Das Loch in meinem Herzen - Joachim Mohr - E-Book

Das Loch in meinem Herzen E-Book

Joachim Mohr

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Beschreibung

Mit einem Loch im Herzen das Leben meistern: Joachim Mohr teilt in Das Loch in meinem Herzen seine inspirierende Geschichte über das Leben mit einer angeborenen Herzerkrankung. Trotz zahlreicher Operationen und regelmäßiger lebensrettender Behandlungen durch ein Team von über 100 Spezialisten, lässt er sich nicht entmutigen. Stattdessen verfolgt er seine Träume, reist um die Welt und findet seine Berufung als Reporter beim Spiegel. Mohrs Memoir ist eine kraftvolle Botschaft der Resilienz und des Mutes angesichts gesundheitlicher Herausforderungen. Mit Einfühlungsvermögen und Offenheit gewährt er Einblicke in seinen Alltag mit einer schweren Herzkrankheit. Er teilt praktische Tipps zur Bewältigung und persönliches Wachstum, die er auf seinem Weg gelernt hat. Mohr zeigt, wie man trotz Widrigkeiten ein erfülltes Leben führen kann - mit der Unterstützung von Familie, Freunden und einem kompetenten medizinischen Team. Eine wahre Geschichte voller Weisheit und Inspiration, nicht nur für Betroffene von Herzerkrankungen, sondern für jeden, der vor Herausforderungen im Leben steht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Joachim Mohr

Das Loch in meinem Herzen

Ein Lob auf die moderne Medizin

Autobiographie

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Für meine Eltern voll [...]Der Kopf ist rund, [...]»Herz«lich willkommen!Das LebenDie Illusion vom GesundseinDas Leben ist ungerecht – na und!Die ach so heile NaturAller Anfang ist schrecklichEin Freund, ein guter Freund …FluchtgedankenExkursDie HelferGlauben Sie mir: Ärzte sind auch MenschenVielen Dank, liebe Medikamente, ihr BiesterWer fragt, lebt besser – und längerEs lebe der medizinische Fortschritt!Durchhalten in der KlinikNippes für die PsycheExkursDer MutLet’s talk about Sex, Baby!Sei ein Egoist!Sport ist nicht MordEin Prosit dem Kamillentee!Geheucheltes Mitleid – nein danke!Wenn die kleine Depression kommtGlauben hilft – oder auch nichtExkursDas KrankseinEine Chance für die LiebeTolle Sache, das KrankseinDeine Krankheit, dein Risiko, dein PechDer Fluch der AlltagsseuchenTrotz allem: Kinder bringen GlückDie verlorene ZeitExkurs:Die TricksEin bisschen Spaß muss seinDie Kunst des VerdrängensNix wie weg!Disziplin! Disziplin! Disziplin!Achtung bei der PsychologenwahlExkursDie HeldenDie Last, die andere tragenKein Blick zurück im ZornGevatter TodHelden und VorbilderWir alle sind Helden!Zum Schluss: Bleiben oder werden Sie gesund!Besten DankMohrs »Nimm-mit-Liste« fürs KrankenhausMohrs Info-Empfehlungen

Für meine Eltern voll Dankbarkeit. Für Katrin und Helen in tiefer Liebe. Ihr habt mir Leben geschenkt!

Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.

Francis Picabia

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»Herz«lich willkommen!

Rock ’n’ Roll ist, wenn man’s trotzdem macht.

Ich bin schwer herzkrank, leider, auch wenn mir das äußerlich niemand ansieht.

Seit meiner Geburt kämpfe ich mit meinem widerspenstigen, chaotischen, für mich selbst gefährlichen Herzen. Gern schlägt es zu schnell, noch lieber unregelmäßig und ab und zu sogar zu langsam. Mehrmals musste ich mich schon am Herzen operieren lassen, immer wieder sind Mediziner mit Skalpell oder Kathetern bis in mein Innerstes, meine Herzkammern, vorgedrungen. Ich habe Tage, Wochen, Monate in Kliniken verbracht, zeitweise schien ich mit Notärzten auf du und du, ich habe riesige Mengen aller möglichen Medikamente geschluckt. Und oft haben mir nur noch Elektroschocks geholfen.

Ich habe gelitten, geklagt, gebettelt, gehofft.

Aber trotz all dieser Qualen bin ich bisher immerhin 47 Jahre alt geworden. Nicht schlecht, denke ich oft, und klopfe mir dabei selbst auf die Schulter. Ich bin glücklich verheiratet – wenn Sie es nicht glauben, fragen Sie meine Frau – und ich habe eine wunderbare drei Jahre alte Tochter, die ich über alles liebe. Ich habe studiert und es als Journalist zu einigem Erfolg in einem Beruf gebracht, der mir viel Freude bereitet.

Daneben habe ich häufig die USA bereist, das Land, das mich seit meiner Kindheit fasziniert. Wenn es meine Krankheit zulässt, treibe ich Sport. Ein- bis zweimal die Woche joggen und fünfmal je eine Stunde Fahrrad fahren, das ist keine Seltenheit. Aber eben nur, wenn es die Pumpe erlaubt.

So, was würden Sie sagen, hatte ich nun bis zum heutigen Tag ein schönes oder eher ein miserables Leben? Bestimmte die Angst um mein Herz, um mein Leben, das Leiden mit meiner Krankheit mein Dasein – oder überwogen die schönen Momente? Wie schätzen Sie, sieht meine Bilanz aus? Bleibt unter dem Strich mehr Positives übrig, oder siegt die Verzweiflung?

Die Antwort ist einfach für mich: Ich hatte bis heute ein gutes Leben, keine Frage! Trotz aller furchtbarer Augenblicke und Schicksalsschläge, eine super Sache, dieses Leben. Natürlich hatte ich keine Wahl, denn aussuchen konnte ich mir meine Existenz ja nicht, ein anderes Leben war einfach nicht im Angebot.

Ich bin durch viele Krisen gegangen und gezwungenermaßen zu einem Überlebenskünstler geworden.

Und von dieser Kunst, das Leben trotz aller Widrigkeiten, Enttäuschungen und Verzweiflung zu lieben und zu genießen, will ich in diesem Buch erzählen. Dass es möglich ist, Schrecken zu ertragen, ohne zu verzagen. Dass es sich lohnt, gegen alle üblen Missgeschicke und Scherereien am Schönen und Guten festzuhalten. Ich will beschreiben, wie belebend ein beherztes Trotz allem wirken kann. Und dass das Leben auch im größten Chaos noch unfassbar schön sein kann!

Nun bin ich kein Arzt, kein Psychologe und kein Psychiater, habe keine medizinische Fakultät von innen gesehen. Ich habe auch kein Überlebenstraining beim Militär genossen und mich in keinem buddhistischen Kloster schulen lassen.

Aber ich bin ein jahrzehntelanger Herzpatient, der stets versucht hat, sich seinen Lebensmut und seine Lebensfreude nicht von seiner Krankheit streitig machen zu lassen. Ich bin ein gestählter Kämpfer gegen die Gemeinheiten des Lebens, ein echter Profi in Sachen frohes Durchbeißen gegen die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Daseins. Glauben Sie mir!

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich kenne keine allgemeingültige Glücksformel, verfüge über kein Geheimwissen und pflege auch keine Kontakte zu Geistern, Schutzengeln oder Außerirdischen. Ich zähle mich zu den rational denkenden Menschen. Also werde ich Sie nicht mit Wunderglauben wie heilenden Orten oder geheimnisvollen Strahlen behelligen. (Sollten Ihnen bei Mitternacht und Vollmond Steine vom Nordufer des Toten Meeres gegen Nackensteife oder Blasenschwäche helfen, dann schreiben Sie bitte selbst ein Buch.)

Ich will Ihnen anhand von Beispielen zeigen, dass aufgeben sich (fast) nie lohnt, und Frust gar nichts bringt, außer Frust. Der Sessel des Selbstmitleids kann äußerst bequem sein, doch immer ist es dort auch langweilig, freudlos und hässlich. Erst wenn Sie unwiderruflich und direkt vor der Pforte des Todes stehen, haben Sie verloren – keinen Schritt früher! Wer es noch nicht weiß: Der Vogel Strauß steckt den Kopf nicht in den Sand, das ist eine Legende. (Es sieht nur so aus, weil das Tier sich bei Gefahr flach auf den Boden legt, um sich zu tarnen.)

Das Leben an sich ist nun einmal ungerecht, also machen wir das Beste daraus. Nur wer was tut, wird zu seinem eigenen Helden. Davon bin ich überzeugt.

Manche der Gedanken in diesem Buch habe ich bereits im Internet in meinem Blog auf SPIEGEL ONLINE aufgegriffen. Seit über zwei Jahren berichte ich dort in meiner Kolumne »Mohrs Herzschlag« über mein tägliches Ringen mit meinem anfälligen Herzen.

In diesem Buch will ich allen, die manchmal müde und verzweifelt sind, Mut machen, Lebensmut geben. Jedem einzelnen Leser – wie mir selbst.

 

Joachim Mohr

Hamburg, im Herbst 2009

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Das Leben

Die Illusion vom Gesundsein

Sicherheit zu suchen ist töricht und sinnlos.

Krankheiten, aber auch andere Krisen im Leben werden oft beschönigt, geheim gehalten, verleugnet. Wer gibt schon gerne zu, dass er Krebs hat, vor der Pleite steht oder von seinem Partner kürzlich verlassen worden ist. Doch Kranke und Menschen in schmerzlichen Lagen sollten sich nicht verstecken, denn Kranksein ist die Normalität, behaupte ich.

Freddie Mercury, der legendäre Sänger der britischen Rockband Queen, erklärte am 23. November 1991 in einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit, dass er an Aids erkrankt sei. Zuvor waren immer wieder Gerüchte über seine Krankheit durch die Boulevard-Blätter gegeistert. Nur einen Tag nach der Veröffentlichung starb der Musiker in London an einer Lungenentzündung infolge der Immunschwäche.

Am Siechtum und schleichenden Sterben von Papst Johannes Paul II. konnten die Menschen Anfang des Jahres 2005 rund um den Globus über Monate teilhaben. Bilder und Berichte über das schwerkranke und gebeugte Oberhaupt der katholischen Kirche waren millionenfach durch die Massenmedien gegangen, bevor Karol Josef Woityla, so sein bürgerlicher Name, am 2. April 2005 in Vatikanstadt aus dem Leben schied.

Mercury betrachtete seine Krankheit bis kurz vor seinem Tod als seine Privatsache, Johannes Paul II. dagegen versteckte seinen Kampf mit seinem immer schwächer werdenden Körper nicht vor der Öffentlichkeit.

Ist es sinnvoll, Krankheiten, Gebrechen, Krisen für sich zu behalten, sie gezielt zu verheimlichen? Oder sollten Menschen im Alltag offensiv mit ihren körperlichen Leiden und existenziellen Problemen umgehen? Vor der Alternative, sich zu verstecken oder sich zu offenbaren, stehen nicht nur bekannte Persönlichkeiten, sondern ständig auch Millionen durchschnittlicher Menschen. Viele Betroffene sind jahrelang hin- und hergerissen zwischen Heimlichkeit und Freimut.

Johannes Paul II. und Freddie Mercury haben sich beide richtig entschieden, denn ausschlaggebend ist immer, was der Einzelne selbst für richtig hält. Rocksänger Mercury wollte bis zu seinem Ende sein Leben und Sterben in den eigenen Händen behalten, Papst Johannes Paul hingegen hat sich auch kurz vor seinem Tod in Gottes Verantwortung gesehen.

Daneben gilt aber ein alles überragender Grundsatz: Krankheit ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, die Normalität – ja, die Nor-ma-li-tät! Menschen leiden nicht nur beständig an Husten, Schnupfen, Heiserkeit, sie ringen mit Rheuma, Aids, Blutkrankheiten, Multiple Sklerose, Psychosen, Syphilis, Lungenfibrose, Malaria, verschiedensten Arten von Krebs, Alzheimer, Parkinson und Abertausenden anderen fiesen Übeln – jeden Tag, immer wieder aufs Neue, überall auf dieser Welt. Die Menschheit ist schwer krank, jawohl!

An jedem Tag verlieren auf diesem Planeten Millionen Menschen durch die abstrusesten Leiden geliebte Angehörige, Freunde oder das eigene Leben. Sicherheit zu suchen, ist töricht und sinnlos. So ist nun einmal unsere Existenz.

Jeder einzelne Mensch muss sich täglich behaupten – das galt in den Höhlen der Steinzeit, das ist die Wahrheit in der Epoche der globalisierten Wirtschaft. In einer auf Wettbewerb ausgerichteten Welt soll der menschliche Körper am besten jede Sekunde wie geschmiert funktionieren, permanent Höchstleistungen bringen. Krankheit kann Schwäche, Verlust, Abstieg, Ausgrenzung bedeuten. Das stimmt – aber gleichzeitig ist eben auch wahr: Das allzeit gesunde Individuum ist nicht mehr als ein Traum von geradezu göttlicher Anmaßung.

Spätestens im Moment des Todes gibt ein Teil der menschlichen Maschine seinen Geist auf. Ich selbst habe ein missgebildetes, mehrfach operiertes Herz, das zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen neigt – so ist es eben.

Wenn Krankheiten und Schicksalsschläge aber untrennbar zur menschlichen Existenz gehören, dann kann jeder Einzelne auch selbstbewusst mit körperlichen und anderen Unzulänglichkeiten umgehen.

Lassen Sie sich auch nicht mit moralischen Keulen wie Schuld und Sühne durcheinanderbringen. Natürlich sind Sie der Täter, wenn Sie während des Skiurlaubs beim Warten am Lift umfallen und sich mal schnell alle Bänder am rechten Knie reißen oder sich bei der Jagd mit einem Gewehr tatsächlich ins eigene Bein schießen. Sicher werden Sie danach ein paar zweideutige Anspielungen ertragen müssen, aber für Ihre Schmerzen und die Genesung spielt das nicht die geringste Rolle. Und die Zeiten, in denen Prostatakrebs angesehen wurde als die verdiente Strafe für ein ausschweifendes Sexualleben samt ähnlichem Aberwitz, die haben wir Gottwohl hinter uns gelassen.

»Ich bin herzkrank – und das ist auch gut so!«, könnte ich sagen in Anlehnung an das Selbst-Outing des SPD-Politikers und Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit, schwul zu sein.

Ganz stimmt das natürlich nicht, ich wäre ja lieber gesund. Als Kind bin ich allerdings noch, wenn ich Herzrhythmusstörungen hatte, still von dannen gezogen und ohne Kommentar wieder zurückgekehrt, wenn es mir besserging. Es sollten ja nicht alle wissen, dass ich ein Herz-Krüppel bin. Heute stehe ich zu meinen ärgerlichen Anfällen.

In vielen Momenten können Kranke ihr Leiden auch gar nicht verstecken. Sie bewerben sich um einen neuen Arbeitsplatz? Verschweigen Sie Ihrem zukünftigen Arbeitgeber eine schwere Krankheit, können Sie später fristlos gekündigt werden. Sie wollen eine Lebensversicherung abschließen oder nur eine Zusatzversicherung für Krankenhausaufenthalte? Ohne ausführliche Angaben zu Ihrer »medizinischen Vorgeschichte« (klingt leicht kriminell, oder?) läuft gar nichts.

Und bei einer neuen Liebe: Wie erklären Sie eine auffallende Narbe, die von einer delikaten Operation stammt? (»Als das Garagentor sich automatisch geschlossen hat, wurde ich plötzlich eingeklemmt. Ja, stimmt, dabei war ich zufällig nackt.« – Glauben Sie mir, das funktioniert nicht.)

Niemand versucht eine Erkältung oder Grippe zu verbergen, viele aber eine Krebserkrankung unter der Decke zu halten. Alle klagen offen über Verspannungen im Rücken, bei »Unterleibsgeschichten« wird meist nur getuschelt. Lassen Sie sich von anderen nicht beeindrucken, es gibt keine Geschmackspolizei in Sachen Gesundheit!

Wenn Sie es wollen und können, gehen Sie raus in die Welt – auch wenn Sie auffallen und für öffentliche Unruhe sorgen. Sie haben keine Haare mehr auf dem Kopf wegen einer Chemotherapie? Sie haben wie ich eine dicke Narbe auf der Brust oder dem Rücken, die im Schwimmbad oder beim Sport manch schrägen Blick provoziert? Sie zucken, hampeln herum, machen ungewollt komische Geräusche oder schimpfen laut, weil Sie unter dem Tourettesyndrom leiden? Kümmern Sie sich nicht um dumme Leute, von denen gibt es eh zu viele. Machen Sie, zu was Sie Lust haben, es ist Ihr Leben. Und Sie haben nur eines, mit oder ohne Krankheit.

Alle Menschen müssen mit Krankheiten zurechtkommen, auch die momentan Gesunden.

Das Leben ist ungerecht – na und!

Die Zukunft war früher auch besser.

Karl Valentin

Im September 1983 schnitten Mediziner der Universitätsklinik Tübingen erst meinen Brustkorb und dann mein Herz auf, um ein Loch in der Scheidewand zwischen dem rechten und linken Vorhof zu schließen. Ohne den Eingriff hätte ich wahrscheinlich nur noch wenige Jahre zu leben gehabt. Die Operation klappte – doch sie machte mich nicht richtig gesund. Warum nicht?

In den vergangenen zehn Jahren haben sich meine Herzrhythmusstörungen immer mehr verschlechtert. Warum?

Umfangreiche Eingriffe in meinem Herzen in den Jahren 2002 und 2003 und zwei im Jahr 2008 haben bisher nicht die erwünschte Besserung gebracht. Warum? Ich lebe in der Angst, mein Herz könnte plötzlich so chaotisch schlagen, dass ich sterbe. Warum? Warum gerade ich?

Eine Frage darf sich ein Kranker niemals stellen: Warum? Dieses unscheinbare Wort ist nicht nur völlig nutzlos, es ist gefährlich, ja, es ist böse. Das Wort Warum ist tabu: kein »Warum ich?«, kein »Warum jetzt?«, kein »Warum so schlimm?«, kein »Warum … ?«!

Viele Menschen, die eine Krankheit oder einen anderen Schicksalsschlag ertragen müssen, sind aufgebracht, empört, sehen sich als Opfer einer himmelschreienden Ungerechtigkeit. Doch wer ist schuld? Wen sollen sie anklagen, wen können sie verdammen für das Übel, das sie erleiden müssen?

In einer zufälligen Sekunde im Februar 1983 überfielen mich so gefährliche Herzrhythmusstörungen, dass ich das erste Mal in meinem Leben in einem Notarztwagen mit Blaulicht und Sirene in das Krankenhaus meines schwäbischen Heimatortes Kirchheim unter Teck gebracht werden musste und dort ruck, zuck auf der Intensivstation landete. Warum ich? Warum an diesem Tag?

Ob ich eine Antwort auf all diese Fragen habe? Nein, natürlich nicht. Wissen Sie eine Antwort? Würde mich wundern. Die banale Erkenntnis lautet: Es gibt keine. Nicht umsonst heißt es: Das Leben ist hart, aber ungerecht.

Wen kann ich anklagen für die mannigfachen Qualen und Entbehrungen, die ich wegen meines kranken Herzens in den vergangenen Jahrzehnten erdulden musste? Den Geist im Himmel oder meine Gene?

Sie glauben an »Gott oder wer immer da rumhängt« (wie die Hip-Hop-Jungs der »Fantastischen Vier« so nett getextet haben)? Und an das ewige Leben inklusive sonnigem Paradies? Oder halten Sie es eher mit der buddhistischen Wiedergeburt, dem kosmischen Karma oder der wankelmütigen römischen Schicksalsgöttin Fortuna? Sind Sie gar ein Geist, der verneint, ein Atheist? Oder wenigstens ein Agnostiker?

Wie auch immer, Sie werden keine Antwort finden, warum gerade Sie mit einer fiesen Krankheit geschlagen sind. Warum Sie seit Jahren an schweren Kopfschmerzen leiden, warum Sie ein Schlaganfall niederwarf, warum ausgerechnet Sie hintereinander drei Fehlgeburten verkraften mussten. Wieso erwischt es einen selbst und nicht die anderen?

Warum mich persönlich mein Herz so quält? Ich habe es nie ergründen können. Ich wollte es nie – und will es auch heute nicht.

Natürlich bin ich schon in tiefer Verzweiflung im Krankenbett gelegen, habe in Gedanken getobt und gehasst. Die Einsamkeit, die Angst, die Schmerzen, die Ausweglosigkeit machten mich rasend. Die Medikamente wirken nicht, die anderen Patienten sind die Hölle, Ärzte und Pfleger erscheinen einem als gelangweilte Kurpfuscher oder lüsterne Sadisten.

Auch mich hat das Leid schon so niedergedrückt, dass ich das Gefühl hatte, nie wieder genug Kraft zum Leben zu haben. Ich lag im Bett und dachte, nie mehr aufstehen zu können. Kein Sonnenstrahl wollte mich erfreuen, kein noch so leckeres Essen mich locken. Weder Besuche noch Anrufe von Freunden munterten mich auf. Mein krankes Herz drohte mich in Isolationshaft zu nehmen.

Der seelische Fall ins Nichts, wohl jeder Kranke hat ihn schon einmal erlebt.

Doch im Laufe der Jahre habe ich gelernt, besser mit dem Verhängnis umzugehen. Gefragt ist Demut, Ergebenheit – die Bereitschaft, das, was unabänderlich ist, hinzunehmen. Aber nur genau das! Kein Fitzelchen Lebensqualität wird freiwillig der Krankheit geopfert!

Auf keinen Fall Zeit und Kraft für sinnlose Gedanken verschwenden. Sich detailreich überlegen, was alles noch passieren könnte – geschenkt! Es reicht, sich mit dem Furchtbaren zu beschäftigen, wenn es da ist.

Anderen geht es besser als mir? Na und, das ist nicht im Geringsten interessant. Ich sehe weder aus wie George Clooney, noch liegen auf meinem Konto die Milliarden von Bill Gates, ich spiele nicht in der Fußball-Nationalmannschaft, und auf der Liste zukünftiger Nobelpreisträger stehe ich auch nicht ganz oben – aber dafür habe ich eine gefährliche Herzkrankheit, tolle Sache, echt super!

Die einzig, wirklich einzig entscheidenden Fragen für einen selbst sind: Was kann ich trotz eines schweren Schicksalsschlages aus meinem Leben (noch) machen? Was kann ich für meine Heilung tun? Auf was kann ich mich freuen?

Im Rückblick muss ich sagen: Auch auf die größte Verzweiflung, auf die tiefste Dunkelheit in meinem Leben sind immer wieder wunderbare, sagenhaft glückliche Augenblicke gefolgt: als ich das erste Mal meine Frau an der Elbe küsste, an einem warmen, sonnigen Samstagnachmittag im Frühjahr; als ich mit meinem Freund Gerd in seinem kleinen Propellerflugzeug die Pazifikküste südlich von San Francisco entlangflog; als meine kleine Tochter zum ersten Mal sagte: »Du bist lieb, Papi«; als meine Mutter mich nach ihrem Schlaganfall das erste Mal wieder anrief. Solche Momente, sie alleine schon waren all das Leid und den Schmerz wert. Also sage ich mir: Auch in Zukunft, nichts wie ran an die Welt! Ich will dem Glück eine Chance geben.

Sich geistig nicht gehenlassen, sich im Kopf wehren. Wenn die Gedanken Schrecken auftürmen, muss man Widerstand leisten: Aufstehen und spazieren gehen, auch mitten in der Nacht. Oder lesen, fernsehen, Musik hören. Sich in schöne Erinnerungen flüchten oder von einer besseren Zukunft träumen. Sich die Wut aus dem Körper brüllen. Kalt duschen oder stundenlang in der Wanne liegen. Schattenboxen oder meditieren. Und wenn es einer kann, welch hohe Kunst!, einfach nichts mehr denken.

Irgendeinen Blödsinn starte ich stets, wenn die Warums kommen, etwas kann jeder tun. Bei Krankheiten gilt wie im Sport: Entscheidend ist nicht nur die körperliche Fitness, sondern auch die mentale Stärke.

Und wer ganz am Ende steht, sich ohne jede verbleibende Chance dem völligen Zerfall des Körpers gegenübersieht, der besitzt die Möglichkeit, »Hand an sich zu legen«, wie es der Schriftsteller Jean Améry so treffend genannt hat.[1] Der Gedanke, dass »der Freitod ein Privileg des Humanen« ist, war für mich immer ein tröstlicher Gedanke, auch wenn ich die Möglichkeit bisher nie konkret in Erwägung gezogen habe.

Am nächsten Wochenende will ich wieder frühmorgens an den Hamburger Elbstrand, zwischen dem alten Hafen bei Övelgönne und dem Anleger Teufelsbrück. Zusehen, wie die großen Containerschiffe und die kleinen Segelboote auf ihrem Weg in Richtung Nordsee vorbeischippern. Ich fühle mich dann mitten in der Großstadt fast wie draußen an der Nordsee. Ich höre die Wellen, die die Hafenfähren hinter sich herziehen, an die Uferböschung klatschen, schlage den Jackenkragen gegen den Wind von hinten hoch, beobachte die Lotsen, wie sie ihre kleinen Boote parallel neben die großen Pötte steuern und an Bord klettern, ziehe die frische, rauhe Luft tief in meine Lungen. Frei und doch geborgen erlebe ich mich dann. Welch eine Freude! Schön, wenn mich meine Krankheit dorthin lässt.

Es ist verschwendete Zeit, dem Schicksalhaften einen Sinn geben zu wollen. Das Beste aus dem anscheinend Sinnlosen zu machen, das ist spannend. Für mich heißt das: Das Leben geht weiter – zumindest solange mein Herz schlägt!

Die ach so heile Natur

Die Natur ist weder vernünftig noch gerecht.

Beah Richards

Überfallen den Menschen Schicksalsschläge wie Krankheiten, ist dies häufig nicht mehr als ein schlichter Zufall, ein Ereignis unter Millionen und Milliarden chemisch-organischer Bescherungen, wie sie sich täglich in der Natur ereignen. Nur den, den es trifft, der hat natürlich Pech – mit der schlechten Laune der Natur sozusagen.

In meiner Heimatstadt besuchte ich eine sprachlich-humanistische Schule, das Ludwig-Uhland-Gymnasium. Ich ging gerne hin. Dort hatte ich ein Schlüsselerlebnis, das im zarten Alter von etwa zwölf Jahren mein Bild der Natur erst grundsätzlich erschütterte und dann bleibend veränderte.

Unsere Biologielehrerin zeigte uns Schülern in durchaus guter Absicht eine dieser ach so bezaubernden Tierfilm-Schmonzetten: Ein majestätisches Adlerpaar hauste hoch über den Wipfeln dunkler Wälder in einem grauen, felsigen Berg. Kunstvoll hatten die beiden Jagdvögel ein Nest auf einem knappen Felsvorsprung errichtet, trotzten Kälte, Regen und Stürmen, kreisten in großen Runden über dem Tal und überblickten wohlwollend ihr Reich. Eines Tages, welch Jubel, welch Freude, schlüpften rührend-hilflose Adler-Küken aus den sorgsam ausgebrüteten Eiern. Endlich, eine Adlerfamilie ward geboren! Ein Stoff, wie ihn sich Rosamunde Pilcher, hätte sie Tiergeschichten erfunden, nicht besser hätte ausdenken können.

Liebevoll kümmerten sich die beiden Greifvögel fortan um die wehrlosen Kleinen. Und das war nicht nur ein Vergnügen, nein. Zahllose Male am Tag mussten die hungrigen Mäuler gestopft werden, mit aufgerissenen Schnäbeln bettelten und gierten die Winzlinge nach jedem noch so kleinen Fitzelchen Nahrung.

Die Alten mussten ohne Ruhepause ihre schweren Flügel schlagen, um Futter heranzuschaffen. Die Tiere scheuten keinen noch so weiten Weg, wenn es wieder galt, mit scharfem Blick etwas Essbares zu entdecken und dies so schnell wie möglich nach Hause in den Horst zu den verzweifelt schreienden Jungen zu bringen. In ebenso mühsamer wie aufopferungsvoller Anstrengung pflegten und hegten die alten Adler ihre Nachkommen. Bis eines Tages, der Lohn aller Mühen und Entbehrungen, die ersten Jungen flügge wurden und das Nest verließen.

Der Tierfilmer, in den eigenen Augen wohl ein von Hollywood verkanntes Regie-Genie, ließ sich nicht lumpen und präsentierte die Vogelfamilie überlebensgroß, mal in gewaltigen Landschaftstotalen, mal in Nahaufnahmen scheinbar direkt aus dem Nest. Er sparte nicht an Zeitlupen und hatte sein gesamtes Werk mit schwelgerischer, orchestraler Musik unterlegt.

Eine Tierdokumentation, warmherzig und die Seele erbauend, hätte man denken können. Unsere freundliche Lehrerin verfolgte erkennbar das Ziel, uns frühpubertierenden Quälgeistern die Schönheit und Lauterkeit der Natur nahezubringen.

Bei mir ging das Vorhaben allerdings gehörig nach hinten los. Denn die erhoffte Wirkung hing doch sehr davon ab, aus welchem Blickwinkel man sich das Machwerk betrachtete. Ich hatte nämlich einen ganz anderen Film gesehen – zumindest ab einem bestimmten Augenblick.

Da kreiste das Adlermännchen erst ruhig in den Lüften, um dann jäh im Sturzflug Richtung Boden zu schießen und dort seine Krallen gewaltsam in eine kleine Feldmaus zu schlagen. Das bräunliche Nagetier sollte anschließend die Jungvögel ernähren. So weit, so gut.

Nur – was war mit der Maus?

Ja, wer dachte denn an das arme Schwein, die Maus, schoss es mir sofort, noch während der Szene, durch den Kopf? Aus deren Sicht stellte sich die Geschichte nämlich ganz anders dar als aus der Adlerperspektive – ziemlich brutal, genau genommen tödlich.

Der wuselige Nager hatte womöglich mit seiner Partnerin Tage oder gar Wochen an einem trockenen und sicheren Bau gegraben. Dann, nach einer zarten Liebesnacht waren die Kleinen zur Welt gekommen, winzige brave Mini-Mäuse. Herr und Frau Feldmaus waren selig. Die Eltern mussten nun jeden Tag frische Nahrung in ihre Höhle schaffen, um dem Nachwuchs das Überleben zu ermöglichen. Und auch sie gaben ihr Bestes, und sie taten es gern. Das Glück war unbeschreiblich, eine rosige Zukunft schien der kleinen Nagerfamilie verheißen.

Bis zu diesem einen Augenblick, als der Mäuserich sich ein paar Meter vom Bau entfernte und eine Sekunde lang nicht aufpasste. Er hörte noch kurz ein Zischen in der Luft, einen Wimpernschlag lang sah er einen wuchtigen Schatten auf sich zustürzen. Dann durchstieß ihn ein barbarischer Schmerz. Tief in seinen Rücken bohrten sich hornige Dornen. Ein riesiges Tier, geradezu ein Monstrum, eine geflügelte Bestie schleuderte ihn herum, riss ihn erbarmungslos in die Luft. Er verlor das Bewusstsein. Mehrere Schnabelhiebe in seinen winzigen Schädel beendeten jäh sein unauffälliges Leben. Was mit der treuen Mäusedame und den nun schutzlosen Jungen geschah, bis heute weiß es niemand.

Ja, nur kurz haben sich die Welt der Adler und die der Mäuse getroffen, doch mit welch unterschiedlichem Resultat: Adler wie Maus, jeder wollte nur das Gute, und dabei hat einer den anderen, ohne mit der Wimper zu zucken, getötet.

Nach Ende der damaligen Biologiestunde hatte ich das Gefühl, viel über das Wesen der Natur gelernt zu haben, und ich glaube das bis heute. (Denken Sie übrigens auf keinen Fall an das Beispiel, wenn Sie sich zu Hause vor dem Fernseher, die Beine hochgelegt, eine Tier-Dokumentation zu Gemüte führen. Das kann Ihnen gehörig den Spaß verderben.)

Die Natur kennt Kategorien wie Glück, Unglück oder Gerechtigkeit nicht. Das sind menschliche Einheiten. Die meisten Krankheiten gehören jedoch auf das Feld der Natur. Das bedeutet, es gibt keine gerechte Verteilung beim Kranksein, es gibt auch keine ausgleichende Gerechtigkeit oder dergleichen. Und ein Anspruch auf Gesundheit besteht schon überhaupt nicht.

Zu glauben, weil jemand Krebs hat, dürfe das Schicksal ihn nicht auch noch mit einem hinterhältigen Unfall behelligen, welch Irrtum. Oder zu hoffen, weil einer körperlich etwas besonders Schlimmes ertragen musste, stünde ihm anschließend etwas Schönes zu – o nein!

Glück und Gerechtigkeit zu erfahren ist oft einfach Glück. Deshalb gilt: Wenn Sie gesund sind, genießen Sie es! Und sollten Sie krank sein, genießen Sie, was Ihnen noch bleibt.

Aller Anfang ist schrecklich

Nur wenn Sie Ihren Feind kennen, können Sie ihn besiegen.

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