Das Herz von Auschwitz - Darcy Lee - E-Book

Das Herz von Auschwitz E-Book

Darcy Lee

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Beschreibung

Die Geschichte einer Liebe, die nicht sterben darf

Als Darcy Lee in einem alten Kleiderschrank auf eine mysteriöse Kiste stößt und darin Bilder und Briefe ihrer Großeltern, beide Überlebende des Holocaust, findet, beschließt sie, dass die Geschichte von Genie und Feliks nicht in Vergessenheit geraten darf.

Also beschreibt sie Genies Angst, als diese ihre Heimat Krakau verlassen muss und im Deportationszug in eine ungewisse Zukunft rollt, und berichtet vom Schrecken Auschwitz-Birkenaus.

Aber auch davon, wie man selbst an den dunkelsten Orten Licht finden kann, erzählt Darcy: Feliks, der nach Dachau deportiert wurde, schnitzt Genie als Symbol seiner unerschütterlichen Liebe ein Herz aus dem Leder seines Schuhs, welches Genie auf verschlungenen Wegen erreicht. Für beide steht fest: Sie müssen für den anderen am Leben bleiben – Tag für Tag.

Das berührende Schicksal einer großen Liebe in den dunklen Zeiten des Nationalsozialismus.

80 Jahre nach Kriegsende erfahren Antisemitismus, Rassismus und Populismus alarmierenden Zuwachs. Die bewegende Geschichte von Genie und Feliks erinnert uns eindrücklich: Nie wieder ist jetzt!

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Seitenzahl: 382

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Gerade noch tanzte die vierzehnjährige Genie mit ihren beiden Geschwistern auf Abendempfängen und träumte von einer Zukunft als Pianistin am Konservatorium, als die Schrecken des Zweiten Weltkriegs Krakau erreichen und ihrem sorglosen Leben ein jähes Ende bereiten. Ihre Familie wird auseinandergerissen, und auch von ihrem geliebten Feliks wird Genie getrennt: Ihr unwiderrufliches Schicksal lautet: Auschwitz-Birkenau. Dort erwartet sie unvorstellbares Leid, das nur durch die Hilfe eines SS-Manns etwas gemildert wird, der ihr Nachrichten von Feliks aus dem Konzentrationslager Dachau übermittelt. Beide kämpfen ums Überleben, und allein der Glaube an die Liebe zueinander hilft Genie und Feliks über den Horror des NS-Regimes hinweg.

Doch mit jeder neuen Herausforderung wird Genies Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Feliks geringer. Wie viel Schmerz kann ihre Liebe überstehen?

80 Jahre nach Kriegsende erfahren Antisemitismus, Rassismus und Populismus alarmierenden Zuwachs. Die bewegende Geschichte von Genie und Feliks erinnert uns eindrücklich: Nie wieder ist jetzt!

Autorin

DARCYLEE stammt aus Georgia, USA. Sie engagiert sich leidenschaftlich für Frauen- und Kinderrechte und hat mit Vertriebenen in verschiedenen Ländern gearbeitet. Als Enkelin von Holocaust-Überlebenden möchte sie die Geschichte ihrer Großeltern weitergeben und anderen helfen, deren Leben auf ähnliche Weise entwurzelt wurde.

DARCY LEE

DAS HERZ VON AUSCHWITZ

Eine wahre Geschichte von Liebe und Überleben

Aus dem amerikanischen Englisch von Elsbeth Ranke

Die vorliegende Geschichte von Genie und Feliks, beides Überlebende des Holocaust, wurde aufgeschrieben von ihrer Enkelin Darcy Lee. Darcy stützt sich dabei in erster Linie auf mündlich überlieferte Erzählungen ihrer Großeltern. Bei der Niederschrift des Erlebten wie des Überlieferten konnten auch Audiodateien von Genie selbst zurate gezogen werden. Des Weiteren flossen die Tagebücher von Halina Nelken ein, der Schwägerin von Genie, die mit ihr gemeinsam in Auschwitz war.Aus den genannten Gründen lässt sich nicht alles im Buch Beschriebene schriftlich nachweisen. Auch waren zum Schutz des Persönlichkeitsrechts gewisse Änderungen der handelnden Personen und vereinzelte Fiktionalisierungen der tatsächlichen Abläufe erforderlich, so etwa bei der Beschreibung des Liebesverhältnisses zwischen Genies Schwägerin und einem SS-Mann. Hierüber gibt es aus naheliegenden Gründen keine Aufzeichnungen, in der Familie liegen aber auch dazu gesicherte Erkenntnisse vor.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe April 2025

Copyright © 2025: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Katharina Theml

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

IJ ∙ CF

ISBN 978-3-641-33194-8V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Prolog

Das Ende

Keine Angst vor dem Drachen

Abgeschnittene Hände

Engelshände

Liebe und Verlust

Ratten auf dem Feld

A26460

Die Kugel und der Stiefel

Die Suche

Der Anfang

Prolog

2008

Unter den turmhohen Kiefern suchte ich im Garten nach einem möglichen Abenteuer. Ich nahm einen Kiefernzapfen in die Hand und bewunderte seine in Reihen angeordneten Schuppen. Mein Daumen fuhr über eine der scharfen Spitzen, als ihn plötzlich ein Wassertropfen traf. Ich sah in den Himmel hinauf und legte die Stirn in Falten. Da hinten zogen dunkle Wolken auf.

Vom Haus her hörte ich eine vertraute Stimme. Meine Mutter stand auf der Schwelle, die Hände an den Hüften. Ihre Botschaft war unmissverständlich: Komm rein, bevor es regnet. Den Zapfen noch in der Hand, suchte ich fieberhaft nach einem Vorwand, um bleiben zu dürfen. Sie aber fing an zu zählen.

»1, 2, 3 …«

Unwillkürlich hellte sich mein Gesicht auf. Ich rannte zum Haus und drückte mich an meiner Mutter vorbei. Ich wirbelte durch das Wohnzimmer und die Küche und suchte nach einem guten Versteck. Einem, an dem sie mich nie finden würde.

»… 6, 7 …«

Mit klopfendem Herzen suchte ich die ideale Stelle. Plötzlich stand ich im hinteren Teil des Hauses in einem Gästezimmer, das wir nur selten betraten. Ich wollte schon unter das Bett kriechen, aber nein. Viel zu offensichtlich. Ich drehte mich um mich selbst und suchte etwas Besseres.

»… 8, 9, 10 …«

Meine Augen fielen auf den Schrank, und ich grinste. Mit einem Satz öffnete ich die Türen. Von der Staubwolke, die mir entgegenkam, musste ich husten. Mit wedelnden Händen schlüpfte ich hinein. Ich zog die Tür zu und verbarg mich in der Dunkelheit. Zwischen alten Kleidern in Plastikhüllen schob ich mich weiter nach hinten.

»… 15, 16 …«

Ich räumte alte Spielsachen zur Seite und machte mich so klein wie möglich, um hinter eine Vorratskiste zu passen. Mit Mühe bewegte ich sie zur Seite, aber schließlich schaffte ich es. Triumphierend hockte ich mich hin und schloss die Arme um die Knie.

»… 18, 19, 20!«

Hier drin war ich noch nie gewesen; es würde ewig dauern, bis sie mich gefunden hatte. Und so war es auch. Langeweile überkam mich, und ich ruckelte seufzend am Deckel der Vorratskiste. Durch den Türspalt fiel ein schmaler Streifen Tageslicht herein und warf leuchtende Flecken auf meine Hände. Dann schweifte mein Blick in die Tiefen des Schranks. Er fiel auf eine kleine Schuhschachtel in der hinteren Ecke, die mit Spinnweben und einer Staubschicht bedeckt war. Lautlos griff ich danach, meine Mutter sollte mich ja nicht hören. Ich hielt die Schachtel vor meine Augen und erschrak. NICHTÖFFNEN. Fette schwarze Buchstaben quer über den Deckel, ein Zauberbann. Was mochte nur darin sein? Krabbelndes Ungeziefer oder ein Monster, das meine Mutter vor Jahren dort eingesperrt hatte?

Nachdenklich legte ich den Kopf schräg. Wenn sie diese Warnung geschrieben hatte, sollte ich sie auch befolgen. Andererseits …

Ich musste es einfach wissen. Das Kind in mir sehnte sich nach der Entdeckung, wollte ein Stückchen mehr von der Welt, die mich umgab, erfahren. Sollte Pandora die Büchse öffnen?

Mit zitternden Händen hob ich den Deckel an – und hielt inne. Wollte ich es wirklich wissen? Welche dunklen Geheimnisse verbargen sich da? Und welche Macht hatten sie, zu verändern, wer ich zu sein meinte? Die Schachtel kitzelte meinen Übermut. Lange musste sie nicht mehr warten. Meine unschuldige Neugier gewann die Oberhand über meine Angst vor dem Unbekannten.

Mit klopfendem Herzen und zitternden Lippen flüsterte ich: »Und los.«

Ich klappte den Deckel auf, und mein Blick fiel auf einen Stapel Fotos. Ich griff nach dem obersten: meine Großeltern in jung auf einem Atlantikdampfer. Erleichtert seufzte ich auf und entspannte mich. Sie waren nach dem Krieg aus Polen eingewandert. Grinsend schüttelte ich den Kopf über meine ausufernde Fantasie. Die Monster in diesem Schrank waren reine Einbildung, beruhigt legte ich das Foto zurück und schloss den Deckel.

Doch in diesem Moment blieb mein Blick an einem merkwürdigen Gegenstand hängen. Ich zog einen kleinen Plastikbeutel hervor und betastete ihn. Darin lag ein altes, abgegriffenes Herz aus Leder. Ich musterte es von allen Seiten. Es waren zwei Stücke Leder mit einem schmalen Spalt dazwischen, der durch die schmierige Schmutzschicht kaum zu erkennen war. Mit zitternden Fingern klappte ich das Herz auf. Der Lichtstrahl fiel auf zwei blasse Gesichter; eines küsste gerade das andere, und die Freude, die in seinem Lächeln stand, konnte sogar dieses jahrzehntealte Foto nicht verhehlen. Da spürte ich es: eine Liebe, die alles durchdrungen hatte. Ich war atemlos und überwältigt. Mein eigenes Herz bebte, während ich das kleine Lederherz in der Hand hielt. Welche Tragödie konnte eine Liebe so stark gemacht haben? Wie hatte diese Liebe begonnen, und wie betraf sie mich heute?

Ich legte das Herz zurück in den Beutel und schob die Fotos zur Seite. Wie von selbst hielt ich jetzt ein weiteres Foto in der Hand. Ich hob es ins Licht. Eine Tätowierung, A26460. Dann der Unterarm, auf dem sie stand. Erschrocken ließ ich das Foto fallen, stieß mit dem Rücken an die Vorratskiste, taumelte kurz.

Zögerlich griff ich zum nächsten Foto. Mein Daumen strich über das Gesicht meiner Großmutter, sie stand unter einem Torbogen mit der Aufschrift »Arbeit macht frei«.

Aus meinem Hinterkopf bahnten sich Bilder aus Schulbüchern und die Stimme meiner Lehrerin einen Weg in mein Bewusstsein. Ich erinnerte mich, was wir im Geschichtsunterricht über den Holocaust gelernt hatten. In meiner einen Hand lag das Foto meiner Großmutter in Auschwitz und in der anderen das Lederherz. Die Vergangenheit war zum Greifen nah, und doch begriff ich noch immer nicht. Was hatte meine Familie mit diesem Grauen zu tun? Ich fühlte mich wie ein Vogel, der über seinem Nest schwebte, es sah, aber nicht hinunterfand. Ich war so in die Schachtel und ihren unheilvollen Inhalt vertieft, dass ich nicht hörte, wie die Schranktüren aufgingen.

Statt dem schmalen Streifen füllte jetzt helles Licht den ganzen Schrank. Ich stand auf und wandte mich langsam zu meiner Mutter um. Ihr Lächeln erlosch, als ihr Blick auf das Lederherz in meiner Hand fiel.

»Wie hast du …« Ihre Stimme versagte.

In ihren Augen stand ein unsäglicher Schmerz. Das Trauma, das sie so viele Jahre lang verdrängt hatte. Sie versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln, aber ich ließ nicht locker. Ich blickte sie an mit einer Hoffnung, einem Wunsch, nein, dem Bedürfnis, zu wissen, zu verstehen. Was hatte sie all diese Jahre verheimlicht? Mit einem stillen Seufzen reichte sie mir die Hand.

»Komm. Irgendwann musstest du es erfahren.« Sie lächelte schwach. »Weißt du, wir sind Juden.«

Als ich die Stirn runzelte, wischte sie sich die Augen. Juden. Das war doch … unmöglich. Wir waren Katholiken. Meine Finger schlossen sich fester um das Lederherz, und ich fragte: »Was bedeutet das?«

Gemeinsam sahen wir den Film Schindlers Liste an, und meine Tränen führten zu weiteren Fragen. Dieser Film hatte meine Großmutter dazu veranlasst, ihre Geschichte zu erzählen, erklärte meine Mutter. Die Familiengeheimnisse hatten hinter Schloss und Riegel gelegen und waren erst fünfzig Jahre später ans Licht gekommen. Die Geschichte meiner Großeltern wurde zu einer Geschichte über Musik, Liebe und Völkermord. Ich erfuhr, dass mein Großvater das Lederherz aus seinem Schuh herausgeschnitten hatte und wie es seinen Weg von Dachau nach Auschwitz fand. Die Liebe meiner Großeltern hatte mit ihrer Hochzeit im Ghetto begonnen, und sie hatte sie bis ans Ende des Krieges getragen. Ich erfuhr auch von einer anderen Liebe – einer verbotenen Liebe zwischen einem SS-Mann und einem jüdischen Mädchen. Meine Großtante wurde von einem Nazi gerettet, dem die Liebe wichtiger war als seine Uniform. Und schließlich kam auch der Leiter des Kaffeehauses im Film darin vor, der Onkel meiner Großmutter und angeblich ein Spion.

Als der Film zu Ende war, spürte ich die Last von Millionen Ermordeten. Meine Tanten, Onkel, ihre Cousinen, Großeltern … es waren so unendlich viele. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, aber ich schüttelte den Kopf.

»Ich habe dir nichts davon gesagt, weil … nun, es ist ein schwieriges Thema. Nacht für Nacht klangen die Schreie meiner Mutter durchs Haus, jetzt weißt du, warum. Aber ich wollte nicht, dass du auch unter dieser Last leiden musst«, flüsterte meine Mutter gequält.

Ich nahm ihre Hand und schloss die Augen. Da spürte ich etwas in meinem Schoß, und mein Blick fiel auf ein altes Familienfoto.

»Wir sind jetzt ihr Erbe«, erklärte sie mit festerer Stimme.

Ich nahm das Foto und musterte die Gesichter. Ich kannte sie nicht, und doch … In meinem Magen grummelte es. Mein Herz schlug schneller, als wollte es sich weiten und sie berühren. Die Frage lag mir auf der Zunge, aber ich sprach sie nicht aus. Von irgendwoher wusste ich schon, wer diese Menschen waren. Ich kniff den Mund zu und umklammerte das Foto fester.

»Das ist unsere Familie. Diese zwei kleinen Mädchen wurden beim Versuch, aus dem Ghetto zu fliehen, in der Kanalisation erschossen. Die ältere Frau in der Mitte wurde von den Nazis abgeholt und kam nie zurück. Er hier wurde mit dieser hübschen Frau dort gemeinsam erschossen, und was mit dieser Frau passiert ist, wissen wir gar nicht. Also …«

»Das reicht! Ich verstehe.« Aufgebracht fiel ich meiner Mutter ins Wort.

Ich hatte mich immer gefragt, warum unsere Familie so klein war. Jetzt ließ die Antwort mich frösteln. Die Nazis hatten sie uns genommen. Und ihr Hass, der keine Grenzen kannte. Die Worte meiner Mutter klangen mir noch im Ohr: »Wir sind jetzt ihr Erbe.« Ja, das würden wir sein. Ich stand auf und drückte das Foto unserer Familie an meine Brust. Ich fasste die Hand meiner Mutter fester und sah auf, den Blick auf die Zukunft gerichtet, die sie für uns erschaffen hatten.

Genie mit der Autorin auf dem Schoß, der sie den Namen Darcy gegeben hat.

Das Ende

1945

Sonnenstrahlen tanzten durch die Blätter. Leuchtend hell lagen sie auf den gewaltigen Stämmen und den Höfen, und auch die Ameisen, die über den Boden krabbelten, mussten sie spüren. Wie absurd. Die Sonne erinnerte grausam an Hoffnung; ihr Licht strömte so ungehindert in die Welt wie das Blut.

Ihr Stiefel musste jetzt voll davon sein, aber sie spürte es nicht. Ihrer aller Füße waren blau gefroren. Ihre Körper waren nur Haut und Knochen, die einem dumpfen Willen gehorchten. Viele erlagen der eisigen Kälte, und weder das Kreischen der Kinder, die an ihren Müttern rüttelten, noch die Schreie der Männer über den verrenkten Gliedern ihrer Frauen konnten sie dazu bringen, sich umzudrehen. Sie hatte den Blick des Todes schon in so vielen Augen gesehen, unfehlbar erkannte sie, wenn jemand am Rande des Abgrunds stand. Wenn ein Herz dem andauernden Kampf gegen den Hunger erlag und eine Seele der Erschöpfung nachgab.

Gedankenlos pulte sie die Kugel aus ihrem Absatz und warf sie beiseite. Hätte sie geahnt, dass sie überleben würde, hätte sie sie behalten. Doch sie war überzeugt, dass sie ohnehin alle sterben würden. Seit Jahren bekam sie das zu hören, und jetzt am bitteren Ende glaubte sie es. Endlich würden ihre jüngsten Gebete Gehör finden. Sie zuckte nicht, als ein Schädel an einen Stein krachte, und blinzelte kaum, als ein Leib zerbarst. Die Nazis würden sie erschießen, wie all die anderen.

Sechs Jahre im Angesicht des Todes, und jetzt war endlich sie an der Reihe. Beinahe empfand sie Ehrfurcht, ja, sie würde sich bereitwillig in seine Arme geben. Nicht nur einmal hatte sie seinen Ruf gehört. Und als die SS-Männer immer mehr Leichen über die Brücke stießen, ergab sie sich ihrem Schicksal.

»Halina, ich kann nicht mehr weiter. Ich kann nicht mehr.«

»Du musst.«

»Ich kann nicht – das hier muss das Ende sein«, flüsterte sie gegen das Poltern der Stiefel und der stürzenden Körper, die auf dem kalten, harten Boden aufschlugen.

Wenn sie nicht mehr gehen konnte, war sie tot. Sie hoffte nur, dass sie ihr in den Kopf schießen würden und es schnell aus wäre. Wenn man zu oft gesehen hatte, wie Körper sich krümmten und wanden, bis der letzte Atem verbraucht war, wünschte man sich ein anderes Ende.

Mit tränenverhangenem Blick sah sie zur Schwester ihres Liebsten auf, als sie wieder die Wachleute brüllen hörte.

»Marsch! Marsch, weiter!«, schallte es von der Brücke zu ihnen.

»Ach, Kleine. Ich fürchte, es ist noch nicht vorbei.«

Keine Angst vor dem Drachen

1938

»Nein, ich kann nicht! Ich muss üben. Du verstehst das einfach nicht.«

»Ob ich das verstehe?! Bitte, bitte, lass mich nicht mit Jurek alleine.«

»Ich habe es gehört.«

Genie zwinkerte ihrer kleinen Schwester Halinka so zu, dass ihr Bruder es nicht sehen konnte. Sie liebte ihre beiden Geschwister innig, aber besonders verbunden fühlte sie sich mit Halinka. Wer konnte ihr das schon vorwerfen? Genie hatte bei der Geburt ihrer Schwester selbst den Namen für sie ausgesucht. »Tat, meinst du wirklich, das geht? Dieses Kleid sieht nicht so aus, als könnte Esther es tragen«, meinte Genie zu ihrem Vater.

Sie glättete das hellblau gepunktete Kleid und stand auf, um es schwingen zu lassen, während Tat schmunzelnd einen Schritt zurücktrat.

»Wahrscheinlich liegt das daran, dass du heute Abend gar nicht Königin Esther spielen wirst, Liebling. Das ist erst in ein paar Monaten. Aber heute … heute Abend feiern wir Jom Kippur. Hörst du nicht schon die Trompeten? Komm, setz dich. Ich will mit deinen Haaren fertig werden.«

Halinka wackelte aus dem Zimmer, wahrscheinlich suchte die kleine Schwester Mama, während ihr Bruder sich nicht von der Stelle rührte; er lag schräg über das Bett ausgestreckt. Er hörte auf, seinen Ball in die Luft zu werfen, und streckte Genie die Zunge heraus. Sie erwiderte die Grimasse, während Tat sich neben sie setzte und anfing, ihre dunklen hüftlangen Haare zu bürsten.

Jurek war ja nur eifersüchtig. Aus der ganzen Oberschule war sie ausgewählt worden, um beim Schultheater Königin Esther zu spielen. Dabei war sie gerade erst neu auf der Oberschule! Sie würde alle Juden retten und die umjubelte Heldin sein.

Außerdem würden ihre Freunde Irina, Henka, Rutka und Mietek dabei sein und zusehen, wie sie im elegantesten Kleid und mit funkelnder Krone auf der Bühne stand. Nun, mit Henka und Rutka würde sie noch reden müssen, damit sie Mietek auch wirklich mitbrachten. Er musste sie einfach in der Rolle der Königin sehen. Und wer wusste schon, vielleicht könnte sie die Krone sogar zu ihrer Hochzeit tragen. Mietek würde durch seine schiefen Zähne grinsen und seine bernsteinbraunen Locken schütteln, während er ihr ewige Liebe schwor. Genie würde ihn anlächeln, und das alles unter den Augen ihrer Familie …

»Eugenia!«

Genie fuhr auf, als Kogut sich mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihr aufbaute.

»Du bist vierzehn, Eugenia. Du bist jetzt eine junge Dame, da solltest du nicht so viel bei deinem Vater herumlungern. Du übrigens auch nicht, Jurek. Warum ihr beide immer eurem Vater in seinem Schlafzimmer zur Last fallt, ist mir ein Rätsel. Ich dachte, wir hätten abgemacht, dass ihr nur samstags hier seid. Komm, ich mache deine Haare fertig, und du liebe Güte … wer hat dich denn in dieses alberne Kleid gesteckt?«, schnaubte Kogut.

»Das war Tat. Gefällt es dir nicht?«

»Nein.«

Genies Augen verengten sich, und seufzend ließ sie sich von Kogut aus dem Zimmer ziehen.

Sie warf Jurek einen letzten kurzen Blick zu. Der beschwerte sich schon bei ihrem Vater über das Dienstmädchen, erntete aber nur Schelte dafür, weil er sie wieder Kogut nannte. Genie verkniff sich ein Grinsen. Kogut, »Gockel« – das war doch ein ziemlich passender Spitzname.

Genie zappelte pausenlos herum, während Kogut ihr die Haare flocht. Sie mochte die Dienstbotenkammer nicht, weil sie so klein war, aber immerhin musste sie so nicht in ihr eigenes Zimmer hinauf.

Endlich hatte Kogut Genies Haare zu zwei Zöpfen gebändigt, und sie rannte in den ersten Stock. Lächelnd blickte sie auf die Rückwand ihres Zimmers, die ganz hinter Puppen und Spielsachen verschwand. Nicht ein Zoll Platz war auf den Regalbrettern, obwohl die nur einen Teil ihres Besitzes bargen.

Auch wenn Genie jetzt älter war, konnte Kogut sie nie überzeugen, die Sachen wegzuräumen. Ohnehin wollte sie sie für Halinka aufheben. Halinka war noch ein bisschen zu klein für Genies kostbare Spielsachen und Puppen, aber eines Tages sollten sie ihr gehören.

Genie setzte sich auf ihr Bett und nahm sich eine ihrer Lieblingspuppen: eine Porzellanpuppe aus Wien. Sie fuhr mit den Fingern über die kristallblauen Augen und lächelte. Zum Schlafen brauchte sie nur dann eine Puppe, wenn sie den Albtraum hatte, es nicht ins Konservatorium zu schaffen. Das Klavierspielen ging Genie über fast alles, und sie hatte vor, es zu ihrem Beruf zu machen. Könnte sie jede Sekunde jedes Tages am Klavier verbringen, würde sie glücklich sterben.

Genie hörte Kogut aus dem Wohnzimmer rufen. Sie verdrehte die Augen und setzte die Puppe zurück ins Regal. Auf der Treppe trödelte sie, so viel sie konnte, hüpfte jede Stufe einzeln herunter. Sie schnappte sich einen Apfel aus der Fruchtschale auf dem Mahagonitisch und ließ sich auf das Sofa plumpsen. Mama tanzte und sang wie üblich zu Carmen, sie trug schon ihr Kleid für den Abend, das Kogut auf dem Weg in die Küche mit einem bewundernden Blick bedachte.

»Kannst du nicht aufhören, in deinem perfekten Deutsch zu singen, und lieber persische Musik auflegen? Ich muss für meine Königin Esther üben«, bettelte Genie.

»Tanzen will ich zu Eurer Ehr …«

Genie stöhnte, sprang aber an den Flügel und versuchte sich damit darüber hinwegzutrösten, dass sie längst nicht so gut Deutsch sprach wie Mama. Andererseits wusste Genie nicht, warum sie es ausgerechnet jetzt lernen sollte.

Das Gerede über den Krieg war für sie alle ein fast schon ständiges Hintergrundgeräusch. Schon 1938 hatte das ganze Jahr über die reinste Paranoia geherrscht. Dabei ging es ihnen doch gut. Die schlauen Menschen im Radio sagten, Polen werde die Ostsee nicht aufgeben und sie würden gewinnen, weil Deutschland doch nur Papppanzer habe. Dann stellten sie lächelnd auf einen Sender um, der Chopin spielte, das war schließlich viel geschmackvoller.

Sie spielte gerade einen ihrer liebsten Chopin-Walzer, als Halinka über sie herfiel. Sie riss sie von den Tasten los und schleppte sie zum Rest der Familie. Sie lachten über Jurek in seinem dämlichen Leinengewand, dann zogen sie den Kopf ein, als Kogut sich umdrehte und ihnen einen vernichtenden Blick zuwarf. Schützend legte sie Jurek die Hand um die Schulter und führte ihn hinter Mama durch die Haustür.

Genie nahm Halinkas Hand, und gemeinsam folgten sie ihrem Bruder. Bis sie von einem breiten Lächeln aufgehalten wurden, das schon längst nicht mehr verärgert war.

»Kommt her, meine Mädchen.«

Halinka warf Genie einen fragenden Blick zu, bevor sie hinter ihrem Vater in die Laube traten. Tat setzte sich, und sie folgten ihm. Es war ein schöner Abend. Die Straßenbeleuchtung erhellte die Blumen in ihrem kleinen Paradies. Die Laube stand mitten in ihrem Garten, und Genie wusste, wenn sie auf einen der Bäume klettern würde, könnte sie wahrscheinlich am anderen Flussufer den Wawel sehen. Die abendliche Feier war schon so laut, dass sie sich beinahe vorstellen konnte, wie unten am Burghügel der schnaubende Drache aus der Legende das Schloss bewachte, von dem er sich niemals trennen würde.

»Nun, ihr beiden, keine Streiche mehr heute. Es ist Jom Kippur, eine Zeit der Freude. Bitte macht Jadwiga nicht das Leben schwer. Für unsere Familie zu arbeiten, ist wahrscheinlich schon schwierig genug. Und hört auf, sie Kogut zu nennen, zumindest solange sie euch hören kann.«

»Aber Tat! Sie will nicht, dass ich bei dir bin. Sie findet, ich bin zu groß dafür«, jammerte Genie.

»Das mag sein. Aber lasst uns zumindest heute Abend die Zeit genießen, Kinder, junge Damen und Erwachsene zusammen. Was meint ihr, Mädchen?«

Genie und Halinka nickten begeistert, und Tat gab ihnen beiden einen Kuss auf die Wange. Er nahm Halinka auf den Arm und legte Genie den anderen um die Schultern, als sie zwischen den Beeten an der Haustür vorbeigingen. Und als sie auf die Straße traten, merkte Genie, dass Tat vorhin recht gehabt hatte. Jetzt hörte auch sie die Trompeten.

***

Bei ihrer Fahrt durch die Straßen winkte Genie den Ladenbesitzern zu. Sie grüßte ihren Lieblingsbäcker, er lächelte zurück. Krakau war mehr Touristenattraktion als moderne Großstadt, weshalb sie mit dem Fahrrad zur Schule fuhr. Es war ungefährlich, und ihre Eltern waren zu sehr mit ihrem Geschäft beschäftigt, um sie bringen zu können.

Sie beeilte sich, damit sie nicht zu spät kam. Zu Genies Unmut hatte Kogut heute mit dem Frühstück länger gebraucht. Obwohl Mama ihr das Kochen und die wichtigsten Hausarbeiten beigebracht hatte, tat sie sich immer noch schwer. Genie fuhr am Fluss entlang und lächelte über seinen Gleichmut. Am anderen Ufer erhob sich der Wawel. Er war hübsch mit seinen Backsteintürmen, den roten Ziegeldächern und seinen vielen Fenstern. Doch heute hatte Genie keine Zeit, die Burg zu bewundern. Sie dachte an die Legende vom Drachen, der darin hauste. Sie stellte sich ein wildes, schuppiges Geschöpf vor, das den Kopf aus dem Turm herausstreckte, und ein hellgrünes Auge, das sie anstarrte. Mit einem leichten Gruseln trat Genie in die Pedale.

An der Schule angekommen, sprang sie vom Fahrrad und mischte sich unter die Schüler, die in das große Gebäude strömten. Sie freute sich, als sie Mietek mit seinen Eltern entdeckte. Genie stellte ihr Fahrrad ab und ging zu ihnen hinüber.

»Guten Morgen, Mietek. Hast du diese Matheaufgabe fertigbekommen?«

»Ja, natürlich. Du etwa nicht? Warum nur wundert mich das nicht? Weißt du, Genie, es gibt auch noch andere Fächer als Musik. Vielleicht solltest du auch für die ein bisschen was tun, wenn du dein erstes Jahr in der Oberschule bestehen möchtest«, erklärte Mietek mit einem verschmitzten Lächeln.

Er stieß sie sanft in die Rippen, und mit aufgesetzter Empörung schlug Genie seine Hand fort.

»Mietek hat recht. Vergiss nicht, du kannst vorbeikommen, wann immer du willst, dann könnt ihr beide zusammen lernen«, sagte seine Mutter liebevoll.

Die beiden Familien standen einander seit jeher nahe. Genie mochte Mieteks Eltern und nannte sie sogar Tante und Onkel. Deswegen würde ihre Hochzeit etwas ganz Besonderes werden.

»Danke, Tante. Aber ich glaube, dafür habe ich keine Zeit. Nächstes Jahr spiele ich beim Konservatorium vor. Und dafür muss ich ziemlich viel üben. Übrigens soll ich von meinem Vater ausrichten, dass ihr im Geschäft vorbeikommen sollt. Die neue Matratze ist da«, sagte Genie.

Mieteks Eltern nickten und winkten zum Abschied.

Am Schultor wartete ihre Freundin.

»Hallo, Genie! Kommst du mit rein?«

»Ja, Irena. Hast du Henka und Rutka schon gesehen?«

»Die sind schon drinnen. Komm!«

Überrascht schoss Genies Blick zu Mietek hinüber. Er hatte sie bei der Hand gefasst, und gemeinsam liefen sie ins Klassenzimmer.

Es wurde ein anstrengender Schultag. Der Neuanfang nach den Winterferien war immer schwierig. Jeden Sommer verbrachte ihre Familie zwei Monate im Kurort Szczyrk in den Karpaten. Im Winter blieben sie nicht so lange. Aber das Skifahren machte Spaß, und sie mochte ihren Skilehrer Poldek Pfefferberg sehr gern. Mama kam im Winter nie mit, was Halinka ihr übel nahm. Genie musste sie mit der Behauptung trösten, Mama wolle ihnen mehr Zeit allein mit ihrem Vater gönnen.

Aber nun konnte Genie sich auf die Musikstunde freuen. Sie spielte mit ihren Freundinnen Klavier, und sie sang im Chor. Nach der Schule stürzte sie nach Hause und aß mit ihren Geschwistern zu Abend. Sie riefen ihre Eltern aus dem unten gelegenen Büro, als Koguts Sauerkraut endlich fertig war.

Nach dem Essen flüsterte Genie Halinka zu, sie solle den anderen von ihrem angeblichen Freund erzählen. Zwar wussten alle, dass Genie die Einzige war, die demnächst womöglich wirklich einen Freund haben würde, aber ihre Eltern mussten irgendwie abgelenkt werden.

Leise murmelte sie eine Entschuldigung und verließ auf Zehenspitzen den Tisch. Sie setzte sich an ihren Flügel und strich zärtlich mit den Fingern über die Tasten. Mit einem Seufzer der Erleichterung trat sie das linke Pedal und begann leise einen Walzer zu spielen. Sie spielte langsam und behutsam und lauschte mit geschlossenen Augen. Ihr Plan war aufgegangen, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Doch offenbar war sie zu einem schwierigen Leben verdammt. Genie erschrak, als sie mit einem Ruck vom Klavierhocker gezerrt wurde.

»Eugenia Gisela Wein. Ganz so schlau, wie du dachtest, bist du doch nicht. Zuerst die Hausaufgaben.«

Genie schimpfte vor sich hin, als Kogut sie nach oben schleppte.

Nach ein paar mühseligen Stunden saß sie endlich in ihrer Klavierstunde. Mit ihrem Lehrer arbeitete sie an einigen schwierigen Stellen, und er lobte sie wie alle ihre Lieblingslehrer.

Da hörte sie Mama am Telefon, und sie ließ den Kopf hängen. Sie hoffte, dass Tat wusste, wie spät es war. Sie hatte nur dreimal pro Woche Klavierstunde und nicht etwa jeden Tag. Deshalb verabscheute sie es, wenn sie zum Arbeiten gerufen wurde.

»Genie, Liebling. Komm und hilf deinem Tat im Geschäft. Er ist im Büro und erwartet dich«, rief Mama.

Sie nickte und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Nachdem sie den Lehrer zur Haustür gebracht hatte, schlich sie zurück und setzte sich wieder an den Flügel.

Sie wusste, dass in letzter Zeit viele Bestellungen eingegangen waren, Tat machte das nicht mit Absicht. Er war Jurist und hatte jahrelang als Anwalt gearbeitet. Doch nach dem Tod seiner Eltern hatte er zusammen mit seinem Bruder das Möbelgeschäft geerbt. Aber das war schließlich nicht Genies Schuld. Sie wollte einfach Klavier spielen. Nicht um aufzutreten; es ging ihr nur um das Spielen an sich. Hoffentlich würden sie das im Konservatorium begreifen.

Sie spielte weiter, und da nicht noch einmal nach ihr gerufen wurde, entspannte sie sich. Sie wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte, so eine schöne Kindheit zu haben: das Glück einer Familie, in der sie sich von morgens bis abends necken konnten und nach dem Essen trotzdem zusammen tanzten. Der Segen eines prächtigen Hauses mit einem Bechstein-Flügel, auf dem sie nach Lust und Laune spielen konnte. Das fröhliche Lachen mit Freunden und das gute Essen. Die Erinnerungen an all ihre gemeinsamen Ferien.

Und vielleicht war jede Kindheit genau dafür gedacht – zu zeigen, wie das Leben sein konnte, bevor es zu etwas Hässlichem wurde, das es nie hatte sein sollen.

Abgeschnittene Hände

1939

Genies zweites Jahr an der Oberschule begann ganz wie das erste, abgesehen davon, dass sie dieses Jahr mehr Klavier spielte – wenn das überhaupt noch möglich war. Die Aufnahmeprüfung für das Konservatorium stand bevor. Sie hatte nichts anderes im Kopf, es war tatsächlich, als gäbe es nichts sonst in ihrem Leben, jedenfalls nichts, was wichtiger war.

Sie sah ihre Zukunft so deutlich vor sich wie ihr Spiegelbild. Sie würde Musik studieren und dann Mietek heiraten. Wahrscheinlich würden sie in Krakau bleiben, nahe bei ihren Familien. Schließlich wollte sie sehen, wie Jurek und Halinka aufwuchsen. Genie hatte so viel vor … Sie konnte es kaum erwarten, dass ihr Leben endlich anfing.

Es fühlte sich an wie die langen Stunden beim Skifahren mit ihrem Lehrer Poldek. Der Moment, an dem sie mit frisch angeschnallten Skiern oben an der Piste stand. Sie wusste, dass die Bretter sie tragen würden. Sie musste sich einfach nur abstoßen.

»Genie, hör auf zu träumen und hilf mir«, bettelte Jurek.

»Ich müsste dir gar nicht helfen, wenn du nicht so ein lächerliches Kostüm ausgesucht hättest.«

»Ich habe das nicht ausgesucht! Das waren meine Freunde, und wir ziehen uns alle gleich an, also habe ich keine Wahl.«

»Du hast immer eine Wahl«, erwiderte Genie schlagfertig.

Sie verstrubbelte ihm die Haare und ging in die Knie, um ihm die Schuhe zu binden. Gleichzeitig fasste Kogut um Genies Taille und knotete ihr eine braune Schärpe um. Sie verkleideten sich für Purim. Anscheinend war das Fest dieses Jahr besonders wichtig, das wurde Tat nicht müde zu sagen. Sie verstand zwar nicht, warum, aber sie interessierte sich schon lange nicht mehr für die Erwachsenengespräche und den Gang der Welt. Dafür war sie viel zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt.

»Und jetzt nach unten, ihr zwei. Die Gäste sind schon da, und sie haben nur Halinka und eure Mutter zur Unterhaltung. Ich bete für alle«, sagte Kogut und verzog sorgenvoll die Lippen.

»Warum müssen wir denn unbedingt zuerst hier feiern! Kann ich nicht gleich zu meinen Freunden?«, beschwerte sich Jurek.

Genie runzelte die Stirn und machte Platz, damit Kogut ihren Bruder schelten konnte.

»Jurek Wein. Purim ist unser fröhlichster Feiertag. Würdest du die Tora studieren wie Eugenia, dann wüsstest du das. Das sollte kein Kompliment sein, also schau nicht so stolz«, fuhr sie ohne Umschweife an Genie gewandt fort.

Sofort erlosch Genies Lächeln. Kogut schob ihr das lange Haar hinter die Schultern und befestigte die Haube so, dass sie gerade den Haaransatz bedeckte.

»Ich bin froh, dass du dich heute als Königin Esther verkleidest. Erstens brauchte ich dir so kein neues Kostüm zu besorgen, und zweitens ist es sehr wichtig für diese Zeiten der Heimsuchung. Denk daran, Genie, heute feiern wir das Überleben unserer jüdischen Vorfahren. Wir feiern Purim, damit unser Gedenken und unsere Chuzpe unsere Kultur erhalten. Egal, was sie versuchen. Drohungen sind nur leere Worte. Wir werden auch weiter überleben, egal, was sie tun …«

Jurek sah Genie fragend an, aber die zuckte nur mit den Schultern. Kogut sprach immer in Rätseln. Genie hakte sich bei Jurek unter, und gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter. Tat saß am Flügel und spielte wie gewohnt, während Mama deutsche Lieder sang. Das Haus war voller Menschen, und Genie zog Jurek weiter auf der Suche nach dem einzigen Menschen, den sie finden wollte. Endlich sah sie Mietek neben ihrem Vater stehen; er sah ihm beim Spielen zu.

Sie ließ Jurek bei Halinka und ging zu ihm. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und flüsterte: »Meine Königin …«

Genie wurde knallrot. Sie blickte zur Seite, als Tat neugierig zu ihr aufsah. Plötzlich spürte Genie, wie etwas nach ihren Fingern griff. Mietek winkte Genie mit dem Kopf, sie solle ihm folgen. Doch mit seiner Hand in ihrer hätte er sie nicht einmal auffordern müssen.

Er führte sie mitten durch die Feier. Sie schlängelten sich zwischen den Erwachsenen hindurch, die angeregt plauderten und lachten. Die meisten hatten ein Getränk in der Hand, und Genie versuchte, niemanden anzurempeln. Endlich hatten sie es bis an die Haustür geschafft, und Mietek stieß sie auf.

Langsam spazierten sie durch den Garten, bis sie zu ihrer kleinen Laube kamen. Mietek ließ Genies Hand los, während sie sich auf die Holzbänke setzten.

»Wie gefällt dir die Feier?«, fragte Mietek.

Schulterzuckend schob sich Genie näher an ihn. Sie würde es nie zugeben, aber sie freute sich über jedes Fest, weil das hieß, dass sie dort Mietek traf.

»Ach, eigentlich wie immer. Wir feiern so oft, dass die Abende schon alle miteinander verschmelzen.«

»Es muss schön sein, zu einer so angesehenen Familie zu gehören«, neckte Mietek sie.

Genie gab ihm einen Klaps auf die Schulter, und er lachte.

»Wahrscheinlich sollte ich mich geehrt fühlen, dass ich dich kenne. Und werden Ihre Majestät denn genauso oft feiern, wenn Sie erwachsen ist?«

»He! Wer sagt denn, dass ich jetzt noch nicht erwachsen bin? Und denk bloß nicht, dass ich immer nur feiern will. Nach der Schule werde ich heiraten und mir eine Arbeit suchen, bei der ich jeden Tag Klavier spielen kann. So stelle ich es mir zumindest vor …«

»Meine kleine Pianistin«, flüsterte Mietek.

Wieder errötete Genie. Sie blinzelte zu Mietek hinauf, der jetzt vor ihr stand. Er reichte ihr die Hand und zog sie an sich. Als er sie umarmte, entfuhr ihr ein überraschter Laut. Mietek hielt sie, und sie wiegten sich zu der Musik, die aus dem Haus drang.

Genau in dem Moment war Tat mit seinem Stück am Ende und stimmte einen fröhlichen Walzer an. Mietek begann sanft im Takt zu hüpfen, und lachend ließ Genie sich von ihm mitreißen. Seufzend stellte Genie sich vor, es wäre ihr Hochzeitstanz.

Als im Haus nach und nach die Gespräche erstarben, hörten sie auf zu tanzen und spähten durch das Fenster.

»Komm. Nicht dass die kleine Halinka dich noch vermisst«, sagte Mietek ruhig.

Genie nickte, er bot ihr seinen Arm, und gemeinsam traten sie aus der Laube. Kurz vor der Tür hielt Mietek Genie am Ellbogen fest. Er pflückte ein Gänseblümchen und steckte es ihr hinters Ohr.

Genie erstarrte, als er immer näher kam, was hatte er vor? Und dann berührten seine Lippen ihre Wange. Erschrocken sah sie ihn mit weit geöffneten Augen an. Grinsend trat er durch die Haustür.

Genie blieb wie vom Donner gerührt draußen stehen. Sie legte sich die Hand auf die Wange, genau da, wo Mietek sie geküsst hatte. Dann drehte sie sich um sich selbst und führte ein paar Tanzschritte auf. Mietek hatte sie gerade geküsst. Ein echter Kuss! Genie hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, aber sie wusste, dass das vor all den Gästen nicht infrage kam. Sie holte tief Luft, dann schob sie sich durch die Gästeschar zurück zum Flügel.

Tat beendete das Stück mit einem virtuosen Glissando, während Mama viel zu viel Vibrato in ihre Stimme legte.

Beifall brandete auf, und die Gesellschaft zog sich ins Wohnzimmer zurück.

»Henryk, ich bin immer wieder überrascht, wie gut du spielst. Vielleicht nicht ganz wie unser Freund Richard – der ist natürlich ein hervorragender Pianist –, aber ich denke, du machst das auch ganz ordentlich.«

»Tja, du weißt ja, Könnern wachsen keine Haare«, erwiderte Tat und tätschelte sich die beginnende Glatze.

Die Umstehenden lachten höflich, und auch Genie lächelte. Sie setzte sich neben Tat, und er legte ihr einen Arm um die Schultern. Gleichzeitig unterhielt er sich weiter mit seinen Gästen.

»Und, wie läuft das Geschäft, Henryk? Regina organisiert immer noch alles, wie immer?«

»Ja, dafür hat meine Frau einfach ein Händchen. Aber es geht uns gut; wir haben nur mehr zu tun als sonst. Das ist ja nicht das Schlechteste. Ich frage mich, wie viele Matratzen und Bücherregale unsere lieben Mitbürger eigentlich noch brauchen.«

»Nun, vielleicht sorgen sie vor für etwas, was uns entgangen ist. Vielleicht sollten Reginas Bruder und ihre Mutter doch in Berlin bleiben. Ich würde ihnen davon abraten, zurückzukommen. Das ist doch Unsinn. Mit zwei kleinen Mädchen – mir scheint das übertrieben. Alle rufen jetzt ihre Familien nach Hause, als würde das helfen …«

Genie erstarrte. Was redete dieser Mann? Fragend blickte sie zu ihrem Vater auf, aber der zog sie nur näher an sich und wandte sich an die Runde:

»Danke für diesen Rat, aber wir Weins sind Familienmenschen. Nicht wahr, Genie? Wir sind am liebsten alle zusammen. Und apropos Zusammensein, sollten wir nicht eigentlich feiern?! Kommt jetzt, hier sieht es ja schon aus wie zu Passah«, rief Tat.

Er sprang auf die Füße und fing an, mit Genie zu tanzen. Halinka juchzte vor Entzücken, und Jurek schlitterte mit ihr an den Gästen vorbei, die die ganze Familie mit freundlichem Lächeln bedachten. Tat zog Jurek und Halinka zu sich, und alle vier lagen sich in den Armen.

Sie tanzten so ausgelassen, wie es an Purim sein sollte, und Tat wirbelte abwechselnd seine Kinder im Kreis und steuerte dabei aus dem Wohnzimmer nach draußen. Kogut stürzte zur Haustür und öffnete sie, und gemeinsam tanzten sie hinaus ins Freie.

***

Es ist erstaunlich, wie schnell ein Leben sich verändern kann. Wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft, nur um beim ersten Anblick des Himmels gefressen zu werden. Oder ein junges Blatt, das stolz an einem Zweig sprießt und Sonnenlicht tanken will, aber stattdessen vom Wind zu Boden gerissen wird.

Genau wie so ein wehrloses Blatt, das zu Boden segelte, fühlte sich Genie, ohne zu wissen, wohin sie fiel. Und je näher sie dem Boden kam, desto klarer wurde ihr, dass ihre einzige Bestimmung nach der Landung die war, sich zu zersetzen.

Am 1. September 1939 änderte sich alles. Genie war fünfzehn Jahre alt und so schlank und schön wie Mama geworden. Als ihre Eltern ihr sagten, der Krieg sei ausgebrochen, verstand sie erst nicht, was das bedeuten sollte. Sie dachte, auf ihr Leben würde sich das schon nicht groß auswirken.

Erst als die Schule schloss, begann sie zu begreifen. Die Lehrer durften nicht mehr kommen, also kam niemand mehr. Genie durfte nicht mehr Fahrrad fahren oder auch nur durch die Straßen spazieren. Obwohl ihr Haus immer noch voller Tanz und Musik war, merkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Dass Mamas Lippen jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, stärker zusammengekniffen waren und Tat andauernd die Stirn runzelte, fiel Genies jüngeren Geschwistern gar nicht auf. Die Eltern waren gute Schauspieler. Genie sah ihnen zu und tat es ihnen gleich, besonders Halinka zuliebe.

Dennoch war die Besorgnis ansteckend, und sie konnte nachts nicht mehr so gut schlafen. Stundenlang starrte sie an die Decke und fragte sich, wann das Leben wieder normal werden würde. Sie musste zurück in die Schule. Bisher kannte sie nichts anderes. Sie wusste nicht, wie sie unter den neuen Umständen leben sollte, mit Jurek, Halinka und Kogut verkrochen in ihrem großen Haus. Manchmal betete sie nachts und bat Gott, den Krieg zu beenden, flehte ihn an, sie aus dieser Langeweile zu erlösen. Genie wollte aus dem Haus gehen und Mietek sehen. Sie hoffte nur, dass er dieser Tage genauso viel an sie dachte wie sie an ihn.

»Genie, bitte komm mit«, bettelte Jurek. Er zog Genie am Arm, und mit einem tiefen Seufzer gab sie nach. Sie war nie jemand gewesen, der an den Türen der Eltern lauschte. Jurek aber war neugierig, und auch sie sah einfach nicht ein, warum sie nicht mehr in die Schule konnten. Also schlichen sie mitten in der Nacht los wie Kinder, die einen Blick auf ihre Chanukka-Geschenke werfen wollten.

»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Liebes. Henri behauptet steif und fest, dass gar nichts los ist. Die Deutschen würden bloß einen Sturm im Wasserglas veranstalten. Wollen dein Bruder und deine Mutter immer noch herkommen?«, fragte Tat leise.

»Ja, sie werden bald da sein.«

»Ich weiß nicht recht, ob das wirklich so gut ist.«

Dann folgte eine Pause. Eine Zeit lang hörten sie gar nichts, und Genie fragte sich schon, ob die Eltern wohl schlafen gegangen waren. Dann aber hörten sie Mamas seidige Stimme, die vor Sorge leicht heiser klang:

»Was soll das heißen, Henryk? Sag nicht, dass das etwas mit diesen albernen Rucksäcken zu tun hat, die du mitgebracht hast. Ich habe Jurek erwischt, wie er sie neugierig untersucht hat. Du weißt doch, auf was für Gedanken du damit womöglich die Kinder bringst!«

»Und genau das sollten wir auch! Regina, wir müssen weg hier. Ich habe alles organisiert. Einige meiner Kunden sind schon fort. Wir können ohne größere Schwierigkeiten über die Grenze, und dort sind wir in Sicherheit. Schau, dieser größere Rucksack ist für Genie und die Kleinen, und diese beiden für dich und mich. Wir werden alles hinter uns lassen, und …«

»Wie bitte? Bist du verrückt geworden?«, zischte Mama.

»Verrückt sind die anderen, Liebes. Die Nazis. Sie haben direkt vor unserer Nase den Hass auf unser Volk gesät. Wir waren nur zu naiv, um es zu sehen. Aber was hätten wir auch tun können? Man kann schließlich einen wütenden Mob nicht davon abhalten, einem den Laden abzufackeln oder die Wohnung zu plündern. Und es wird nur schlimmer werden. Lass uns gehen, bevor es zu spät ist.«

»Ich werde dieses Haus nicht verlassen – es ist unser Zuhause, Henryk! Wie kannst du das auch nur vorschlagen? Wir gehen nirgends hin. Wir werden das hier durchstehen, wie wir auch alles andere durchgestanden haben.«

»Bitte, hör mir zu. Wir könnten uns nachts davonschleichen, und …«

»Nein. Ende der Diskussion. Ich weiß nicht einmal, wo wir hingehen sollten. Henryk, bitte. Sieh mich nicht so an, deine bettelnden Augen werden mich nicht umstimmen. Und halt – das auch nicht. Du weckst noch die Kinder auf! Wir bleiben, Henryk. Mein Bruder und Mama werden uns helfen«, erklärte sie bestimmt.

Besonders gut kannte Genie Mamas Familie nicht, weil sie in Deutschland lebten. Doch Mama hielt große Stücke auf ihren Bruder. Und wenn sie froh war, dass sie kamen, dann freute sich Genie auch.

Außerdem hatte Mama recht. Wenn Onkel David und Großmutter da waren, würde Genie sich wenigstens weniger langweilen. Lächelnd fasste sie Jureks Hand und wollte schon gehen, als hinter der Tür noch einmal Tats sanfte Stimme zu hören war.

»Nun, das dürfte uns helfen. Wir werden sie brauchen. Wir werden alle brauchen, so verrückt, wie die Deutschen offenbar sind. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie Richard im Radio erschossen haben. Mitten während der Sendung. Ich glaube nicht, dass es noch viel schlimmer werden kann. Aber ich mache mir Sorgen um die Kinder. Genie muss es ins Konservatorium schaffen, bevor sie ihren Platz jemand anderem geben.«

»Ich glaube nicht, dass im Moment irgendjemand zur Schule geht, Henryk. Hoffentlich ist das alles schnell vorüber.«

»Du hast recht, Liebes. Wir werden bestimmt schon bald wieder rauschende Partys feiern.«

Die Unterhaltung verstummte, und Jurek warf Genie einen verängstigten Blick zu. Sie schüttelte den Kopf und fuhr ihm durchs Haar.

»Du hast doch Tat und Mama gehört. Es ist alles gut. Jetzt lass uns schlafen.«

Auf Zehenspitzen schlichen die beiden zurück in ihre Zimmer. Genie deckte Jurek zu, dann schlüpfte sie in ihr eigenes Bett. Seufzend zog sie sich die Decke bis ans Kinn. Sie schlief sehr unruhig. Immer wieder träumte sie von zwei deutschen Jungen, die mit einem gemeinen Grinsen am Klavier saßen und besser spielten als sie.

Leicht beunruhigt wachte Genie auf, aber schon bald setzte sie wieder ein Lächeln auf. Immerhin hatten sie so länger Ferien. Sie sollte sich freuen.

Sie lief zum Balkon, stützte den Kopf in die Hände und blickte hinüber zu ihrem geliebten Wawel. Alles würde wieder gut werden. Jetzt war ihr Lächeln wieder echt.

Doch mit einem Schlag verging es ihr. Von den Straßen hörte sie das Poltern von tausend marschierenden Stiefeln, und da sah sie unendliche Reihen düsterer Uniformierter.

Durch die Straßen von Krakau zogen die Deutschen.

***

»Kinder! Ab in den Keller! Auf der Stelle!«

Zum wahrscheinlich hundertsten Mal diesen Monat liefen sie die Treppe hinunter. Auf dem Weg schnappte Genie sich ein paar Kekse, die sie erst mit Jurek und Halinka teilte, als Tat sie mahnend ansah. Sie kauten leise und warteten, bis die Sirenen verstummten.

»Tat, was haben Mama und du heute gesehen?«, fragte Genie, um die Anspannung zu lockern.

»Die Deutschen sind immer noch da, wenn du das meinst. Wir haben bekommen, was wir brauchten. Trotz dieser albernen Sterne. Ich musste in fünf Läden, um alles zu finden. Unerhört. Die Soldaten sagen auch die befremdlichsten Dinge. Wir haben gehört, wie sie davon sprachen, sie würden uns wegbringen. Als könnte das je passieren. Das ist gegen das Gesetz, und wir werden nirgendwo hingehen.«

»Henryk.«

»Entschuldige, Liebes. Keine Angst, Kinder. Die Deutschen lärmen bloß herum. Uns betrifft das nicht, abgesehen davon, dass wir ihre grässliche Musik hören müssen.«

»Tat!«

Sie lachten laut auf und hielten einander an den Händen, bis sie wieder nach oben konnten.

Immer noch saßen sie den ganzen Tag zu Hause, und Genie nutzte die Zeit zum Klavierspielen. Sie übte für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium, bestimmt würde für das Vorspiel ein neuer Termin festgesetzt werden. Seit einem Monat ging das jetzt so, und obwohl alle sagten, dass das Leben bald wieder normal verlaufen würde, war davon bisher nichts zu spüren. Es war einfach unglaublich.