Das Igel-Tagebuch - Sarah Sands - E-Book

Das Igel-Tagebuch E-Book

Sarah Sands

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Beschreibung

An einem regennassen Oktobernachmittag entdeckt Sarah Sands gemeinsam mit ihrem zweijährigen Enkel im Garten einen kranken Igel, den sie Peggy taufen und in eine örtliche Igelstation bringen. Als der Herbst in den Winter übergeht, sorgt sich Sarah nicht nur um den Gesundheitszustand des Igels, sondern vor allem um ihren pflegebedürftigen Vater. Während Sarah versucht, sich auf den nahenden Verlust gefasst zu machen, wird der kleine Igel zum Trostspender. Peggy geht es von Tag zu Tag besser, und sie weckt in Sarah den Wunsch, mehr über die faszinierende Spezies der stacheligen Insektenfresser zu lernen: zum Beispiel, dass ihre Körpertemperatur während des Winterschlafs auf nur zwei Grad sinkt und wie bedroht die Tierart wirklich ist. Je mehr Sarah über den Igel erfährt, desto mehr fühlt sie sich mit der Natur und mit ihrem Vater verbunden. ›Das Igel-Tagebuch‹ ist eine bewegende Geschichte über das Loslassen und den Trost, den die Natur und ein tierischer Gefährte uns spenden können. »Man erspürt im Text die Kraft, die es braucht, um gegen das befürchtete Ende eines Lebens anzuschreiben. Gleichzeitig wird man zu einer igelkundigen Leserin. Das ist wohltuend.« SWR KULTUR LESENSWERT

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und Sarah Sands sitzt am Pflegebett ihres Vaters und versucht, sich auf den Verlust gefasst zu machen. An einem dieser kalten Tage des langsamen Abschiednehmens findet Sarah gemeinsam mit ihrem Enkel einen kranken Igel im Garten, den sie Peggy nennen und in eine örtliche Igelstation bringen. Von Tag zu Tag geht es dem kleinen Tier besser. Sarah spürt, dass ihr der stachelige Gefährte Mut und Hoffnung gibt, und in ihr wächst der Wunsch, mehr über diese faszinierenden Geschöpfe zu erfahren. So findet sie heraus, dass die Körpertemperatur der Igel während des Winterschlafs auf nur zwei Grad sinkt und Dichter und Philosophen von der Spezies ganz fasziniert waren. Aber auch, wie bedroht die Tierart tatsächlich ist. Je mehr Sarah über Igel erfährt und Anteil an Peggys Schicksal nimmt, desto enger fühlt sie sich mit der Natur und mit ihrem Vater verbunden.

»Ein wunderschönes, bewegendes und sehr persönliches Buch, aber auch eines mit einer wichtigen Kernbotschaft, der Notwendigkeit, unsere Natur zu schützen.« DOUGLAS GURR, Direktor des National History Museums London

Sarah Sands, geboren 1961, ist eine britische Journalistin, die u.a. für den Daily Telegraph und die Daily Mail arbeitete sowie Chefredakteurin des London Evening Standards war. Zurzeit ist sie für Reader’s Digest und BBC Radio 4 tätig. Sie lebt mit ihrem Mann in Norfolk im Osten Englands.

Sofia Blind, geboren 1964, lebt als Autorin, Übersetzerin und Gärtnerin im Lahntal. Bei DuMont erschienen zuletzt ihre Bücher ›Die alten Obstsorten‹ (2020) und ›Historische Rosen‹ (2023). Sie übersetzt u.

Sarah Sands

DAS IGEL-TAGEBUCH

Über die Hoffnung undeinen stacheligen Gefährten

Aus dem Englischen von Sofia Blind

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel ›The Hedgehog Diaries. A Story of Faith, Hope and Bristle‹ bei New River Books, London.

© Sarah Sands, 2023

International Rights Management: Susanna Lea Associates on behalf of New River Books

E-Book 2024

© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Sofia Blind

Lektorat: Kerstin Thorwarth

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © old phone lino print/Pinterest

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1055-1

www.dumont-buchverlag.de

Zur Erinnerung

1

Wir finden einen Igel

An einem feuchten, matschigen Oktobernachmittag entdeckte mein zweijähriger Enkel einen dunklen, rundlichen Klumpen, der sich an unserem Teich in einem Netz verfangen hatte.

»Was ist das … Ding?«, fragte er mit seinem frisch erworbenen Vokabular. Er kannte mittlerweile Mäuse, Rehe und Füchse, aber angesichts dieses Wesens riss er seine Augen weit auf. Es war einzigartig. Es war ein Igel. Wir versuchten vorsichtig, ihn zu befreien, aber er zuckte nur ganz leicht. Es schien ihm nicht gut zu gehen. Ich sagte meinem Enkel, er solle ihn nicht anfassen, weil er pikse, und mein Mann holte einen Karton. »Pikst, aua«, sagte mein Enkel. Wir tauften den Igel Horace.

Mein Mann, Sohn eines Tierarztes aus Yorkshire, ist bemerkenswert unsentimental, was Tiere angeht. Wir haben keinen Hund – eher untypisch für ein Paar über sechzig, das nach dem Lockdown viel Zeit auf dem Land verbringt. Menschen, die ihre Hunde ausführen, behandeln uns manchmal mit herablassender Freundlichkeit und versichern uns, dass ihre feuchtäugigen Lieblinge keine Gefahr darstellten. Hin und wieder fragen sie sogar ganz unverblümt: »Wo ist Ihr Hund?«

Auch für meinen Lebenstraum, an den Stränden von Norfolk entlangzureiten, wird die Zeit allmählich knapp. Dieses Jahr habe ich es nur geschafft, an einem Kinderkurs zum Trab-Aussitzen teilzunehmen, bei dem mein schweres Kaltblut respektvoll hinter lauter Shetlandponys hertrottete.

Dennoch schmolz das Herz meines Mannes, als er den Igel sah. Woran lag das? Diese Kreatur war wie aus einer Tolkien-Geschichte: ein fremdartiges Wesen, das in Gefahr schwebt. Robust und gutherzig, aber in Bedrängnis.

Der Dichter Ted Hughes beschrieb in einem Brief an eine Freundin, wie er einen Igel entdeckte:

Ich hörte einen Tumult in der Hecke, und nach einer Weile kam ein Igel herausgewackelt, in bester Laune und offensichtlich auf Vergnügen aus. Ich dachte, er würde einen lustigen Gefährten für einen Abend abgeben, und nahm ihn mit ins Haus. Nach einer Weile bemerkte ich, dass er verschwunden war, und kurz darauf hörte ich ein Geräusch wie das Weinen eines kleinen Kindes, aber ganz leise, und es hörte nicht auf. Ich verfolgte es bis zu einem Stapel Kartons, und da lag mein Kamerad mit nassem Gesicht in einer Pfütze aus Tränen, die Nase in eine Ecke gedrückt, und schniefte und schnüffelte sich das Herz aus dem Leib. Ich hätte ihn aus lauter Anteilnahme küssen mögen. Ich weiß nicht, warum ich Igel so gerne mag.[1]

Die Laute der Igel scheinen den Menschen am meisten zu Herzen zu gehen – sie können quieken, zirpen, schnaufen, prusten, zischen und singen; allerdings erzählte eine Freundin, die einmal auf zwei sich paarende Igel stieß (es bleibt eine der großen wissenschaftlichen und zivilisatorischen Fragen, wie das funktioniert), sie habe sich gefühlt, als wäre sie in ein orgiastisches heidnisches Ritual hineingeplatzt.

Unser kleiner Igel gab keinen Laut von sich. Kim hob ihn vorsichtig mit beiden Händen hoch und legte ihn in den Karton, während ich Milch und Brot holte. Schon dieser eine Satz enthält drei grundsätzliche Fehler – wir hatten noch viel über Igel zu lernen.

Dann machte sich die Abstammung bemerkbar. Bei meinem Mann die vorangegangene Generation, beim Igel Jahrmillionen des Überlebens. Kim versuchte, anhand der Temperatur zu beurteilen, ob der Igel Winterschlaf hielt oder vorzeitig erwacht war, und schob den Karton näher zum Herd. Anschließend holte er einen Kamm und einen Krug warmes Salzwasser und entfernte sanft die Fliegeneier von den Augen des Igels. Mein Enkel schaute aus vorsichtiger Entfernung zu, in seiner Schutzkleidung aus Anorak und Gummistiefeln. Er hielt einen Zweig in der Hand, in der Hoffnung, ihn als eine Art Defibrillator nutzen zu können. »Jetzt piksen? Den Horace-Igel?«

Kim schüttelte den Kopf und sagte mit leiser Chirurgenstimme: »Ich fürchte, wir verlieren ihn.«

Er stand auf, runzelte die Stirn und schaute auf sein Telefon. Die Abenddämmerung rückte näher, ein weißer Lichtstreifen, niedergedrückt von einem bleigrauen Himmel. Die Bäume hatten die Blätter im Lauf der Woche an den Sturm verloren. Nur die beiden Wildapfelbäume, Geschenke meines Vaters, hielten sich tapfer in ihren rot-grünen Schottenkarofarben. Die Landschaft fröstelte. Um diese Tageszeit – wenn auch nicht in dieser Saison – sollte der Igel eigentlich überraschend zügigen Schritts auf dem Weg zu der Hecke aus kleinen Weißdorn- und Rosenbüschen sein, die wir gepflanzt hatten.

Unwissentlich hatten wir die idealen Bedingungen für Igel geschaffen. Als wir vor zehn Jahren in dieses Haus zogen, ersetzten wir den Tennisplatz durch eine Wildblumenwiese. Wir pflanzten Buchenhecken und Reihen von Obstbäumen und legten einen Schwimmteich an, mit einem Flachwasserbereich für Schilf und Seerosen. Die großen, offenen Getreidefelder hier in East Anglia sind keine Orte für Igel. Aber mit unserem Stück Land voller grasbewachsener Wege, Obstbäume, Dornenhecken und Laubhaufen hatten wir um Igel gebuhlt, ohne es zu merken. Und als schließlich einer angewackelt kam, in bester Laune, hatten wir ihm eine tödliche Falle in Form eines Teichnetzes gestellt.

Mein Mann telefonierte. Dann nahm er den Karton und stellte ihn ins Auto. Er erklärte, er bringe Horace ins Krankenhaus.

Ich lachte. Es gab keine Igel-Krankenhäuser, und niemand würde an einem Samstagabend einen Igel aufnehmen; insofern wäre es sicher das Beste, den Igel über Nacht zu behalten und abzuwarten, wie es ihm am nächsten Morgen gehen würde. Auch dieser Satz enthält drei gravierende Fehler.

Es gab ein Igel-Krankenhaus, das sich als Teil eines Netzwerks von Igel-Pflegern, Zieheltern, Aktivistinnen und Politikern entpuppte. Wer Erfahrung mit Igeln hat, weiß, dass man schnell handeln muss, wenn man einen kranken Igel retten möchte. Und ein kleiner Igel, der um diese Jahreszeit draußen herumläuft, stammt vermutlich aus einem späten Wurf und hat wenig Widerstandskraft.

Als ich entdeckte, dass es in Großbritannien eine kostenlose, vielgliedrige Sozialfürsorge für Igel gibt, bei der kein Igel abgewiesen wird, erkannte ich, wie tief diese Tiere in unserer Kultur, Literatur, Geschichte und Seele verwurzelt sein müssen. Kein anderer Ort der Erde hat ein so enges Verhältnis zu Igeln. Die Britische Gesellschaft zum Schutz der Igel, die von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie dem Ex-Model Twiggy Lawson und der Brexit-Politikerin Ann Widdecombe unterstützt wird, misst gesellschaftlichen Fortschritt am Grad der Igel-Freundlichkeit.

Es gibt Igel-Straßenschilder und Preise für Schulen und Universitäten, die besonders attraktiv und leicht zugänglich sind – für Igel. Es gibt eine igelfreundliche Fußballliga. Und es gibt süße Videos von Frau Tiggy-Wiggel beim Nestbau.[2]

Unser erster Anruf galt »Emma’s Hedgehog Hospital«, das gleichzeitig Emmas Zuhause ist und an einem Feldweg am Stadtrand von King’s Lynn liegt. Seine medizinischen Triumphe und Tragödien sind auf Facebook, Instagram, Google, Amazon und Paypal verzeichnet. Die Igel-Fangemeinde ist global und aktiv.

Mein Mann raste mit dem Auto hin und meldete sich per E-Mail bei mir: »Sie (Horace) ist erst vier bis sechs Wochen alt. Emma sagt, ich hätte beim Entfernen der Fliegeneier tolle Arbeit geleistet, aber untenrum gibt es noch Probleme, weil ein paar Larven schon geschlüpft und auf Erkundungstour sind. Also stehe ich hier und schaue zu, wie Emmas Partner – üppige Tattoos, dicke Knarren – mit der Pinzette die Larven abzupft und sie die Vagina mit warmem Salzwasser ausspült. Inzwischen wurde der Igel auf den Namen Peggy getauft: ›Hattie geht nicht, weil mir alle meine Hatties weggestorben sind‹, sagt Emma. Wir können Peggys – schnelle oder langsame – Fortschritte online verfolgen.«

Am nächsten Tag schickte Emma eine fröhliche Nachricht: »Danke, dass ihr sie zu mir gebracht habt. Sie hat über Nacht ein bisschen Gewicht verloren, aber das war nach der ganzen Spülerei zu erwarten. Ich hoffe nur, dass wir alle erwischt haben [zwei betende Emojis] und sie morgen zunimmt. Alles Liebe, Emma«.

Mein Mann verfolgte Peggys Genesung mit ironischem, aber intensivem Interesse. Er studierte die Gewichtskurven der Patientin; Peggy schien etwas hinterherzuhinken. Später erfuhr ich die offizielle Bezeichnung für ihre Krankheit: vaginaler Fliegenmadenbefall.

Ich war anderweitig beschäftigt. Im Herbst 2021 war mein 92-jähriger Vater wegen akuter Herzinsuffizienz ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich fuhr zu seinem Haus, um ein paar Sachen für ihn zu holen. Da stand sein Lieblingssessel, daneben ein Beistelltisch. Auf dem Tisch: seine Lesebrille, seine gefaltete Ausgabe der Times, seine Stapel von Büchern über Vögel oder klassische Musik oder die Kirche und sein Fernglas. Eigentlich eine Zusammenfassung seines Wesens. Ein BBC-Radiohörer alter Schule.

Der Sessel sah seltsam kahl aus ohne seinen Körperabdruck, denn er war immer aufgesprungen, wenn ich den Bungalow meiner Eltern betrat: »Hallo, Darling, wie wunderbar, dich zu sehen!«

In letzter Zeit war er unsicherer aufgestanden und hatte beim Gehen die Wände berührt, aber ich hatte mir nicht viel dabei gedacht. Außerdem trug er immer einen Schal, was mir angesichts seines Alters vernünftig vorkam, sich aber als bescheidene Vorkehrung gegen ein Rasseln in der Brust herausstellte.

Jeden Sonntag kam er zu uns zum Mittagessen, und als er eines Tages anrief, um mir zu sagen, er wolle diesmal lieber zu Hause bleiben, war ich zum ersten Mal beunruhigt. Lag es an seiner Brust? Ich brachte ihn in die Notaufnahme; er ließ sich mit wenig Getue und viel Dankbarkeit untersuchen, nahm ein paar Tabletten und kehrte wieder nach Hause zurück. Er war sich sicher, dass er in dieser Nacht besser schlafen würde. Zwei Tage später brach er zusammen, mit akuter Herzinsuffizienz und einer Lungenentzündung. Auf diesen Augenblick der Angst war keiner von uns gefasst gewesen; John Donne beschreibt ihn in einem seiner »Geistlichen Sonette«: »Aus Angst starr ich zu Boden unverrückt; / Verzweiflung droht von hinten, Tod von vorn«.[3]

Mein Vater verbrachte eine Woche im Krankenhaus. Wegen der Coronapandemie waren Besuche nicht erlaubt, und ich hinterließ jeden Tag kleine Briefchen für ihn, zusammen mit der aktuellen Ausgabe der Times. Welche Neuigkeiten sollte ich ihm berichten? Das Schicksal eines Igels kam mir genau richtig vor – nicht allzu ernsthaft, nicht allzu anstrengend, eine Geschichte der Genesung.

Nachricht von Emma: »Sie hat ein paar Tage lang abgenommen. Wurmbehandlung am 19. begonnen. Letzte zwei Tage 15 g Gewicht zugenommen [Applaus-Emojis].«

Auch die Nachrichten auf der Facebook-Seite ihres Igel-Hospitals waren ermutigend.

»Tag 3 von Berties Physiotherapie-Bädern. Was für eine wunderbare Art, den Tag zu beenden! Heute war ein wirklich schwerer Tag [eine Zeile Gebrochenes-Herz-Emojis, eine Zeile Weinendes-Gesicht-Emojis].« Ich musste abends sein hübsches Gesicht sehen und seine Stärke und Entschlossenheit spüren.

»PS: Wenn ihr jemals die Chance haben solltet, ein Lebewesen auszurotten, bitte wählt die Option ›Fliegen‹. Tschüss für heute, ich freue mich auf einen neuen Tag morgen. #hedgehogrescue, #sometimessouldestroying, #welcomethenewday, #whatdoesntbreakyoumakesyoustronger, #wishIhadamagicwand«

Meinem Vater ging es nicht so gut. Das Krankenhaus arbeitete mit Hochdruck. Ein Arzt erklärte am Telefon, das Herz lasse sich mit Medikamenten stabilisieren, aber mehr könne man nicht tun. Ein anderer Arzt führte es mir gestisch vor und pumpte mit den Händen nach innen und außen wie bei einem Akkordeon. So bewegt sich ein Herz. Dann zeigte er, wie sich ein Herz nach dem Versagen bewegt. So gut wie gar nicht. Wenn mein Enkel es sehen könnte, würde er es mit seinem Stock piksen, um zu prüfen, ob es sich bewegt.

Sie wollten ihn für weitere Tests dabehalten. Blut im Urin. Wasser in der Lunge. Sie hatten ihn gefragt, ob er mit einem »Nicht wiederbeleben«-Schild am Fußende seines Betts einverstanden wäre. Nicht so schnell. Dad wollte am Leben bleiben. Er schüttelte den Kopf: Nein, nein. Sein Kampf ums Überleben war jetzt eine Willensfrage.

Vor fast acht Jahren hatte sich mein Vater einer Herzoperation unterzogen, die sein Leben angeblich um fünf Jahre verlängern würde. Wir leben alle von geborgter Zeit, aber das Herz meines Vaters hatte sein Verfallsdatum bereits um drei Jahre überschritten.

Damals fand ich ihn auf der Intensivstation hinter einem Vorhang, verkabelt und atemlos. Bald sei Schluss mit dem Gepiepe und den grellen Lichtern, sagte ich ihm. Es würde wieder Beethoven und Vogelgezwitscher geben. Er dürfe wieder hinaus in die Welt. Diesmal wusste ich nicht, ob ich ein solches Versprechen halten konnte.

Die Pfunde, die er dem Schicksal zu verdanken hatte, fielen von ihm ab. Sein Hemd war schlabberig, die Hosen zu weit.

Ich hörte von den Ärzten – darunter mein eigener Cousin – eine Formulierung, die den Weg zu einem Todesfall ebnen soll, ohne allzu brutal und plötzlich zu klingen: »Vielleicht hat er noch ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate.« Wir wanderten in das finsterste Tal.

Ich dachte an die Worte des Philosophen Roger Scruton: »Liebe ist eine Beziehung zwischen Dingen, die sterben.«[4] Alles an meinem Vater, der nur noch ein Schatten seiner selbst war, wirkte neu belebt. Sein weißes Haar, sein jungenhafter Eifer, seine Redewendungen, seine Schals, sein freundliches Wesen. Sein Freund, der örtliche Pfarrer, sagte über meinen Vater, sein ausgeprägtester Charakterzug sei Bescheidenheit. Diese sollte sich als sein wichtigster Überlebensfaktor erweisen.

Wir beschlossen, ihn in einem Pflegeheim unterzubringen, damit wir ihn besuchen durften. Im Krankenhaus würde er höchstwahrscheinlich alleine sterben, in einem Chaos aus Corona-Notfällen. Ich recherchierte Heime in der Nähe und fand eines, das von einer geduldigen, praktisch veranlagten ehemaligen Krankenschwester geleitet wurde. Sobald mein Vater angemeldet war, fuhren meine Schwester und ich ins Krankenhaus, um ihn abzuholen. Er hatte weiter abgenommen und saß angezogen, aber hohläugig und unrasiert in einem Rollstuhl. Eine Woche im Krankenhaus ist eine lange Zeit.

Eine Krankenschwester, die wegen Personalmangel in Doppelschichten arbeitete, half uns, ihn ins Auto zu setzen. Wie viele andere hatte ich in der Pandemie eine Lektion gelernt: den Wert menschlicher Anteilnahme.

»Komme ich wieder nach Hause?«, fragte mein Vater. Ich hatte keine klaren Antworten, keine Versprechungen. Wir unterhielten uns über den Frühling, als Metapher für Hoffnung. Und um das ehrliche Schweigen zu füllen, erzählte ich von Peggys erstaunlicher Genesung. Emma hatte geschrieben, sie habe zugenommen und sei auf dem Weg zu einer Pflegefamilie. Gemeinschaftliche Sozialfürsorge. Unsere Tochter schickte ein Bild von einem Igel auf der Rückbank eines Autos – mit Sicherheitsgurt.

Manchmal ist es einfach leichter, über Igel zu reden. Einer Freundin von mir dienten sie als Mittel, um den eigenen Schmerz zu lindern und dem Sohn näher zu sein, den sie geliebt und verloren hatte. Jane wird in verdienter Ausführlichkeit in einem späteren Kapitel auftauchen; ihr Sohn Felix starb an Meningitis, während er mit Freunden in den Ferien war. Im einen Moment spielte der Teenager auf dem Rasen Cricket, im nächsten fühlte er sich ein wenig unwohl, und dann war er unrettbar krank. Jane und ihr Ehemann Justin schufen ein Vermächtnis der Nächstenliebe, indem sie überschüssige Lebensmittel, die sonst von Supermärkten und Restaurants weggeworfen werden, zu bedürftigen Menschen bringen. Vielleicht haben Sie die knallgrünen Lieferwagen mit dem »Felix«-Logo schon einmal gesehen, mit denen Freiwillige in London herumfahren.

Unmittelbar nachdem Felix gestorben war, konnte Jane noch nicht an Vermächtnisse denken. Sein Tod war so plötzlich, so unvorstellbar, dass sie aus der Bahn geworfen wurde. Nichts ergab mehr einen Sinn. Die normalen Rhythmen und Freuden des Lebens hatten keine Bedeutung. Nach einigen Monaten schwärzester Dunkelheit fand Jane ein Thema, mit dem ihre eierschalenzarte Seele zurechtkam. Sie konnte nicht arbeiten, sie konnte keine Gesellschaft ertragen, aber sie konnte sich um Igel kümmern. Weil Felix das getan hatte.

Sie besuchte mich, als ich noch Chefredakteurin des Evening Standard war, um mir von einem Plan für Igel-Schnellstraßen zu erzählen. Ich weiß noch, dass ich sie für ihre Tapferkeit bewunderte, überhaupt für irgendetwas Interesse aufzubringen. Begleitet wurde sie von einem Experten namens Hugh Warwick, der mir sehr nett vorkam. Damals war mir nicht klar, dass ich mit dem David Attenborough der Igel-Welt sprach.

An einem Oktobernachmittag fand ich einen Igel und entdeckte eine ganze Gemeinschaft von Igel-Begeisterten, ein System der Sozialfürsorge und eine leidenschaftliche Randgruppe von Freiwilligen, die von eher traditionellen Igel-Schützern vorsichtig beäugt werden. Und ich fand heraus, dass sich Poesie wie Philosophie, Menschen des Glaubens wie Menschen im Krieg dem Igel zuwenden – als einem Symbol für Unschuld, Rätselhaftigkeit, politische Zielstrebigkeit, Mut, Friedfertigkeit und Ausgeglichenheit.

Als ich Philip Larkins Gedicht »Der Mäher« las, verstand ich, warum es mir so wichtig wurde, Peggy zu retten.

Ein Mäher stockte, zwei Mal: Niederkniend fand ich

einen Igel, in die Messer eingeklemmt,

tot. Er war im hohen Gras gewesen.

Ich hatte ihn gesehen, gar gefüttert.

Nun hatte ich seine bescheidene Welt zerfleischt,

unrettbar. Begraben half nichts.

Am nächsten Morgen wachte ich auf, er nicht.

Die neue Abwesenheit am ersten Tag nach einem Tod

ist immer gleich: Wir sollten aufeinander

achten und freundlich sein,

solang noch Zeit ist.[5]

Dieses Buch ist allen gewidmet, die Igel lieben. Und es ist meinem Vater gewidmet, der über den Winter weiter abnahm; wir kämpften darum, ihn bis zum Frühling zu behalten.

2

Igel und wie sie die Welt sehen

Die Pandemie war für Menschen schwierig. Ein Stresstest für Führung, Logistik, Gemeinschaft, Globalismus. Sie warf die Frage auf, wie wir leben sollten und für wen oder was.

Den Igeln erging es weitaus besser, auch deshalb, weil sie keine sozialen Wesen sind wie wir. Sie sind nachtaktiv und verlassen sich auf ihren Geruchssinn und – in geringerem Maße – auf ihr Gehör, um das Leben zu interpretieren. Anders als die familienorientierten Dachse suchen Igel keine Gesellschaft, nicht einmal die ihresgleichen. Die Paarung ist ein ausgeklügelter, theatralischer Sonderfall, auf den keine Beziehung folgt. Beide tun auf sehr britische Weise so, als wäre nichts passiert.

Der Erste, der die Lebensklugheit des Igels entdeckte, scheint der altgriechische Dichter Archilochos gewesen zu sein. »Der Fuchs weiß viele Dinge«, schrieb er, »aber der Igel weiß eine große Sache.«

Zweitausend Jahre später erklärte Isaiah Berlin in seinem berühmten Essay Der Igel und der Fuchs die philosophische Bedeutung dieses Satzes. »Es besteht nämlich eine tiefe Kluft zwischen denen, die alles auf eine einzige, zentrale Einsicht beziehen, auf ein mehr oder weniger zusammenhängendes oder klar gegliedertes System, im Rahmen dessen sie verstehen, denken und fühlen – ein einziges, universales, gestaltendes Prinzip, das allein allem, was sie sind und sagen, Bedeutung verleiht –, und auf der anderen Seite denen, die viele, oft unzusammenhängende und sogar widersprüchliche Ziele verfolgen, die, wenn überhaupt, nur in einem faktischen Zusammenhang stehen, aus irgendeiner psychologischen oder physiologischen Ursache und nicht kraft eines moralischen oder ästhetischen Prinzips.«[6]

Als Studienobjekt wählte er Leo Tolstoi, der sehr gerne ein Igel sein wollte, obwohl ihn seine Kunst in Richtung Fuchs führte: »[Tolstoi nahm] die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt, als eine Sammlung von getrennten Gegebenheiten wahr, die er mit einer Klarheit und Eindringlichkeit überblickte und durchschaute, wie sie kaum je ihresgleichen hatten, aber er glaubte nur an ein großes, einheitliches Ganzes.«

Tolstoi predigte ein einfaches Leben mit klaren Zielen; er war auf der Suche nach einer geeinten Vision jenseits der individuellen Erfahrung. Er sprach eher von der Wurzel eines Baumes als von den Blättern. (Was ist falsch an Blättern? Für Igel sind sie viel interessanter.)

Er glaubte an die Wissenschaft und sah die Geschichte daher als Summe faktischer menschlicher Erfahrungen, stellte aber auch die Frage: Wessen Geschichte?

Das heroische Geschichtsbild neigt zur Überbewertung von Macht; dabei haben wir einen Großteil dessen, was unser Leben besser macht, Menschen zu verdanken, die nicht auf Ruhm aus sind. Die Pandemie war ein typisches Beispiel. Sie öffnete uns die Augen für die Menschen, die das Land in Gang hielten, statt für die, die es lenkten. Die Entstehung von Gewerkschaften, von Rechten für die Arbeiter, ist eine Verneigung vor Tolstoi, der immer für die Arbeiterschaft und gegen die herrschende Klasse Partei ergriff. Man kann nach der Weisheit des Igels leben, und Institutionen sind aus ihr entstanden.

Isaiah Berlin schreibt: »Diejenigen, die sich an ihre gewöhnliche Arbeit machten, ohne heroische Gefühle zu zeigen oder zu glauben, daß sie Akteure auf der hellerleuchteten Bühne der Geschichte waren, haben ihrem Land und ihrer Gemeinschaft den größten Nutzen gebracht, während die, die den allgemeinen Gang der Dinge zu begreifen und an der Geschichte teilzunehmen suchten, (…) am nutzlosesten waren.«

Als langjährige Journalistin habe ich die politischen Gefechte aufmerksam verfolgt, insbesondere in der Brexit-Phase als Chefredakteurin der BBC-Nachrichtensendung Today



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