Die Kreidefelsen-Verschwörung
Kapitel 1: Die Rune im Kreidegrund
Der Geruch von Salz und nassem Erdreich hing schwer in der Luft, eine Mischung, die Dr. Lena Petersen seit ihrer Ankunft auf Rügen unweigerlich mit Freiheit verband. Freiheit von der stickigen Büroatmosphäre des universitären Alltags, Freiheit von den festgefahrenen Theorien ihrer Kollegen. Hier, an den zerklüfteten Küsten des Nationalparks Jasmund, erwartete sie nicht nur die raue Schönheit der Ostsee, sondern auch die Möglichkeit, Geschichte neu zu schreiben. Das Licht des späten Vormittags warf lange Schatten über die majestätischen Kreidefelsen, deren blendendes Weiß jäh in das tiefe Blau des Meeres überging. Ein atemberaubender Anblick, der selbst Lenas wissenschaftliche Nüchternheit kurzzeitig in den Hintergrund treten ließ.
Sie zog ihre Handschuhe fester und beugte sich über die Grabungsstelle. Das kleine Team, bestehend aus ihr, zwei studentischen Hilfskräften und Professor Richter, hatte sich auf ein Areal konzentriert, das nach ersten geomagnetischen Scans vielversprechende Anomalien aufwies. Es war eine mühsame Arbeit, Schicht für Schicht den Boden abzutragen, jedes Steinchen, jeden Erdklumpen aufmerksam zu prüfen. Lena liebte diese Akribie, die Spannung des Unbekannten, das sich unter der Oberfläche verbarg. Heute Morgen allerdings schien das Glück auf ihrer Seite zu sein.
„Hier, bitte vorsichtig!“, rief sie einer der Studentinnen zu, die gerade mit einer kleinen Kelle zu enthusiastisch zu Werke ging. Lena selbst kniete am Rande einer frisch freigelegten Grube, in der etwas Ungewöhnliches zum Vorschein gekommen war. Es war nicht das übliche Gefäßfragment oder ein Tierknochen, wie sie es gewohnt war. Was sie vor sich hatte, war eine Ansammlung von fein gearbeiteten Feuersteinwerkzeugen, deren Form und Anordnung auf einen sehr alten, fast prähistorischen Fund hindeuteten. Sie waren anders als alles, was sie bisher in dieser Region gesehen hatte. Die Klingen waren schärfer, die Formen filigraner, als man es von typischen slawischen Siedlungen kannte.
„Faszinierend“, murmelte Professor Richter, als er sich neben sie kniete, seine Augen hinter den runden Brillengläsern funkelnd. Er war ein angesehener Archäologe, bekannt für seine pragmatische Herangehensweise und seinen gesunden Skeptizismus. „Das passt nicht ganz in unser Schema, Lena. Sind Sie sicher, dass das nicht … verlagert ist?“
Lena schüttelte den Kopf. „Nein, Professor. Die Sedimentschichten sind intakt. Das hier ist definitiv in situ. Und es ist älter, viel älter als die slawischen Funde, auf die wir uns konzentriert haben.“ Ein Gefühl von Erregung durchzuckte sie. Das war es, wonach sie gesucht hatte: eine Entdeckung, die das bekannte Narrativ der Inselgeschichte erweitern könnte.
Sie verbrachte die nächsten Stunden damit, die Funde akribisch zu dokumentieren und zu bergen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ihr Blick auf einen Bereich der Grube fiel, der etwas tiefer lag als der Rest. Ein scheinbar unauffälliger, flacher Stein ragte dort aus dem Erdreich. Lena nahm ihre kleine Bürste und begann, die anhaftende Erde vorsichtig wegzufegen. Was zum Vorschein kam, ließ sie unwillkürlich den Atem anhalten.
Es war keine natürliche Formation. In die harte Oberfläche des Steins war ein Symbol eingraviert. Eine Rune. Doch es war keine der bekannten germanischen oder nordischen Runen, die sie aus ihren Büchern kannte. Es war ein komplexes, stilisiertes Zeichen, das aus mehreren ineinander verschlungenen Linien bestand, die an geometrische Formen und gleichzeitig an stilisierte Tierköpfe erinnerten. Die Linien waren überraschend scharf und tief eingegraben, fast so, als wäre der Stein erst vor Kurzem bearbeitet worden, obwohl er von einer jahrhundertealten Patina überzogen war.
„Professor Richter, kommen Sie mal her!“, rief Lena, ihre Stimme bebte leicht vor Aufregung. Richter beugte sich über den Stein und runzelte die Stirn. „Das ist… ungewöhnlich. So etwas habe ich noch nie gesehen. Sind Sie sicher, dass das nicht einfach eine Laune der Natur ist? Erosion vielleicht?“
„Nein“, entgegnete Lena entschieden. Sie strich mit dem Finger vorsichtig über die eingravierten Linien. „Die Kanten sind zu präzise, die Form zu absichtlich. Das ist kein Zufall, das ist ein Symbol. Jemand hat das hier eingemeißelt. Aber wer? Und wann?“
Die studentischen Hilfskräfte versammelten sich ebenfalls neugierig um die Stelle. Eine von ihnen, eine junge Frau namens Marie, bemerkte: „Sieht irgendwie unheimlich aus, finde ich. Wie aus einem alten Gruselfilm.“
Lena schmunzelte schwach, doch innerlich stimmte sie Marie zu. Die Rune hatte etwas Beunruhigendes an sich, eine seltsame, fast unheilvolle Aura. Sie fertigte zahlreiche Fotos an und skizzierte das Symbol detailliert in ihr Notizbuch. Der Rest des Tages verging in einem Rausch aus weiteren Sicherungsarbeiten und theoretischen Diskussionen. Professor Richter blieb skeptisch, riet ihr zur Vorsicht bei der Interpretation, doch Lenas Neugier war unstillbar. Diese Rune war nicht nur eine archäologische Entdeckung; sie war ein Rätsel, das förmlich danach schrie, gelöst zu werden.
Am Abend, als die Sonne langsam hinter den Bäumen verschwand und der Wind vom Meer her auffrischte, saß Lena in ihrer kleinen, spartanisch eingerichteten Unterkunft. Die Fotos der Rune lagen auf dem Tisch ausgebreitet. Sie verglich sie mit unzähligen Abbildungen aus ihren Fachbüchern, durchforstete Online-Datenbanken nach ähnlichen Symbolen. Doch nichts passte wirklich. Die Rune schien einzigartig zu sein, ein Zeichen aus einer Zeit oder Kultur, die bisher völlig unbekannt war.
Ein unbestimmtes Gefühl beschlich sie, eine Mischung aus Faszination und einem leichten Unbehagen. Diese Rune fühlte sich nicht wie ein gewöhnlicher archäologischer Fund an. Sie hatte eine seltsame Resonanz, fast so, als würde sie eine Geschichte erzählen wollen, die viel älter und dunkler war, als es die Lehrbücher je erfassen könnten. Der "Fluch der Kreidefelsen" – Klaus' Worte hallten in ihrem Kopf wider. Ein alter Aberglaube, sicher. Doch etwas an dieser Rune, die so tief im Kreidegrund verborgen lag, ließ sie nicht los. Es war, als hätte Rügen ihr ein Geheimnis zugeflüstert, das nur darauf wartete, entschlüsselt zu werden. Und Lena Petersen war entschlossen, dieses Geheimnis zu lüften. Die Suche hatte gerade erst begonnen.
Kapitel 2: Schatten aus der Vergangenheit
Die Rune, die Lena am Vortag entdeckt hatte, war wie ein Echo aus einer längst vergangenen Zeit, das sich hartnäckig in ihrem Kopf festsetzte. Selbst in ihrem Traum hatte sie die ineinander verschlungenen Linien gesehen, die im bleichen Mondlicht der Kreidefelsen leuchteten. Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, saß sie bereits wieder an ihrem Laptop, um ihre Recherche zu vertiefen. Die üblichen archäologischen Datenbanken hatten nichts Vergleichbares ergeben. Das Symbol war einzigartig, mysteriös und faszinierte sie umso mehr.