Das Herz gleicht einem Garten - Sandra Seidenberg - E-Book

Das Herz gleicht einem Garten E-Book

Sandra Seidenberg

0,0

Beschreibung

Es gibt Krankheiten, die kennt kein Mensch. Der Rückenmarksinfarkt ist so eine Erkrankung. Bei nur 1 % aller Schlaganfälle ist das Rückenmark betroffen. Ich gehöre zu diesen 1 %. Seither bin ich inkomplett querschnittsgelähmt und musste das Laufen wieder erlernen. Ich bin einen erkenntnisreichen Weg gegangen und gehe ihn noch immer – und zwar mit der Hilfe meiner Familie, mit dem unbändigen Willen, nach vorne zu schauen, mit richtigen Therapien und einem liebenden Herzen … Denn das Herz gleicht einem Garten, entscheide selbst, was darin wachsen soll!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 133

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Herz gleicht einem Garten

Deutsche Erstausgabe

2025

Copyright: © 2025 Sandra Seidenberg

www.sandraseidenberg.de

Herausgeber: Sandra Seidenberg

Johann-Wisrich-Str. 71 A, 86450 Altenmünster

Lektorat: Sandra Krichling, www.text-theke.com

Covergestaltung: Peggy Löhle

Coverbild: Sandra Seidenberg

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, einschließlich der Rechte der vollständigen oder

teilweisen Kopie in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Eine Verwertung ist ohne vorherige,

ausdrückliche Zustimmung der Autorin unzulässig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Das Herz gleicht einem Garten.

Es kann Mitgefühl oder Angst,

Groll oder Liebe darin wachsen lassen.

Für Oliver, Annika & Tobias

Gibt es so was wie Schicksal?

Als Schicksal wird eine Art höhere Macht

begriffen, die ohne direktes menschliches Zutun

das Leben einer Person entscheidend beeinflusst.

Ich war auf so einen dramatischen Einschnitt

in meinem Leben nicht vorbereitet,

habe erlebt, wie zerbrechlich das Leben ist

und wie stark ich tatsächlich bin.

Ohne die Unterstützung meiner Familie

hätte ich jedoch nicht zu dieser Stärke gefunden.

Ich liebe euch, ihr seid das

Inhaltsverzeichnis

Schicksal

CT auf Abwegen

Jede Minute zählt

Diagnose

Folgen

Wissenschaft

und Forschung

Mein Weg beginnt

Wahrnehmung

Erste Schritte

Reise ins Paradies?

Krabbel-Buddy

Ein neuer Abschnitt

Die unbekannte Krankheit

Open Water

Therapie

Dem Stress auf der Spur

Die vier psychischen Grundbedürfnisse

Die Kraft der Natur

Affengeist

Fasten unterstützt die Regeneration

Die Tür der Erkenntnis

Wahre Freiheit auch für mich?

Hole dir Support

Ein klitzekleines Gläschen

Qi-Gong

Echt doof

Geh deinen Weg

Quellenverzeichnis

Schicksal

Irgendetwas stimmte nicht. Ich fühlte eine seltsame Taubheit, ein Kribbeln, das sich im linken Hüftbereich langsam ausbreitete, wie ein Teich, der mit sinkender Temperatur langsam, aber stetig begann zuzufrieren. Meine Hände wurden zittrig und ein seltsamer Druck in der Magengegend machte sich breit – Angst kroch in mir hoch.

Es war ungefähr 14 Uhr an einem Samstag. Ich lief durch die Wohnung, bemüht, einen klaren Kopf zu bewahren, konzentriert auf das aufsteigende Körpergefühl. Mein Herz raste und Gedanken kreisten unkontrolliert durch meinen Kopf, während ich ziellos von einem Zimmer ins andere lief, den Blick auf den Boden gerichtet und die Hand auf der linken Hüfte, tastend, klopfend, hoffend, dass sich alles wieder normalisieren würde. Ich war alleine, nur unser Boxerrüde Finnley lag im Wohnzimmer und beobachtete mich mit wachen Augen. Wir waren erst vor einer Stunde von einem ausgiebigen Spaziergang heimgekehrt. Unsere Lieblingsrunde, ein Rundweg in Höhenlage des Naturschutzgebietes Ennert in Bonn-Oberholtdorf, wunderschöne Felder säumen links und rechts den Wanderweg.

Es war der 27.07.2024, ein warmer Sommertag, ein Samstag, linker Hand des Weges blühte der Raps so weit das Auge reichte, rechter Hand stand der Weizen schon so hoch, dass Finnley darin versank, wenn er hineinsprang. Ich liebe es, im Vorbeigehen mit der Hand über die Ähren zu streifen, die saubere, klare Luft einzuatmen, die nach Feldern, warmer Erde und Kamille riecht, welche überall an den Feldrändern wächst. Aus den Ausläufern der liebevoll angelegten Gärten weht der Duft von Lavendel herüber und ich genieße einfach nur die Stille der Natur, die Schleppleine noch in der Hand, darauf achtend, dass Finnley nicht zu weit ins Feld springt. Unser Hund hat eine wahnsinnige Freude daran, in hohes Gras oder Kornfelder zu springen. Er hüpft wie ein Känguru durch die Gräser, die Ohren fliegen dabei in die Höhe, bevor er wieder eintaucht.

Ich muss dabei immer an Dumbo, den kleinen Elefanten, denken, der entdeckt, dass er mit seinen Ohren fliegen kann, während er im Zirkus eine unglückliche Zeit verbringen muss, von seiner Mutter getrennt und vom Zirkusdirektor zum Clown degradiert. Dumbo freundet sich mit einer kleinen Maus an und entflieht dem Zirkusgeschehen, fliegt seiner Freiheit entgegen.

Ich glaube fest daran, dass Tiere starke Gefühle haben, sich mit Neugierde darauf freuen, in einen Bach zu springen oder in ein mit bunten kleinen Bällen gefülltes Planschbecken oder halt in ein Kornfeld.

Unser Weg führt uns weiter durch schönes Waldgelände, breite Wege schlängeln sich direkt zu hochgelegenen Aussichtspunkten, an denen man einen wunderbaren Blick über das Rheintal genießen kann. Den Blick nach rechts gerichtet, sieht man bis Bonn, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Der Rundweg führt uns in einem weiten Bogen wieder zurück über die Felder bis zum Ausgangspunkt.

Meine Hoffnung, dass sich die aufsteigende Taubheit wieder verflüchtigen könnte, wenn ich durch die Wohnung laufe und in Bewegung bleibe, zerbröckelte mit jeder weiteren Minute. Die Taubheit schlich weiter voran und erreichte mittlerweile den Po und den linken Oberschenkel. Ich überlegte fieberhaft, was ursächlich für dieses plötzlich auftretende Körpergefühl sein könnte.

Mir wurde heiß, feine Schweißperlen zeichneten sich auf meiner Stirn und meiner Oberlippe ab. Erst zwei Tage zuvor wurde ich von meiner Freundin Barbara physiotherapeutisch behandelt. Starke Rückenschmerzen im Lendenwirbelbereich ließen mich hilfesuchend in die Praxis fahren. Die Behandlung hatte mir sehr geholfen, denn bereits am Folgetag konnte ich mich wieder gut bewegen. Neben der Ursachenforschung führten mich meine Gedanken gleichzeitig zu verschiedenen Szenarien.

Ich war alleine, was, wenn ich plötzlich zusammenbrach? Sollte ich den Notarzt anrufen oder direkt ins Krankenhaus fahren? Wäre ich überhaupt in der Lage, Auto zu fahren?

Mein Mann Oliver war gerade beruflich in Österreich unterwegs, unser Sohn hoffentlich zuhause in seiner Wohnung, die mit dem Auto nur fünf Minuten entfernt liegt.

Unsere Tochter lebt in den Niederlanden, hat dort erfolgreich Psychologie studiert und diesen Sommer erst ihren Masterabschluss gemacht.

Meine Eltern leben in einer Wohnung unter uns. Mein Vater muss sich um meine Mutter kümmern, die an fortschreitender Demenz leidet. Sie weiß nicht mehr, dass sie drei Töchter hat. Lebt nur noch in den für sie sicheren vier Wänden der eigenen Wohnung. Mein Vater ist die wichtigste und einzige Bezugsperson für sie.

Dass die Familienstrukturen nach und nach in ihrem Gedächtnis verblassten, stellte ich erstmalig vor einem Jahr fest. In Gesprächen mit ihr fiel mir auf, dass sie meinen Vater mir gegenüber nicht mehr als Papa bezeichnete, sondern mit seinem Vornamen, Uwe. Und das war nicht nur einmalig der Fall, sondern fortan sprach sie nur noch von Uwe, als wenn ihr die familiäre Verknüpfung Vater-Tochter abhandengekommen war.

Bis dahin war ich noch fest davon überzeugt gewesen, dass sie wusste, wer ich war, wenn ich mich mit ihr unterhielt.

Der Schock stellte sich später ein, als ich einmal mit meiner Mutter eine kleine Runde spazieren gegangen war und über alltägliche Familienbelange gesprochen hatte. Ich merkte, dass sie mir gedanklich nicht folgen konnte. Ich sagte: »Mama, du weißt doch, dass du drei Töchter hast, Simone, Julia und mich, oder?« Sie blieb plötzlich stehen, sah beinah etwas verlegen aus, schaute mich dann an und fragte: »Woher weiß ich denn, dass du meine Tochter bist?«

Mein Herz zerbrach in diesem Augenblick. Ich habe mich schon zu Beginn dieser zerstörerischen Erkrankung namens Alzheimer unglaublich schwer getan zu akzeptieren, dass unsere Mutter mit fortschreitender Demenz im Begriff war, uns zu entgleiten.

CT auf Abwegen

Ich merkte, wie meine gesamte linke Seite, von der Hüfte abwärts bis zu den Füßen, von dem Kribbeln und der Taubheit ergriffen wurden. Ich würde sagen, es waren gerade mal 20 Minuten vergangen. Ich rief meine Freundin Barbara an. Sie riet mir, sofort den Notarzt anzurufen.

»Notrufzentrale.« Die Person am Telefon, ein junger Mann der Stimme nach zu urteilen, stellte mir in geübt sachlicher, ruhiger Stimmlage die notwendigen Fragen, um meinen Fall nach Art und Dringlichkeit einzusortieren.

»Hallo, mein Name ist Sandra Seidenberg, ich weiß nicht, ob mein Fall dringlich ist, aber ich bin wirklich beunruhigt. Vor ca. 20 Minuten habe ich bemerkt, dass meine linke Körperhälfte von der Hüfte an begann taub zu werden. Mittlerweile hat sich dieses Gefühl ausgebreitet und reicht nun bis runter zu den Füßen.«

»Ist Ihr Kreislauf stabil, können Sie noch laufen?«, fragte mich der junge Mann am anderen Ende.

»Ja, aktuell ist das noch möglich, aber ich merke, dass mein linkes Bein schwächer wird, verstehen Sie?« Meine Stimme glitt ins Panische über. »Hier passiert irgendwas, ich habe große Angst.«

»Okay, bleiben Sie ruhig. Sie wohnen in Bonn-Beuel, das Beueler St. Josef Hospital ist nicht weit von Ihrer Adresse entfernt. Ich empfehle Ihnen, das abklären zu lassen. Können Sie sich dort hinbringen lassen?«

»Mein Sohn kann mich hinfahren. Ich rufe ihn sofort an.«

Tobias kam sofort und fuhr mit mir ins Krankenhaus. Im Wartebereich der Notfallambulanz wurde mir klar, dass das ein fataler Fehler gewesen war. Warum bloß hatte die Notrufzentrale nicht sofort einen Krankenwagen zu mir geschickt? Nun waren bereits 45 Minuten vergangen, ohne dass ein Arzt mich in Augenschein nehmen konnte.

Als die Ärztin der Notaufnahme mich kurz darauf aufrief, konnte ich bereits nicht mehr sauber laufen, mein linkes Bein blieb in der Bewegung zurück. Ich hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Das St. Josef Hospital ist ein eher kleineres Krankenhaus, es verfügt nicht über ein MRT. Das CT funktionierte nicht, als die Ärztin es bei mir anwenden wollte. Wertvolle Zeit ging verloren. Mir fiel auf, dass die überlaufene Notfallambulanz bei der anscheinend einzigen Ärztin hier unten zu massivem Stress führte, verständlich.

Im späteren Übergabebericht las ich dann, dass es eine Assistenzärztin war. Ich wollte nicht in ihrer Haut stecken. Warum bloß werden junge Assistenzärzte in einer Notfallambulanz alleine gelassen? Ist das die Bewährungsprobe, der Stoß ins kalte Wasser?

Ich lag auf einem Krankenbett und beobachtete ängstlich das Szenario in der Ambulanz. Nachdem das CT leider nicht zum Einsatz kommen konnte, besprach sich das Team, und die Ärztin traf die weise Entscheidung, mich in die Neurologische Notfallambulanz der Uniklinik Bonn zu verlegen.

Es war nun schon über eine Stunde vergangen. Die Rettungssanitäter der Uniklinik mussten erst angefordert werden, wir sprechen hier von einer Distanz zwischen den beiden Kliniken von ca. 12 Kilometer.

15 Minuten später trafen die Sanitäter ein. Noch immer war ich total ratlos, was hier überhaupt mit mir passierte. Sie Sanitäter baten mich, vom Bett auf die Rollbare umzusteigen, was ohne deren Hilfe überhaupt nicht möglich war. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mein linkes Bein, musste es mit meinen Armen anheben, um es ein paar Zentimeter zu verschieben. Mittlerweile griff die Taubheit auch auf das rechte Bein über. Ich war wie in Trance, als wenn ich mich von oben selber beobachtete. Ich wurde in routinemäßiger Rekordzeit festgeschnallt. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das, was mir hier passierte, eine ernste Sache war. Festgeschnallt und warm eingepackt kamen mir dann die Tränen, hilflos, ausgeliefert in einer Situation, die ich nicht beeinflussen konnte.

Die zwei Sanitäter, eine Frau und ein Mann, schauten mich mitfühlend an. Die Sanitäterin strich mir mit ihrer Hand über den Arm und sagte beruhigend:

»Es wird alles gut, wir fahren jetzt in die Neurologische Ambulanz.«

Ich bin eine, sagen wir mal, empfindliche Autofahrerin. Als Kind wurde mir immer, aber wirklich immer schlecht, wenn ich hinten mit meinen Schwestern im Auto sitzen musste. Das hat sich bis ins Erwachsenenalter nicht geändert. Am schlimmsten war es, wenn ich in einem 3-Türer hinten sitzen musste, es also keine Möglichkeit gab, hinten auszusteigen. Dann kam Platzangst hinzu. Ich MUSS immer das Gefühl haben, mich zu jeder Zeit befreien zu können, Tür auf, aussteigen, frische Luft atmen.

Nun lag ich im Krankenwagen und bekannterweise wird man mit dem Kopf voran in den Krankenwagen geschoben, man fährt also aus eigener Sicht rückwärts. Jede Kurve, jede Unebenheit der Straße wird seltsam verdreht wahrgenommen. Das liegt vermutlich daran, dass man ja nicht sieht, wann eine Kurve genommen wird. Es erfolgt also ein unerwarteter, plötzlicher und oft ruckartiger Richtungswechsel, da meine Sanitäter natürlich mit Blaulicht und hoher Geschwindigkeit im Stadtverkehr unterwegs waren.

Nach einer 15-minütigen Fahrt erreichten wir die Uniklinik Bonn, die sich hoch gelegen auf dem Gelände des Venusberges befindet. Es gibt unglaublich viele Gebäude für die jeweils unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen der Uniklinik. Eine kleine Stadt in sich. Viele Mitarbeiter fahren tagtäglich mit den öffentlichen Linienbussen hier zu ihrem Arbeitsplatz, ein reges Kommen und Gehen zu jeder Tageszeit, Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Wenn ich hier arbeiten müsste, bräuchte ich bestimmt sehr lange, um mich auf diesem riesigen Universitätsklinikgelände zurechtzufinden.

Schicksal ist eine Art höhere Macht, die ohne direktes menschliches Zutun das Leben einer Person entscheidend beeinflusst. Die Frage nach dem Warum stellt man sich, glaube ich, immer, wenn einem etwas Schlimmes widerfährt. Komischerweise stellt man sich diese Frage nicht, wenn man Glück hat.

Was sind überhaupt Glück und Unglück? Nach dem sogenannten Konsistenzprinzip entstehen angenehme Gefühle, wenn im Außen das geschieht, was ich innerlich anstrebe. Glücksgefühle stellen sich ein, wenn ich mehr bekomme, als ich erwarte. Ich bin jedoch unglücklich, wenn das, was im Außen passiert, stark von dem abweicht, was wir uns wünschen oder erwarten.

An jenem Samstag habe ich gar nichts erwartet. Sollte es also mein Schicksal sein?

Jede Minute zählt

Auf der Stroke Unit ‒ der Schlaganfallstation war es voll. Ich wurde in der Notfallambulanz in einen Aufnahmeraum geschoben und der ärztliche Bericht der vorherigen Klinik wurde von den Sanitätern dem diensthabenden Arzt übergeben. Tatsächlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Stroke Unit Schlaganfallstation bedeutet. Das wurde mir erst später klar. Ich bin ein neugieriger Mensch und wenn ich selber in einer von meinem Alltag abweichenden Situation bin, dann nehme ich alle Eindrücke mit großer Aufmerksamkeit in mir auf. Wie ein Kind, das mit seiner Mutter in einem Park spazieren geht und plötzlich einen ganz neuen Spielplatz entdeckt.

Ängstlich und zugleich neugierig schaute ich mich um. Stimmen drangen aus unterschiedlichen Richtungen zu mir herüber. Ich nahm den sterilen typischen Geruch von Behandlungsräumen wahr sowie Geräusche von Betten, die auf dem Ambulanzflur von einem Raum zum anderen gerollt wurden. Ich beobachtete die anderen Patienten, die augenscheinlich kurz vor mir eingeliefert worden waren. Dabei vergaß ich beinah, dass ich mich mittlerweile nicht mehr bewegen konnte, ab der Taille abwärts. Es ist komisch – so lange der Kopf, die Atmung, die Arme und Hände nicht von einer Beeinträchtigung betroffen sind, empfindet man die Situation als nicht lebensbedrohlich. Ich bin naiv davon ausgegangen, dass die Lähmungen zwar gerade präsent waren und ich mich in einer Notfallambulanz befand, was per se beunruhigend genug ist, aber dass sich mein Zustand bestimmt mit der richtigen Behandlung schnell verbessern ließe. Diese Überzeugung verblasste jedoch fortschreitend, nachdem ich alles um mich herum gescannt hatte, alle Eindrücke in mir aufgenommen hatte und mir wieder schmerzlich bewusst wurde, dass ich mich immer noch nicht wieder bewegen konnte.

Ein noch junger Arzt, schätzungsweise Anfang bis Mitte dreißig, es war schwer zu schätzen, wenn junge Männer schon früh ihre Haare verlieren, dann sehen sie oft älter aus, als sie es tatsächlich sind, kam, nachdem er den Bericht der abgebenden Klinik gelesen hatte, zu mir und befragte mich nach meinem Zustand. Er trug eine Brille, die dürftige Haarpracht war hellblond. Auch er wirkte überlastet, sehr angespannt, aber dennoch voll konzentriert und bei der Sache. Ich fand ihn sympathisch. Ich musste die Arme nach vorne strecken, die Mundwinkel zu einem Lächeln hochziehen, bis zu beiden Ohren, anschließend das Gesicht zusammenziehen, dabei die Augenbrauen und den Mund grimmig verziehen und zu guter Letzt die Zunge ganz weit rausstrecken. Einen ganz kurzen Moment dachte ich, der junge Arzt nimmt mich auf den Arm. Ich lächelte ihn kurz verlegen an, doch er blieb ganz ernst, also mussten diese Tests doch irgendwie System haben. Die wichtigste Frage seinerseits war, wann die Lähmungen eingetreten waren, wie viel Zeit also seitdem vergangen war.

Ich versuchte, gedanklich den Tagesablauf zu rekonstruieren.

»Ich glaube, das muss so gegen 12 Uhr mittags gewesen sein.«

»Sind Sie sicher?«, fragte der Arzt sichtlich beunruhigt. Wir hatten jetzt ungefähr 16.30 Uhr. Meine kleine Handtasche mit meinen Handy drin lag außerhalb meiner Reichweite.

»Wenn Sie mir mein Handy geben könnten, dann kann ich Ihnen genau sagen, wann es begonnen hat. Ich habe nämlich meine Physiotherapeutin angerufen, als ich die ersten Lähmungen gespürt habe.« Mir wurde mein Handy gereicht und ich schaute schnell nach, wann mein ausgehender Anruf erfolgte. »Ich habe mich vertan, es war doch später, gegen 14 Uhr hat alles angefangen.«