feuchter Erde und fallendem Laub in der Luft lag, sah Lyra zum ersten Mal die Dunkelheit. Sie saß auf der Veranda ihres kleinen Hauses, ihre Finger flink bei der Arbeit, als die alte Elara, die Bäckerin, hustend vorbeiging. Normalerweise umgab Elara ein fröhliches Orange, ein Spiegelbild ihrer Backkünste und ihrer warmherzigen Natur. Doch heute sah Lyra nur ein ausbreitendes, aschgraues Schwarz, das sich wie ein Fleck von Elaras Brust ausbreitete und die leuchtenden Farben um sie herum verschluckte. Es war nicht einfach das Fehlen von Farbe; es war eine aktive, schmerzhafte Dunkelheit, die die Lebenskraft Elaras zu erlöschen schien.
In den folgenden Tagen sah Lyra das Grau immer öfter. Zuerst war es nur ein leichtes Trüben, dann wuchs es wie ein Pilz und breitete sich aus, bis die Gesichter der Betroffenen fahl und ihre Bewegungen schleppend wurden. Die Kinder, deren Auren sonst in einem Regenbogen aus Gelb und Rot tobten, lagen still in ihren Betten, umgeben von dem beängstigenden Grau. Es war die Schwärze, wie die Dorfbewohner sie bald nannten, eine Seuche, die die Lebenskraft der Menschen stahl und ihre Farben auslöschte. Die Heiler des Dorfes, allen voran Lyras Tante Maeve, versuchten alles, was sie kannten – Kräuter, Umschläge, alte Beschwörungen. Nichts half. Die Dunkelheit breitete sich unaufhaltsam aus, und die Verzweiflung im Dorf wuchs.
Lyra war die Einzige, die das Ausmaß der Katastrophe wirklich sah. Für sie war die Seuche nicht nur ein Husten oder Fieber; es war ein sichtbarer Verfall der Seele, ein langsames Auslöschen aller Farben, bis nur noch ein bleiches Nichts übrigblieb. Sie saß oft am Bett ihrer jüngeren Schwester, Lilia, deren normalerweise leuchtendes Grün der Neugier und des Lachens nun einem schwachen, schmerzhaften Grauwich. Lyra hielt Lillias zarte Hand, ihre eigenen Finger strichen über die kleine Stirn, und die Ohnmacht schnürte ihr die Kehle zu. Sie spürte die Kälte, die von der Schwärze ausging, eine Kälte, die ihre eigene Gabe nicht durchbrechen konnte.
Eines Abends, als der Vollmond wie ein bleicher Fingerhut am Himmel hing, bat Tante Maeve Lyra zu sich. Maeve war die Älteste und Weiseste der Heiler, eine Frau mit Augen, die so viel gesehen hatten, dass sie tiefer zu blicken schienen als andere. Sie war auch diejenige, die Lyras Gabe als Erste erkannt und ihr geholfen hatte, sie zu verstehen.
„Lyra“, begann Maeve, ihre Stimme leise, aber fest, während sie die Sprache der Hände benutzte. „Die Seuche ist nicht von dieser Welt. Sie ist älter als wir, ein Flüstern aus einer Zeit, die wir vergessen haben.“
Lyra schüttelte den Kopf, ihre Augen flehten um eine Lösung.
„Ich habe in den alten Schriften gelesen, in denen die Gabe des sehenden Herzens erwähnt wird“, fuhr Maeve fort. „Es gibt eine Prophezeiung, Lyra. Eine, die von einem Obsidianherz spricht und von einem Fluch, der nur durch eine reine Seele und eine tiefe Verbindung gebrochen werden kann.“
Lyras Augen weiteten sich. Die Obsidianherz-Zitadelle. Der Ort der Legenden, des Schreckens.
„Die Schwärze“, erklärte Maeve weiter, „ist ein Echo des Fluches, der das Obsidianherz gefangen hält. Seine Essenz sickert in unser Land. Nur dort, wo der Fluch seinen Ursprung hat, kann das Gegenmittel gefunden werden.“
„Das Gegenmittel?“, fragte Lyra, ihre Finger zitterten, als sie die Zeichen formte.
Maeve nickte langsam. „Es ist kein Trank, keine Kräutermischung. Es ist die Essenz eines vergessenen Königs, dessen Herz einst aus Dunkelheit bestand, aber durch wahre Verbindung erweicht werden kann. Es ist ein Ritual, das die Dunkelheit lösen und das Land reinigen muss.“
Die Worte trafen Lyra wie ein Blitz. Die Angst vor der Zitadelle war tief verwurzelt in ihrer Kindheit, genährt von den düsteren Geschichten der Alten. Doch die Farben um ihre Schwester, das blasse Grau, das sich über das ganze Dorf legte, waren ein viel größerer Schrecken. Die Hoffnung, die Maeves Worte entzündeten, war wie ein winziger Funke in der tiefsten Dunkelheit.
In dieser Nacht schlief Lyra nicht. Sie sah die Gesichter der Kranken, das schwindende Licht in ihren Augen. Sie dachte an Lilia, deren Lachen sie nie gehört, deren Freude sie aber immer gesehen hatte. Die Prophezeiung Maeves, so fantastisch sie klingen mochte, war ihre einzige Hoffnung. Das Obsidianherz war kein Ort des Schreckens mehr; es war der einzige Weg.
Am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne über die Hügel kroch und die ersten Farben des neuen Tages malte, stand Lyra bereit. Sie hatte eine einfache Reisetasche gepackt: getrocknetes Fleisch, Wasser, ein wärmender Umhang und das kleine Amulett ihrer Großmutter, ein geschnitztes Stück Holz, das einen Vogel darstellte – ein Symbol für die Freiheit des Geistes. Sie schrieb eine Nachricht für Maeve, legte sie auf den Küchentisch und schlich sich aus dem Haus.
Die kühle Morgenluft strich über ihr Gesicht, als sie den vertrauten Pfad verließ, der zum Dorfbrunnen führte, und stattdessen den schmalen, kaum sichtbaren Pfad einschlug, der in Richtung der Schattenlande führte. Der dornenbewachsene Wald, der die Zitadelle umgab, sah im Dämmerlicht noch bedrohlicher aus. Lyra schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter. Sie wusste, dass sie allein war. Sie wusste, dass der Weg gefährlich sein würde. Aber der Anblick des schwärzlichen Graus, das ihre Liebsten gefangen hielt, war eine stärkere Triebfeder als jede Furcht. Ihr Herz, das so klar die Farben anderer sah, leuchtete nun selbst in einem reinen, unerschütterlichen Weiß – der Farbe der Entschlossenheit. Die Welt war still für ihre Ohren, aber in ihren Augen schrie sie nach Erlösung. Und Lyra, die taube Heilerin, war bereit, auf dieses Flüstern zu antworten, das aus dem Herzen des Obsidians kam.
Kapitel 2: Die Prophezeiung der Uralten
Der Atem der Schattenlande schlug Lyra entgegen, noch bevor sie den ersten Dorn der Barriere berührte. Die Luft wurde kälter, dichter, und trug einen schwachen Geruch von feuchter Erde und etwas Unbekanntem, Mineralischem, das sie noch nie zuvor gerochen hatte. Die vertrauten Farben ihrer Heimat – das sanfte Grün der Wiesen, das fröhliche Gelb der Sonnenblumen – wichen einem gedämpften Spektrum aus tiefen Purpurtönen und undurchdringlichen Schwarztönen. Die Bäume, die sich jenseits der Dorfgrenze erhoben, wirkten knorriger, ihre Äste verdreht wie die Glieder alter Männer, die sich gegen einen ewigen Sturm stemmten. Lyra spürte, wie sich ein leises Beben in ihrer Brust ausbreitete, doch sie drängte die aufkeimende Furcht zurück. Jedes Zucken des Grau um Lilia war ein Stich, der ihre Schritte vorantrieb.