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Ein Erlebnisbericht, der von der Ausbildung in Stralsund über Norwegen zu den grauen Wölfen in den Atlantik führt. Obermaat Alfred Nell schildert in eigenen Worten seine Kriegserlebnisse, auf dem Vorpostenboot Orkan, U-141, U-729 und U984, sowie bei der Schlacht um Brest.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Dieses Buch ist im Jahr 2007 in Zusammenarbeit mit meinem Großvater Alfred Nell entstanden. Er hat mir in unzähligen Stunden seine Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Diese Gespräche wurden von mir mit einem Diktiergerät aufgenommen und später in dieser Form niedergeschrieben.
Die Niederschriften wurden von meinem Großvater gegengelesen und an verschiedenen Punkten immer wieder ergänzt, bis schließlich ein Gesamtbild seiner Kriegserlebnisse entstanden ist. Wir verbrachten viele Stunden damit Dinge zu ordnen, oder ich fragte an Punkten nach, bei denen ich Klärungsbedarf hatte. Verschiedene Erlebnisse, die mein Großvater mir berichtete, konnte ich bei meinen Recherchen anhand anderer Berichte aus dieser Zeit belegen. Diese Textstellen habe ich am Ende des Buches mit Quellenangaben zitiert. Andere Angaben seinerseits stimmen nicht mit Berichten in anderen Büchern überein, wobei bemerkt werden muss, dass sich auch die Inhalte der Bücher untereinander unterscheiden. Mein Großvater pflegte hierbei zu sagen: „Die waren auch nicht dabei!“
Besonders faszinierend fand ich die Tatsache, dass mein Großvater sich nach über fünfzig Jahren noch detailliert an seine Ereignisse erinnern konnte und ihm viele Namen und Dienstgrade von Kameraden noch immer präsent waren. Seine Angaben haben mir gezielte Recherchen ermöglicht und konnten das Gesamtbild seiner Berichte abrunden. Viele Zeitangaben meines Großvaters waren lediglich ungefähre Einschätzungen, konnten aber anhand von Berichten über den Kriegsverlauf oder die Schlacht um Brest genauer datiert werden. An einigen Stellen konnte ich durch Internetrecherchen und Bücher genauere Angaben zu technischen Vorgängen herausfinden. Diese Informationen habe ich dann mit Fußnoten in die erzählten Texte meines Großvaters eingefügt.
Insbesondere die Erlebnisse meines Großvaters auf U-984 sind etwas Besonderes, weil er alle vier Fahrten des Bootes miterlebt hat und nur auf der letzten Fahrt wegen eines vorherigen Lazarettaufenthaltes abgelöst worden war. An seiner Stelle fuhr ein anderer Mann auf der Gefechtstelle des Zentralemaats mit U-984 aus dem Hafen von Brest. Das Boot kehrte von dieser Fahrt nicht mehr zurück. Somit ist mein Großvater der letzte Zeitzeuge, der von den Fahrten des Bootes U-984 berichten kann.
Auf Wunsch meines Großvaters ist dieses Buch insbesondere den Männern von U-984 und ihrem Kommandanten Heinz Sieder gewidmet, die am 06. Juni 1944 mit ihrem Boot die letzte Fahrt angetreten haben, sowie allen anderen Soldaten und Zivilpersonen jedweder Nationalität, die während des Zweiten Weltkrieges ihr Leben verloren haben.
Marc Debus
Alfred Nell 1940
Als ich ein junger Mann war, lebte meine Familie in Dillenburg. Mir, Alfred Nell, wurde schon 1938 klar, dass ich irgendetwas unternehmen musste, um meinen größten Traum zu verwirklichen, die Welt kennen zu lernen. Ich träumte davon, fremde Länder zu bereisen und Dinge zu sehen, die man damals nur aus Erzählungen kannte. Ich war mir sicher, dass ich den Dillkreis ansonsten kaum verlassen würde; bestenfalls käme man nach Wetzlar oder Gießen, das war mir allerdings bei weitem nicht genug. Durch die Hitlerjugend kam man zwar im Kreisgebiet etwas herum, aber wir wussten auch, dass die meisten älteren Jungen in unserer Gegend blieben. Auch während ihrer Militärzeit blieben sie meist in irgendeiner Kaserne in der Umgebung. Ich sah im Militär meine große Chance, weil wir damals natürlich noch nicht damit rechneten, dass es zum Krieg kommen würde.
Marktplatz in Dillenburg
Ich unterhielt mich eines Tages mit dem Nachbarjungen Albert Schreiber. Albert sagte mir, er werde sich einfach zur Marine melden, dann würde er zur See fahren und hätte die Gelegenheit, viel von der Welt zu sehen. Dieser Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf und ich entschied mich, dasselbe wie Albert zu tun. Also meldete ich mich bei der Wehrmacht mit dem Wunsch, zur Marine zu gehen.
Einige Zeit später bekam ich Post. In dem Schreiben teilte man mir mit, dass meinem Wunsch entsprochen werde. Es dauerte dann noch fast einen Monat, bis ich ein weiteres Schreiben mit einem Musterungsbefehl bekam. Die Musterung sollte in Wetzlar stattfinden, in der Kaserne der Nachrichtenabteilung 9 in der Braunfelser Straße. Am Tag meiner Musterung fuhr ich mit dem Zug nach Wetzlar und begab mich dann zu Fuß in die ein ganzes Stück entfernt liegende Kaserne. Die Musterung dauerte fast einen halben Tag und es war Abend, als ich wieder nach Hause fuhr. Der Musterungsbeamte hatte mir gesagt, dass ich demnächst wieder Post bekommen würde, mit meinen Musterungsergebnissen.
Also kam wieder ein Brief für mich vom Kreiswehrersatzamt. Ich sollte mich nun in Gießen beim dortigen Kreiswehrersatzamt in der Nähe des Bahnhofs melden, um eine Prüfung abzulegen. Ich wunderte mich zwar darüber, fuhr aber am angegebenen Tag nach Gießen und meldete mich bei der zuständigen Stelle. Außer mir waren noch über zehn weitere Leute zur Prüfung erschienen. Wir wurden ungefähr einen halben Tag lang in Mathematik, Deutsch und Naturkunde befragt. Danach sagte man mir, dass ich „bei Gelegenheit“ zur Marine einberufen werden würde. Ich fuhr also zurück nach Hause und wartete weiter ab.
Braunfelser Straße und Lahnbogen in Wetzlar 2006 – Links das Kasernengelände
Dann begann der Krieg. Ich hatte seither nichts mehr vom Kreiswehrersatzamt gehört. Ich war damals erst siebzehn Jahre alt und hätte mich somit im Herbst zum Arbeitsdienst melden müssen. Ich bekam dann aber Post aus Kiel, die von einem Korvettenkapitän unterzeichnet war. In dem Brief stand, dass ich bei einer Einberufung zum Arbeitsdienst darauf verweisen sollte, dass ich demnächst zur Marineausbildung herangezogen werden würde. Ich war noch in Ausbildung bei der Adolfshütte (Die Gebrüder Frank erwarben 1839 den „Niederschelder Hammer“ und gaben ihm den neuen Namen „Adolfshütte“. Am 25. Februar 1945 wurde sie bei Bombenangriffen größtenteils zerstört), den Frank'schen Eisenwerken in Niederscheld. Die Adolfshütte hatte bereits Kriegsaufträge und wir machten jeden Tag zwei Überstunden. Dort teilte ich mit, dass ich bald einberufen werden würde. Auf Grund der momentanen Auftragslage war man darüber natürlich nicht sehr glücklich.
Eine Sache ist mir noch im Gedächtnis, die in sich kurz vor meiner Abreise nach Stralsund ereignet hat. Ich war, wenn ich Zeit dazu hatte, oft mit Onkel Schneider, der ein Fuhrgeschäft in Dillenburg hatte, mit seinem Pferdegespann unterwegs. Sonntags morgens rief er mich oft, wenn er zum Frühschoppen zum rothaarigen Thiers Wilhelm (Es ist im Dialekt üblich, den Nachnamen zuerst zu nennen) ging. Ich ging gerne mit, weil im Lokal immer etwas los war und es viele Neuigkeiten zu erfahren gab. Er trank dort sein Bier und ich meine Limonade. Ich war also häufiger in diesem Lokal und dachte, ich sei dort gut bekannt.
Blick auf den Wilhelmsturm in Dillenburg
Im Lokal kam der alte Thiers zu mir und fragte mich, wie alt ich sei. Ich sagte ihm, ich hätte doch schon meine Einberufung, aber er fragte mich wieder, wie alt ich sei. Man durfte unter achtzehn solche Veranstaltungen damals nicht besuchen. Ich war nun ja noch siebzehn und sagte das dann auch, weil ich damit rechnete, es würde auf Grund meiner häufigen Besuche nichts geschehen. Da hat er mir vor allen Leuten auf dem Tanzboden eine Ohrfeige gegeben und mich auf die Straße gesetzt. Meine Freunde kamen sofort hinterher, weil sie nicht auch auf diese Weise rausgeworfen werden wollten.
Ein paar Tage später hat mir Thiers gesagt, dass es ihm Leid tun würde und mir noch eine Limonade im Lokal ausgegeben. Er wünsche mir viel Glück für meine bevorstehende Zeit in der Marineschule und sagte, ich solle mich wieder in seiner Kneipe blicken lassen, wenn ich zurück in Dillenburg wäre.
Dann kam mit der Post das Schreiben in dem man mir mitteilte, dass ich mich in Stralsund zur Ausbildung zu melden habe. Ich musste erst einmal auf einer Karte nachschauen, wo Stralsund überhaupt liegt. Ich verließ dann am 30. März abends meinen Heimatort. Einen Tag vorher hatte meine Mutter meine jüngste Schwester geboren und konnte mir natürlich bei nichts helfen. Ich packte meinen Koffer also alleine und fuhr am nächsten Morgen nach einer längeren Verabschiedung mit dem Zug aus Dillenburg los.
Im Zug traf ich gleich einen jungen Mann, der aus einem kleinen Nachbarort von Dillenburg stammte und der sich auch auf dem Weg zur Ostseeküste befand. In Gießen trafen wir noch zwei weitere, die ebenso wie wir beiden „Bauernjungen“ nach Berlin unterwegs waren. In Berlin angekommen, mussten wir mit der Straßenbahn vom Ankunftsbahnhof zu einem anderen Bahnhof fahren. Die Hauptstadt kam uns unglaublich riesig vor und wir staunten die ganze Zeit über Dinge, die wir nicht kannten und uns auch nicht hatten vorstellen können.
In dem anderen Bahnhof stand ein Sonderzug nach Stralsund. Es waren nur junge Männer in unserem Alter im Zug, die alle als Rekruten an die Ostsee zur Ausbildung verlegt wurden. Wir fuhren recht spät ab und kamen um zwei Uhr in der Nacht in Stralsund an. Auf unseren Einberufungsscheinen stand, dass wir uns um sechs Uhr in der Kaserne bei der siebten Schiffsstammabteilung melden sollten. Ein Berliner, der bei uns im Abteil saß, meinte, dass wir dann noch genügend Zeit hätten, uns vorher Stralsund anzuschauen, bevor wir uns zu unseren Einheiten melden müssten. Diese Idee fanden wir alle gut und freuten uns schon auf unseren nächtlichen Bummel durch die Stadt. Wir waren zu sechst, als wir in den Sackbahnhof von Stralsund einfuhren. Draußen standen Männer in Uniform, die die drei Schiffsstammabteilungen 7, 9 und 11 zum Antreten aufriefen (Die 9. Schiffsstammabteilung lag direkt in Stralsund, auf der Insel Dänholm lagen die 11. und die 7. Schiffsstammabteilung). Wir waren davon wenig beeindruckt und versuchten, uns aus dem Bahnhof hinauszuschleichen. Als wir am Ausgang ankamen, bemerkte uns ein Offizier und wir haben die erste lautstarke Verwarnung eingefangen und die war nicht zu knapp. Also mussten wir uns doch bei unserer Gruppe einfinden, aber nicht, ohne vorher noch namentlich registriert worden zu sein.
Blick vom Kirchturm über Stralsund 2007
Danach marschierten wir durch Stralsund zu unseren Quartieren. Alle Rekruten in Uniform in den Straßen machten Scherze mit uns und man rief uns zu, dass man uns jetzt den Arsch aufreißen würde, dass wir geschleift werden würden und ähnliches. Langsam stellte sich bei mir ein komisches Gefühl ein und ich wünschte mir das erste Mal, nicht so weit von zu Hause weg zu sein.
Am 1. April 1940 begann ich dann meine Grundausbildung in Stralsund an der Ostsee, bei der siebten Schiffsstammabteilung in der Kaserne Moltke. Am Sonntagabend hatte ich dann noch einmal eine Zurechtweisung wegen unserer Aktion auf dem Bahnhof. Ich war erstaunt, welche Folgen diese kleine Sache für nach sich zog und nahm mir vor, zukünftig wesentlich vorsichtiger zu sein. Neben der Kaserne Moltke lag die Kaserne Seydlitz. Am Abend interessierten wir uns dafür, wie es nun weitergehen sollte. Wir alle hatten seit der Einquartierung keine Informationen dazu erhalten. Ich bot mich an zu fragen, fand aber in unserer Kaserne niemanden in Uniform, der mir hätte Auskunft geben können.
Ich ging also in die Seydlitz-Kaserne nebenan, auch weil man uns vorher schon gesagt hatte, dass wir zusammen mit diesen Rekruten eine Kompanie bilden würden. Den Ersten in Uniform, dem ich begegnete, versuchte ich anzusprechen. Der Erfolg war der nächste lautstarke Verweis. Was ich da noch nicht wusste: Ich hatte gerade meinen späteren Zugführer, Bootsmaat Gärtner, kennen gelernt.
Ich erfuhr dann aber doch noch, von einem anderen Soldaten, dass wir die dritte Kompanie der siebten Schiffsstammabteilung waren und unser Kommandeur ein Kapitänleutnant mit dem Namen Steffens war, der früher evangelischer Pfarrer gewesen sein sollte. Er hatte bereits im Ersten Weltkrieg gedient, war zwischen den Kriegen Pfarrer und jetzt wieder als Offizier bei der Marine gelandet. Die siebte Schiffsstammabteilung bildete vornehmlich Kadetten aus, die später Unteroffiziers- oder Offiziersränge bekleiden sollten. Unsere Ausbildung war auf sechs Monate angesetzt und unsere Kompanie bestand nur aus Technikern, weil das zurzeit die meist gesuchten Leute bei der Marine waren. Der Spieß der Kompanie hieß Zieten, ein anderer Zugführer hieß Göring, wie unser Fliegergeneral. Das alles konnte ich meinen Kameraden in den Zimmern nun berichten.
Strahlsund – 23.05.1940 – Alfred Nell hintere Reihe 2. von rechts
In der zwölften Gruppe befand sich ein Rekrut, dem das nach ein paar Tagen schon zu viel war. Unsere erste Woche war wie eine zweite Prüfungszeit. Dabei sollte noch einmal überprüft werden, ob wir überhaupt für die Marine tauglich waren. Deshalb gab es auch Untersuchungen für Augen, Gehör und den allgemeinen Gesundheitszustand.
Besagter Rekrut dachte, er könnte die Untersuchungen ausnutzen, um sich wieder ausmustern zu lassen. Beim Augenarzt tat er so, als ob er sehr schlecht sehen könne. Normalerweise hätte man ihn nach der Untersuchung mit dem schlechten Ergebnis ausgemustert. Unsere Zugführer haben ihm das aber nicht abgenommen. Am nächsten Mittag kam der Unteroffizier vom Dienst und beorderte ihn erneut zu einer Untersuchung. Er dachte natürlich, es handele sich um seine Abschlussuntersuchung und er könne danach nach Hause fahren. Die Zugführer hatten sich allerdings einen Trick ausgedacht, um ihn der Lüge zu überführen und am Ende des langen Ganges vor unseren Zimmern eine dünne Schnur gespannt. Als er um die Ecke kam, bückte er sich unter dem gespannten Zwirnsfaden durch und war entlarvt. Die Gendarmerie holte ihn ab und wir haben ihn nie wieder gesehen.
Kurz nach dem Beginn unserer Ausbildung, am neunten April, begann die deutsche Wehrmacht ihren Feldzug gegen Norwegen und Dänemark. Wir hatten also gerade einmal neun Tage Dienstzeit in Stralsund absolviert und bekamen plötzlich erstmals scharfe Munition ausgeteilt. Wir waren sehr verwundert und verstanden im ersten Moment nicht, was man mit uns vorhatte. Einer der Befehlshabenden sagte uns, wir würden ab sofort in Bereitschaft für einen Einsatz liegen. Falls es erforderlich sein sollte, würden wir, verstärkt durch ein SS-Pionierbataillion, die dänische Insel Bornholm stürmen.
Wir lagen nervös in unseren Baracken und warteten zwei Tage auf unseren Einsatz. Am elften April wurde unsere Bereitschaft beendet. Auf Grund der neusten Meldungen war klar, dass wir nicht zum Einsatz kommen würden, da sich die Dänen der deutschen Armee ergeben hatten.
Unser Zugführer Gärtner war ein sehr unangenehmer Zeitgenosse. Wenn er etwas gut konnte, war es Leute schinden. Er sagte immer zu uns: „Meine Herren, wenn ich grinse, lacht der Teufel!“ und da hatte er recht. Wenn ich mich richtig erinnere, kam er aus der Stuttgarter Gegend. Ich hatte natürlich das Pech, ihm schon aufgefallen zu sein und jetzt kam ich zu allem Unglück auch noch in seinen Zug in der zehnten Gruppe der dritten Kompanie.
Ausbilder Gärtner – Stralsund 1940
Er war ein gnadenloser Treiber und wir bekamen nichts geschenkt. Er schleifte uns und hatte sichtlich seinen Spaß dabei. Wenn irgendetwas nicht so funktionierte, wie er es haben wollte, machten wir es, bis er zufrieden war. Oft waren wir noch auf dem Gelände, wenn die anderen Gruppen schon lange in die Quartiere zurückgekehrt waren. Eines Abends hat er uns seine Stiefel in die Stube geschmissen, was uns sagen sollte, dass er sie geputzt haben wollte. Es war uns klar, dass wir keine Wahl hatten, da wir ansonsten seinen Unmut sicher zu spüren bekommen hätten. Das Putzen haben wir dann mit viel Liebe durchgeführt. Mit dreizehn Leuten haben wir die Stiefel bis spät in den Abend hinein mit schwarzer Schuhcreme gewalkt. Wir hörten von den Stiefeln nie wieder etwas; ich denke, Gärtner hatte ein paar Tage schwarze Füße, wenn er seine Stiefel ausgezogen hat.
Jedenfalls bekamen wir auch das wieder zurück. Auf dem Dänholm gab es einen so genannten kahlen Berg, der nur aus Sand bestand. Der Sandberg war mindestens 30 Meter hoch. Das bedeutete beim Hochmarschieren, dass man einen Schritt hoch ging und dann einen halben Schritt wieder runtergerutscht ist. Dort hat Gärtner uns einen halben Tag geschleift, immer wieder den Berg rauf- und runtergejagt, bis wir vor Erschöpfung nicht mehr konnten.
Das machte er von da an gerne mit uns. Einmal ist jemand aus unserem Zug mitten im Anstieg liegen geblieben. Wir durften nicht helfen, waren nach einiger Zeit aber sehr besorgt, weil der Kamerad sich nicht rührte. Wir ließen uns dann beim Steigen immer wieder bei ihm fallen, lösten den Helm, öffneten das Hemd, drehten ihn herum, bis Gärtner das bemerkte. Es gab einen Schrei von unten und wir wurden zusammengepfiffen. Dass einer von uns erschöpft und halb ohnmächtig am Berg lag, spielte dabei keine Rolle. Der Kamerad musste später ins Lazarett und wir erfuhren, dass er schon seit seiner Kindheit Schwierigkeiten mit der Atmung gehabt hatte. Er hatte als Jugendlicher eine Gasvergiftung erlitten und seitdem häufiger asthmatische Anfälle. Einen dieser Anfälle bekam er bei der Übung. Vermutlich hatte er Glück, dass wir ihn umgedreht hatten, obwohl es uns nicht erlaubt war, wer weiß, wie die Situation ansonsten ausgegangen wäre.
Stralsund im Mai 1940 – Alfred Nell in der Mitte mit Messer im Mund
Zu unserer Ausbildung gehörte auch das Rudern mit großen Booten in der Nähe der Küste. Bei solchen Fahrten mussten wir am Bootsanleger angeben, wohin wir ruderten. Wir machten mit unseren Booten sogar Tagestouren, die bis nach Heiligendamm oder zur Küste von Rügen gingen. In den Booten befand sich ein Mastschuh, so konnte man einen Mast mit Segel aufstellen, um bei gutem Wind segeln zu können. Wir nutzten die ablaufenden Winde häufig zum Segeln und das Boot konnte dabei unheimlich schnell werden. Unser Zugführer Gärtner war ein echter Fachmann in Bezug auf die Nutzung dieser Winde.
Im Ausbildungsruderboot vor Stralsund
Es ist aber auch vorgekommen, dass er sich bei der Planung unserer Ruderausflüge verrechnet hat. Einmal segelten wir gegen eine aufziehende Schlechtwetterfront zurück. Der Wind war so stark, dass wir kaum vorwärts kamen. Wir kreuzten mit unserem Segel und ruderten noch zusätzlich. Gärtner trieb uns an, aber das half nichts, der Wind war stärker. Plötzlich krachte es laut und der Mast des Bootes brach, weil wir zu hart an den Wind gegangen waren. Wir hatten ein Loch im Boot und schöpften abwechselnd Wasser und ruderten weiter Richtung Kaserne. Spät am Abend kam zu unserem Glück ein Motorboot aus der Kaserne, weil wir schon vermisst wurden und zog uns den Rest der Strecke zurück.
Ein Kamerad im Ausbildungsboot vor der Küste
Ein anderes Mal waren wir Richtung Rügen gerudert und hatten die Insel halb umrundet. Auf der anderen Seite der Insel war ein Badestrand, wo viele Menschen badeten und wir ruderten dort dicht vorbei, weil Gärtner meinte, wir sollten zeigen, was gute Marinesoldaten können. Es gab ein kurzes, quietschendes Geräusch und wir hatten das Boot an einer niedrigen Stelle auf eine Sandbank gesetzt. Wir mussten aus dem Boot springen, standen bis zur Hüfte im Wasser und versuchten zur Freude der Badegäste, unser Boot wieder von der Sandbank zu bekommen. Das Boot saß so fest, dass wir es nicht mehr los bekamen. Auch hier bekamen wir schließlich Hilfe von einem Motorboot der Kaserne. Es hat uns mit einem langen Tau freigezogen und dann nach Hause geschleppt.
So vergingen die Tage unserer Grundausbildung in Stralsund bis Mitte Juni 1940. Wir wurden in den verschiedensten Disziplinen ausgebildet und hatten kaum Zeit uns auszuruhen. Die Ausbildung war hart und wir wurden durch unsere Ausbildungsleiter oft bis an den Rand der Erschöpfung geschleift. Irgendwann erfuhren wir, dass unsere Ausbildungszeit um drei Monate verkürzt worden war. Das war wahrscheinlich auch einer der Gründe gewesen, warum man uns so hart herangenommen hatte.
Ausbildungsgruppe Stralsund – Alfred Nell hintere Reihe 7. von rechts
Am Ende unserer Ausbildungszeit gab es eine große Prüfung. Wir mussten auf den Schießstand und wurden auf Hindernisbahnen geschickt, die wir vorher schon unzählige Male absolviert hatten. Alle Übungen wurden in voller Kampfausrüstung mit Stahlhelm und Tornister durchgeführt, um den Bedingungen eines realen Einsatzes so nahe wie möglich zu kommen. Bei den Hindernisüberwindungen musste man zum Beispiel mit Anlauf auf ein Sprungbrett springen und ein mauerähnliches, fast zwei Meter hohes Hindernis überwinden. Man kann sich sicherlich vorstellen, wie mühsam das in voller Kampfmontur war. Es gab weitere sportliche Prüfungen. Unter anderem mussten wir von einem Zehnmeterturm in die Ostsee springen. Dabei war es manchmal sehr kalt und es kostete große Überwindung, in das kalte Wasser zu springen.
Diejenigen, die die Prüfung bestanden hatten, bekamen einige Tage später beim Morgenappell den Befehl anzutreten. Vorher hatte man uns bereits befohlen, unsere Sachen zu packen und uns abmarschbereit zu machen. Da wir wussten, dass wir abkommandiert werden, haben wir uns vorher alle die langen Mützenbändchen der Kriegsmarine besorgt, die wir als Kadetten nicht hatten tragen dürfen und an unsere Mützen gemacht. Wir hatten diese in der Kantine für eine Mark gekauft, was damals viel Geld war und trugen sie nun stolz an unseren Mützen, als wir zum Abmarsch antreten mussten. Als unser Spieß Zieten das sah, wurde er total wütend, weil niemand uns das erlaubt hatte. Er ging die gesamte Kompanie ab und schnitt persönlich jedem Einzelnen das Mützenband wieder ab.
Wir wurden dann am Abend mit dem Zug in die Marineschule C nach Bremerhaven – Gestemünde verlegt. Wir sollten einen verkürzten Aufbaulehrgang zu unserer Grundausbildung bekommen, der acht Wochen dauern sollte. In der Kaserne gab es eine große Maschinenhalle mit Anschauungsstücken verschiedener Schiffsdiesel und E-Maschinen. Es gab riesige Zweitaktmotoren, die oben und unten zündeten und andere Besonderheiten, die wir vorher niemals gesehen hatten. Alle Maschinen waren lauffähig, so hatten wir die Gelegenheit, die Maschinen im Unterricht bis ins Detail kennen zu lernen.
Dieselmaschine eines U-Bootes des Typs VII C
Zu dieser Zeit lagen am Kolumbuspier in Bremerhaven zwei große Dampfer, die „Europa“ und die „Bremen“. Die Engländer begannen damals mit alten Bristol Blenheim (Zweimotoriger Bomber der Royal Air Force) erste Angriffe auf Deutschland zu fliegen. Es kam ein Geschwader auf Bremerhaven zu und ich konnte sehen, wie eine Maschine die Europa mit einer Bombe genau zwischen die Schornsteine traf. Die Bombe schlug durch mehrere Decks, explodierte aber nicht. Das R und das O des Schriftzuges zwischen den Schornsteinen war heruntergefallen, das war alles, was man sehen konnte.
Abgeschossene Maschine im 2. Weltkrieg
Der Pilot wollte nicht aufgeben und flog den Dampfer ein zweites Mal an, wurde dabei dann aber von unserer Flugabwehr abgeschossen. Das Flugzeug stürzte ab und lag danach auf der Pier in der Nähe der Europa. Der Heckschütze und der Bombenschütze waren tot. Den Captain habe ich mit ein paar Anderen noch lebend, aber sehr schwer verletzt, aus dem Flugzeug gezogen. Wir brachten ihn ins Lazarett, aber er starb trotzdem einige Stunden später. Die englischen Flieger wurden damals in Bremerhaven noch mit allen militärischen Ehren beigesetzt.
Ich war auf einem V-Boot eingeteilt als Heizer, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Mit dem Boot sind wir am nächsten Morgen rausgefahren, man konnte vom Boot aus immer noch das Flugzeug auf der Pier liegen sehen.
Unser damaliger Kommandeur war Kapitänleutnant Gruschka, der 1936 als Läufer an der Olympiade teilgenommen hatte. Er ließ uns jeden Morgen eine halbe Stunde früher aufstehen, damit wir im Bürgerpark laufen konnten. Dann ging es zurück in die Kaserne zum Brausen und danach waren wir fit für den Tag. Manchmal lief er sogar mit uns, manchmal fuhr er aber auch nur mit dem Fahrrad neben uns her.
Nach ca. sechs Wochen wurden morgens beim Antreten einige Namen verlesen, unter anderem war auch mein Name dabei. Wir waren ungefähr dreißig Rekruten und wurden anschließend in einen Klassenraum geführt. Dort bekamen wir mitgeteilt, dass wir eine kurze Prüfung zu absolvieren hätten. Gleichzeitig sagten sie uns, dass wir dann am Abend mit unbekanntem Ziel abkommandiert würden. Wir legten unsere Prüfung ab. Nach der Auswertung wurde bekannt gegeben, dass alle dreißig Rekruten den Test bestanden hatten. Wir bekamen unsere Zeichen als Motorentechniker, damit war unser Lehrgang um zwei Wochen verkürzt worden.
Am Abend wurden wir zum Bahnhof gebracht und dort in einen Eisenbahnwaggon verladen. Zu uns stießen drei Unteroffiziere, von denen wir nicht wussten, woher sie gekommen waren. Niemand von uns hatte sie jemals zuvor gesehen. Dann fuhren wir die ganze Nacht mit dem Zug. Mitten in der Nacht hörte ich laute Geräusche und erkannte, dass wir über eine riesige Brücke fahren mussten. Ein Blick nach draußen zeigte mir, dass wir über die große Eisenbahnbrücke nach Stralsund hinüberfuhren. Wir waren also wieder zum Ausgangspunkt unserer Reise zurückgekehrt. In Stralsund wurden wir direkt zum Weitertransport nach Rügen verladen und setzten zwei Stunden später auf die Insel über. Danach lagen wir in einem Hotel in Rügen. Wir waren hier provisorisch untergebracht, weil wir direkt weiterreisen sollten. Wir sollten von dort aus nach Schweden übergesetzt werden, wobei wir immer noch keine Informationen hatten, wohin die Reise genau gehen sollte.
An dem Tag, an dem wir den Abmarschbefehl erhielten, fegte ein heftiger Sturm über die Ostsee, der nun auch bereits seit Stunden die Insel im Griff hatte. Wir warteten vergeblich auf unser Schiff. Wir kauften mit unserem Sold Kuchen, kehrten in unser Hotel zurück und warteten weiter ab. Der Dampfer kam dann schließlich zwei Tage später als erwartet im Hafen an.
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