Das Leben der Eleonora Duse - Emil Alphons Rheinhardt - E-Book

Das Leben der Eleonora Duse E-Book

Emil Alphons Rheinhardt

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Beschreibung

Die eindringliche Biografie über Eleonora Duse (1858 - 1924), italienische Bühnen- und Filmschauspielerin, Charakterdarstellerin, größte Tragödin ihrer Zeit, eine Theatergöttin wie Sarah Bernhardt. Berühmte Schriftsteller wie Luigi Pirandello, Gabriele D'Annunzio und Alexandre Dumas fils schrieben Stücke für sie, und unter den Dichtern waren Rainer Maria Rilke, Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal ihre glühendsten Bewunderer. Ein außerordentliches, schicksalträchtiges Leben von der Kindheit bis zu ihrem Tod im Alter von 65 Jahren nach einer Vorstellung in ihrem Hotelzimmer in Pittsburgh/USA.

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Das Leben der Eleonora Duse

DIE KINDHEIT

DIE ZWANZIGJÄHRIGE

„L’ARTE NON È MAI SAZIA“

UNTERWEGS

ZWISCHENBEMERKUNGEN DES BIOGRAPHEN: DIE ITALIENERIN. DIE ZEIT. THEATER.

DER WEG IN DIE WELT

WEITERE ZWISCHENBEMERKUNGEN: DIE SCHAUSPIELERIN UND IHRE ROLLEN

DAS FIEBER DER DREISSIGJÄHRIGEN

DIE BEGEGNUNG

DER DICHTER

WIEDER AMERIKA

ENDLICH PARIS

ZWISCHENBEMERKUNG DES BIOGRAPHEN: PARIS UND SARAH BERNHARDT

PARIS. FAHRTEN. DER DICHTER UND SEINE DRAMEN

DIE FRAU IM SCHICKSAL

ASCHENWEG UND EWIGES LICHT

NACHWORT

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

 

 

Emil Alphons Rheinhardt

 

Das Leben der Eleonora Duse

 

Reese Verlag

mediareese.de

 

 

Das Leben der Eleonora Duse

 

Dieses Buch ist Olga Ivanova Resnevic Signorelli,

die Eleonora Duses Freundin war,

in Dankbarkeit und Freundschaft zugeeignet

 

 

 

DIE KINDHEIT

 

 

Die Männer, die auf den Booten mit den starkfarbigen Segeln den Namen ihres düsteren Städtchens Chioggia viele Geschlechter lang bis zu den fernsten Inseln und Küsten des Mittelmeeres trugen, diese chioggiotischen Seefahrer, die heute noch wie in den großen Zeiten der Seerepublik in allen Häfen der Adria wohlbekannt sind, sind ein sehnsüchtiger, wilder und unruhiger Menschenschlag. Man erzählt, daß in den Zeiten, da die Erde noch voll lockender, geheimnisvoller Länder war, überall, wo Wagnis und Abenteuer zu erhoffen waren, Chioggioten auftauchten und daß auf allen Schiffen der Entdecker und Conquistadoren ihrer welche gewesen seien.

Zuweilen brachte einer dieser fernesüchtigen Männer von seinen Fahrten einen Freund mit heim, der dann wohl auch sein Schwiegersohn wurde. So blühen fremdartige Namen in Chioggia noch weiter, freilich oftmals allmählich dem Klange der heimischen angeglichen. Ein Gäßchen unter den vielen winkeligen der zur Verteidigung zusammengedrängten kleinen Stadt Chioggia heißt Calle Duse. Welch wunderlicher Name! Er sei armenischer Herkunft, behaupten manche. Aber wer kann verfolgen, welchem Volke der Erste dieses Namens angehört haben mag, der, aus der ewig bewegten Völkerwirrnis der levantinischen Küsten kommend, sich in diesem Städtchen niedergelassen hatte, soweit dies Wort auf seefahrende Leute Anwendung finden kann. Sicher ist, daß es lange schon Duses in Chioggia gegeben hat und daß deren Männer alle mit Leib und Seele dem Meere verfallen waren, bis nach einem kurzen mißglückten Versuche in bürgerlicher Seßhaftigkeit die unstete Sehnsucht dieses Geschlechtes sich zu neuer unrastvoller Lebensgestaltung Bahn brach.

Jener Luigi Duse, der dem Gäßchen in Chioggia seinen Namen gab, wurde, weiß Gott aus welchen Gründen, von seinem Vater nicht mehr zum Seemanne bestimmt. Er wurde in Schulen geschickt, um dann als Beamter ein enges, aber sorgenloses Dasein zu haben. Solange er sein Amt in Chioggia selber übte, ging es, als ob die Nähe des Meeres sein Blut besänftigt hätte. Aber als dann Padua sein Wohnsitz wurde, begann alsbald dieses wunderliche Gären in ihm, die Sehnsucht nach einem anderen, abenteuerlichen Tun: es verlangte ihn so gierig nach dem Bretterboden des Theaters wie alle die vor ihm nach dem ihrer Schiffe.

Wer kann ergründen, was für Triebe das sein mögen, die einen Menschen aus seinem Leben fortlocken in ein anderes, dessen Sinn es ist, ein paar Stunden jeden Tag vor anderen Menschen nicht mehr er selber, sondern ein anderer zu sein, so sehr ein anderer, daß alle die, die seine Verwandlungen miterleben, an sie glauben? Überfülle des Herzens, dem ein einziges Dasein nicht genügt? Unheimatlichkeit im Hause des eigenen Lebens und Flucht in den Rausch, ein anderer sein zu dürfen? Sicher ist es dies und vieles noch aus der Geheimniswelt jener Kräfte, die die Leben formen, was sich zu jenem anderen geheimnisvollen Drängen, etwas zu machen, das über Gebrauch und Zweck hinauswachsen soll, hinzufügen muß, damit aus alledem ein Schauspieler werde. Luigi Duse hat sich so wenig wie die meisten wirklichen Schauspieler Rechenschaft darüber gegeben, was ihn zum Theater lockte. Er mußte Theater spielen, und er tat es. Erst noch mit schlechtem Gewissen, als Dilettant, der Gleichgestimmte zu dem ersehnten Tun vereinigte. Aber es gefiel ihm zu sehr, und daß er so sehr gefiel, entzündete die Lust am Wagnis. Er ließ Amt und Würde und die Hoffnungen auf ein umfriedetes Bürgerschicksal und wurde Komödiant. Nach ein paar Jahren schon hatte er seine eigene Schauspielgesellschaft zusammengebracht, jene Compagnia Duse, die jahrzehntelang weiterbestand und in der hernach, da ihre Glanzzeit lange vorbei war, ein fünfjähriges Mädchen, Eleonora Duse geheißen, das erstemal Theater spielte.

Wenig Jahre, nachdem Luigi Duse geboren worden war, erlosch die venezianische Republik, und in den nun folgenden Jahren der Fremdherrschaft gedieh das venezianische Theater noch einmal zu schönem Blühen. Dieses lebhafte Volk, in kleiner wie großer Politik nunmehr zu Schweigen und Untätigkeit verurteilt, mag sich des Theaters von neuem als eines Spielplatzes für Verstand und Einbildungskraft besonnen und in ihm einen in seiner Gefährdetheit noch bedeutsameren Ausdruck seiner Wesensart zu sehen erlernt haben; ferner mag es wohl ein starker Anreiz zum Theaterbesuch gewesen sein, daß man sich an diesen Stätten ungestört versammeln, murren und spötteln und erbost und erfreut zugleich von der Bühne herab in politischen Anspielungen alles das hören konnte, was Rednern und Zeitungen sonst zu sagen verwehrt war. Bei alledem aber gedieh das Theater selber prächtig, der Zusammenhang so intimer Art gab ihm eine neue Lebendigkeit. Die neu emporkommenden Autoren sparten in ihren Texten den Platz für die Äußerungen der von Allen gedachten Gedanken aus, und die Schauspieler strengten Witz und Phantasie an, um diesen wohl auszufüllen. Wie die Fiorituren und Koloraturen die Arie, umwucherten nun die Improvisationen die Rollen. Die nie vergessene Commedia dell’Arte war mit neuen Gestalten und der alten süßen Theaterlust wieder da.

Luigi Duse hatte zu Anfang in allerlei modisch-pathetischen Stücken gespielt — aber sein Komödiantenherz ahnte ein anderes Theater. Und er fand es, sobald er das erstemal auf der Bühne Venezianisch gesprochen hatte, die Sprache seiner Welt, den Dialekt seines Herzens und seines Verstandes. Nun gab es auch sogleich die rechten Stücke für ihn, neue voll herrlicher Möglichkeiten zu Erfindung und eigenen Zutaten, und dann den alten, unerschöpflichen Goldoni, in dem das ewige Venedig seines unzerstörbaren Volkes sich selber spielt. Padua und Venedig wurden die Stätten seiner Triumphe. Und allmählich wuchs ihm aus all seinen Improvisationen und Scherzen eine Gestalt, die ihn ganz und gar zum Liebling seines Publikums machte und die er in immer neuen Soloszenen immer wieder darstellen mußte: der Giacometto, die Verkörperung des venezianischen Humors. Er hatte ihm eine Maske aus der Goldoni-Zeit gegeben, die glatte schwarze Perücke mit einem dünnen Zöpfchen daran, zwei schwarze Punkte über den Augenbrauen, ein weißes Tüchlein um den Hals, einen lichtblauen langen Rock, dazu die geblümte Weste, rote Kniehosen, weiße Strümpfe, schwarze Schnallenschuhe und den Dreispitz in der Hand. Von Jahr zu Jahr wuchs sein Anhang, die größten Theater standen ihm zu Gebote, seine Gastspiele dauerten dreimal so lange als alle sonst üblichen, und wenn er spielte, hatten selbst Ensembles von höchstem künstlerischen Rang, wie jenes, in dem die große Adelaide Ristori damals wirkte, wenig Aussichten auf ein volles Haus. Seine Goldoni-Aufführungen galten für unerreichbar, und die Berichte über sie zeigen Luigi Duse als einen Regisseur von unermüdlicher Arbeit und unfehlbarem Geschmacke und seine Truppe in der Zusammensetzung und Schulung als vorbildlich. Dieser künstlerische Ernst schuf ihm Ansehen, das weit über das heimatliche Venetien hinauswuchs, — aber Liebe und Begeisterung dankte er seinem Giacometto, der jedem ein vertrauter Freund war, den jeder immer wieder sehen und hören wollte, was immer er auch tun oder reden mochte. So erzählte dieser Giacometto denn auch zuweilen allerlei recht Intimes aus dem Leben Luigi Duses selber, von seinen häuslichen Sorgen, von gelegentlichen Geldnöten, drängenden Gläubigern und dergleichen. Und als er einmal auf seine unwiderstehlich komische Weise seinem Publikum über die Fälligkeit eines Wechsels vorjammerte, geschah es, daß aus dem Zuschauerraume statt des sonst üblichen Gelächters und der Zurufe ihm so viel Geld zuflog, daß er damit sogleich der Augenblickssorge ledig war.

Ruhm und Beliebtheit aber vermochten ihn nicht vor Neid und Tücke zu schützen. Er wurde um politischer Anspielungen willen, die er auf der Bühne getan hatte, denunziert. Die großen Theater schlossen sich darauf für ihn, und in den kleinen, die ihm noch übrigblieben, vertat er Kräfte und sein Erspartes, sich und seine Truppe auf der erreichten Höhe zu erhalten. Verbittert und rasch alternd kämpfte er noch eine Weile den aussichtslosen Kampf gegen die Tücke der Feinde und die Vergeßlichkeit derer, die ihn geliebt hatten. Dann ließ er das Theater, das sein Leben gewesen war, ließ Venedig, das für ihn alle Kunst war, und zog sich nach Padua zurück, wo er bald, schon im Jahre 1854, starb.

Das war Luigi Duse, der Gefeierte, der erste dieses Namens, der kein Seemann, sondern ein Schauspieler geworden war. Neben ihm und nach ihm gab es dann viele Duses, die, sei es von seinem Ruhme verführt, sei es, weil sie schon in der Welt des Theaters aufgewachsen waren, Schauspieler wurden. Es gab Begabte unter all den Anverwandten und Söhnen, aber keiner hat sein Talent, keiner seinen Erfolg erreicht. Nach flüchtigen Glanzzeiten, nachdem einen glücklichen Schicksalsaugenblick lang der in sie gelegte Funke an Sehnsucht in einer flüchtigen Kunst aufgeleuchtet hatte, verloren sich die meisten von ihnen absteigend in den Dunkelheiten ihres Standes. Bis dann nach Jahrzehnten dieses Fünklein, das in jedem Gliede dieser endenden Familie geglommen hatte, sich zu einem ganz großen schöpferischen Ingenium verklärte, mußte noch eine ganze Generation durch Elend und Mittelmäßigkeit fahrenden Theatervolkes hindurchgehen.

Unter Luigis Söhnen war der stillste und ärmste der Auserwählte, obgleich sein Leben alle Nöte und Erniedrigungen eines Komödiantendaseins erfahren hatte, das nach außen hin sich in nichts mehr von dem der Jahrmarktsgaukler, Seiltänzer und Spaßmacher unterschied. Dieser Alessandro hatte im Gegensatz zu den anderen Kindern Luigis wenig Neigung zum Theater empfunden. Er wollte Maler werden. Doch der Wille des damals mächtigen und strahlenden Vaters zwang ihn zu den Geschwistern auf die Bühne. Als dann der Vater nach jähem Abstiege starb, war ihm der Weg schon vorgezeichnet, und er ging ihn, ohne Begeisterung, ohne den Trost eines Glaubens an seine Sendung. Er hatte, anders als alle seine Anverwandten, ein Mädchen geheiratet, das nicht Schauspielerin war, Angelica Cappeletto aus Vicenza, ein zartes Wesen, das ihm in hingebender Liebe anhing und ihn auf seinen mühevollen Wanderfahrten begleitete. Diese Ehe war ein rastloses Unterwegs, ein Hasten dahin, wo ein kleines Theater frei stand, ein Jahrmarkt oder Fest einen Ertrag versprach, und ein Weitermüssen, auch wenn nichts lockte, weil man an keinem Orte lange bleiben konnte. Unterwegs geschah es, daß den beiden ihr einziges Kind geboren wurde, ein Mädchen, das am 3. Oktober des unruhevollen kriegerischen Jahres 1859 zur Welt kam. Dieses Kind der Wanderschaft wurde in Vigevano im Lombardischen auf den Namen Eleonora getauft. Der Pate war der Oheim Enrico, Schauspieler wie der Vater. Beim Taufgange ereignete sich eine Begebenheit, in der der Vater, wie alle, die davon erfuhren, ein glückhaftes Zeichen sehen wollte. Das Kind wurde nach der Sitte der Gegend in einem kleinen, von Goldleisten gehaltenen Glasschreinchen zur Kirche getragen. Als der Zug an österreichischen Soldaten vorbeikam, vermeinten diese, einen Reliquienschrein vor sich zu haben, und leisteten ihm die militärische Ehrenbezeigung.

Als das wie die Mutter zarte Kind aus den großen dunklen Augen sehen zu lernen begann, gewahrte es eine Welt, in der nur ein paar Menschen die gleichen blieben, während Häuser und Landschaften immer wieder wechselten. Und als Gehörtes sich im ersten Gedächtnisse einzuprägen begann, war auch schon das Wort Theater da. Mit Wanderschaft und Theater begann dieses Leben, und jene Worte, die dann fünfundsechzig Jahre später in Pittsburg von dem letzten Atem hervorgehaucht nach Aufbruch und neuer Wanderschaft verlangten, hätten auch die ersten sein können, die an sein Plerz gedrungen waren. Schon das Kind ist völlig in dem Gesetze, das dieses Leben und Schicksal ausmacht. Weitermüssen, immer Weitermüssen sind seine ersten Erfahrungen an der Welt. Ein solches Fortgehenmüssen ist Eleonora aus dem Morgengrauen ihres Seins her gleichnishaft in der Erinnerung geblieben. Sie hatten bei guten Leuten gewohnt; draußen war stürmischer Regenwinter, im Hause aber gab es beglückende Wärme und Zärtlichkeit, worin das Kind zum erstenmal ein süß-schmerzliches Gefühl von Heimat erfuhr. Und die freundliche Wirtin schenkte ihm ihre erste Puppe, eine schöne, aller Liebe eines kleinen Herzens würdige Puppe. Eleonora ließ sie nicht mehr aus ihren Armen, schlief mit ihr und hatte sie noch an ihrem Herzen, als wieder der Aufbruch dawar, das Weitermüssen in die kalte, unwirtliche, morgengraue Welt. Erst hatte das Kind heftig geweint, dann wurde es still, begreifend, daß man dem Fortgehen nicht entrinnen könne. Die geliebte Puppe wurde unter dem Mäntelchen an die Brust gebettet, und so verließ Eleonora mit den Eltern das gute Haus. Nach ein paar Schritten jedoch riß sie sich los, lief in das verlassene Zimmer zurück, legte die Puppe in das Bett, in dem sie selber geschlafen hatte, und deckte sie gut zu. Später sagte sie dann: ,,Ich habe sie dort gelassen, damit sie wenigstens es warm hat.“

Wie die Mannschaften der Chioggioter Segler durch die Meere, zieht nun die Truppe durch Venetien, die Lombardei, Piemont, die Romagna, geht bis nach Istrien und Dalmatien — die Häfen sind das Theaterspielen. Bittgänge zu Behörden, ein paar eilige Proben, Zettelaustragen, Zittern vor Mißfallensäußerungen und nach dem Gelingen eines Abends die Angst, ob auch der nächste das bißchen Einnahme nicht versagen werde, das ist das Leben, darum gehen alle Gespräche ... Und bald sind es nicht nur mehr die Gespräche, die das Theater zur Welt machen: es selber fordert das Kind für sich. Eleonora Duse ist noch nicht vier Jahre alt, da ihr Name zum erstenmal auf einem Theaterzettel genannt wird. Dies geschieht, da die von ihrem Oheim und Paten Enrico Duse und dem Schauspieler Lagunaz geleitete Truppe in Zara eine Dramatisierung der Hugoschen „Misérables“ aufführt, in der sie die kleine Cosette darzustellen hat. l)a man sie in den Szenen bei den bösen Zieheltern Thénadier auf der Bühne zu weinen zwingt, fragt sie dann schaudernd: ob das denn den Menschen da unten Freude machen könne, ein Kind weinen zu sehen.

Bald mußte dieses Kind nicht nur auf der Bühne weinen. Mit unfaßbarem Schrecken tut sich die Welt ihm kund. Die Mutter, die ihm alle Geborgenheit und Güte des Lebens ist, wird oft plötzlich so furchtbar anders. Ihr Gesicht verzerrt sich im Kampfe gegen würgenden Husten, dann flackern die Augen, die tröstliche Hand ist brennend heiß, und immer öfter muß sie im Bette bleiben. Und dann bringt die Schule neues Grauen. Dieses kleine Wesen, das eine sehr zarte und leicht erschreckbare Seele hat, das, im Dunkelwerden allein gelassen, sich aus dem Fenster neigt und in langen Gesprächen mit den Sternen Trost gegen die ungeheuerliche Einsamkeit in der Finsternis sucht, dieses großäugige, scheue, leicht fröstelnde Kind wird, wo ein Gastspiel eine Rast verstattet und die Lehrer es für eine kurze Frist nehmen wollen, in Schulen geschickt. Und dann betrachten immer wieder die anderen Kinder Eleonoras Fremdartigkeit und Scheu als Hochmut und jagen hernach auf den Gassen hinter ihr her und schreien ihr „figlia di commedianti“ nach.

Freundlos, geängstigt von der Welt, in der es kein Vertrautwerden mit einem Garten oder einer Landschaft gibt und in der nur die seltenen Rasten in der Väterheimat Chioggia Zutraulichkeit zu einer Stätte einflößen, wandert Eleonora Duse durch die erste Kindheit, und nur die große Liebe der Eltern ist Trost und Hilfe und wärmendes Wanderkleid. Oft sind die Einkünfte des Vaters erbärmlich, dann droht der Hunger — aber immer sucht die Mutter, der jeder Bissen Nahrung ja ein Tropfen Öl mehr für das dünn und flackernd brennende Lebenslicht wäre, einen Teil ihres mageren Teils dem Kinde zuzuschieben. Doch dieses Mädchen mit dem überzarten Körper und dem kleinen, beinah nur aus Augen bestehenden Gesichte ahnt nun allmählich, was Krankheit ist, und betreut die Mutter, soweit sie es zwischen Schule und dem oftmaligen Rollenlernen und Theaterspielen vermag. Und allmählich wird dieses Theater, das Lebenspflicht und Lebensnot gewesen war, immer geheimnisvoller, erregender. Sie hat dem Dichter, den sie geliebt hat, dann von dieser Zeit erzählt, und er berichtet in dem Buche, das ihr so weh getan hat, mit Worten davon, die die ihren sein müssen: ,,... Nach der Vorstellung kamen wir, meine Mutter und ich, in das Wirtshaus und setzten uns auf die Bank bei einem Tische. In mir war noch das Weinen, das Schreien, die Raserei aus dem Theater her, ich war durch Gift oder eine Klinge gestorben. In meinen Ohren klangen die Verse weiter, mit einer Stimme, die nicht die meine war; in meiner Seele war ein fremder Wille mächtig, den ich nicht verscheuchen konnte, es war, als ob eine Gestalt in mir versuchte, aus meinem ungeformten Wesen jene Schritte und jene Gesten hervorzuzwingen. Das vorgetäuschte Leben war mir noch in den Gesichtsmuskeln geblieben, die sich an manchen Abenden gar nicht zur Ruhe bringen lassen wollten. Das war die Maske, damals schon wuchs in mir jener Sinn der lebendigen Maske ... Maßlos öffneten sich mir die Augen ... Zähe Kälte ist mir in den Wurzeln meiner Haare geblieben ... ich vermochte das volle Bewußtsein meiner selbst und dessen, was um mich geschah, nicht wiederzufinden ... ich kann es nicht sagen ... vielleicht war schon die dunkle Gegenwart jener Kräfte in mir, die sich nachher entwickeln sollten, jenes Gefühl des Auserwähltseins und der Besonderheit, mit dem die Natur mich gezeichnet hat. Zuweilen empfand ich dies Andersgeartetsein so tief, daß es mich beinahe von meiner Mutter trennte; Gott möge mir das verzeihen, daß es mich fast von ihr entfernte ...“

Ein Kind ohne Geschwister und fast ohne Gespielen, das stets mit Erwachsenen lebt, lernt zeitig schauen und ahnen — wie viel mehr aber noch ein Theaterkind, das, vom ersten Wachwerden des Bewußtseins an, Sorgen, Nöte und Tun seiner nächsten Menschen wirkend und leidend getreulich miterlebt. So sind in dieser Seele bald schon alle die Elemente, die das menschliche Teil ihrer Größe sind, vorhanden: das Immer-Weiter-Müssen, das Theater, die Krankheit und die Sehnsucht nach Güte. Und um sie wachsen die Träume und Phantasien dieser Lebensfrühe, keine kindhaften Fluchten in Märchen und süßen Seelenmüßiggang, sondern sich immer mehr verdichtendes Wirken des Gesetzes eines tiefen Lebens, das in den hohen Seelen offenbar wird, sobald sie angetreten.

Die Jahre werden düsterer. Selbst die gelungenen Unternehmungen der Truppe sind noch Enttäuschungen. Der Vater beißt die Zähne zusammen, gibt, was er hat, tröstet, soviel er es mit seinem traurigen Herzen kann, in dem kein Glaube an sein Tun ihm selber Trost gibt und in dem nur ein zager Traum zuweilen aufleuchtet: dies alles lassen zu dürfen und zu malen. Hunger umlauert die Wanderschaft. Einmal kann Eleonora ihn nicht mehr ertragen und schleicht sich zusammen mit einem Jungen in die Küche des fremden Hauses und stiehlt Polenta, um sich einmal satt zu essen. Schlimmer aber war anderes. Immer öfter fällt die Krankheit über die Mutter her, das Fieber läßt ihren ausgezehrten Körper kaum mehr, und immer öfter ist der erste Gang an einem neuen Rastort die Suche nach einem Spitale, um der Leidenden in ihm ein wenig Ruhe und Pflege zu schaffen. Aber wenn die Anderen weiter müssen, will auch sie mit ihnen — und sie schleppt sich mit, sanft, ohne Klage.

Eleonora spielt nun regelmäßig Theater, alle Rollen, für die ihr schmächtiger Körper hinreichend ist. Dann eines Abends während der Vorstellung, sie stand in ihrem vierzehnten Jahr, sagte man ihr, daß die Mutter tot sei; sie war in der Stadt, in der sie hatte Zurückbleiben müssen, einsam im Spitalbette gestorben. Ihr Körper straffte sich, die Augen wurden sehr groß — aber es war erst nach dem zweiten Akte, da sie das Furchtbare erfuhr. Und sie spielte das Stück zu Ende. Dann ging sie allein in die Winternacht hinaus. Erst als ihre Hand die noch von der Mutter geflickte Manteltasche fühlte, war das Geschehene Wirklichkeit. Und sie lehnte lange an einem Laternenpfahl und weinte.

Dann war auch nicht einmal das Geld für ein Trauerkleid da. Die Frauen in der Truppe redeten von Gefühllosigkeit, und eine sagte laut, sie hätte sich eher verkauft als auf das Trauerkleid verzichtet. Eleonora schwieg noch tiefer. Sie hatte das unauslöschliche Bild der Geliebten im Herzen; und sooft sie allein war, holte sie die Photographie von ihr hervor, die von nun ab immer mit ihr war. Eine Vergrößerung von dieser wird wohl das eifersüchtig behütete, keinem gezeigte Bild gewesen sein, das sie auf ihren letzten Fahrten begleitete.

Nun war alles doppelt schwer. Vereinsamt gingen Vater und Kind im gleichen Schmerze — innigste Liebestraurigkeit verband sie, aber keiner fand ein Wort für den anderen. Oh, wie gut verstand Eleonora die bittere Huldigung an die Hingegangene, als der Vater eine bald nach dem Begräbnisse der Mutter in seine Hände gelangte Erbschaft (es waren ein paar Häuschen in Chioggia und Geld, alles zusammen die phantastische Summe von fünfzehntausend Lire) zurückwies, da das ja nun für sie zu spät sei.

Es wehte ein Hauch von Einsamkeit und Ernst um dieses Mädchen Eleonora, das nun kein Kind mehr war, der scheuchte Mitleid und Bemutterung. Sie war nun als letzte Naive in der Truppe Enrico Duse-Lagunaz engagiert. Wo der Vater es vermag, bewahrt er sie vor harten Worten während der Proben und den Plumpheiten der Anderen. Aber besser bewahren sie ihre Traurigkeit und die ahnungsvolle Sehnsucht ihrer Seele.

In Verona war es ihr geschehen, daß sie zum erstenmal dem Tode begegnet war, in der Stadt Romeo und Julias, und hier geschah es ihr auch, daß jene Sehnsucht zum ersten Male zu der Flamme aufloderte, die von da ab immer reiner in ihr brannte und die endlich als ein heiliges inneres Licht so groß in ihr leuchtete, daß heute noch, da ihr Dasein lange zu Ende ist und der Leib, der ein so vollkommenes Werkzeug großer Schauspielkunst war, vergangen ist, noch immer allen denen, die ihr Wesen verspürt hatten, eine läuternde Kraft von diesem Licht geblieben ist.

Sie spielte in Verona die Shakespearische Julia. Davon, wie dieses zarte, blasse Mädchen an der Schwelle der Kindheit die schicksalshafte Liebe seines Lebens in sich aufglühen fühlt, die Liebe zu dem Theater, das ihr von nun ab als eine gnadenvolle Sendung im Dienste der Sehnsucht ahnte, von diesem Geschehnisse erzählt ihr Dichter, wie sie es ihm berichtet hatte: ,,... An einem Maiabende betraten wir durch das Palio-Tor Verona. Angst würgte mich. Ich preßte das Heft, in das ich mit eigener Hand die Rolle der Julia abgeschrieben hatte, an mein Herz. Und ich wiederholte unaufhörlich die Worte des Auftretens:

Wer ruft mich? Hier bin ich.

Was ist Euer Wille?

Meine Einbildungskraft war von einem sonderbaren Zusammentreffen erregt: ich wurde gerade an jenem Tage vierzehn Jahre wie Julia. Das Geschwätz der Amme klang mir in den Ohren, und allmählich verschwamm mir mein eigenes Schicksal mit dem der Veroneserin. An jeder Straßenecke meinte ich, ich müßte einen mir entgegenkommenden Leichenzug sehen, der einen mit weißen Rosen bedeckten Sarg geleitete. Als ich die mit Drahtgittern verschlossenen Skaliger-Bogen erblickte, rief ich ...: ,Das ist Julias Grab!‛ Ich brach jäh in Schluchzen aus und hatte ein verzweifeltes Verlangen zu lieben und zu sterben ... Dann an einem Sonntag in der ungeheuren Arena, dem alten Amphitheater unter freiem Himmel, vor einer Menge Volkes, das schon mit der Atemluft die Legende von Liebe und Tod eingesogen hatte, war ich die Julia. Kein erregtes Beben, kein rauschender Erfolg, kein Triumph ist für mich je wieder der Trunkenheit jener großen Stunde gleichgekommen. Wahrhaftig, als ich Romeo sagen hörte: ,Sie ist es, die die Fackeln brennen lehrt‛, da entzündete ich mich, da wurde ich zur Flamme. Von meinen Spargroschen hatte ich auf dem Blumenmarkte unter dem Brunnen der Madonna Verona einen großen Strauß von Rosen gekauft. Diese Rosen waren mein einziger Schmuck. Sie mischte ich unter meine Worte, unter meine Gebärden und meine Bewegungen. Eine von ihnen ließ ich zu Romeos Füßen fallen, da wir uns begegneten. Die Blätter einer anderen streute ich über ihn vom Balkone herab, und mit allen zusammen deckte ich dann seinen Leichnam in der Gruft. Der Rosenduft, die Luft, das Licht rissen mich hin. Die Worte gingen mir mit einer wunderlichen Leichtigkeit gleichsam ohne mein Dazutun vom Munde, wie im Fieberdelirium, und ich hörte sie von dem Rauschen in meinen Adern begleitet. Ich sah das tiefe Gefäß des Amphitheaters halb in der Sonne, halb im Schatten vor mir und in dem erleuchteten Teile ein Funkeln wie von tausend und aber tausend Augen ...“

Ein anderer Erzähler mag hier fortfahren, Graf Giuseppe Primoli, der hernach Eleonora Duse durch viele Jahre ein Freund gewesen ist und aus ihrem Munde jenes Erlebnis in Verona vernommen hatte. Er schreibt: „Romeo naht sich nun, er ist unter dem Balkone, und sie entblättert über seine brennende Stirn die Rosen ihres Straußes. Und dieses Liebesbekenntnis berauscht nun auch ihn ... dann wird das Rampenlicht angezündet, sein Flackern erhellt unheimlich den Friedhof. Nun steigt keine Lerche mehr mit jubelndem Gesänge zum Himmel empor, nur noch die Fledermäuse stoßen mit klagenden Rufen gegen die Gräber. Auf einem Blumenbette ruht Julia. Erwachend findet sie Romeo zu ihren Füßen; und wie früher vom Balkon aus streut sie nun die Blumen über ihn, die ihn als duftendes Leichentuch bedecken, dann sinkt sie selber tot hin über den geliebten Toten, inmitten der Blumen ... Das Rampenlicht war erloschen, die Menge hatte sich zerstreut, da erhob sich Julia noch zitternd aus ihrem Sarge ... sie war zu erregt, um heimzukehren, so irrte sie lange durch die Gassen; ihr Vater folgte ihr, er achtete ihr Schweigen und redete nicht zu ihr. Sie ging nun Stunden und Stunden. Es schlug Mitternacht von allen Glockentürmen Veronas. ,Komm abendessen, Kleine!‛ drängte der Vater. Sie ließ sich heimführen und sank auf ihr Bett. Der Eindruck war zu heftig für sie gewesen, er erstickte sie fast. Die Dachkammer, das Elend ringsum, alles war verschwunden ... sie war Julia geworden ... das war ihre Offenbarung gewesen, in der sie den Zustand der Gnade erfahren hatte ...“

Freilich brannte in Alltag und Not nach diesem ersten Aufglänzen das Flämmlein dieser Gnade wieder klein, aber es glomm weiter, unauslöschlich. Und sie bedurfte seiner, denn es waren graue Jahre, durch die sie nun hindurch mußte. Es gab nicht immer die Julia zu spielen, und meist war die Arbeit freudund aufschwunglos. Die Gagen waren erbärmlich, und zum Hunger gesellte sich die Sorge um das Allernötigste an Kleidung. Dann war endlich auch der Vater nicht mehr da, dessen schweigsame Nähe ein Stück Heimat gewesen war, noch der Oheim Enrico, der doch nachsichtiger als die Fremden gewesen war. Die Truppe Enrico Duse-Lagunaz war aufgelöst worden, und nun hieß es für sie, allein weiterzukommen. Ihre ersten Schritte einer elenden Selbständigkeit tat sie bei einem Ensemble Benincasa, dem es nicht besser in der Welt erging als dem ärmlichen, das die Heimat ihrer Kindheit gewesen war. Dann findet sie in der Truppe Luigi Pezzana Aufnahme, was insofern ein bedeutsamer Aufstieg war, als sie damit in ein wohlgeordnetes Schauspielunternehmen aufgenommen war, das in großen Städten und ansehnlichen Theatern spielte. Sie selber hatte freilich nicht viel Freude davon, denn Hunger und Not waren dieselben wie unter den Jahrmarktskomödianten; dazu aber kamen immer bitterere Demütigungen, denn jeder in der Truppe sah auf das ärmlich gekleidete, hagere und häßliche Mädchen herab, und jeder tat es dem Direktor gleich, der in ihr einen stummen Widerstand verspürte und sich keine Gelegenheit entgehen ließ, sie zu demütigen. Sie war mit großen Erwartungen in dieses Ensemble gekommen, mit der heißen Hoffnung, daß hier nun alles ein Dienen für jenes Theater sein werde, das ihr damals in Verona geoffenbart worden war. Aber was sie nun mitzumachen gezwungen war, war schlimmer als jenes Spielen auf den Jahrmarktsbühnen, wo doch zuweilen in den Enttäuschten und Hoffnungslosen ein Ton des Herzens aufgeklungen war. Hier aber herrschte die wohldisziplinierte Mittelmäßigkeit, ein leer pathetisches Deklamieren, übernommene Gesten, Hohlheit des Herzens und des Verstandes. Sie war allein und bettelarm und mußte schweigen. Aber sie konnte nicht lügen, und was von ihr ausstrahlte, verriet sie. Bei der Probe eines Stückes, in dem sie die Rolle der seconda donna zu spielen hatte, kam es dann zu der unausweichlichen Empörung der Mittelmäßigkeit. Inmitten einer Szene unterbrach der Direktor ihr Spiel: „Diese Stelle gehört nicht so, zum Teufel, sie gehört, wie ich es sage.“ Und er sprach sie ihr auf seine verständnislose Routinierweise vor. Das Mädchen wandte ein, daß die Stelle ja so zu keiner Wirkung komme. Er bestand auf seiner Auffassung, und als sie weitere Einwände wagte, brach es wütend aus ihm hervor: „Was wollen Sie denn weiter beim Theater? Begreifen Sie denn nicht, daß das kein Geschäft für Sie ist? Suchen Sie sich einen anderen Beruf.“ Sie würgte an ihrer Antwort. Sie wußte, daß sie nach dieser keine Gnade zu erwarten hätte. Und wo dann schnell ein Engagement finden? Woher das Geld nehmen, um auch nur eine Woche warten und suchen zu können? Sie schwieg. Aber sie wußte, daß hier keine Stätte für sie sei, daß hier nachzugeben Verrat an dem wäre, um dessentwillen sie all die Demütigungen und all das Elend auf sich nahm, und daß sie in dieser Art von Theater wirklich nichts zu suchen habe.

Sie ging nun, sobald sie es vermochte; nach einer kurzen Spielzeit in der Truppe Enrico Belli-Blanes und Francesco Ciotti, wo sie als erste Jugendliche engagiert war und sich in dem neuen Fache durchgehungert hatte wie in dem alten, packte sie wieder ihr ärmliches Köfferchen und fuhr nach Triest, wo sie bei der Compagnia Adolfo Drago nun wieder als seconda donna verpflichtet war. Das bleiche Mädchen, das durch seine gedrückte Haltung noch unansehnlicher wirkte, mißfiel schon beim ersten Auftreten dem Triestiner Publikum. Der Direktor trug ihr den Mißerfolg nach, und auch unter den Kollegen fand die Verschüchterte und wenig Umgängliche keine Freunde, die ihr den bitteren Weg der eben nur geduldeten und immer vom Hunger bedrohten kleinen Schauspielerin erleichtert hätten. Dennoch begann mit diesem Engagement ihr freilich noch für lange schmerzensreicher Aufstieg.

Eines Abends mußte sie für die plötzlich erkrankte Primadonna einspringen — es war in Neapel als Maia in „Fourchambault“ von Augier —. Sie gefiel nicht wirklich, dazu war sie zu befremdlich, zu leidenschaftlich, zu ungewöhnlich mit ihrem Äußern eines hungrigen Zigeunermädchens — aber sie fiel auf. Unter den Zuschauern dieses Abends war einer der angesehensten Schauspieler seiner Epoche, Giovanni Emanuel, ein Künstler voll Intelligenz und Eigenart, dem die Befreiung des italienischen Theaters von den erstarrten Konventionen am Herzen lag. Ihm machte die Persönlichkeit, die er hinter dem ungefälligen und leidenschaftlichen Spiele dieses Mädchens spürte, Eindruck. Als er dann bei der Fürstin Santobuono, der napolitanischen Theatermäzenatin dieser Zeit, die Bildung eines neuen Ensembles für das Teatro dei Fiorentini, das vornehmste Schauspielhaus Neapels, erwirkte und Giacinta Pezzana, eine der größten Tragödinnen von damals, dafür gewonnen hatte, engagierte er auch dieses sonderbare junge Wesen, das Eleonora Duse hieß, für das neue Ensemble.

DIE ZWANZIGJÄHRIGE

 

 

Eleonora Duse war zwanzig Jahre alt, als diese Spielzeit am Teatro dei Fiorentini in Neapel für sie begann. Sie wußte, wie man Elend und Demütigungen zu ertragen habe, sie wußte, daß das Theater, wie sie es bisher gesehen hatte, nicht das rechte sein könne, um vieles mehr wußte sie freilich außer den Dingen ihres scheuen und traurigen Herzens nicht. Keiner hatte sie etwas gelehrt, keiner ihr Gedanken, Wissen oder auch nur Bücher gegeben. Wirr und drängend ging, was ihre Sinne aufgenommen hatten, in ihr um und begehrte nach Sinn und Befreiung. Wo waren Sinn und Befreiung? Noch wußte sie nicht einmal, daß es Glücklichsein und das lauter brennende Leiden gibt. Noch kannte sie das Reinwerden in der Anschauung der Landschaft nicht, noch nicht die Seligkeiten des Gespräches, das die Gedanken aus der dunklen Unendlichkeit des Lebens hebt, nicht die Trunkenheit der Seele, wenn die flutenden Bilder entfesselt das Innere durchdrängen, noch die heilige Nüchternheit, da der wissende Wille aus ihnen Gesetz und Gestalt schafft. Sie war zwanzig Jahre alt, ganz Ahnung, Sehnsucht und leidensvolle Dunkelheit. Noch war Neapel eine Stadt wie hundert schon gesehene Städte, ängstigendere Wirrnis, noch voll fremder Menschen. Und sie saß in ihrem Zimmerchen, lernte ihre Rollen und träumte vom Theater, das Sinn und Erlösung sein sollte.

Was sie davon bisher erlebt hatte, mußte ihr, die wirklich wie eine Zigeunerin aufgewachsen war und die an all den Traditionen und Konventionen der Welt um sie kein Teil hatte, fremd und leblos sein.

Es waren noch nicht zehn Jahre seit der Einigung Italiens vergangen. Der Rausch neuen Volksgefühls und die heroische Lebensstimmung waren abgeklungen, und in der nunmehr bescheidentlich gedeihenden verbürgerlichten Welt hatte sich ein verspäteter, zu Üppigkeiten aller Art neigender Romantismus breitgemacht, der sich hier in allem, was Kunst genannt werden wollte, noch gröber und seelenloser auslebte als selbst in dem gleichzeitig im Norden zu einer kurzen Blüte gelangten festlichen Manierismus, der gern mit dem Namen Makarts bezeichnet wird. Das italienische Theater von damals war demgemäß durchaus auf das Pompöse, auf allzu große Gesten und allzu starke Akzente, auf übertriebene Kostümierung, kurz auf jene Art von Veräußerlichung gestellt, in der jede neue Bourgeoisie auf die pathetischst mögliche Weise das Historische zu begreifen liebt. In dieser wunderlich aus Brutus-Attitüden, Advokaten-Republikanertum und prunkliebendem Liberalismus zusammengesetzten Welt (in deren Besten freilich das edle und wahrhafte Pathos des Risorgimento mahnend weiterklang) lebte selbst Alfieri einen letzten Augenblick noch einmal auf, fast schon grotesk, gipserstarrte Antike, nun in dem bürgerlichen Prunke völlig sinnlos werdend.

Eleonora Duse aber fehlten ganz und gar alle Voraussetzungen, zu diesen Äußerungen dessen, was wir ihre Zeit nennen müssen, auch nur eingeschränkt ja zu sagen. Ihre Zeit war, was sie empfand und ahnte — und sie hatte kein anderes Maß als ihr heißes, störrisches Herz.

Als die Proben begannen, fühlte sie zum erstenmal ein wenig Luft, in der sie atmen konnte. Zwar war auch Giovanni Emanuel kein revolutionärer Neuerer, aber er hatte Geschmack und ein künstlerisches Gewissen, und was er während der Proben einwandte oder verlangte, hatte schon zuweilen etwas mit dem zu tun, was dieses Mädchen da ahnend begehrte. Und er ließ die kleine Wilde, die er ja selber eingefangen hatte, gewähren, weil er von ihr etwas erwartete, so sehr sie ihm auch oft gegen seinen Geschmack an harmonischem Zusammenspiele gegangen sein mochte.

Es war ein Drama von Alfieri, der „Oreste“, in dem Eleonora als Elektra etwas wie Erfolg hatte. Allein schon ihr Kostüm zeugte für sie; während ihre Mitspieler sich die Tracht der barocksten Antike zum Vorbilde genommen hatten, trat sie im schlichtesten, linienreinsten Gewände auf, das sie im Museum oder in Pompeji hatte entdecken können. Und wie ihr Kostüm war auch ihr Spiel durchaus von dem der Anderen unterschieden. Heißes, heftiges Leben brannte aus den wohlgemessenen farblosen Versen hervor; leidenschaftlich und doch gehalten lebte eine griechische Jungfrau mit einem südländisch-wilden Herzen ein Stück unheimlichen und erschreckenden Daseins den betroffenen Zuschauern vor. Es gab Erregung, Befremdung, verletztes Stilgefühl — aber diese Zuschauer im Teatro dei Fiorentini waren ja Neapolitaner, leicht entzündliches Volk, das ein wunderbares Organ für das Echte, Lebendige in der Kunst hat, und so spürten sie allem ihrem zeitbedingten Geschmacke zum Trotz in diesem absonderlichen Geschöpf etwas von dem Wunder, das Kunst heißt, und verziehen ihm beinahe seine Ungewöhnlichkeit.

Freilich war damit, daß sie nunmehr „bemerkt“ worden war, ihr Leben selber vorerst kaum anders geworden. Die folgende Äußerung des seinerzeit berühmten Theaterkritikers Boutet zeigt, daß Eleonora Duse auch in Neapel (wo Boutet sie kennengelernt hat) anfangs äußerlich noch nicht viel anders gelebt hat als in den Jahren zuvor. Er schreibt: „... Das arme Kind war damals eine Schauspielerin in den ersten Anfängen. Sie geht in einem dürftigen und abgeschabten Kleidchen einher, mit einem dunklen Strohhute mit einem rötlich gewordenen schwarzen Bändchen, der keine Jahreszeit kannte. Tagaus, tagein trabt sie morgens zu den Proben und abends zu den Vorstellungen, hohlwangig von der kärglichen Nahrung, den Träumen und den Ängsten vor dem nächsten Tage.“

Aber etwas wird doch bald anders, wunderbar anders. Ein unbekanntes Glück rührt täglich süßer an ihr Herz. Sie hat junge Menschen kennengelernt, die aus ihrem Spiel ihr Wesen geahnt haben. Sie hat Freunde. Junge Seelen, sehnsüchtig dem Großen aufgetan, das im Leben sein muß, finden sich zu der ihren. Matilde Serao, die Dichterin, ein paar junge Schriftsteller. Sie horcht, spricht, Quellen beginnen zu rieseln, die den Staub vieler Wanderschaften fortspülen. Tausend unbekannte Dinge wachen auf. Sie kann nicht schlafen vor Lebensfülle, sie ist zum ersten Male jung.

Nun wird das Theaterspielen mit jedem Tage erregender. Und selbst die große gefeierte Giacinta Pezzana wird jetzt täglich mehr auf sie aufmerksam. Diese Frau, die schon im Nachmittage ihres Lebens steht, ist nicht etwa eifersüchtig auf die „Kleine“, im Gegenteil, sie wittert ihre künstlerische Kraft, sie sagt ihr zuweilen ein Wort — nicht gute Lehren, die aus ihren eigenen, so verschiedenen Anschauungen von Schauspielkunst stammen, sondern praktische Hinweise auf technische Dinge, wie sie der Unwissenden und nur von ihrer Gestaltungsgier Geleiteten bisher noch keiner gesagt hat.

Es wurde die „Thérèse Raquin“ von Zola einstudiert. Noch war Eleonora eingeschüchtert von der Gegenwart der ihrer selbst so sicheren, gefeierten Tragödin und beschränkte sich während der Proben auf andeutendes Spiel. Proben waren ja von früh an für sie stets nur ein zwar unerläßlicher, aber immer als unwesentlich empfundener Notbehelf. Als sie als Halbwüchsige während einer Probe gar nicht mit Spiel und Stimme aus sich herausgehen wollte und der Probenleiter immer ungehaltener in sie drang, hatte der Vater, der diese Eigentümlichkeit Eleonoras wohl kannte, ihm gesagt, er möge das Kind nur gewähren lassen; wenn erst das Rampenlicht brenne, werde sie schon spielen, wie sie solle.

Bei der Erstaufführung dieses Zolaschen Stückes, das mit seiner einfachen Sprache und grell leidenschaftlichen Wirklichkeit nun freilich auch weit mehr nach dem Sinne einer Besessenen war als der luftlose Alfieri, war dann alle Schüchternheit fort, und Eleonora Duse spielte wie nie zuvor, so daß selbst die Pezzana in den Szenen mit ihr sich an ihr entzündete und, von der jungen Leidenschaftlichkeit hingerissen, stärker und echter war als je zuvor. Wie groß der Erfolg war, verstand das Mädchen trotz all der Hervorrufe erst gar nicht recht; sie war ja noch die andere, die aus der Wirklichkeit des Stückes, die da an die Rampe trat. Erst als die Freunde, die Kollegen und die Pezzana selber es ihr sagten, begriff sie, daß sie nunmehr wirklich Theater gespielt habe. Und Giacinta Pezzana schützte sie wider Neid und Spöttelei; und denen, die versuchten, ihr eigenes edles und wohlabgemessenes Spiel auf Kosten des „Tobens dieser wilden Person“ zu preisen, erwiderte sie abwehrend, daß diese kleine Duse eine ganz große Schauspielerin werden würde. Und noch viele Jahre später erzählte die Altgewordene, die Jahrzehnte voll Theaterabenden hinter sich hatte, von diesem Abende mit der kleinen Duse als einem unvergeßlichen.

 

In dieser kurzen Spielzeit in Neapel, in der Eleonora Duse zum ersten Male Freundschaft erfahren hatte und im ersten Erfolge ihre Gestaltungskraft Wirklichkeit werden gefühlt hat, geschah ihr noch Tieferes und Entscheidenderes. Ihr feindseliges Sichwehren war fort, Zutraulichkeit zur Welt tat, zaghaft noch, neue Sinne in ihr auf. Seit es in dieser fremden Stadt Gassen gab, die gut waren, weil Freunde in ihnen wohnten, war die ganze Stadt nicht mehr unheimlich, und seit die Freunde sie die Hingabe und Hinnahme im Gespräche gelehrt hatten, waren die Menschen in ihrem Gefühle anders geworden. Sie, die in Einsamkeit und Scheu gehüllt Gewesene, war nun voll von Glauben, Erwartung und Bereitschaft. Schicksal bereitet sich ja stets innen und außen zugleich, und wenn ein Geschehnis seine Bedeutung haben soll, dann hat es seine Vorläufer im Herzen selber. Als Eleonora Duse damals in Neapel Martino Cafliero kennenlernte, empfand dieser sinnenkluge, echte Verführermensch alsogleich die tiefe Lebenssehnsucht dieser jungfräulichen Seele. Er war reichbegabten Geistes und anspruchsvoll, wie nur ein vom Leben und von den Frauen Verwöhnter es sein kann. Doch sein Verführertum war nicht rohes Nehmen, sondern jene überfeinertste Lust am Spiel der eigenen Kräfte und an ihrem Vermögen, sich Seelen zu gewinnen und dienstbar zu machen. Mit diesem Mädchen, das keine Künste lockender Abwehr, kein Spielen und kein Halbsein kannte, hatte er es allzu leicht. Er war gewandt, hatte viel erlebt, gedacht und gelesen, war, wenn er wirken wollte, ein hinreißender Erzähler, war zudem ein angesehener Schriftsteller und um anderthalb Jahrzehnte älter als die kleine Schauspielerin. Er zeigte ihr Neapel, das plötzlich in seiner ganzen schwermütigen Herrlichkeit zu leuchten begann, führte sie vor Kunstwerke und tat erst nichts anderes, als sonst ein wohlwollender Mensch täte, der einem armen kleinen Wesen Freude machen und seine Stadt zeigen will. Er fuhr mit ihr im Boot in den mondlichten Golf hinaus, zeigte ihr den Blick vom Posilipo und Vomero, führte sie in wunderbare Restaurants zu Mahlzeiten mit Speisen, von denen sie nie gehört hatte, erzählte ihr auf Wagenfahrten und Spaziergängen von den Dingen der Welt, von denen das Komödiantenkind höchstens durch die gespielten Stücke Kenntnis hatte, und von den großen Büchern ihrer Sprache, brachte ihr Blumen ... Bald schaute den Herrn all dieser Herrlichkeiten der Welt die nie gewagte Zärtlichkeit einer ganzen Jugend aus den großen dunklen Traumaugen an, das schmale Gesichtchen mit seiner kränklichen Blässe wurde immer schöner in seinem Leuchten aus Bewunderung und Glück. Das war Eleonora Duses erste Liebeszeit. Ein Schatten fiel drohend auf sie: die Spielzeit am Teatro dei Fiorentini ging zu Ende. Daß dann das Ensemble der Fürstin Santobuono aufgelöst und sie ohne Engagement sein würde, beschäftigte ihre Gedanken kaum. Sie liebte, nun mußte alles recht geschehen. Sie erschrak fast, als sie dann in die Compagnia des in ganz Italien bekannten Cesare Rossi, in die auch Giacinta Pezzana übergegangen war, aufgenommen war. Denn nun war das Drohende Wirklichkeit geworden: sie sollte fort. Sie wollte nicht, sie konnte nicht — fieberhaft wartete sie bis zum letzten Augenblicke, daß der Geliebte ihr sagen werde: „Bleib!“ Er sagte es nicht, für ihn war ja dieses Fortgehen der erwünschteste Abschluß einer Beziehung, deren Zeit um war. Und sie konnte nicht fordern, niemals. Die letzte Nacht ist grauenhaft; sie kann es nicht glauben. Sie geht mit ihm durch die Gassen, wortlos, wartend, oh, so wartend. Und dann geschieht das Unfaßbare doch, daß er sie fortläßt. Noch im Bahnhofe wartet sie ... Matilde Serao schaut sie an, das kleine Gesicht ist grau geworden, die tränenlosen Augen sind voll so schauerlicher Trauer, daß die Freundin erschrickt und ahnt, daß eine Seele, die so leiden kann, noch unendlich werde leiden müssen.

Das Ensemble Cesare Rossi ging nach Turin, und hier begann eine neue Leidenszeit für Eleonora Duse. Der Erfolg von Neapel war vergessen, die Freunde fern und ferner noch und immer ferner der Geliebte, der unerkennbar aus den seltenen, farblos freundlichen Briefen zu ihr sprach. Sie hatte an eine Heimat im Glücke geglaubt — nun war die Einsamkeit noch schauriger. Und trotz des Wohlwollens Giacinta Pezzanas war das Theater nun wieder Qual geworden. Cesare Rossi hatte ihr im Vertrauen auf die in Neapel gezeigte Kraft bedeutendere Rollen anvertraut. Und das Publikum von Turin, durch altvertraute Ensembles ganz und gar zu den herrschenden Schauspielkonventionen erzogen, lehnte die „häßliche junge Person“ mit ihrem exaltierten Spielen erst entschieden ab. Dann kam noch Schwereres: Übelkeiten, Versagen aller Kräfte des in ständiger Anspannung mißbrauchten, unterernährten Körpers und endlich die nicht mehr zu verhehlende Erkenntnis, daß sie schwanger sei. Sie schreibt nach Neapel. Die Antwort scheint wenig Trost gebracht zu haben. Endlich entschließt sie sich — oh, wie schwer wird der Entschluß ihr, die nicht bitten kann —, den Geliebten um eine Zusammenkunft zu bitten. Er kann sich nicht weit von Neapel entfernen, schreibt er, und schlägt Rom vor. Dahin fährt sie nun die Nacht durch in der dritten Klasse mit den ersparten paar Lire, für die sie hatte ein Kleid und Schuhe kaufen wollen. Bei ihm müsse ihr Trost werden, sagt sie sich unaufhörlich. Und meint damit, daß die ganze Liebe wieder aufwachen und ihr alles Schwere selbstverständlich machen müsse. Aber es kam anders. In ihrem eigenen Gefühle war, ihr unbewußt, schon das mit, daß er sie hatte fortgehen lassen. Und so wird ihr seine Zärtlichkeit, nach der sie so gehungert hatte, zur Demütigung und sein Begehren zur Gier, von der sie sich besudelt fühlt. Da sie dann allein in dem elenden kleinen Hotelzimmer ist, ist sie im tiefsten, gräßlichsten Abgrunde der Verzweiflung, und nur noch der Tod scheint Hilfe zu sein. Da bäumt sich etwas Mächtiges, das sie noch nicht in sich empfunden hatte, in ihr auf: „Das wäre zu klein, zu leicht!“ Sie sieht sich gehen, einsam, beladen, sich eine unendliche Straße hinschleppen. Alles ist grau, Mühsal, Elend, sie senkt den Kopf mit den weit aufgerissenen Augen. Da der Morgen graut, geht sie aus dem Hotel fort. Sie trägt ihr Köfferchen durch viele schmale und winkelige Gassen, ehe sie sich, nun wieder scheu geworden, nach dem Wege zu fragen entschließt. Einmal schaut sie auf, sieht im Frühlichte der engen Gasse ein schönes altes Gebäude und liest „Teatro Valle“. Eine tiefe Angst, auf deren Grunde etwas wie eine schmerzensvolle Süßigkeit ist, erfüllt ihr Herz. Theater spielen, ja Theater spielen ... Sie kehrt nach Turin zurück und spielt, solange sie kann. Erst als ihr zarter, entstellter Körper ihr die Bühne verbietet, läßt sie sie für eine Weile. Sie verkriecht sich in Marina di Pisa (jenem Marina di Pisa, wo zwei Jahrzehnte später ihr Dichter seine schönsten Gedichte geschrieben hat). Ihr Unterschlupf ist ein Bauernhaus. Schlichte, freundliche Leute sind um sie, betreuen ihre Schwäche und schaffen Beistand, da ihre Stunde gekommen ist. Der erste Blick schon auf ihr Kind erschüttert sie auf eine Weise, daß Liebe und Grauen dieses Augenblickes noch nach Jahren mit voller Gewalt über sie hereinbrechen konnten. Es war ein Knabe, ein elend kleines Wesen mit einem winzigen, erbärmlichen, faltigen Greisengesichtchen, das von der ersten Minute an zu alt und zu traurig zum Leben schien. Das Geschöpfchen starb nach ein paar Tagen, und die Mutter trug es selber in seiner kleinen Kiste zum Friedhofe.

Dann muß sie wieder zurück, zum Ausruhen hat sie keine Zeit, kein Geld. Ein paar Blätter von dem Grabe, in dem die Frucht ihrer ersten Liebe liegt, hat sie in ihr Taschenbüchlein genommen und trägt sie bei sich, bis sie Staub werden wie das Geschöpfchen selber. Aber dieses taucht wieder empor, nach Jahren noch in Visionen, die das Herz der Frau in jener grauenvollen Liebe aus dem ersten Augenblicke ihres Mutterseins erzittern machen.

 

Rossi hatte Zutrauen zu dem Talente seiner Seconda donna, mochte es sich auch in Formen äußern, die ihm gegen den Geschmack gingen, und mochte auch das Publikum einer Stadt sie ablehnen. Er war seines Instinktes sicher — und überdies machte ihm diese Ablehnung gerade in Turin nicht viel aus, denn hier hatte er Zeit genug vor sich, die Duse durchzusetzen. Es war ihm gelungen, bei der Kommune von Turin einen auf eine Reihe von Jahren laufenden Vertrag zu erwirken, der ihm alljährlich für eine bestimmte Zeit das städtische Theater sicherte. Er war der Unregelmäßigkeiten der Gastspiele müde; zu lange hatte er das von stets unberechenbaren Zufällen abhängige Wanderleben der italienischen Schauspieler geführt. Nun, diese Zufälligkeiten ließen sich ja auch nicht ganz ausschalten, wenn man Ordnung in die Reihenfolge der Gastspiele zu bringen suchte, aber aus der Vertrautheit, die durch einen stets wiederkehrenden Kontakt mit dem Publikum einzelner Städte erwächst, ließ sich manches vorhersehen, fördern oder vermeiden. Und daran lag ihm. Er war berühmt genug, hatte sich genug geschunden, nun wollte er, soweit es ging, leben, wie er es liebte. Er war nicht mehr jung, ein bißchen bequem und wurde leicht mürrisch, wenn ihn etwas störte. Er aß gerne gut, und es war ihm fast eine Leidenschaft (soweit ein solches Wort für sein ein wenig ausgebranntes Wesen gebraucht werden darf), wie sein großer Landsmann Rossini selber in der Küche zu stehen und sich und ein paar Freunden seine besonderen Leibgerichte zu bereiten. Es hatte viele Frauen, sehr viele, in seinem Leben gegeben, und er brauchte sie auch jetzt noch. Nur mußte es einfach gehen, sie durften keine „Geschichten“ machen, er haßte Widerstand jeder Art und wurde unleidlich, wenn nicht alles ging, wie er es forderte. Und dann, er hatte zu viele Frauen schwach, meinungslos, käuflich gesehen, und nun hielt er nichts mehr von dem ganzen Geschlechte. Es war hübsch und konnte Freude machen, es konnte auf dem Theater, wenn man seine natürliche Komödiantenbegabung mit Verstand zu entwickeln und anzuwenden wußte, eine Menge erreichen — aber wenn es sich um ernste Dinge handelte, die Urteil oder Zuverlässigkeit erforderten, hielt er sich an die Männer.

Da war nun diese kleine Duse. Talent hatte sie ganz bestimmt, mehr als die meisten, die er gesehen hatte, aber es war alles zu maßlos, zu hysterisch, wie er alles zu nennen liebte, was ihn hätte mit blutdurchpochter Leidenschaft in seinem Gleichmaße stören können. Wenn das Frauenzimmer wenigstens hübscher wäre! Na, man mußte ihr einige Unarten abgewöhnen, und im übrigen würde sich das Publikum schon an dieses absonderliche Gesicht gewöhnen, das ja mit seiner Beweglichkeit für das Metier recht geeignet war.

Die den „großen“ Rossi lange kannten, wunderten sich im übrigen, wie nachsichtig er gegen diese armselige Duse war, die immer mit Blicken umherging, die keinen anschauten, und die oft geradezu erschrak, wenn man sie anredete. Er ließ sie gewähren, selbst wenn sie auf den Proben eine Stelle gegen ihn verteidigte, seit er da und dort gesehen hatte, daß solche Stellen „flau“ wurden, wenn sie sich zu einer Auffassung bereden ließ, während gewagte und absonderliche Dinge, die er anderen nicht durchgelassen hätte, bei ihr plötzlich vortrefflich wirken konnten, weil eben sie es war. Er hatte sich vor derartigen Überraschungen längst sicher geglaubt. Aber sie überraschte ihn immer wieder, ja noch mehr, es war nicht zu leugnen, daß sie ihn beschäftigte.

Dann kam die Sache, die er vorausgesehen hatte: die Pezzana wollte fort. Die Gage, Rollen ... weiß der Teufel, was in solch einem durch allzuviel Erfolg verwöhnten Frauenzimmer alles vorgeht. Im Grunde ist es ja doch wohl nur das, daß man es einfach nicht lange in einem Ensemble aushält; nicht einmal in seinem, wo es sich doch wirklich leben ließe. Was jetzt? Wieder eine von den Berühmten nehmen, riesige Gagen zahlen, sich mit den Launen einer wahrscheinlich auch nicht mehr jungen, eingebildeten Person herumschlagen? Hatte er denn einen großen Namen nötig? Genügte es nicht, daß er für seine Leute einstand und daß er, Cesare Rossi, von Zeit zu Zeit selber spielte? Die Duse war nun einmal da, sie machte sich gar nicht schlecht, damals in Venedig hatte sie doch sehr gefallen und eine ausgezeichnete Presse gehabt. Und für die seconda donna war sie schon allmählich nicht mehr das Richtige. Und dann, wenn man ihr so außerordentlich entgegenkam, würde sie vielleicht auch etwas gefügiger werden. Sie hatte sich doch jetzt ganz nett herausgemacht. Oder täuschte er sich? Hatte er sich nur an sie gewöhnt? War es nur das, daß er die hübschen glatten Fratzen allmählich satt hatte? Sie gefiel ihm, sie gefiel ihm mehr, als ihm lieb war, und er wurde mürrischer denn je, wenn sie wieder einem Annäherungsversuche entglitten war.

Eleonora Duse war also als prima donna an die Stelle der Giacinta Pezzana getreten. Als Rossi ihr den unerwarteten Vorschlag gemacht hatte, hatten ihr die Knie zu zittern begonnen. Sie an Stelle der Pezzana? Damals hat Rossi sie das einzige Mal weinen gesehen.

Wenn Rossi nicht so fest von dem Talente seiner neuen Primadonna überzeugt gewesen und zudem auf eine ihm ganz unverständliche Weise von ihrem Wesen gefangen gewesen wäre, hätte er es wahrscheinlich bereut, nicht lieber doch eine andere Frau, deren Wirkung er sicher sein konnte, engagiert zu haben. Diese Duse brachte ihm unstreitig Pech. Nicht nur weil sie sein behagliches Gleichgewicht störte; seit sie Primadonna war, schien es auch mit dem Ensemble gar nicht mehr vorwärtszugehen. Wieder war es Turin, wo sich eine Spielzeit so ganz und gar entmutigend für Eleonora Duse anließ. Der Theaterbesuch nahm von Tag zu Tag bedrohlich ab, nach jedem Kassenrapport war Katastrophenstimmung um Rossi. Er wußte nicht mehr, was er spielen solle. Stücke, auf die er geschworen hatte, versagten, und es wehte aus dem halbleeren Zuschauerraume ein Hauch von Öde auf die Bühne, daß denen da oben in ihren mittelmäßigen Stücken die Worte im Munde grau und kümmerlich wurden und die Arme aus den Gesten niedersanken wie Segel ohne Wind.

Verzweiflung griff nach Eleonora Duse. Alle Verheißungen schienen erloschen, alle Anstrengungen sinnlos. Die Wunde von Neapel her tat immer noch furchtbar weh und machte sie scheu vor Menschennähe, deren Wärme hätte Hilfe sein können. Zudem hustete sie, fühlte sich oft fiebrig, oft elend matt. Und das Theaterspielen in diesen Stücken, die nach Schimmel rochen, und vor diesem Publikum, dessen Gleichgültigkeit ihr das Blut stocken machte, das geliebte Theaterspielen war jetzt wie Fliegenwollen und Eisenkugeln an Händen und Füßen haben. Konnte sie nicht doch noch anderes beginnen, sie war jung, liebte die Arbeit — gab es nicht irgendeine andere, sinnvollere Arbeit für sie? Diesen Zustand der Spannungslosigkeit, dieses beamtenhaft tägliche Ins-Theater-Gehen ohne Schwung, ohne einen Funken inneren Aufleuchtens ertrug sie nicht mehr. Sie suchte nach einem Auswege, sie wollte fort vom Theater, etwas tun, schaffen und wieder atmen können.

Alles war hier unerträglich geworden, und beinahe am schlimmsten diese Sache mit Rossi. Er war nun unablässig hinter ihr her, und wenn sie ihm freundlich oder zuletzt gereizt zu verstehen gegeben hatte, daß er sie in Frieden lassen und doch endlich diese sinnlose Verfolgung aufgeben möge, war er beleidigt, wütend, demütigte sie vor den Anderen und sann hundert Bosheiten aus, ihr weh zu tun. Und immer schlimmer noch wurde das, als sie hier den erwarteten Erfolg nicht hatte. Nun begann er die Primadonna von seinen Gnaden als sein Geschöpf zu behandeln und als sein Recht zu fordern, daß sie ... Nein, sie konnte nicht weiter!

Da wurde ihr von unerwarteter Seite Hilfe. In dem Ensemble war ein Schauspieler, ein Mann zu Anfang der Dreißig, kein ganz großes Talent, aber ein gescheiter, geschmackvoller Darsteller — und vor allem ein guter Kamerad, ein braver, anständiger Bursch, zu dem man, selbst wenn einem so Grausiges widerfahren war wie ihr, Vertrauen haben mußte. Er war der Einzige, mit dem sie in dieser lichtlosen Zeit zuweilen geredet hatte. Sie hatte sich nie über Rossi beklagt. Sie hätte sich geschämt, davon zu reden, und dann, wenn sie diesen plötzlichen Irrsinn des Alternden ruhiger ansah, tat er ja nicht zu Ungewöhnliches, wie es das Leben beim Theater sie gelehrt hatte. Viele waren so, und niemand fand daran etwas auszusetzen, und viele Frauen sagten um des Fortkommens und des lieben Friedens willen ja. Nur sie konnte das nicht, sie konnte nichts tun, was sie nicht mußte, das wußte sie allmählich von sich, und wenn sie sich einmal zum Nachgeben gezwungen hätte, wäre es mit ihr zu Ende gewesen. Davon aber sagte sie nichts zu Tebaldo Checchi, der ihr in dieser Zeit durch seine Herzlichkeit und seine stets gleichmäßige fürsorgliche Art schon ein Freund geworden war. Im Gegenteil, sie rühmte, was sie Rossi zu danken habe, wie verständnisvoll für ihre Art er ihr so oft Dinge gesagt habe, die ihr technisch außerordentlich geholfen hätten, und was es schließlich für ein Akt des Vertrauens gewesen sei, sie, die junge Person ohne Namen, zur Nachfolgerin der Pezzana zu machen. Checchis Verehrung für sie wuchs noch, weil sie sich über das nicht beklagte, was er täglich mit ansah. Dann wurde es eines Tages auch ihm zu arg. Er hatte dieses ernste Mädchen, von dessen trauriger Lebens- und Liebesgeschichte ihm der Theaterklatsch ohne sein Dazutun manches zugetragen hatte, liebgewonnen. Er wollte das zarte und so leidensfähige Geschöpf behüten, über der Entfaltung seines Talentes, das er bewunderte, wachen und der vom Leben Verängstigten und in sich selber Friedlosen Geborgenheit geben. Ihm ahnte, daß das eine schwere Aufgabe sein könnte. Man hatte ihm gesagt, daß sie die „Smara“ habe, jene venezianische Krankheit der Seele, die durch das Blut treibt wie die Abendnebel über die Kanäle, die darin mit Sehnsucht, Schwermut und Leidenschaften irrlichtert und das ganze Leben rettungslos unstet macht. Das sei Aberglauben, meinte er. Aber daß sie in ihrem Wesen anders sei als die Frauen, die er gekannt hatte, und in vieler Gefahr sei, wußte er, und es schreckte ihn nicht. Da er liebte, wollte er helfen, schützen können. Er sah nur einen Weg dazu. Da ging er zu Eleonora Duse, nahm ihre Hand und sagte, daß sie seine Frau werden müsse, sonst gäbe es keinen Frieden für sie. Denn wenn sie auch das im übrigen für sie so vorteilhafte Engagement bei Rossi verließe, würde sich ein anderer Rossi finden, und wahrscheinlich noch ein schlimmerer. Er habe sie von Herzen gern, wisse, was sie durchgemacht habe, und ihm wäre es das Glück, ihr das Leben leichter machen zu können. Es war eine so große Einfachheit und Innigkeit in ihm und seinen Worten, daß davor all ihr Widerstand verging.