Das lange Schweigen - Nikolaus Münster - E-Book

Das lange Schweigen E-Book

Nikolaus Münster

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Beschreibung

Arnold Münster, der Vater des Autors, wird 1935 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, da er eine kommunistische Widerstandsgruppe anführte. In diesen acht Jahren erlebt er Demütigungen, Folter und menschenunwürdige Bedingungen. Ausgerechnet dieser Mann verliebt sich später in Lilly Curtius, die bereits ein Kind mit einem nationalsozialistischen Klinikdirektor hat. Arnold steht zwar auf der richtigen Seite der Geschichte, doch er misstraut der jungen bundesrepublikanischen Demokratie. Seinen Kindern gegenüber ist er kühl und distanziert. So herrscht im Hause Münster ein ohrenbetäubendes Schweigen. Nach Arnolds Tod im Jahr 1990 werden Historiker auf seine Rolle im Widerstand aufmerksam. Der Autor entdeckt einen umfassenden Nachlass. Dieser enthüllt einen neuen Blick auf den Vater: ein zerrissener, traumatisierter, intellektueller Mensch tritt zum Vorschein. Das Leben von Arnold Münster und seiner Familie gibt einen sehr persönlichen Blick auf den Nationalsozialismus und die widersprüchliche Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Seitenzahl: 202

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Ebook Edition

Nikolaus Münster

Das lange Schweigen

Zwischen Widerstand und Lebenshunger

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-86489-874-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2023

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Lektorat: Philipp Hadermann

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel

Zwei gegensätzliche Charaktere: Der Widerstandskämpfer und die Wegseherin

Teil I Arnold

Ausgerechnet der Sohn des Landgerichtspräsidenten

Das katholische Münster – kein guter Boden für die Nazis

Der Musiker und Forscher

Von Frankfurt nach Münster – Umzug unter Kriegsbedingungen

Ein leeres Blatt als Schulaufsatz

Lebenshunger und radikale Politik

Die Widerstandsgruppe – Flugblätter und Verhaftungen

Vor Gericht: Ich war mir meiner Handlungsweise voll bewusst

Demütigungen im »Zuchthaus der Hochverräter«

Die Zwangssterilisierung droht

Die Eltern kämpfen – von der Gauleitung bis zur Kanzlei des Führers

Im Klingelpütz: Selbstmorde und Hinrichtungen

Eine Verzweiflungstat – die Meldung zum Fronteinsatz

Bekenntnisse zu Volk, Vaterland und Führer?

»Umerziehung« durch körperliche Arbeit

Himmlers Gnadenerlass und Bewährungsbataillon 999

Teil II Lilly

Die Kindheit von Lilly Curtius – rauchende Schlote und Arbeiteraufstände in Oberschlesien

Lillys Studium – dem Leben zugewandt

Lillys verehrter Mentor Ludwig Curtius

Die Liebe ihres Lebens – ein nationalsozialistischer Klinikdirektor

Teil III Arnold und Lilly

Hochzeit in rauchenden Trümmern

Kriegseinsatz in Griechenland – Dauermärsche und Hunger auf dem Rückzug

Ein harter Rückschlag: Die Amerikaner beschlagnahmen die Wohnung

Die Täter inszenieren sich als Opfer

War Himmlers Mitarbeiter Arnolds Lebensretter?

Der Kriminalbiologe Dr. Franz Kapp: Zwischen Hafterleichterung und Rassenlehre

Eine wissenschaftliche Blitzkarriere

Neuanfang in Amerika?

Elternglück und Ehekrise

Die Leitung des Metall-Labors

Der Bruder Clemens als Publizist und Fernsehdirektor

Der Lebenshunger nach dem Krieg

Die alten Netzwerke bestehen fort

Der Mantel des Schweigens in der Schule

Träume mit 50 Jahren: Paris und Kultur

Emeritierung

Der Lebenskreis schließt sich: Beethoven und Dante

Das große Schweigen

Lillys Lebensabend

Nachbemerkung

Dank

Anmerkungen

Teil I: Arnold

Teil II: Lilly

Teil III: Arnold und Lilly

Literaturliste

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Für Thomas

9. Oktober 1948 – 23. Februar 2015

Zwei gegensätzliche Charaktere: Der Widerstandskämpfer und die Wegseherin

Lilly ist ein Knaller, eine wahrlich besondere Frau. Sie versteht sich als emanzipiert und tut viel dafür, ihren eigenen Weg zu gehen. Stärke zeigen und sich auch gegenüber ­dominanten Menschen zu behaupten, das beherrscht sie hervorragend. Schwäche – ihre eigene und die der anderen – verachtet sie. In dieser Hinsicht ist sie von der nationalsozialistischen Geisteshaltung der Dreißiger- und Vierzigerjahre geprägt. Als sie sich im zarten Alter von 88 Jahren einen Oberschenkelhalsbruch zuzieht, wehrt sie sich zunächst heftig dagegen, mit dem Krankentransport ins Hospital gefahren zu werden. »Die paar Schritte werde ich ja wohl noch selber gehen können. Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn ich hier rausgetragen werde!« Typisch Lilly.

Ihr fester Wille, die Freuden des Lebens unbedingt auszukosten, lässt sie stets als selbstbewusste Frau agieren. Der klaren Ansage ihres Vaters, heiraten dürfe sie erst, wenn das Studium abgeschlossen sei, entzieht sie sich, indem sie ein möglichst kurzes Studium wählt und Kieferorthopädin wird. Für Politik interessiert sie sich nicht. Von den Gräueltaten und dem Terror der Nazis will sie nichts wissen. 1940 bekommt sie einen unehelichen Sohn von einem führenden nationalsozialistischen Frauenarzt. Der Kindsvater verspricht ihr, sie zu heiraten, lässt dem aber keine Taten folgen, da seine Frau einer Scheidung nicht zustimmt. Eine schwierige Situation für Lilly: unverheiratet und ein uneheliches Kind.

Ihren Gegenpart und Ehemann findet sie drei Jahre später in Arnold Münster, der im Widerstand war und acht Jahre Zuchthaus verbüßt hat. Der Dominanz des starken Ehemannes widersetzt sie sich. Sie betreibt zielstrebig eine kieferorthopädische Praxis, die jedoch erst in den Sechzigerjahren so erfolgreich ist, dass sie von ihrem Mann wirtschaftlich unabhängig wird, nicht mehr um das Haushaltsgeld verhandeln muss und sich sogar ein eigenes Auto kaufen kann, einen lindgrünen VW-Käfer. Ein deutliches Zeichen ihrer Unabhängigkeit.

Ihr ganzes Leben lang versucht sie, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Ihre unbändige Lebenslust und Neugier bewahrt sie sich bis ins hohe Alter. Noch mit Ende 80 unternimmt sie auf eigene Faust eine Autoreise nach Polen. Schnittige Sportcoupés erfreuen ihr Herz, attraktiven Männern ist sie nie abgeneigt, und die wöchentlichen Mittagessen mit ihrer besten Freundin Annelies bei dem Nobel-Italiener in der Frankfurter Innenstadt sind legendär. Das Personal begrüßt die beiden betagten Frauen stets mit italienischem Charme: »Buon giorno! Die schönsten Frauen Frankfurts.« Sie nehmen die Empfehlungen des Tages, zu denen stets eine Flasche Schampus und ein italienischer Weißwein hervorragend passen. Beschwingt von köstlichem Essen, angeregter und lästernder Unterhaltung und ein wenig beschwipst verlassen sie dann das Lokal und schwingen sich in ein Taxi – dem Mittagschlaf entgegen.

Lilly weiß immer, was gut und was fein ist: Champagner, Hummer und Kaviar. Kein runder Geburtstag ohne diese Insignien der gehobenen Gesellschaft. Um dem kleinen, acht Jahre jüngeren Bruder Hans auch im fortgeschrittenen Alter einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben, schenkt sie ihm zu seinem 70. Geburtstag eine große Dose Kaviar. Dass er diese mit seiner Familie teilt und nicht alleine verspeist, verübelt sie ihm als kleinbürgerliches Verhalten.

Von starken Persönlichkeiten lässt sie sich gerne faszinieren. Der Vater ihres ersten Sohnes ist der charismatische Leiter der Heidelberger Frauenklinik, ihr Mann Arnold eine herausragende wissenschaftliche und kulturelle Persönlichkeit. Sie liebt die polternde Art des Literaturkritikers Reich-Ranicki und besucht gerne seine Vorträge. Obwohl immer treue CDU-Wählerin, nimmt sie nach dem Tod ihres Mannes Arnold an Kundgebungen mit Joschka Fischer – dem damaligen Spitzenkandidaten der Grünen – teil und lässt sich begeistern.

Von Kindesbeinen an ist Lilly es gewohnt, mit hochgestellten Persönlichkeiten zu verkehren. Sie liebt das und versteht sich darin auch sehr gut. Sie geht bei der Familie des Generaldirektors der Bismarckhütte ein und aus, sie verkehrt auf Empfehlung des von ihr verehrten Onkels Ludwig Curtius in den Gelehrtenkreisen der Heidelberger Universität und nach dem Krieg besteht der Freundeskreis von Arnold und Lilly aus herausragenden Wissenschaftlern und Führungskräften der Wirtschaft.

Großen Wert legt sie darauf, sich zu verhalten, comme il faut. Diese Karte spielt sie gerne und sie ist eine Meisterin darin, im richtigen Moment den richtigen Satz zu platzieren. Als kulturliebende und gebildete Frau verfügt sie über ein breit gefächertes Wissen und ein ebensolches Halbwissen – mit beidem hantiert sie sehr geschickt. Ihr selbstbewusstes Auftreten ist aber auch begleitet von einer gewissen Bescheidenheit. Anerkennung oder Lob kann sie gar nicht verknusen.

Um ihr eigenes aufregendes Leben macht sie nie viel Aufhebens und erzählt darüber kaum etwas. Wir Söhne werden lediglich mit einem Strauß von Anekdoten abgespeist, die die Verhältnisse nicht erklären, sondern eher mystifizieren. Auf das Drängen von uns hin schreibt sie dann doch im hohen Alter einige Seiten nieder, mit deren Hilfe sich manche Zusammenhänge herstellen und klären lassen.

Arnold ist ein Kopf. Analytisches Denken vor allem in der Naturwissenschaft und Musik ist seine Leidenschaft. Sein Gedächtnis lässt Bewunderung aufkommen, wenn er ein Gedicht nach ein- bis zweimaligem Lesen auswendig rezitieren kann. Er hat ein aufbegehrendes stürmisches Temperament und bewegt sich zwischen krankheitsbedingter extremer Zurückgezogenheit und ausschweifendem Leben. Tiefe Depression und überschwängliche Lebenslust sind ihm beide vertraut. Als Student entscheidet er sich nach einer kurzen Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) für die kommunistischen Ideale und den Widerstand gegen das Hitlerregime. Es folgen 1935 die Verhaftung fast der gesamten Widerstandsgruppe und für ihn acht Jahre Zuchthaus unter dramatischen Umständen. Dank der Begnadigung durch SS-Führer Heinrich Himmler überlebt er diese Zeit, muss aber anschließend noch in den Krieg ziehen. Vor seinem Einzug zur Ausbildung für das berüchtigte Bewährungsbataillon 999 trifft er in Frankfurt auf Lilly. Der Mann aus dem Widerstand verliebt sich nach acht Jahren Zuchthaus in eine Frau, die Judenverfolgung und Kriegstreiberei des Naziregimes ignoriert und ein Kind von einem nationalsozialistischen Frauenarzt hat, der führend mit der Umsetzung des Sterilisationsgesetzes von 1933 befasst ist. Er bittet Lilly um ihre Hand. Die Hochzeit findet 1944 in den rauchenden Trümmern Frankfurts statt.

Die Zeit im Zuchthaus kann ihn nicht brechen, aber sie hinterlässt ihre Spuren. Er bedeckt sie mit Schweigen, und dafür hat er viele Gründe. Nur zu gut weiß er, dass viele ehemalige Nazis in Dienst und Würden sind, mit ihren Netzwerken Macht ausüben und Menschen aus dem Widerstand weiterhin bekämpfen. Nach dem Krieg macht er eine steile Karriere als Naturwissenschaftler. Gleichzeitig ist er nun begierig, die Freuden des Lebens auszukosten, die ihm die verlorenen Jahre in Gefangenschaft und Krieg vorenthalten haben. Er liebt Lilly sehr, ist aber gut aussehenden Frauen gegenüber stets aufgeschlossen. Seinem dominanten, autoritären Charakter kann Lilly meist erfolgreich die Stirn bieten. Sie ordnet sich nicht unter. Uns Kindern gegenüber nimmt er die Position des strengen, prinzipientreuen Vaters ein, der keinen Zweifel an seiner Autorität zulässt. Sein Lieblingsspruch lautet: »Quod licet Jovi, non licet bovi!« – »Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Rindvieh noch lange nicht erlaubt!«

Auch wenn er die Zurückgezogenheit in seiner wissenschaftlichen Arbeit und seinem Klavierspiel mag, kann er in gesellschaftlichem Rahmen zu einer einnehmenden, geistvollen und charmanten Persönlichkeit aufblühen.

Er der große Denker und zu allem entschlossene Mann des Widerstands – sie die lebensfrohe Wegseherin, deren große Liebe ein Nazi-Frauenarzt ist. Diese Extreme kommen in den Kriegszeiten zusammen, lieben sich und meistern ein langes gemeinsames Leben. Von diesem Leben, von den menschlichen Dramen und den Glücksmomenten haben wir als Kinder und Jugendliche bis auf einige Rahmendaten wenig gewusst. Recht strikt haben die Eltern und insbesondere Arnold zwischen der kleinen Kinder- und der großen Erwachsenen-Welt getrennt. Wichtige Überlegungen, Planungen und Ereignisse gingen die Kinder nichts an. Die Vergangenheit wurde verdrängt und verschwiegen. Kaschiert wurde das mit aus dem Zusammenhang gerissenen Anekdoten, die mehr verdunkelten als erhellten.

Das konsequente Fernhalten aller bedeutenden Familienthemen hatte bei uns Brüdern mit der Zeit dazu geführt, dass wir weniger nachgefragt haben, weniger neugierig wurden und uns mit der Situation abgefunden haben. Als junge Erwachsene haben wir unsere Eltern dann doch wieder bedrängt, ihre Erinnerungen niederzulegen. Unser primäres Interesse galt der Widerstandsgeschichte Arnolds. Was hatte ihn dazu bewegt, wie hat er acht Jahre Zuchthaus unter den Nazis überlebt, wie dachte er später darüber? Von seiner bewundernswerten wissenschaftlichen Karriere hatten wir keine Kenntnis, weshalb sie uns wenig beschäftigte. Aber wir ahnten auch, dass sich hinter den Anekdoten Lillys viel verbarg, was der Überlieferung wert ist. Wie ist sie in Bismarckhütte aufgewachsen, wie hat sie die Scheidung ihrer Eltern erlebt, was für eine Persönlichkeit war eigentlich der von ihr immer verehrte Onkel Ludwig Curtius und welche Rolle spielte er für sie? Wie hat sie über die Nazis gedacht und wie hat sie sich in dieser Zeit verhalten? Was hatte es mit dem Vater unseres Halbbruders auf sich?

Aussicht auf Antworten auf diese Fragen gab es für uns nicht. Erst nach dem Tod von Lilly kam der Nachlass mit vielen Dokumenten auf uns zu. Ihn zu bearbeiten, erschien bei voller Berufstätigkeit zunächst unmöglich. Erst als zwei Wissenschaftler grundlegende Fakten über Arnolds Widerstand und seine wissenschaftliche Karriere zusammengetragen hatten und ich in Ruhestand gegangen war, öffnete sich das Tor zu einer vertieften Aufarbeitung. Es war ein aufregender Prozess, sich mit den Eltern auseinanderzusetzen und auch zu sehen, wie ihr Schicksal mit zahlreichen Personen der Zeitgeschichte verwoben ist. Die Familienhistorie gewährt durch die Protagonisten zudem einen persönlichen Blick auf große historische Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts: zwei Weltkriege, den Naziterror, die industrielle Massenvernichtung von Millionen von Menschen sowie den Wiederaufbau eines Landes und einer demokratischen Gesellschaft.

Teil I Arnold

Ausgerechnet der Sohn des Landgerichtspräsidenten

Am Abend des 31. Januar 1935 dringt die Geheime Staatspolizei (Gestapo) von Münster in das Elternhaus von Arnold Münster in der Heerdestraße 7 ein, um ihn zu verhaften. Seine Eltern fallen aus allen Wolken. Sie wissen nicht, dass Arnold die »treibende Kraft und Seele des hochverräterischen kommunistischen Unternehmens in Münster« ist, wie es der Bericht der Gestapo später formulieren wird. Der 23-Jährige habe einzelne Zellen dazu bewegt, namhafte Geldbeträge für den Ankauf eines modernen Roto-Matrizendrucker zu stiften und er habe Schulungskurse eingerichtet, in denen er Vorträge über den Kommunismus gehalten habe.1 In Arnolds Zimmer stößt die Polizei auch auf seine Verlobte, die 16 Jahre alte Annemarie Heuß. Die Gestapo bescheinigt ihr eine »vollständige Verwahrlosung in moralischer und sittlicher Beziehung«.2

Zur gleichen Zeit werden 20 weitere Verdächtige festgenommen. Von ihnen werden 17 Beschuldigte überführt, seit dem Sommer 1933 beziehungsweise Anfang Januar 1934 fortgesetzt in »hochverräterischer Weise« tätig gewesen zu sein. Vor dem Hintergrund des katholischen Milieus in Münster heißt es bei den Gestapobeamten, welche die Widerstandsgruppe verhaften, freudig, dass man nun »ein Exempel für das schwarze Münster« statuieren könne. Das Vorgehen gegen Staatsfeinde eigne sich als abschreckendes Beispiel und Warnung an die Adresse des politischen Katholizismus. Als Ziel wird daher auch ausgegeben, »Defätisten und Kommunistenfreunde« im katholischen Milieu aufzuspüren und ihnen den Prozess zu machen.3

Die Verhaftung von 17 Widerstandskämpfern und ihre umgehende Verurteilung zu sehr hohen Haftstrafen von bis zu acht Jahren erregen in Münster großes Aufsehen. Arnolds Vater Rudolf, seit 17 Jahren Landgerichtspräsident in Münster, meldet sich umgehend krank und wird wenige Monate vor seiner Pensionierung aus seinem Beruf gedrängt. Neben Arnold erhält nur Heinrich Hartmann eine achtjährige Zuchthausstrafe, da er ebenfalls als führender Kopf der Gruppe eingestuft und zudem seine frühere Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) als strafverschärfend gewertet wird.

Ein unbescholtener Chemie-Student aus einer angesehenen, traditionsreichen Familie soll eine Schlüsselfigur einer Widerstandsgruppe sein? Ausgerechnet der Sohn des Landgerichtspräsidenten? Vor diesem familiären Hintergrund hat niemand Arnold eine solche Aktion zugetraut. Bei der Gestapo war er vorher nicht einschlägig bekannt. Bis dahin ist dort lediglich aufgefallen, dass Arnold die Hakenkreuzfahne nicht grüßt und den Hitlergruß ablehnt. Doch dies konnte auch seiner tiefgläubigen katholischen Familie geschuldet sein.4

Walter Rest, Schulfreund und Kommilitone von Arnold sowie ebenfalls verurteiltes Mitglied der Gruppe, beschreibt die Reaktionen in Münster nach dem Krieg in den Frankfurter Heften:

»Da er [Arnold] der Sohn einer sehr exponierten katholischen Akademikerfamilie war, wurde der Vorfall zu einem Stadtgespräch erster Ordnung. Hier ist nun wieder besonders bemerkenswert, dass die gesamte Bürgerschaft, die im Grunde antinationalsozialistisch gesinnt war, mit starken Moralindosen über jenen unglücklichen jungen Mann‘ herfiel, der – aus so guter Familie! – sich mit der KPD hatte einlassen können. Wie war das nur möglich?«

Walter Rest kritisiert zu Recht, dass die Widerstandshandlung durch die moralische Empörung entpolitisiert wurde: »Kaum einer kam auf den Gedanken, dass sich dieser Mensch vor allem und zuerst einmal gegen den Nazismus entschieden hatte. Niemand, aber auch niemand dachte auch nur entfernt daran, die Verbindung mit der KPD als echte Entscheidung zu bewerten. Man sagte gehorsam ›Heil Hitler!‹ und schüttelte den Kopf über den ›missratenen Sohn‹.«5

Arnolds Familie trifft die Verhaftung schwer. Insbesondere das Leben der Eltern gerät aus den Fugen. Aber ihre Reaktionen auf die Verhaftung sind stets empathisch und frei von Vorwürfen. Sein Vater Rudolf ist über die Vorgänge zutiefst erschüttert, zumal er von den Aktivitäten seines Sohnes nicht das Mindeste geahnt hat. Wenige Tage zuvor hat ihn der Führer noch zum Präsidenten der Reichsdisziplinarkammer in Münster ernannt.6 Am Tag nach dem traumatischen Ereignis der Verhaftung seines Sohnes geht er tagsüber seinen beruflichen Pflichten nach und hält noch eine Geburtstagsrede auf Rudolf Schneider, den Präsidenten des Oberlandesgerichts Hamm, einen überzeugten Nazi. Schneider hat den Justizapparat konsequent nach den Erfordernissen der Nationalsozialisten ausgerichtet. Rudolf funktioniert den Tag über wohl eher traumwandlerisch als bewusst, bevor am Abend das ganze Elend über ihn hereinbricht. Umgehend bittet er dann um Urlaub, der durch mehrere Verlängerungen bis zu seiner vorgezogenen Pensionierung Ende Juli 1935 dauern wird. Relativ schnell macht er sich die Interpretation zu eigen, die dann auch die Linie der Verteidigung vor Gericht bestimmen soll: Ursächlich für den Irrweg seines Sohnes sei seine Erkrankung an Epilepsie, die zur Vereinsamung geführt habe. Erst vor diesem Hintergrund sei er für die Ideen des Kommunismus empfänglich gewesen.

Auguste, Arnolds Mutter, ist durch seine Verhaftung und Verurteilung schockiert. Auch sie macht ihm keine Vorhaltungen, sondern will für ihn leben, alles für ihn tun und mit ihrem Gottesglauben auch einen Funken Zuversicht verbreiten: »Die Schwere dieser Zeit leide ich mit Dir, mein lieber Arnold. Aber mache Dir keine Sorgen über mein Ergehen. Ich muss für euch leben und will es, das ist das Entscheidende. Ich tue darum auch das Notwendige dazu. In der Hauptsache aber hält mich das feste Vertrauen, dass Gott uns nicht verlässt. Ja, wie Du auch sagst, später werden wir vielleicht sehen, wozu alles gut war.«7

Sein älterer Bruder Clemens versichert Arnold jede Hilfe und versucht, ihn vor Niedergeschlagenheit und Aufgabe zu bewahren. Noch vor der Gerichtsverhandlung schreibt er: »Deine Lage ist ziemlich abscheulich – aber Du darfst nicht vergessen, dass jede Situation nichts anderes als eine Aufgabe darstellt, die wir uns nicht aussuchen können, der wir uns oft gar nicht gewachsen fühlen und die wir doch bewältigen müssen. Von welchem Gesichtspunkt aus Du zu dieser Forderung an Dich selbst kommst, ist zunächst vollkommen gleichgültig. Zunächst besteht nur die Alternative, sich zu bewahren oder sich in seiner Haltung zu verlieren. Mensch – nichts liegt mir ferner, als Dir jetzt klug zu reden. Aber ich spüre zu genau, dass bei Leuten wie Dir und mir (und manch anderem) diese Alternative radikal gestellt ist. Im Übrigen darfst Du nicht die Hoffnung verlieren, dass die Sache zum Schluss doch klargeht. Du hast jetzt die Perspektive des Unterlegenen, Passiven – sie täuscht. Es gibt auf dieser Erde allerlei Wege, von denen manche auch Dir nach wie vor offenstehen.«8 Und einige Wochen später: »Es gibt genug Dinge, mit denen jeder auf seine Weise fertig werden muss: Ich bin sicher, Du wirst damit fertig werden. Aber über diese eigene und innerliche Bewältigung hinaus kannst Du Dich darauf verlassen, dass wir alle bereit sind, Dir in jeder Hinsicht zu helfen.«9

Sein jüngerer Bruder Ludwig besteht in diesen Tagen das Abitur. Seinen Leistungen zufolge müsste die Gesamtnote »gut« lauten, so der Vater, aber die »Schlammwellen des hässlichen Münsteraner Klatsches« sorgen dafür, dass neben den Verfehlungen von Arnold auch die Eskapaden auf dem Gymnasium von Bruder Clemens wieder hervorgeholt werden und daher der Schuldirektor die Zensur auf »ausreichend« drückt.10

Die NSDAP informiert die Universitätsverwaltung über die Verhaftung von Arnold. Das Rektorat verfügt umgehend die Relegation, den Ausschluss vom Studium, wegen »aktiver Betätigung im kommunistischen Sinne«. Das entsprechende Schreiben erhält Arnold im Polizeigefängnis Recklinghausen. In den ersten Tagen Haft bei der Gestapo werden die Mitglieder der Gruppe geschlagen und gedemütigt. Rudolf Münster kann jedoch mildernd einwirken und dem Leiter der Gestapo-Dienststelle, Günther Graf von Stosch, das Versprechen abringen, dass bei den Verhören nicht mehr geschlagen wird.

Das katholische Münster – kein guter Boden für die Nazis

Das Münsterland ist für die Nationalsozialisten ein schwieriges Pflaster. In diesem Bewusstsein inszeniert die NSDAP zu den Reichstagswahlen eine Kampagne, wie man sie bis dahin in Münster noch nicht erlebt hat. Intensive Parteiwerbung geht Hand in Hand mit Terror- und Einschüchterungsaktionen gegen andere politische Organisationen. Dennoch kann sich die katholische Zentrums-Partei gegenüber der NSDAP behaupten und bleibt stärkste Gruppierung. Oberbürgermeister und Magistrat lassen sich zunächst auch nicht von den Nazis einschüchtern. So lehnen sie einen Tag nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 das Ansinnen der NSDAP ab, am Rathaus Hakenkreuz-Fahnen zu hissen.11

Allerdings setzen die Nazis ihren aggressiven Propagandafeldzug, verbunden mit Gewaltaktionen, für die eine Woche später stattfindenden Kommunalwahlen fort. Sie können mit einem sehr knappen Sieg über das Zentrum (NSDAP: 24 318 Stimmen, Zentrum: 24 042 Stimmen) einen überraschenden Erfolg verbuchen. Der Münsterische Anzeiger resümiert am 13. März: »Die rücksichtslose, das Maß des Ungewöhnlichen überschreitende Wahlpropaganda der Nationalsozialisten hat gesiegt. Weiter konnte man die Herabsetzung des politischen Gegners als Partei und Person nicht übertreiben, als es in Münster geschehen ist.«12 Dennoch tun sich die Nazis schwer, aktive Anhänger zu finden. Große Teile der Bevölkerung zeigen eine reservierte und teilweise oppositionelle Haltung gegenüber den braunen Machthabern. Bei den Nazis ist die Stadt als das schwarze Münster verschrien. Die Sozialdemokraten haben nur geringen Einfluss mit einer Stammwählerschaft von um die 5 000 Stimmen und die KPD liegt noch deutlich darunter.13 Die Nazis, insbesondere die Hitlerjugend, gehen aggressiv gegen katholische Vereinigungen und Versammlungen vor. Jugendheime werden aufgebrochen, Gruppenleiter verhaftet und Fahnen gestohlen. Im Juli 1934 wird verfügt, dass im Regierungsbezirk Münster katholische Jugendverbände nicht mehr öffentlich auftreten dürfen.14

Ihre Identifikationsfigur hat die katholische Opposition in Bischof Clemens August Graf von Galen, der aus einer sehr konservativen Familie und einem traditionsbewussten Adelsgeschlecht entstammt.15 Zu den Prinzipien seiner Erziehung gehörten Pflichterfüllung, Treue, Disziplin, Ordnungsliebe und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Den Friedensvertrag von Versailles empfindet er als Schmach und seine Angst vor den Bolschewisten geht so weit, dass er die Nationalsozialisten als das letzte Bollwerk dagegen ansieht. 1933, im Alter von 55 Jahren, wird von Galen zum Bischoff geweiht. Schon bald gerät er in offene Konfrontation zu den Nazis. Er wendet sich entschieden und öffentlichkeitswirksam gegen die Pseudoreligion des Nationalsozialismus.

Einen regelrechten Eklat gibt es um das rassistische, antichristliche und antisemitische Pamphlet Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1934) von Alfred Rosenberg, das nach Hitlers Mein Kampf (1925) als das zweite Standardwerk der Nazis gilt. Die katholische Kirche setzt dieses Pamphlet im Februar 1934 auf die Liste der verbotenen Bücher, das heißt, den Gläubigen wird untersagt, es zu lesen.16 Katholische Würdenträger und Professoren verfassen eine Streitschrift dagegen unter dem Titel Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts. Als der Kölner Bischof Kardinal Schulte sich einer Veröffentlichung widersetzt, sagt von Galen eine Publizierung als Anlage zum Kirchlichen Anzeiger Münster zu. Obwohl die Gestapo mit Beschlagnahmungen die Verbreitung zu verhindern sucht, findet die Schrift ihren Weg in die Öffentlichkeit.

Die Predigten des Bischofs haben fast den Charakter von Kundgebungen gegen die Nazis. Die Anklagen von Galens gegen das Regime werden oft mit Beifallskundgebungen und seine Schilderungen der Nazi-Verbrechen mit Buh- und Pfui-Rufen kommentiert. Die Kirche wird so zu einer wichtigen Orientierung für den Widerstand. Gottesdienste, Wallfahrten und Prozessionen erfreuen sich einer sehr regen Teilnahme. Eine große Prozession im Jahr 1935 wird mit 19 000 Teilnehmern eine eindrucksvolle Demonstration zur Unterstützung des Bischoffs. Zu einer besonders heftigen Konfrontation kommt es 1936, als der Bischof im Anschluss an eine Predigt vom Dom zum gegenüberliegenden Palais geht und seine Anhänger ihm mit Ovationen huldigen. Die Polizei prügelt die Versammlung auseinander und verhaftet zahlreiche Teilnehmer. Im Juli 1936 kommt ein weiterer Prozessionszug mit vielen Tausend Menschen auf dem Domplatz an. Die Polizei ist wieder aufgefahren, doch von Galen bittet die Gläubigen, ihn diesmal nicht zu begleiten, damit sich nicht wiederhole, dass harmlose Katholiken geschlagen und verhaftet werden. Daraufhin singt die Menge mit erhobener Schwurhand: »Fest soll mein Taufbund immer stehen.«17 Auf die zahlreichen Repressionen reagieren die Katholiken mit einer vermehrten Teilnahme an religiösen Zeremonien.

Weltweite Beachtung finden von Galens Stellungnahmen gegen die Euthanasie im Jahr 1941, mit denen er sich zum mutigen Anwalt der Menschenrechte macht. In seiner Predigt führt er aus: »Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, ›unproduktive‹ Mitmenschen zu töten …, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach sind und damit unproduktiv werden, freigegeben.« Zumindest teilweise hat er Erfolg mit seinem Vorgehen, vordergründig wird die sogenannte »Aktion T4«, wie die Ermordung geistig Behinderter genannt wird, in Berlin eingestellt. Allerdings werden Kranke auch weiterhin dezentral an anderen Orten ermordet.

Von Galen war zweifellos sehr mutig, den Nazis offen entgegenzutreten. Einen Schatten auf sein Wirken werfen allerdings zahlreiche vorurteilsbeladene Äußerungen über Juden und die Ablehnung aller Bitten, sich gegen die Verfolgung der Juden auszusprechen.

Der Musiker und Forscher