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»Mein Buch soll die Lesenden im tiefsten Herzen berühren und ihnen Dankbarkeit und Zuversicht schenken«
Als ihre acht Monate alte Tochter Amalia mit halbseitigen Lähmungserscheinungen aufwacht, ist für Julia und ihre Familie von einem Moment auf den anderen nichts mehr, wie es war. Die Diagnose: ein schwerer Schlaganfall. Große Teile des Gehirns sind irreparabel geschädigt. Der herrliche Sommer kippt in eine düstere Parallelwelt.
Jeden Tag verbringt Julia am Bettchen ihrer Tochter auf der Kinderintensivstation. Das fröhliche Gebrabbel von Amalia ist ersetzt durch das monotone Piepen der Überwachungsmonitore. Die Familie lebt im Ausnahmezustand. Trotzdem gilt: Jedem Tag soll etwas Gutes abgewonnen werden. Julia bietet dem Schock die Stirn, der in jeder Faser ihres Körpers und in ihrer Seele sitzt.
Mit unglaublicher Offenheit berichtet Julia Dettmer von der Krankheit und dem Tod ihrer kleinen Tochter. Von den Phasen der Hoffnung, der Enttäuschung, des Durchhaltens und des Trauerns – und wie es ihr gelingt, trotz allem immer wieder nach vorne zu schauen. Es ist eine Geschichte von Liebe, Hoffnung und den kleinen Lichtblicken, wenn es gerade stockdunkel ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Als ihre achtmonatige Tochter Amalia mit halbseitigen Lähmungserscheinungen aufwacht, ist für Julia Dettmer und ihre Familie von einem Moment auf den anderen nichts mehr, wie es war. Die Diagnose: ein schwerer Schlaganfall. Große Teile des Gehirns sind irreparabel geschädigt. Der herrliche Sommer kippt in eine düstere Parallelwelt. Das fröhliche Gebrabbel von Amalia ist ersetzt durch das monotone Piepen der Überwachungsmonitore auf der Kinderintensivstation. Die Familie lebt im Ausnahmezustand. Und trotzdem versucht sie, jedem Tag etwas Gutes abzugewinnen. Julia bietet dem Schock, der in jeder Faser ihres Körpers und in ihrer Seele sitzt, die Stirn. Mit viel Geduld, Liebe und Selbstfürsorge nimmt sie es mit dem Schicksal auf und schafft es, (fast) jeden Tag ein bisschen Zuversicht zusammenzukratzen. Als Amalia schließlich stirbt, mit nur anderthalb Jahren, bricht für Julia die Welt zusammen. Und doch sind da die Erinnerungen an ihre Tochter, die immer ein Teil der Familie sein wird.
Julia Dettmers Geschichte berührt im tiefsten Herzen und schenkt Dankbarkeit und Zuversicht.
Über die Autorin:
Julia Dettmer hat Medienwissenschaft und Germanistik studiert. Anschließend arbeitete sie in großen Medienhäusern, zuletzt als Redaktionsleiterin von ProSieben.de und als Chefredakteurin von BUNTE.de. Seit 2020 ist sie freie Journalistin, Lektorin und Dozentin. Sie schreibt unter anderem für die FAZ, ELTERN und InStyle und gibt Seminare zu den Themen „Emotionales Schreiben“ und „Recherche“.
Julia Dettmer
Wie meine kleine Tochter unheilbar erkrankte – und wir als Familie trotz allem nicht aufgaben
Wilhelm Heyne VerlagMünchen
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Ebook-Ausgabe 05/2025
Copyright © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Sophie Dahmen
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design
Umschlagfoto: © privat
Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)
ISBN 978-3-641-33054-5V001
www.heyne.de
Für Amalia
Mit diesem Buch möchte ich dir die letzte Ehre erweisen und dir ein Denkmal setzen, mein tapferes, tolles Mädchen.
Inhalt
Vorwort
36 Grad in der Notaufnahme
Der letzte schöne Tag
Erwartungen
Katastrophenchampagner
Das Ende des Sommers
Neue Zeitrechnung
How to Save a Life
Praxistipp: Mit Reaktionen umgehen lernen
Intensiv leben
The Strokes
Praxistipp: Wo finde ich Hilfe, wenn ich einen Schicksalsschlag zu bewältigen habe?
Besuch und Marie
Ich bin nicht allein
Verlegung auf die Säuglingsstation
Theos großer Tag
Alles ist kaputt
Kai kommt
Darf ich mir was wünschen?
Verlegung auf die Palliativstation
Mein Herz, dein Herz
News aus Frankreich
It takes a village
Einmal den Kopf ausschalten
Jetzt wissen es alle
Realitätswatschn
Heimspiel
Palli-Party
Praxistipp: Wie man den Schalter umlegt
Entlassung
Homecoming Queen
Das andere Leben
Aus Palli-Mom wird Pflege-Mama
Praxistipp: Mein Kind ist krank, behindert, ein Pflegefall – was nun?
Die verfluchte Sonde
Ein Kurzurlaub und eine zündende Idee
Lebe jeden Tag …
Sing it all out
Der große Rückschlag
Prinzessin Amalia und ihr Thron
Hochzeitsfieber
Marmeladenglasmoment
30 Grad in der Notaufnahme
Ein neuer Morgen
Ein Haus voll Liebe
Ab nach Hawaii
Nachwort
Danke
Wenn man schwanger ist, bekommt man oft die Frage gestellt: »Was würdest du dir denn wünschen?« Das Platteste und Richtigste, was man dann sagen kann, ist: »Hauptsache gesund!«
So habe ich auch geantwortet.
Einige Zeit nachdem mir diese Frage gestellt wurde, schreibe ich dieses Vorwort – es ist Oktober 2023, und auf meinem Schoß sitzt meine schwerkranke Tochter Amalia. Sie ist jetzt zehn Monate alt.
Eigentlich kann man ihre Körperhaltung nicht »Sitzen« nennen, denn ihr komplettes Gewicht lastet auf mir, ihr Kopf ruht auf meiner Brust. Sie kann ihn nicht mehr halten, er baumelt von links nach rechts und von vorne nach hinten, wenn sie ihn nicht ablegt. Sie ist schon neun Kilo schwer und hat die siebzig Zentimeter geknackt, aber sie hat kaum Körperspannung, was die »Handhabung« langsam aber sicher etwas schwierig macht. Suchen wir das Positive daran: Ich kann beim Sport die Übungen für den Oberkörper überspringen.
Aus Amalias Nase hängt der Schlauch der Magensonde, durch den ich ihr gerade eben noch Milch gegeben habe. Leider hat sie nicht genug Kraft, um aus der Flasche zu trinken. Brei mag sie gar nicht mehr. Die Sonde nervt, aber sie hat auch etwas Praktisches: Ich kann verlässlich dafür sorgen, dass die Medikamente wirklich im Magen ankommen. Und es sind viele, obwohl sie alle Amalia nicht heilen werden.
Dass wir hier so sitzen, hätte ich letztes Jahr um diese Zeit nicht gedacht. Da war Amalia noch in meinem Bauch, und bei mir stellte sich langsam die gemütliche Vorweihnachtsstimmung ein. Neben Adventskalender und Christbaumschmuck holte ich nach und nach das Baby-Equipment von unserem Sohn aus dem Keller (und kaufte – ja, ja – das eine oder andere Stück in Rosa dazu). Ich hatte vor, schön langsam damit zu beginnen, Amalias gemütliches Nest vorzubereiten. Damit alles bereitsteht, wenn sie in wenigen Wochen auf die Welt kommen würde. Die wenigen Wochen wurden zu wenigen Tagen, denn unsere Tochter wollte unbedingt Heiligabend miterleben und entschied sich dafür, fünf Wochen vor dem errechneten Geburtstermin im Januar die Lichter der Weihnachtswelt zu erblicken. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Am Tag ihrer Geburt gab ich noch per Videokonferenz mein Seminar zum Thema »Emotionales Schreiben« an der Journalistenschule und startete mit einem lustigen Spruch: »Wenn ich plötzlich verschwinden sollte, ist meine Fruchtblase geplatzt. Ihr macht dann aber bitte euren Übungstext fertig!« Dann stand ich kurz auf und präsentierte meine Babykugel. Be careful what you wish for … direkt nach dem Seminar gingen doch tatsächlich die Wehen los.
Nach der Geburt gab es ein paar kleine Baustellen: Amalia hatte Probleme mit dem Zuckerstoffwechsel, einen Schieffuß, einen PDA (Persistierender Ductus arteriosus – eine Verbindung zwischen Herz und Lunge, die sich normalerweise mit der Geburt selbst schließt) und bestand den Hörtest nicht. Da sich das alles aber mit der Frühgeburtlichkeit und der Beckenendlage erklären ließ und im Lauf der nächsten Monate gelöst werden konnte, machten wir uns keine großen Sorgen. Lediglich der nicht bestandene Hörtest gab den Ärzten zu Denken, weshalb sicherheitshalber eine genetische Analyse vorgenommen wurde. Tatsächlich fanden die Genetiker eine Genmutation auf Chromosom 20: das Aurikulo-kondyläre Syndrom, das sogenannte Fragezeichenohrsyndrom. Ein Schock, doch der Arzt beruhigte uns sogleich. Amalia trage offensichtlich nicht die Merkmale, die das Syndrom verursacht: Verformung der Ohren und des Unterkiefers. Es komme immer wieder vor, dass Menschen Genmutationen tragen, die sich nicht ausprägen. Die meisten bleiben daher ganz unentdeckt. Das Syndrom könne aber ihre Schwerhörigkeit erklären. Spoiler: Eine Woche später bestand sie den Hörtest. Es war wohl alles nur ein Reifethema, und die Genmutation rückte in den Hintergrund.
Acht Monate nach ihrer Geburt überfielen Amalia im August 2023 völlig aus dem Nichts mehrere schwere Schlaganfälle. Da kam heraus, dass unsere Maus eine sehr seltene genetische Erkrankung hat, durch die ihre Blutgefäße äußerst fragil angelegt sind. Die Betonung liegt auf »sehr«, denn Amalia ist – Stand heute – eines von neun betroffenen Kindern weltweit. Die Krankheit wird gerade erst erforscht, sodass sie noch nicht mal einen Namen hat. Ihre Gefäße im Kopf können sich kurzfristig verengen – Vasospasmen nennt man das –, daher die Schlaganfälle. Leider ist die Krankheit nicht heilbar, es kann jederzeit zu weiteren Schädigungen des Gehirns kommen.
Nach vielen schrecklichen Wochen in Krankenhäusern, in denen wir jeden Tag um das Leben unserer Maus gebangt haben, ist Amalia nun wieder zu Hause, aber anstatt zu krabbeln und brabbeln, wie es ihrem Alter von zehn Monaten entspräche, ist alles anders. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht. Sie zeigt nicht so viele Regungen. Ich spüre aber, dass sie sich bei uns wohlfühlt. Das ist das Wichtigste. Bei dem, was hinter ihr liegt, ist alles andere nebensächlich. Diese kleine Maus soll sich in Geborgenheit und Liebe sicher wissen. Dass ich das (tonnenweise!) bereitstellen kann, was sie am meisten braucht, stimmt auch mich zufrieden. Zumindest in diesem Moment – nicht wissend, wie viel Zeit uns zusammen als Familie bleibt. Und deshalb werden wir diese Zeit besonders kostbar machen.
Schnitt – es ist jetzt Juni 2024. Ich vollende dieses Vorwort und muss das, was ich zwar angedeutet, aber nicht wirklich für möglich gehalten habe, aufschreiben. Amalia ist gestorben. Diese Worte zu tippen, es Schwarz auf Weiß zu dokumentieren, tut schrecklich weh. Und gleichzeitig tut es mir gut, denn Schreiben hat mir schon immer geholfen, mich zu ordnen, Dinge zu verarbeiten und die Sicht klar zu halten.
Irgendwann beim Schreiben hatte ich das Gefühl, dass diese Aufzeichnungen nicht nur mir helfen könnten, sondern auch anderen Menschen – ob sie Eltern sind oder nicht –, die nach einem Schicksalsschlag schwere Zeiten durchleben und sich nach etwas Hoffnung und Zuversicht sehnen. Das Licht an dunklen Tagen soll eine Stütze sein, wenn es mal nicht so läuft – ob im Kleinen oder Großen. Wenn man nicht weiß, wie man eine unvorhergesehene Lebenssituation meistern soll, wenn man sich mit dummen Sprüchen herumschlagen muss, wenn alles nur noch trostlos erscheint. Vielleicht hilft es auch Angehörigen und Freunden von Betroffenen. Oft weiß man nämlich gar nicht, wie man mit den Liebsten umgehen soll, denen etwas Schlimmes passiert ist.
Obwohl Amalia so krank war, bin ich dankbar. Das reimt sich, und bei jedem Reim kommt mir Pumuckl in den Kopf, der sagt: »… und was sich reimt, ist gut.«
Ich bin dankbar dafür, dass sie sich uns als Eltern ausgesucht hat. Ich bin dankbar für die besondere Zeit mit ihr. Ich bin dankbar für unser gesundes älteres Kind. Ich bin dankbar für die Stärke, mit der wir diese intensive Lebenserfahrung bisher durchstehen.
Also hatte ich die Idee, ein Buch daraus zu machen.
Das Buch, das ich selbst gebraucht hätte.
Und das Buch, durch das Amalia weiterleben kann. Ihr Leben war viel zu kurz, und sie hat so viele Menschen im Herzen berührt.
Jetzt seid ihr dran. Unsere kleine Maus lebt in euren Gedanken weiter, wenn ihr das hier lest.
Es ist unerträglich heiß in diesem August 2023. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann es in München das letzte Mal 36 Grad hatte, und zwar gleich für eine ganze Woche. Normalerweise bin ich recht temperaturresistent. Gebt mir 36 Grad, ich nehme 36 Grad. Gebt mir minus 20 Grad, nehme ich auch. Doch dieser Sommer ist der erste mit meiner Tochter Amalia, und die kleine Maus nimmt diese Hitze ganz schön mit. Ich merke ihr an, dass sie sich weniger bewegt und einfach abgeschlagen ist, so wie ich auch. Am Morgen geht es noch. Wir stehen auf, ich lege sie auf ihre Spieldecke und mache mir Frühstück. Wie angenehm, dass Amalias Bruder Theo gerade Ferien bei Oma und Opa machen darf. Dort kann sich der Dreijährige im Garten im Planschbecken abkühlen, die Oldies haben blendende Unterhaltung, und wir hier in München können uns ein bisschen entspannen. Win-win für alle Beteiligten. Den Tag verdösen wir so vor uns hin. Wir schaffen gerade mal einen kleinen Lebensmitteleinkauf. Literweise Buttermilch, denn Buttermilchschorle ist im Sommer das erfrischendste Getränk, das ich kenne. Wenn ich jemandem diese Empfehlung ausspreche, ernte ich immer entweder ein angewidertes Kopfschütteln oder ein »Du spinnst!«. Aber das eine Prozent, das sich anschließend eine Buttermilchschorle mixt, bedankt sich herzlich bei mir. Gern geschehen.
Am Nachmittag mische ich mir also eine Buttermilchschorle und Amalchen ein Fläschchen mit nicht ganz so warmem Wasser, und wir legen uns im Wohnzimmer darnieder. Sie auf ihrer Decke mit dem Spielebogen, ich auf dem Sofa mit dem Laptop. Schnell ein paar Mails abarbeiten und dann eine Runde mit der Kleinen turnen. Sie ist motorisch etwas hinterher, daher muss ich viel mit ihr üben. Auf den Bauch drehen, stützen, Dinge greifen.
Als ich mich zu ihr auf den Boden setze und wir starten wollen, zuckt sie. Ihr rechtes Ärmchen bewegt sich rhythmisch nach oben, ganz leicht nur, aber es kommt mir komisch vor. »Schatz, was ist los?«, sage ich und berühre sie sanft. Dann drücke ich das Ärmchen, und nach wenigen Sekunden hört das Zucken wieder auf.
Trotzdem rufe ich bei meiner Kinderärztin an. »Unkontrolliertes und unkontrollierbares Zucken ist eine red flag. Bitte gehen Sie gleich in die Notaufnahme«, rät sie mir mit Nachdruck. »Alles klar, mache ich. Wir sehen uns ja dann eh morgen, da können wir alles besprechen«, antworte ich. Morgen hat Amalia nämlich sowieso einen Impftermin bei der Ärztin. Jetzt bin ich alarmiert. Was soll das heißen, red flag? Hilfe! Sofort schalte ich in den Funktioniermodus, jetzt bloß keine Zeit verlieren. Zum Glück ist das Schwabinger Krankenhaus von unserer Wohnung aus direkt um die Ecke. Also packe ich die Maus, ein bisschen Milch für sie und eine Flasche Wasser für mich ein, und wir flitzen los. Irgendwas in mir hält daran fest, dass einfach nur die Hitze diese Zuckungen verursacht hat und dass überhaupt nichts Schlimmes mit meiner Kleinen ist. Schließlich war sie in der letzten Zeit gut drauf, und es gab keine Probleme.
Ich beobachte sie ganz genau, schaue mehr in den Kinderwagen als auf den Weg, doch das Zucken kommt nicht wieder. Als wir in der Notaufnahme ankommen, muss ich erst mal den ganzen Papierkram ausfüllen, und dann heißt es warten. Zwei Stunden lang. Da sie akut keine Auffälligkeiten zeigt, werden wir natürlich hintangestellt. Es ist zwar nicht viel los, aber ich habe gelesen, dass das im Wartebereich schon mal so wirken kann, weil man da die Notarztwagen gar nicht mitbekommt, die hintenrum die Patient:innen einliefern. Da es Amalchen gut geht, verschwindet meine Panik.
»Gibt’s wenigstens eine Klima?«, fragt mein Mann Flori mich im Chat. Ich brauche seine mentale Unterstützung. An eine Klimaanlage hatte ich noch gar nicht gedacht, so sehr habe ich mich schon daran gewöhnt, dass ich mich bei diesen Temperaturen einfach durchgehend verschwitzt fühle. »Nee, gibt es nicht«, antworte ich. Und: »Wenn wir den Scheiß hier hinter uns haben, bestelle ich mir eine Pizza und genehmige mir eine Weißweinschorle.«
Da ruft Oma per Videocall an. Bestimmt will Theo ein bisschen quatschen. Schnell gehe ich mit Amalia aus dem Gebäude und stelle mich vor eine grüne Hecke. Oma muss nicht mitbekommen, dass wir in der Notaufnahme sind. Sonst kriegt sie Angst, und höchstwahrscheinlich ist ja gar nix mit der Kleinen.
»Hallooo, Mama. Ich bin im Planschbecken«, ruft Theo und strahlt mich stolz an. Ich sehe ihn nur halb, weil Videocalls nicht unbedingt Omas Stärke sind. »Hallo, Herzchen, da wäre ich jetzt auch gerne. Amali und ich gehen im Schatten spazieren«, lüge ich. Na gut, der erste Teil stimmt, der zweite ist gelogen. Niemand bemerkt, dass hier was nicht stimmt. Wir quasseln kurz, dann gehe ich wieder rein. Ich muss Amalchen mal wickeln. Siehe da, auf dem Wickeltisch dreht sie sich selbstständig auf den Bauch, stützt sich auf, lacht und gluckst. So fröhlich turnt doch kein Kind mit »red flags«, oder?
Nun sind wir dran. Die Ärztin ist jung und freundlich, wirkt kompetent. Sie will erst mal wissen, warum wir hier sind. Ich erzähle ihr von den kurzen Zuckungen und auch von Amalias bisheriger Krankengeschichte: »Nach der Geburt gab es ein paar Problemchen wegen der Beckenendlage und der Frühgeburtlichkeit, aber das ist alles erledigt. Und wir wissen, dass sie das sehr seltene Aurikulo-kondyläre Syndrom hat, das sogenannte Fragezeichenohrsyndrom. Aber es prägt sich bei ihr nicht aus. Sie zeigt keins der typischen Symptome.«
Die Ärztin in der Notaufnahme hört sich meine Aufzählung an, untersucht Amalia und schickt uns dann wieder nach Hause. Ich soll sie gut beobachten und mich sofort melden, falls das Zucken wiederkommt. Um 19:30 Uhr laufen wir also endlich heim. Ich rufe meinen Mann an, der mittlerweile auch Feierabend hat und in der Zahnarztpraxis seine Akten abarbeitet, und informiere ihn. Er ist generell kein Mensch, der schnell in Panik verfällt. Ich kenne kaum jemanden, der – ähnlich gut wie ich, mit Verlaub – einen kühlen Kopf bewahren und funktionieren kann, wenn es eine Extremsituation gibt. Dann rufe ich den Lieferservice an und bestelle eine Hawaii mit extraviel Käse. »Ein Verbrechen« nennt mein Mann diese Pizzasorte. »Ach, Amalchen. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn wir diesen freien Tag einfach faulenzend zu Hause hätten verbringen können, oder?«, sage ich und lächle meine Tochter an, die weiterhin bester Dinge im Kinderwagen liegt und sich den Himmel anschaut. Der Abend verläuft ruhig, wir schmusen ein bisschen, während ich mir auf dem Sofa meine Pizza reinziehe und irgendeine dusselige Netflix-Serie gucke. Irgendwann gehen wir ins Bett und schlafen traumlos durch. Der Tag war doch ganz schön anstrengend, auch wenn wir den ungeplanten Ausflug in die Notaufnahme gut gemeistert haben.
Er war allerdings ein Klacks gegen den, der folgen sollte.
Am nächsten Tag kehren zwei Dinge wieder: die Hitze und die Zuckungen. Nach dem Aufstehen ist noch alles okay. Wir machen uns fertig, denn wir haben ja gleich den Impftermin bei Amalias Kinderärztin. Beim Anziehen bemerke ich, dass die Kleine wieder unkontrolliert mit dem rechten Arm wackelt. Moment, nicht nur mit dem rechten Arm. Jetzt macht auch das rechte Beinchen mit. O Gott, und jetzt auch noch das Augenlid. Sie blinzelt mit dem rechten Auge im Takt der Zuckungen. Alles ruckelt nur ganz leicht, aber es macht mir Angst. Hier stimmt was nicht. Ich versuche, das Zucken zu unterbrechen, spreche mit Amalia, berühre sie, doch es hört nicht auf. »Filmen, ich muss es filmen, damit ich es den Ärzten zeigen kann!«, fällt mir ein, und ich mache ein Handyvideo. Die Maus lächelt sogar leicht, während sie zuckt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich meinen, sie lacht über die kleinen Bewegungen. Dann hört es wieder auf, und sie ist gut drauf, als wäre nix gewesen. Die Praxis unserer Kinderärztin ist nicht weit, und wir spurten los. Dort sind wir in sicheren Händen. Ich werde ihr sofort das Video zeigen.
Als wir in der Praxis ankommen, sind wir auch direkt an der Reihe. Noch bevor wir groß zum Reden kommen, zuckt Amalia wieder. »Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut«, kommentiert unsere Kinderärztin, und ich merke ihr an, dass sie hochalarmiert ist. Ihre sonst so ruhige Art weicht schnellen Bewegungen, und die ganze Stimmung im Raum verändert sich. Sie greift zum Telefon und sagt zu mir gewandt: »Ich melde Sie im Hauner an. Da fahren Sie jetzt sofort hin!« Das »Hauner« ist das Haunersche Kinderspital in der Innenstadt. Ich bin komplett überfordert, nicke nur wortlos und streichle weiter meine Tochter, die den Krampf mittlerweile überwunden hat. »Ich schicke euch jetzt ein acht Monate altes Baby mit fokalen Krämpfen«, ruft sie ins Telefon, während sie Amalia beunruhigt beobachtet.
»Frau Dettmer, das, was Amalia da zeigt, sind fokale Krämpfe. Fokal heißt, dass diese Krämpfe in einem Bereich des Gehirns beginnen und dann auch nur einen bestimmten Bereich des Körpers betreffen. So wie bei Amalia. Die im Hauner müssen sich das jetzt sofort genauer anschauen«, erklärt sie und bedeutet mir dann resolut, dass wir losmüssen.
Ich bin überrumpelt: Amalia hat doch nichts Schlimmes, sie zuckt doch nur ein bisschen? Gleichzeitig muss ich den Gedanken zulassen, dass wir es hier offenbar nicht mit einer Lappalie zu tun haben. Also, innere Kräfte bündeln und los. Ich funktioniere in unvorhersehbaren Situationen wie ein Roboter.
Wir springen in die U-Bahn, die direkt vor der Tür abfährt und nach wenigen Stationen direkt vor der Haunerschen Kinderklinik hält. Was für ein Glück. So schnell hätte uns weder ein Krankenwagen noch ein Taxi hingebracht. Hätte ich damals schon ahnen können, dass wir ab jetzt unzählige Male am »Goetheplatz« aussteigen würden?
In der Notaufnahme ersparen sie uns den langwierigen Aufnahme- und Warteprozess. »Wir sind die mit den Krampfanfällen, wir wurden angemeldet«, sage ich, und man winkt uns direkt in ein Behandlungszimmer durch. Sie kleben Amalchen Elektroden auf die Brust sowie einen Sensor an den Daumen und hängen sie an den Überwachungsmonitor. Während eine Ärztin ganz kurz unsere Situation abfragt und ich ihr das Handyvideo zeige, bekommt Amalia den nächsten Krampfanfall. Ich stoppe das Video. Jetzt sieht die Ärztin live, worum es hier geht. Sie bleibt ruhig, aber ich merke auch ihr an, dass solche Krampfanfälle bei Babys nichts sind, womit gespaßt wird.
Nun soll ein Zugang gelegt werden, damit Blut abgenommen werden kann, was die Kleine natürlich überhaupt nicht angenehm findet. Und ich auch nicht. Ich leide mit ihr, streichle sie, rede ihr gut zu: »Du bist so eine starke Maus, du machst das. Ich bin bei dir, wir schaffen das zusammen.« Ich wiederhole diese Sätze immer wieder, während die Ärzte sie malträtieren, weil sie keine Ader finden. Die Kleine ist so müde, möchte die ganze Zeit einschlafen. Dann piekst es wieder, und sie schreckt hoch. Es ist grausam. Während dieses unangenehmen Prozederes erklärt mir eine Ärztin, dass solche Zuckungen wie bei Amalia Hinweise darauf sein können, dass im Gehirn etwas Ungewolltes passiert. Deshalb müssen jetzt ein Ultraschall, ein EEG (Elektroenzephalografie) und ein Schädel-MRT (Magnetresonanztomografie) gemacht werden. Beim EEG werden die elektrischen Signale im Gehirn über Sonden an der Kopfhaut gemessen, und der Ultraschall zeigt vor allem die Blutgefäße, sodass man zum Beispiel Verschlüsse erkennen kann. Beim MRT werden mithilfe eines Computers Querschnitte des Gehirns dargestellt, wodurch man einen sehr genauen Eindruck von dessen Aufbau erhält. Schall und EEG gibt’s gleich noch hier im Hauner, für das MRT müssen wir ein paar Tage im Klinikum Großhadern einchecken. Für alle Nicht-Münchner:innen: Das Klinikum Großhadern und das Haunersche Kinderspital gehören zusammen zum Uniklinikum München, liegen aber einige Kilometer voneinander entfernt.
Großhadern kenne ich schon, denn da waren wir bereits im Mai, um Amalias PDA (persistierender Ductus arteriosus) verschließen zu lassen. Dabei handelt es sich um eine kleine offene Stelle im Herzen. Eigentlich schließt sich diese nach der Geburt von selbst, bei Amalchen aber nicht, vermutlich wegen ihrer Frühgeburtlichkeit. Das war aber kein großes Ding, ein Routineeingriff, den sie sehr gut überstanden hat. Man musste sie dazu auch nicht aufschneiden, sondern hat einfach eine Art Stöpsel durch die Arterie an der Leiste reingeschoben.
Leider hört sich diese Sache jetzt nicht so trivial an. Ich bin überfordert mit den ganzen Informationen, und wie so oft setze ich dann zum Scherzen an: »Einmal im Quartal ein paar Tage Krankenhaus, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen«, murmle ich. Da fällt mir ein, dass wir am Wochenende ja eigentlich in den Urlaub aufbrechen wollten – das steht jetzt also auf der Kippe. Andererseits muss ich froh sein, dass wir nichts gebucht haben, sondern nur in unser Ferienhaus fahren wollten, und dass Flori frei hat. So können wir uns im Krankenhaus abwechseln, je nachdem, wie lange wir jetzt dortbleiben müssen.
Die Blutabnahme ist endlich überstanden, jetzt schallen sie Amalias Kopf mit einem wohl sehr genauen Ultraschallgerät. Hier sind keine Unregelmäßigkeiten zu erkennen. Dass sie vergrößerte Seitenventrikel (also mit Hirnwasser (Liquor) gefüllte Hohlräume im Inneren des Gehirns) hat, wussten wir, aber das war laut der Ärzte bisher kein Grund zur Besorgnis.
Wir werden weiter zum EEG geschickt. Hier bekommt Amalia eine Haube über den Kopf gezogen, in der sich viele Elektroden befinden. Diese sind über lauter kleine Kabel mit dem EEG-Gerät verbunden und leiten die Aktivitäten des Gehirns weiter, die sich dann als Kurve auf dem Bildschirm zeigen.
Schon völlig mitgenommen von den vorherigen Strapazen, liegt die kleine Maus ziemlich ruhig in meinem Arm und lässt auch diese Untersuchung noch über sich ergehen. Ich halte sie ganz fest, damit sie merkt, dass Mama sie beschützt.
»Und, was sehen Sie?«, frage ich die Schwester, die die Untersuchung durchführt. »Ich kann dazu nichts sagen, das müssen Sie mit den Ärzten besprechen«, antwortet sie. »Sie müssen doch was dazu sagen können, Sie machen das doch jeden Tag«, pampe ich sie verzweifelt an. Kann mir denn jetzt langsam mal irgendjemand mitteilen, was mit meiner Tochter los ist?
»Sorry, wirklich nicht. Ich bin nur für die Messung zuständig«, antwortet sie ruhig, und ich blicke in ehrliche Augen, die mich bemitleiden. »Sorry, dass ich Sie angeschnauzt habe. Ich bin nur so beunruhigt, weil mir bisher niemand etwas sagen kann«, erkläre ich meinen Ausbruch.
Ich merke, wie ich wieder über meine Grenzen gehe. Ich muss mit allerletzter Kraft die Dachbalken hochstemmen, sonst bricht mein Haus ein. Und es ist niemand da, auf den ich mich fallen lassen könnte. Flori arbeitet, ich bin die Mutter, es liegt alles bei mir. Amalia und ich hatten heute zwar nichts Wichtiges vor, aber ich hätte lieber eine unmenschlich volle To-do-Liste abgearbeitet, als diesen Horrortrip ins Krankenhaus durchzustehen.
Meine Gedanken driften kurz ab. In meinem Tagtraum sehe ich mich und meine Familie in einem milchigen Film an einem Nordseestrand. Nicht Til-Schweiger-Sepia, sondern eher so Rosamunde-Pilcher-Milchweiß-Hellblau. Leichte Brise, zarte Klaviermelodie, alles weich, schön, ruhig und sorglos. Die Klappe fällt, ich bin wieder in der Realität.
Während das EEG läuft, schicke ich meinen Freundinnen ein Update. Sie stehen mir – wie immer – sofort zur Seite, drücken ihre Sorge um Amalchen und auch um mich aus und senden mir Kraft. Ich solle nicht zögern und mich sofort melden, wenn sie irgendetwas tun können. Ich bin erfüllt von Dankbarkeit.
Da kommt mir der nächste quälende Gedanke: Ich kann meiner Familie einen erneuten Krankenhausaufenthalt nicht verschweigen. Jetzt muss ich alles wieder und wieder haarklein erklären, damit sie es auch verstehen können. Davor graut mir, weil es so anstrengend ist. Hiobsbotschaften überbringen und dann sofort das Gegenüber trösten – ich hasse es. Es kostet mich so viel Kraft. Wieder bin ich die, die für die anderen stark sein muss. Denn wenn ich vor ihnen zusammenbreche, machen sie sich noch mehr Sorgen um uns als Familie. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter mit meiner Energie ins Minus zu gehen.
Jetzt ist das EEG geschafft, und wir dürfen nochmal in der Notaufnahme Platz nehmen. Die Ärztin erklärt mir, dass sie die EEG-Kurven nun auswerten und wir währenddessen schon mal ins Klinikum Großhadern gefahren werden. Cool, Krankenwagen fahren. Ein Highlight jagt heute das nächste.
Während der Fahrt rufe ich endlich Flori an, denn seine Mittagspause beginnt gerade. Ich erzähle ihm, was wir gerade durchmachen, versuche aber gleichzeitig, ihn nicht zu sehr zu beunruhigen. Er fragt, ob er nachher vorbeikommen soll, und bringt mich damit zum Explodieren. »Warum stellst du überhaupt diese Frage? Ist es nicht selbstverständlich, Frau und Kind in so einer Situation beizustehen?«, maule ich ihn an. Aber klar, ich bin selbst schuld. Ich habe die Sache heruntergespielt, damit er sich nicht sorgt. Wie soll er jetzt ahnen, dass er dringend gebraucht wird? Er erledigt, was er erledigen kann, und trägt das bei, was gerade Sinn ergibt. Und in diesem Moment könnte er nichts Sinnvolles machen, was Amalia helfen würde. Er reagiert zum Glück lieb.
Seit acht Monaten – seit Amalias Geburt – kämpfe für unser Kind, versuche, immer positiv zu bleiben, ein Wehwehchen nach dem anderen zu eliminieren und allem und allen gerecht zu werden. Von Flori ist das alles weiter weg, denn sein Arbeitsalltag ist immer derselbe. Er muss nicht diese ganzen Arzttermine wahrnehmen, Mal um Mal die Gespräche führen und jetzt mit Amalia ins Krankenhaus fahren.
Wir funktionieren beide sehr gut, ergänzen uns an den wichtigen Stellen und haben unsere Zuständigkeitsbereiche unter Kontrolle. Er ernährt die Familie, ich kümmere mich um sie und quetsche, wo es geht, noch ein paar Artikel rein beziehungsweise raus.
Was die Gefühlswelt angeht, ist er pragmatischer als ich. Er bleibt kühl und analytisch. Vielleicht zeigt sich so seine Überforderung, weil er tatsächlich nichts tun KANN? Er hat es genauso wenig in der Hand wie ich. Irgendjemand anders zieht hier die Strippen.
»Mir geht’s beschissen. Ich mag nicht mehr. Es langt einfach«, ächze ich ins Telefon. Mein Mann versteht und redet mir gut zu. Am Abend wird er zu uns kommen. Dann muss er mir unbedingt frische Sachen mitbringen. Ich glaube, ich habe die Klamotten, die ich seit heute Morgen trage, schon zweimal komplett durchgeschwitzt. Und was das für meine kleine Maus erst für ein Stress sein muss!
»Heute ist der schlimmste Tag des ganzen Jahres«, denke ich und frage mich gleichzeitig, ob es normal ist, dass es mir gerade so schlecht geht, oder ob ich rumjammere? Ich komme nicht mehr dazu, diese Frage zu beantworten, denn wir »landen« in Großhadern. Dieses Klinikum haut mich immer wieder um. Es ist riesig, so riesig. Irgendwie erinnert es mich an »Grey’s Anatomy«. Um diese Serie habe ich lange Zeit einen großen Bogen gemacht, weil ich kein Blut sehen kann, aber als ich mitbekommen habe, wie gut der Soundtrack ist (ich meine, hallo, die spielen Rilo Kiley? Rilo Kiley ist die beste Indieband aller Zeiten!), habe ich trainiert. Immer wieder eine Folge, immer wieder hinsehen, und irgendwann machten mir die blutigen Szenen nicht mehr so viel aus.
Wir kommen also in unserem persönlichen »Grey Sloan Memorial Hospital« an und haben Glück: Das Zimmer, das wir auch beim PDA-Eingriff hatten, ist wieder frei. Ein kleiner Dalmatiner klebt auf dem Türschild. Man muss leider sagen, dass die Kinderstation hier richtig heruntergekommen ist. Alles hat tausend Macken, an manchen Stellen fehlen Wände oder sie haben Löcher – aber das macht das Personal wieder wett. Alle sind extrem professionell und freundlich. Wir haben uns in Großhadern bisher immer sehr gut aufgehoben gefühlt.
Heute passiert nichts mehr, erzählen sie uns. Amalchen solle sich jetzt erst mal erholen, und morgen früh würde dann das MRT stattfinden. Sie bekomme Medikamente, die etwaige weitere Krämpfe unterdrücken. Untersuchungsergebnisse gebe es noch nicht. Ich könne sogar heimfahren, in Ruhe schlafen und morgen früh wiederkommen. Wer sie nachts füttere, sei ja egal.
Puh, ich bin völlig gerädert, würde zu gerne in meinem eigenen Bett schlafen. Aber natürlich kann ich sie hier nicht alleine lassen. Nach einer kurzen Abstimmungsrunde mit Flori im Chat ist klar, dass ich doch heimfahre und er die Nacht mit Amalia im Krankenhaus verbringt. Bis dahin schmuse ich im Krankenbett mit der Kleinen, und wir kommen endlich ein bisschen runter.
Jetzt beginnt ein seltsamer Schwebezustand. In diesem Moment ist alles okay, aber insgesamt ist natürlich gar nichts okay. Trotzdem, für jetzt lassen wir es mal gut sein. Erschöpft schlafen wir beide ein. Irgendwann klopft es, und Flori löst mich ab. Er ist mit dem Auto gekommen und hat auf dem Weg einen Stapel Pizzen geholt. »Es schadet nie, sich mit den Schwestern und mit seiner Frau gutzustellen«, grinst er. Ich liebe meinen Mann.
Zu Hause schmeiße ich als Erstes meine Klamotten in hohem Bogen in den Wäschekorb und springe unter die Dusche. Verschiedene Schichten Angstschweiß wollen entfernt werden. Danach lege ich mich mit dem Laptop auf dem Schoß aufs Sofa und schaue die finale Folge der zweiten »And Just Like That«-Staffel. Ich liebe diese Serie genauso sehr, wie ich alle »Sex and the City«-Folgen geliebt habe. Stimmt schon, Samantha fehlt, aber lieber neue Episoden nur mit Carrie, Miranda und Charlotte als gar keine neuen Folgen, oder?
In dieser letzten Folge gibt es eine besonders starke Charlotte-Szene, wenn nicht ihre stärkste bisher. Ihr Charakter wurde ja eher klischeehaft als perfektionistische Upper-East-Side-Mutti mit viel Geld und Herz gezeichnet, dabei allerdings nicht dümmlich, und neuerdings wird sie auch wieder als Working Mom dargestellt. Jetzt wachsen Charlotte ihre vielen Rollen über den Kopf, und sie fühlt sich von ihrer Familie nicht genügend unterstützt. Vor allem ihr Gatte Harry engagiert sich nicht mal im Mindesten, weshalb die sonst so kontrollierte Frau explodiert: »Du machst eben nicht alles. Ich weiß, dass es sich für dich so anfühlt, weil du ein paar Mal Frühstück gemacht und ein paar Einkäufe erledigt hast. Aber de facto erledigst du gerade einmal das Minimum von dem, was von mir und anderen Frauen im Haushalt seit Jahren verlangt, nein erwartet wird.« Sie brauche seine Hilfe und seine Unterstützung, nicht seine Lippenbekenntnisse. I feel you, Charlotte, denke ich, und klopfe mir innerlich selbst dafür auf die Schulter, dass ich das alles mit den Kids wirklich gut auf die Reihe bekomme, auch wenn Amalchen mich immer wieder im besonderen Maße fordert. Hach, tut das gut, hier einfach nur auf dem Sofa zu liegen und mal runterzukommen.
Jetzt lädt Carrie all ihre Freund:innen zu einem »letzten Abendmahl« in ihr ikonisches Appartement ein, bevor sie dort auszieht. Als alle Platz genommen haben, bittet sie ihre Gäste darum, nach vorne zu schauen und sich jeweils ein Wort zu überlegen, das ausdrückt, was sie gerne zurücklassen wollen. Dann spricht jede:r reihum dieses Wort aus. Carries Wort lautet »Erwartungen«, denn sie hatte sich mal wieder zu viel von Aidan erhofft. Tränen, Gelächter, viele Gefühle brechen sich in der illustren Runde Bahn, und ich überlege natürlich direkt, welches Wort ich wählen würde. Vielleicht dasselbe wie Carrie?
Wer keine Erwartungen hat, kann nicht enttäuscht werden, heißt es doch, oder?
Ich schlafe durch und wache vor dem Wecker auf. Sofort holt mich der gestrige Tag wieder ein. Was war das bloß? Einerseits bin ich dankbar dafür, dass die Ärzte Amalias Zuckungen jetzt auf den Grund gehen und bisher keine schlimme Krankheit als Auslöser gefunden haben. Andererseits frage ich mich, welche große Unbekannte uns wohl noch auflauert. Das MRT wird hoffentlich Aufschluss geben. Ich rufe Flori an. Er erzählt, dass die Nacht okay war und er auf die Info wartet, wann Amalchens MRT stattfindet. Ich könne ruhig herkommen. Ich kann oder ich soll? Egal, ich will zu meiner Familie. In Windeseile putze ich mir die Zähne und klatsche mir mit den Fingern etwas Concealer unter die Augen. Jede Beautyinfluencerin würde mich für diese »Technik« lynchen.
Auf zur U-Bahn. Mit der U6 kann man nicht nur bis zum Haunerschen Kinderspital, sondern sogar bis Großhadern durchfahren. Bei meinem ersten Besuch dort mit Amalia – wir mussten zur Voruntersuchung für den Hörtest kommen – hatte ich große Probleme, mich zurechtzufinden, und kam zu spät. »Meinen Orientierungssinn« ist eine Antwort, die ich beim Bewerbungsgespräch auf die Frage »Welche Ihrer Skills möchten Sie noch ausbauen?« geben würde. Zum Glück hat damals bei der Führerscheinprüfung der Fahrprüfer gesagt, wo ich langfahren soll, sonst würde ich immer noch völlig planlos im Kreis herumkurven – ohne Führerschein.
Mittlerweile kenne ich diesen Klinikumklotz wie meine Hosentasche und helfe sogar manchmal fragenden Gesichtern, wenn sie sich unsicher nach dem richtigen Weg umschauen. Routiniert steuere ich von der U-Bahn-Rolltreppe den Haupteingang an und bahne mir meinen Weg zu Amalias Zimmer mit dem Dalmatinerchen. Hier kann man gut Schritte sammeln, denn die Wege sind lang.
Flori sitzt auf dem Bett und liest etwas auf dem Handy. »So, da bin ich. Wie lange dauert’s noch?«, frage ich voller Tatendrang. Er guckt mich etwas zerknautscht an, und in diesem Moment klopft es. »Das MRT ist mittags, wir holen Amalia dann ab«, teilt mir ein Arzt mit, den ich noch nie gesehen habe. »Alles klar, danke«, sage ich, und er geht wieder. Behutsam hebe ich die Maus aus ihrem Bettchen und schmiege mich an sie. Zärtlich streichle ich ihr Köpfchen, ihre speckigen Ärmchen, ihre weiche Wange. Es geht mir wieder besser als gestern. Es war richtig, heimzufahren und mich auszuruhen. Jetzt ist Flori dran mit einer Mütze Schlaf. Er packt seine Sachen und fährt nach Hause. Ich habe meine Kraftreserven aufgefrischt und bin bereit für einen neuen Tag mit Amalchen im Krankenhaus.
Mittags wird sie abgeholt. Ich begleite sie noch ins Narkosezimmer, dann muss ich gehen, denn in den MRT-Raum darf ich nicht.
Wie immer, wenn ich hier in Großhadern bin, latsche ich zur Klinikkapelle. Ich bin kein sonderlich guter Katholik, aber gläubig bin ich schon. Ich glaube an Gott, aber nicht an das System Kirche, so könnte man es wahrscheinlich zusammenfassen.
Als Erstes krame ich einen Euro aus meinem Portemonnaie und zünde eine Kerze an. Das mache ich jedes Mal. Dann schließe ich die Augen, bündele all meine positiven Gedanken für Amalia in meinem Kopf, öffne die Augen und »schieße« diesen Schwall aus guter Energie in die Flamme der Kerze. Ja, eigentlich bin ich eine Hexe, jetzt ist es raus. Kleiner Scherz. Dieses Ritual tut mir einfach gut. Jetzt noch eine Runde durch den Klinikgarten spazieren, und dann begebe ich mich wieder auf unser Zimmer, damit ich die Kleine in Empfang nehmen kann, wenn sie aus dem MRT kommt.
Zwei Stunden später wird Amalia in ihrem Bettchen wieder ins Zimmer geschoben. Ein Arzt ist dabei und gibt eine erste Entwarnung: »Der Hirndruck ist normal, so viel kann ich Ihnen schon mal sagen. Wir schauen uns die MRT-Bilder jetzt genau an und geben Ihnen dann Bescheid.«
Erleichtert schreibe ich diese Info sofort Flori. Das ist doch schon mal gut. »Wenn die einen Hirntumor gefunden hätten, hätte er das doch jetzt schon gesagt, oder?«, frage ich meinen Mann. »Bestimmt«, antwortet er und muss ein bisschen lachen.
Amalchen liegt in ihrem Metallbettchen und schläft noch. So eine Vollnarkose muss für ein kleines Baby ein ziemlicher Klopper sein. »Was musst du nur immer mitmachen, du arme Maus«, flüstere ich. »Jetzt ruh dich einfach schön aus, ich bin da.«
Die Zeit vergeht, Amalia schläft, ich sitze wartend auf dem Bett, und irgendwann klopft es. Die Ärzt:innen sind da und wollen den Befund besprechen. Den Befund, den es nicht gibt, denn sie haben nichts gefunden. Das Blutbild gibt keine Hinweise auf eine Herpesinfektion, die das Gehirn geschädigt haben könnte. Auch der Hirndruck ist okay, aber das hatte man uns ja schon gesagt. »Hirnorganisch ist alles korrekt angelegt. Alles ist da und sieht so aus, als ob es richtig funktioniert«, schließt der berichtende Arzt ab. Ich schnaufe durch und bin erleichtert. Was bleibt, ist ein großes Fragezeichen.
Die Analysen gehen jetzt noch ans Haunersche Kinderspital, wo sich die Kinderneurologen alles ansehen. Es könnte eine Epilepsie vorliegen, deshalb müssten weitere Tests gemacht werden. Epilepsien könne man heutzutage aber gut behandeln.