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“Das ist nur eine Phase. Oder?" ist eine Frage, die sich viele Eltern stellen, wenn sie mit der Sucht ihres Kindes konfrontiert werden. Wie es bei mir war und wie meine Mutti damit umgegangen ist, erfährst du in diesem Buch. Mit persönlichen Anekdoten, erschütternden Rückschlägen und schlussendlichen Triumphen zeige ich, wie tief der Kampf gegen die Sucht geht und wie lebensverändernd der Weg in eine echte Freiheit sein kann. Gespickt mit Momenten des Glaubens und der Hoffnung bietet dieses Buch nicht nur praktische Ratschläge, sondern auch eine tiefe emotionale Verbindung für diejenigen, die sich mitten im Sturm befinden.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
14-15 Jahre: Unschuldige Anfänge
15-16 Jahre: Tiefer in den Strudel
17-21 Jahre: Der Sog der Sucht
21-23 Jahre: Erste Hoffnungsschimmer
"Ich muss hier weg" - Auswandern in die Schweiz
Die Bar
Eine harte Landung
Ein neues Leben
Ausdauer
Rückfälle sind menschlich
Ruthy - Ein unerwartetes Geschenk
Hoch und Tief so nah beieinander
Epilog - Erkenntnisse und Gedanken
Danke
Ruben Deckwerth
Das ist nur eine
Phase, oder?
Meine Geschichte über Sucht,
Hoffnung, Glaube und der Weg, in eine echte Freiheit
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Ruben Deckwerth
Co-Autorin: Elke Deckwerth
Lektorat: Ines Rameder
Cover-Design: "Mr. Josh", Theo Wasserberg
Fotos Front-Cover: Ben Flumm
Foto Back-Cover: Astrid Marquardt
Verantwortlich
für den Inhalt: Ruben Deckwerth
Gerlisbrunnenstraße 15a
CH-8121 Benglen
E-Mail: [email protected]
Website www.nureinephase.ch
ISBN: 9783759221995 (eBook)
Hallo. Mein Name ist Ruben Deckwerth und ich bin 36 Jahre alt, während ich diese Worte verfasse. Es freut mich sehr, dass dir dieses Buch in die Hände gefallen ist. Ob du es bewusst gekauft hast oder ob es dir von einem Freund oder einer Bekannten empfohlen wurde, spielt dabei keine große Rolle. Vermutlich hat dich die Zusammenfassung auf der Rückseite angesprochen und neugierig gemacht.
Vielleicht wurde dir das Buch aber auch empfohlen, weil du als Mutter oder Vater eine Tochter oder einen Sohn hast, die oder der gerade eine schwierige Lebensphase durchmacht und mit der Situation überfordert ist. Du liebst dein Kind so sehr, verstehst aber überhaupt nicht, was in ihm vorgeht. Du hast es mit Strenge versucht, du hast es mit Liebe versucht, aber nichts bringt es dazu, sich zu öffnen, dir zu vertrauen und mit dir über seine Probleme zu sprechen, geschweige denn irgendetwas in seinem Leben zu ändern, zumindest was den Gebrauch oder Konsum von Suchtmitteln betrifft.
Oder vielleicht bist du selbst das Kind, die Tochter oder der Sohn, vielleicht gerade im Teenageralter – wow, Hut ab, dass du dich schon für solche Lebensgeschichten interessierst. Oder vielleicht bist du schon ein junger Erwachsener? Du hast viele Fragen im Leben, die dir niemand beantworten kann? Du machst eine Phase durch, die du dir selbst nicht erklären kannst, die dich eher runterzieht als aufbaut, und Perspektivlosigkeit bestimmt dein Leben? Geschichten wie diese gibt es viele. Aber jede Geschichte ist einzigartig. Vielleicht spricht meine Geschichte gerade dich an, weil viele Punkte Parallelen zu deinem Leben oder deiner Situation aufweisen. Meine Geschichte ist sicher kein Allheilmittel und wird dir nicht alle Fragen des Lebens beantworten. Aber vielleicht kann sie dir als Elternteil helfen, dein Kind besser zu verstehen, oder auch dazu beitragen, dass du in dich hineinhörst, nachdenkst und dich selbst besser verstehst. Oder vielleicht kann sie dir auch einfach nur Mut machen, sodass du danach etwas mehr Hoffnung hast.
Was auch immer der Grund ist, warum du dieses Buch liest, ich hoffe du kannst etwas Positives aus meiner Geschichte ziehen.
Als ich nach rechts blickte, sah ich ein kleines, vergittertes Fenster. Vor dem Fenster ein festmontierter Tisch mit einer ebenfalls verschraubten Sitzbank. Mir gegenüber ein Doppelstockbett aus kaltem Metall. Links ein kleiner offener Raum ohne Tür, in dem sich die Toilette befand. Alles nur zwei bis drei Meter von mir entfernt. Auf der linken Seite die massive Stahltür, die hinaus auf den Gefängnisflur führte, durch dessen kleine Klappluke dreimal täglich Essen und ein paar Zigaretten gereicht wurden.
Wie weit würde ich noch abstürzen? Konnte es noch schlimmer werden? Selbst in den Nächten vor ein paar Monaten, als ich am Bahnhof übernachtet hatte, hatte ich mich freier gefühlt. Wo war er hin, der liebe, nette Junge, den alle so mochten? Was hatte ihn in diese trostlose Zelle verschlagen? Längst war er verschwunden, betäubt von irgendwelchen Substanzen. Tief vergraben, mutlos, verzweifelt, sich selbst verleugnend, nur dem nächsten Wohlfühlmoment nachjagend, rastlos umherirrend. Tiefer ging es wohl kaum noch.
Leise hörte ich mich sagen: „Wenn es dich wirklich gibt, dann komm in mein Leben.“ So saß ich da, mit dem Rücken an die kalte Gefängniswand gelehnt, in meiner beengten Zelle. Kurz nachdem ich diesen Satz ausgesprochen hatte, verlor alles um mich herum seine Bedeutung. Dass ich mich tatsächlich in einem Gefängnis befand, schien plötzlich keine Rolle mehr zu spielen. Eingesperrt auf unbestimmte Zeit. Nachts die verzweifelten Schreie eines psychisch schwer gestörten Mitgefangenen. Täglich eine Stunde an die frische Luft. Duschen vielleicht alle drei Tage, wenn überhaupt. Doch etwas hatte mich zutiefst berührt, als ich jenen Satz voller Verzweiflung, aber auch voller Aufrichtigkeit ausgesprochen hatte. Ein vollkommener Friede erfüllte mich. Nichts hatte mehr Bedeutung als dieser Augenblick. Eine solche Freude, ein solches Gefühl von Wärme, Liebe und grenzenloser Freiheit hatte ich trotz dieser wirklich trostlosen Umstände noch nie verspürt. Oder doch?
Mutti: Bis zur siebten Klasse warst du immer im vorderen Drittel. Dass du auf dem Gymnasium richtig bist, stand für uns außer Frage. Aber schon in der neunten Klasse gingen die Zensuren in den Keller. Ich bekomme bei der Arbeit – Volksbank Gartenstraße – einen Anruf von deinem Direktor. Es ist dringend. In seinem Büro erfahre ich, dass du auf der Schultoilette mit Cannabis erwischt wurdest. Die Schule hat Anzeige erstattet. Kurze Zeit später erhältst du eine Vorladung bei der Staatsanwaltschaft wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Diesmal begleitet dich Horst, dein Papa und es geht noch einmal glimpflich aus. Du sollst vor allem den Dealer nennen. Es war Richard, den du schon seit der Kindergartenzeit kennst. Wir denken, dass dir das alles ziemlich unangenehm war und dass du die nötigen Lehren daraus gezogen hast. Die nächsten Schuljahre verlaufen unspektakulär. Deine Freunde sind Skateboard-Fahrer und die Leute aus dem Jugendkreis und dem Jesus-Camp. Es gibt für uns also keinen Grund zur Beunruhigung, wenn du mal später nach Hause kommst. Manchmal kommen nach der Jugendstunde noch Freunde von dir mit zu uns, besonders im Sommer verbringt ihr manche Stunden bis Mitternacht im Garten. Ansonsten sind wir froh, dass du scheinbar kein besonderes Interesse daran hast, nachts unterwegs zu sein. Als zum Beispiel einige deiner Freunde an einem Abend gegen 23:30 Uhr bei uns klingeln und nach dir fragen, liegst du schon im Tiefschlaf.
Welches Alter ist besser geeignet, um langsam, aber sicher eine Rebellion zu starten? Rebellion kann in ganz unterschiedlichen Formen stattfinden. Nicht, dass ich je eine aufbrausende Persönlichkeit gehabt hätte. Nach außen hin habe ich nie versucht, anzuecken. Stattdessen richtete ich alle negativen Gefühle immer nach innen. Möglichst alle unangenehmen Situationen zu vermeiden, war die Devise. Und die coolen Jungs zu beeindrucken und jeden Blödsinn mitzumachen, war mein Motto. Zu der Zeit standen Jackass und Skateboarden hoch im Kurs. Wir versuchten damals, alle möglichen wilden oder ekeligen Szenen nachzuspielen, was nicht selten zu Verletzungen führte. Zu Hause hingegen wurde der brave Junge gemimt. Möglichst jedes negative Gefühl oder jede schlechte Stimmung musste vermieden werden oder durfte gar nicht erst existieren. Es war immer alles gut. Zumindest glaubte ich, dass es so sein müsste und gab nach außen hin vor.
Seit ich denken konnte, stellte ich mir die großen Fragen des Lebens und interessierte mich kaum für das aktuelle Leben. Vor allem die Frage nach dem Sinn beschäftigte mich sehr: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Macht Schule Sinn? Es musste doch eine andere, spannendere Wahrheit geben als jene, die mir meine Eltern und die Kirchengemeinde vermitteln wollten. Mein damaliges Leben, in dem ich nie ich selbst sein konnte, konnte jedenfalls nicht die Antwort sein. Aber wie sollte ich diese Fragen beantworten, wo ich doch selbst nicht wusste, wer ich war? Jeden Sonntag ging ich zur Kirche und freitagabends zur Jungschar, einer Teenagergruppe, bei der wir immer „vernünftigen“ Beschäftigungen nachgingen und natürlich über Gott oder Jesus redeten. Das Einzige, was mir das Gefühl gab, cool zu sein, war, dass ich bei den Mädels sehr beliebt war, was mir eine gute Portion weibliche Anerkennung einbrachte. Ich war schon immer der liebenswürdige, nach außen hin fröhliche und konfliktscheue Junge, der immer alles richtig zu machen schien. Aber innerlich mochte ich mich gar nicht. Denn zu den coolen Jungs gehörte ich nicht, und die einzigen Kids, die mich cool fanden, waren die Kirchenkids, bei denen ich gar nicht cool sein wollte. Trotz meiner liebevollen und behüteten Kindheit, oder vielleicht gerade deswegen, wollte ich ausbrechen. Aber darüber offen zu reden und somit Konflikte zu riskieren, kam für mich nicht infrage. Und so begann ich langsam, aber stetig, heimlich jene Dinge zu tun, die meine Eltern nie gutgeheißen hätten. Wer tat das auch nicht? Doch für mich fühlte sich alles Negative oder jeder Fehler so an, als würde mir der Kopf dafür abgerissen werden. So lernte ich nie, mit Konflikten umzugehen, sondern führte ein Doppelleben. Allerdings lag es entweder an meiner Dummheit oder an der guten Spürnase meiner Eltern, dass das meiste, was ich so anstellte, immer aufflog. Vieles lernte ich von meiner Schwester. Mit circa fünf Jahren Vorsprung war sie in vielerlei Hinsicht ein Vorbild für mich. Sie trieb es sicher nie so weit wie ich, aber sie wusste auf jeden Fall besser, wie man Dinge geheim hält. Schon in jungen Jahren bemerkte ich, welche extremen Musikrichtungen sie hörte und die scheinbar gefährlichen Gegenstände, wie Butterfly-Messer oder Nunchakus mit einem Hammerkopf, die sie in ihren Schubladen aufbewahrte. Wenn Mutti und Vati das gewusst hätten. Und dann war da noch ihr Freund, ein Punk. Dieser Einfluss kam natürlich größtenteils aus ihrem Umfeld. Meine Schwester und ihr damaliger Freund, den sie schon mit 12 Jahren kennenlernte, sind heute übrigens seit knapp 20 Jahren verheiratet, was die beiden immer noch zu großen Vorbildern für mich machen.
Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie ich versuchte, doch einmal ehrlich zu meinen Eltern zu sein. Vielleicht, um einfach nur die Grenzen zu testen, was meine Mutti wohl auf die Frage antworten würde: „Mutti, was würdest du davon halten, wenn ich mal ausprobieren würde zu kiffen?“ Ich muss ehrlich gestehen, ich kann mich nicht einmal mehr an ihre Antwort erinnern. Sicher war sie nicht sehr erfreut darüber. Aber innerlich wusste ich genau, dass die Frage nur rhetorisch gemeint war und ich sie als Ausrede benutzen konnte, um später zu sagen: „Ich habe doch versucht, es euch zu sagen.“
Die ersten zwei Jahre auf dem Gymnasium waren geschafft und ich kam in die neunte Klasse. Unsere Schule wurde komplett umgebaut, weshalb wir für ein halbes Jahr in einem provisorischen Schulgebäude unterrichtet wurden. In diesem Schulgebäude dauerte es nicht lange, bis ich von einem guten Bekannten, mit dem ich schon in der Kinderkrippe im Sandkasten gespielt hatte, ein wenig „Shit“, also Haschisch, angeboten bekam und auch kaufte. Zigaretten hatte ich zu dem Zeitpunkt schon eine ganze Weile geraucht. Davidoff war die Zigarettenmarke meines Vertrauens. Ich glaube, die Schachtel kostete damals noch um die drei Euro. Bei einer Klassenfahrt in der siebten oder achten Klasse hatten wir außerdem einmal Vanilletee in Zigarettenpapier gedreht und versucht zu rauchen. Die Ambitionen, auf Cannabis umzusteigen, waren also schon sehr früh vorhanden.
Eines Tages war es dann so weit. Vati war auf der Spätschicht und Mutti bei der Chorprobe unserer christlichen Gemeinde, was mir ein paar Stunden sturmfrei bescherte. Somit ging ich in unseren Katzenstall. Als ich noch kleiner gewesen war, hatten wir dort Kohlen gelagert. Und wie der Name schon sagt, hausten dort immer unsere Katzen, denen ich ab und zu ein paar Brekkies klaute und aß. Diesen Abend sollte ich aber meine erste Bong-Erfahrung machen. Dazu benötigt man zwei Plastikflaschen. Von einer Flasche schnitt ich den Boden ab und von der anderen den Hals, sodass man sie ineinanderstecken konnte. In die Flasche mit dem abgeschnittenen Hals kam Wasser. Auf die andere wurde ein Aluhut mit Löchern gesteckt, der in den Flaschenhals ragte und in dem man die Tabak-Haschisch-Mischung anzündete. Während des Anzündens zog ich die Flasche hoch, damit sich der entstehende Rauch in den zwei Flaschen sammelte. Ich war schon ein bisschen nervös. Obwohl meine Eltern weg waren, hatte ich Angst, erwischt zu werden. Schließlich lebten Oma und Opa auch mit uns im Haus und hätten eventuell kurz herauskommen können, um ihren Kater Peter zu rufen. Ich setzte also an, nahm das Feuerzeug, zündete die Tabak-Haschisch-Mischung an und zog. Da ich ja schon Zigaretten rauchte, hatte ich mit dem dichten Rauch aus der Bong keine Mühe. Ich zündete die Mischung ein zweites Mal an und zog. „Hm.“ Nichts passierte. Irgendwie hatte ich mir den Effekt anders vorgestellt. Aber alles, was sich einstellte, war ein schlechtes Gewissen. Klar wusste ich schon vorher, dass es nicht gut war, weder gesundheitlich noch für meinen guter-Junge-Status. Aber hatte ich das schlechte Gewissen nur wegen meiner Eltern? War es, weil andere Erwachsene, ob in der Schule, der Gemeinde oder der Jungschar, vor solchen Dingen gewarnt hatten? Egal. Mir war es wirklich egal. Unterbewusst musste ich unbedingt diesen Weg gehen und meine eigenen Erfahrungen sammeln. Heraus aus dieser behüteten Umgebung. Die andere Seite kennenlernen. Meinen Weg finden. Und nicht den Weg, den meine Eltern, die Gesellschaft, die Schule und die Kirche von mir erwarteten.
Dieser Weg der Rebellion war durch meine Harmoniebedürftigkeit und den Wunsch, immer allen zu gefallen, dazuzugehören und bloß keine Konflikte zu verursachen, wahrscheinlich von Anfang an zum Misserfolg verurteilt.
Obwohl ich bei dieser ersten Kiffer-Erfahrung nichts spürte – was bei mir bei fast allen Substanzen, bis auf Alkohol, der Fall war – wollte ich nicht aufgeben. Ich kann mich an die nächsten Versuche nicht mehr erinnern, aber ich lernte immer mehr Leute kennen, mit denen ich dieses Hobby teilte und weiter betrieb. Parallel führte ich nach wie vor mein unschuldiges Leben weiter. Meine Eltern wussten natürlich nichts von meinen Aktivitäten, ahnten vermutlich aber schon sehr früh etwas. Ich spielte weiterhin Trompete in unserem Posaunenchor in der Gemeinde.
Da sich auch meine nächtlichen verbotenen Ausflüge, bei denen ich mich aus dem Haus schlich, häuften, hatte ich am Wochenende meist nur wenig Schlaf, wenn ich jeden Sonntagmorgen mit in die Kirche ging. Eines Morgens kam ich nach einem 24-Stunden-Schwimmbadfest, das mit Drogen und Alkoholkonsum untermalt wurde, gegen 4:30 Uhr nach Hause. Ich wusste, dass ich spätestens gegen 8:00 Uhr aufstehen mussten, da unser Posaunenchor bei einem Gottesdienst in einer anderen Stadt spielte. Der Anfang des Gottesdienstes war ganz okay. Ich saß mit dem Chor wie immer ganz vorne, genau gegenüber den Gottesdienstbesuchern. Doch da die Predigt mich so „brennend“ interessierte und die Nachwehen der letzten Nacht recht stark waren, siegte auf einmal die Müdigkeit. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie ich wieder aufwachte, anscheinend rechtzeitig bei Predigtschluss. Zu erwähnen ist, dass der Posaunenchor meist ganz vorn sitzt und spielt, genau im Blick der der Gottesdienstbesucher. Auf jeden Fall setzte ich also zum ersten Lied nach der Predigt an, schaute noch einmal hinüber zu meiner Nachbarin und stellte fest, dass ich vor all den Leuten ein ganzes Lied verschlafen haben musste, ohne von den lauten Trompeten um mich herum etwas mitbekommen zu haben. Niemand hatte mich angestupst oder versucht, mich zu wecken. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Aber komischerweise sprach mich niemand darauf an, nicht einmal meine Eltern. War es ihnen genauso peinlich oder hatten sie es schlicht und einfach nicht mitbekommen?
So gingen ein paar Monate ins Land. Mein Musikgeschmack änderte sich von christlichen Pop-Songs zu aggressiven, vulgären Hip-Hop-Beats. LMS (Lutsch mein Schwanz) von Kool Savas oder Arschficksong von „Die Sekte“ mit Sido und B-Tight waren nur zwei davon. Auch Slipknot und andere extreme Bands wurden interessant für mich. Mittlerweile ging ich freitags nicht mehr zur Jungschar, sondern zum Jugendkreis, sozusagen der nächsten Stufe des Kirchenprogramms für Heranwachsende. Im Sommer gab es immer wieder ein Sommercamp, das sogenannte Jesus-Camp, bei dem sich sieben oder acht Tage lang Teenager aus verschiedenen Regionen trafen. Ich glaube, es waren circa 30 oder 40 junge Leute aus allen Ecken von Berlin und Brandenburg. Dort lernte ich ein paar Jungs kennen, die auch Gras dabei hatten. „Geil“ dachte ich. Christlich und gleichzeitig cool zu sein, schien doch irgendwie zu funktionieren. Alkohol war für mich nie richtig attraktiv. Ich hatte zwar schon öfter etwas getrunken, aber nie einen stärkeren Rausch erlebt. Eines Abends jedoch besorgten wir uns Cola und Goldkrone, die wir natürlich stahlen. Die anderen tranken relativ gemäßigt, aber ich musste es völlig übertreiben. Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, dass ich die halbe Nacht quer über den Zeltplatz meiner Angebeteten im Camp nachweinte, die mir zuvor einen Korb gegeben hatte.
Ich war so sehr auf der Suche. Aber wonach? Ich schaffte es einfach nicht, das verlockende Leben da draußen mit all seinen verführerischen Reizen mit dem braven christlichen Leben unter einen Hut zu bringen. Ich hatte keine Ahnung, wer ich war oder wer ich sein wollte. Auf der einen Seite war da der Frieden, den wir zu Hause hatten und den mir meine Eltern vermitteln wollten. Auf der anderen Seite war die Welt da draußen aber auch gemein und voller Lügen. Wenn man in der Schule nur einmal Schwäche zeigte und sich in eine Opferrolle drängen ließ, passierte es immer wieder. Und trotzdem wollte man dazugehören. Zu den augenscheinlich coolen Jungs, die wissen, was sie wollen. Wie oft sagte ich mir, dass ich nie wieder etwas mit ihnen zu tun haben wollte. Aber wenn mich einer von ihnen nach der Schule anrief und sich immer wieder entschuldigte, „es war ja alles nicht so gemeint“, verzieh ich ihnen doch jedes Mal sehr schnell. Vor allem, weil ich doch wieder dazugehören wollte.
Mutti: Im April 2002 fliegen wir nach Israel – es ist unsere Silberhochzeitsreise. Als wir wieder zurück sind, erfahren wir, dass du diese Zeit dazu genutzt hast, abends länger von zu Hause wegzubleiben. Du warst wohl in der Disco in der Stadt. Aber wir nehmen das zunächst nicht besonders ernst. Obwohl sich eine gewisse Enttäuschung nicht verdrängen lässt. Warum musstest du das hinter unserem Rücken ausprobieren?
Dein Zeugnis zum Schuljahresende der zehnten Klasse ergibt einen Durchschnitt von etwa 3,4. Trotz Nachhilfe in Mathe kommt eine 4 zustande. Das ist für uns nicht recht nachvollziehbar. Im folgenden Jahr lässt deine Lernbereitschaft mehr und mehr nach, ein Gespräch mit den Lehrern hinterlässt Ratlosigkeit bei uns. Rauchen,coole Sprüche, absolutes Desinteresse – wie kann das nur sein? Ostern 2003 kommst du das letzte Mal mit zum Gottesdienst, die Jugendstunden nutzt du schon seit einer Weile vor allem als Sprungbrett in die Nacht. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse: Wir finden in deinem Zimmer eine Wasserpfeife – für uns unbekannte Tabakkräuter – und stellen dich zur Rede. Du weichst immer nur aus. Hanf und Hanfprodukte werden immer wichtiger. Neue Freunde tauchen auf, den alten gehst du aus dem Weg. Wir finden Bilder von Hanna in deinen Schulsachen – wer ist Hanna? Deine Heftführung ist eine Katastrophe. An den Wochenenden bist du Tag und Nacht weg. Du schaffst die elfte Klasse nicht. Und was jetzt?
Es gibt keine Alternative – eine Wiederholung der elften ist das Beste ...
Die Ferien verlaufen haarsträubend. Du bist manchmal tagelang nicht da, und wir haben keine Ahnung, wo du dich herumtreibst. Wir rechnen mit dem schlimmsten: Polizei, Drogen, Kriminelles. Kommst du nach Hause, haben wir hundert Fragen, aber du antwortest eher ausweichend. Wir sind fix und fertig. Wir hoffen immer noch, dass das nur eine kurze Phase ist, ein böser Traum.
Und so ging mein Leben mit 15 und 16 Jahren weiter, bevor ich in die elfte Klasse kam, um mein Abitur zu machen. Es stellte sich heraus, dass meine Intelligenz nicht mehr ausreichte und ich mich nicht mehr so einfach durchs Schulleben mogeln konnte. Ich hätte tatsächlich anfangen müssen, zu lernen und in der Schule aufzupassen. Aber meine Einstellung der Schule bzw. generell dem Leben gegenüber, gepaart mit meinem negativen Lebenswandel, hatte sich nicht geändert, sondern eher verschlimmert. Und somit wurden meine Noten immer schlechter. Auch die zehnte Klasse hatte ich nur gerade so geschafft. Oft hatte ich eine kleine Bong im Rucksack und rauchte entweder schon vor dem Unterricht oder zwischendurch, in den Pausen. Im Biologieunterricht erwähnte ich einmal, dass es nur eine Pflanze gäbe, die mich interessierte. Das nahm die Lehrerin tatsächlich mit Humor.
Ich würde die elfte Klasse garantiert nicht schaffen. War mir das egal? Eigentlich nicht. Denn das Gefühl, immer alles richtig machen zu müssen, war sehr stark in mir verankert. Aber etwas dagegen unternehmen oder meine Eltern vorwarnen? Ganz sicher nicht. Ich versuchte so lange wie möglich, das gute Bild von mir aufrechtzuerhalten, das aber durch meine nächtlichen Touren am Wochenende und die regelmäßige Heimkehr mit roten Augen längst getrübt war.
Meine Schwester lebte schon seit circa zwei Jahren nicht mehr bei uns. Sie war mit ihrem damaligen Freund und heutigen Ehemann zusammengezogen.
Wir hatten eine mäßig gute Beziehung, als wir jünger waren. Ich war eher das lästige Anhängsel, das oft mit ihrer Clique mitzog. Es war einfach viel cooler, mit den Älteren rumzuhängen, die meist aus unserer Nachbarschaft und Bekanntschaften von früher waren. Meine Schwester verstand es schon immer, den von unseren Eltern vorgegebenen Rahmen sehr zu dehnen oder sogar zu sprengen. Ich pflege zu sagen: „Meine Eltern gaben mir Wurzeln und meine Schwester die Flügel.“ Spätestens, als sie ihren Freund kennenlernte, war es mit der braven, Gitarre spielenden, Kindergottesdienst-Mitarbeiterin unserer Gemeinde vorbei. Ich weiß nicht genau, welche Fragen sie im Leben hatte, aber sie bekam die wichtigen Dinge am Ende trotzdem auf die Reihe. Ich bin auch nicht sicher, wie sehr sie sich meinen Eltern offenbarte und mit ihnen über ihre Probleme sprach. Jedenfalls war sie es, die mich das erste Mal mit 14 Auto fahren ließ. Sie war in dem Moment die Coolste für mich, da wir zum ersten Mal zusammen etwas Verbotenes taten. Wie schon erwähnt, war ihr Freund damals in der Punk-Szene, was natürlich auch ein wenig auf sie abfärbte – zumindest in puncto Musik- und Kleidungsstil.
Seit dem Tag ihres Auszugs hatten wir eine bessere Beziehung. Vielleicht lag es daran, dass ich ihr nicht mehr pausenlos auf die Nerven ging. Eines Tages, als ich sie besuchte, fand ich heraus, dass sie auch ab und zu kiffte. Das steigerte ihr Ansehen bei mir natürlich nochmals und gab mir gleichzeitig eine Art Bestätigung, dass dieser Weg nicht so falsch sein konnte.
Das Schuljahr ging langsam dem Ende entgegen und es war klar, dass ich die elfte Klasse hätte wiederholen müssen. Hätte. Für mich war damit das Bild, das ich glaubte, nach außen hin abzugeben, komplett zerstört. Das konnte einfach nicht sein. Statt eines Gymnasiums die Real- bzw. Mittelschule zu besuchen, kam für mich nicht infrage. Das passte einfach nicht in das Bild, das ich von mir selbst hatte oder dachte, haben zu müssen. Es musste alles perfekt sein, keine Probleme, keine Anstrengungen, keine Konflikte. Woher das kam? Keine Ahnung. Diese tief verwurzelte Vorstellung von mir und meinem Leben macht mir selbst heute noch zu schaffen, obwohl ich viel dazugelernt habe und zu wissen glaube, wie die Welt funktioniert und wie ich funktioniere.
Umso mehr musste ich damals meine Sorgen im Konsum von Drogen ertränken. Es blieb zu diesem Zeitpunkt allerdings immer nur bei Cannabis. Alkohol trank ich ab und zu auf Partys, aber generell sprach er mich als „Lösungsmittel“ nicht besonders an.
Irgendwann waren die Sommerferien zu Ende und ich hätte wieder in die Schule gehen müssen. Das ließ ich aber aus Gründen der Scham und der immer noch vorherrschenden Sinnlosigkeit bleiben. Ich machte meinen Eltern klar, dass ich nicht mehr in die Schule gehen würde und erstmal irgendwo arbeiten wollte, um Geld zu verdienen. Damit waren sie natürlich überhaupt nicht einverstanden, was nur mein Gefühl bestätigte, sowieso alles falsch zu machen. Auch wenn wir kaum über meine Probleme sprachen, wussten sie sehr gut, was in meinem Leben vorging. Sie kannten natürlich nicht meine innersten Gefühle, Fragen oder Ängste. Diese konnte ich noch nicht einmal selbst benennen. Sie sahen aber die Auswirkungen, mein Verhalten ihnen gegenüber, meinen Konsum und mein soziales Umfeld, das sicher nicht besser wurde. Und natürlich bereitete ihnen das alles große Sorgen, die mit dem Schulabbruch einen Höhepunkt erreichten.
Mutti: Zum Ende der Ferien gibst du uns zur Kenntnis, wie deine Entscheidung lautet: keine Schule mehr. Du willst jobben gehen, bei einer Sanierungs- und Abrissfirma. Du meldest dich in der Schule ab. Die folgenden Monate verlaufen so: Ab und zu gehst du für ein paar Tage zur Arbeit, in Leipzig, Frankfurt, Cottbus ... Die übrige Zeit bist du irgendwo mit irgendwem. Für uns bedeutetdas schlaflose Nächte. Wir schweigen uns ohnmächtig an, eine Lösung scheint nicht in Sicht. Was können wir unternehmen, um einen Richtungswechsel zu erzwingen? Noch bist du nicht volljährig, können da nicht irgendwelche Behörden eingreifen? Wir sprechen beim A-S-Familienwerk vor. Ohne deine Einwilligung können wir nichts machen. Aber du willst nichts ändern. Sollen wir dir zu deinem 18. Geburtstag den Stuhl vor die Tür setzen? Würde das bei dir etwas bewirken? Je näher dein Geburtstag kommt, desto absurder erscheint uns dieser Entschluss.
Mit knapp 17 Jahren lernte ich meine damalige Freundin kennen. Mit ihr sollte ich circa fünf Jahre zusammenbleiben. Sie war knapp zwei Jahre jünger als ich und ging auf dasselbe Gymnasium, auf dem ich auch vorher gewesen war. Kennengelernt hatten wir uns allerdings im Kreisi, der damals einzigen Diskothek in unserer Stadt. Ich war zu dieser Zeit immer noch der coole Hip-Hopper und Skater. Dass sie ebenfalls ab und zu Gras rauchte, war natürlich ein großer Vorteil. Allerdings war sie, durch ihre Familiensituation, schon sehr früh sehr selbstständig und erwachsen und wusste vor allem, was sie wollte. Dass ich zu diesem Zeitpunkt keinen Job und keine Ausbildung hatte, störte sie nicht. Wir waren jung und verliebt und es würde schon alles gut werden.
Ziemlich bald wurde ich dann 18 und zur Feier des Tages probierte ich zum ersten Mal chemische Drogen, genauer gesagt Ecstasy. Wie auch zuvor beim Cannabis, spürte ich beim ersten Mal jedoch nichts. Ich glaube, wir gingen mit ein paar Freunden ins Kino. Danach zog ich mit einem Kumpel noch weiter und probierte Amphetamine. Diese spürte ich allerdings sehr stark, und wir waren die ganze Nacht wach und zogen, im wahrsten Sinne des Wortes, einfach nur um die Häuser. Das Gefühl gefiel mir sehr. Mit besagtem Kumpel war ich ein paar Mal auf Montage für eine Abrissfirma. Oft haben wir uns irgendwo in den abzureißenden Gebäuden versteckt und mehr gekifft als gearbeitet. Das verdiente Geld ging zu 90 % für Drogen drauf. Der Rest für Zwei-Euro-Döner. Die Arbeit war nie sehr regelmäßig, sodass wir zwischendurch tage- bzw. wochenweise immer genug Zeit dafür hatten.
Mit der neuen Form der Drogen veränderte sich auch mein Freundeskreis immer mehr. Die meiste Zeit war ich immer noch Hip-Hopper, rappte mit einigen Kumpels und trat in Freestyle-Rap-Battles gegen andere an, wobei ich einige Male auch sehr erfolgreich war. Auf der anderen Seite gab es die Tekkno-, Freetekk- oder Techno-Szene, die mir durch die Art der Musik und natürlich die Art der Drogen sehr gefiel. Ich suchte mir schon immer die Personen, mit denen ich verkehrte, nach meinen Wünschen und Gefühlen aus, die befriedigt werden mussten. Echte Freundschaften kannte ich nicht und hatte ich nie zu führen gelernt. Ich hing also immer mit denen herum, die mir gerade passten. Meine Freundin war hingegen eine Konstante in meinem Leben. Allerdings wurde diese Beziehung immer schwieriger. Die Zeit lief damals noch langsamer und ein oder zwei Jahre kamen einem als junger Mensch ewig vor. Langsam, aber sicher wurde meine Freundin ungeduldig. Ich hatte immer noch keine Ausbildung oder jegliche Perspektiven, und auch mein vermehrter Drogenkonsum blieb nicht unbemerkt. Das führte dazu, dass ich mich auch von ihr zunehmend distanzierte, mich zurückzog, um den Konflikt zu meiden und nicht zu merken, wie ich sie immer mehr vernachlässigte.
Ich jagte weiterhin einem Gefühl der Zufriedenheit, der permanenten Harmonie und den mit möglichst einfachen Mitteln zu erreichenden Glücksgefühlen hinterher. Irgendwie schaffte ich es nicht, zu lernen, dass Probleme, Konflikte und unangenehme Gefühle zum Leben gehören. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich nicht, dass dies eines meiner größeren Probleme war. Wer ist auch mit 18 oder 19 schon so selbstreflektiert? Also ging es weiter talwärts.
Irgendwann während dieser Zeit machte ich meinen Führerschein. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir mit der Fahrschulklasse ein Wochenende im Harz verbrachten, um die Pflichtstunden für Autobahn- und Überlandfahrten abzuhaken. Wir sind viel gefahren. Was ein Kumpel und ich an diesem Wochenende aber garantiert nicht taten, war schlafen. Wir hatten uns zwar in den Theoriestunden schon ein paar Mal gesehen, lernten uns aber erst am Freitagabend beim Kartenspielen so richtig kennen. Wir teilten uns ein Zimmer und kamen irgendwann auf das Thema Drogen, woraufhin er mir eine Dose voll mit Amphetaminen zeigte. Somit konnte das Wochenende so richtig starten. Autofahren konnten wir wie eine Eins, und ich erinnere mich noch daran, wie wir am Sonntag von Süden in Richtung Dresden mit über 200 km/h über die Autobahn rasten. Der Fahrlehrer nahm es ziemlich locker und ich fühlte mich, als würde ich fliegen.
In diesem Zeitraum begann auch die Spielsucht, Einzug in mein Leben zu halten. Ich kann mich noch genau an das erste Mal erinnern, als ich mit einigen Kumpels in der Spielothek war. Ich selbst spielte nicht, aber einer meiner Kumpels steckte zwei Euro in den Automaten und gewann durch mehrmaliges Drücken auf die Starttaste auf einmal 80 Euro. Das Konzept war mir nicht ganz unbekannt, aber live zu sehen, wie jemand mit so wenig so viel gewann, faszinierte mich sehr schnell. Es passte natürlich hervorragend in mein eigenes Lebenskonzept, mit wenig oder keiner Leistung viele positive Gefühle zu erzeugen. Und so sollte auch ich vom Erfolg, am Automaten etwas zu gewinnen, nicht verschont bleiben. Wann und wie viel das war, weiß ich nicht mehr genau. Es muss aber auf jeden Fall passiert sein, sonst wäre ich nicht so lange drangeblieben und die Spielsucht würde mich nicht bis heute begleiten. Ich kann mich an die einzelnen Gewinne, bis auf ein paar Ausnahmen, heute nicht mehr erinnern. Aber mit Sicherheit erinnere ich mich an keinen einzigen Verlust. Woran ich mich am besten erinnere, ist dieses warme Gefühl, komplett fernab der Realität zu sein, aufgeputscht durch Amphetamine oder andere Drogen wie Crystal oder Kokain und eine Gewinnserie. Dieses Gefühl konnte einem nichts in der normalen Welt geben und durch nichts ersetzt werden. Die Zeit war egal, es gab keine Probleme, keinen Hunger, keine schlechten Gefühle, kein Gewissen, niemand meckerte. So konnte ich Stunden, ja sogar Tage verbringen. Es war egal, wie viel ich gewonnen hatte, solange ich nur weiterspielen konnte.
Natürlich funktionierte das nur, solange ich Geld hatte. Und hier kommen wir zum nächsten Problem: Ich hatte immer noch keine Arbeit oder Ausbildung. Nur eine Bäckerlehre, die ich nach drei Monaten wieder abbrach. Ich machte die Nächte meistens durch, weil ich um 3:30 Uhr morgens anfangen musste zu arbeiten. Der Chef war ein Schreihals, und so widersprach diese Beziehung komplett meinem Bedürfnis nach Harmonie. Wie kam ich also an Geld? Ich fing an, nach und nach erst meine Eltern und später meine Großeltern zu bestehlen. Und somit war ein weiterer Tiefpunkt in meinem Leben erreicht.
Ich befand mich in einem nicht enden wollenden Teufelskreis. Natürlich wusste ich, dass es falsch war, was ich tat. Egal in welcher Hinsicht. Von der scheinbar nicht existierenden Beziehung zu meinen Eltern und der immer schlechter werdenden Beziehung zu meiner Freundin, die, nebenbei bemerkt, schon sehr lange mit mir und meinem Verhalten durchhielt, über mein Versagen in der Ausbildung und die Enttäuschung meiner Eltern, dass ich nichts mehr mit dem Glauben zu tun haben wollte, bis hin zu den Drogen und der Spielsucht, die mich immer weiter an Tiefpunkte trieben, die ich in noch mehr Spielen und noch stärkerem Drogenkonsum ertränkte. Dazu kam, dass mich die Frage nach dem Sinn in meinem Leben immer wieder sehr belastete. Und niemand konnte mir die Frage beantworten, weil ich auch nie jemanden danach fragte.