Das Los seines Lebens - Noa Liàn - E-Book

Das Los seines Lebens E-Book

Noa Liàn

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Beschreibung

Lennard hat selten Glück. Darum verlässt er sich lieber darauf, was er selbst erarbeiten kann, auch wenn er damit nur gerade so durchkommt. Alles ändert sich, als ihm an einem Vorweihnachtstag der ansehnliche Geschäftsmann Alexander mehrere Gewinnlose überlässt. Plötzlich stellt sich Lennard eine ganz neue Frage: Sollte er sein Glück teilen, damit es mehr wird? Denn Alexander scheint zwar Geld zu haben, doch ist er deshalb auch reich? Ein nicht ganz freiwilliger gemeinsamer Urlaub sorgt für Antworten und – eine unerwartete Annäherung.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kalte Füße
Wie gewonnen, so zerronnen!
Kaffee oder Motoröl
Große und kleine Flugzeuge
Von Nadelstreifen und Badehosen
Abmachung zum Glück
Gewitterwolken im Paradies
Alkohol war noch nie eine Lösung
Organabgabe leicht gemacht
Raubtierfütterung
Neuland
Fragwürdiges Vergnügen
Tiefes Wasser
Reise ins Unbekannte
Seifenblasen
Bier oder Tee?
Einladung auf die Ritterburg
Schlüssel zum Glück
Die Freuden des Gebens
Epilog
Nachwort
Leseprobe: »Der erste Wächter«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Noa Liàn

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 09/2020

© Noa Liàn – Alle Rechte vorbehalten.

c/o Werneburg Internet Marketing und Publikations-Service Philipp-Kühner-Straße 2, 99817 Eisenach

 

Text: © Noa Liàn

Coverdesign: © Noa Liàn

Bildmaterial von depositphotos.com: © unkreatives, GeorgeRudy, liudmilachernetska, fotomaximum, Ghenadie, david_franklin

Lektorat und Korrektur: Katharina Rose und Tatjana Germer

 

[email protected]

www.noa-lian.de

 

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden/realen oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig.

Kalte Füße

 

»Verdammt, pass doch auf!« Dem Auto hinterherzubrüllen, das mir eine Tonne Schneematsch in die Schuhe spritzt, kann ich mir eigentlich sparen, aber irgendwohin muss ich ja mit meinem Frust.

Missmutig stapfe ich weiter und ignoriere tapfer das schmatzende Geräusch meiner nassen Füße. Ich seufze. Egal wie, ich muss wirklich neue Winterschuhe organisieren. Vielleicht habe ich ja bei den Kleinanzeigen etwas Glück. Oder jemand verkauft nach Weihnachten ein unliebsames Paar Schuhe. Die Kälte kriecht langsam meine Beine hinauf, also laufe ich etwas schneller, um möglichst bald den Supermarkt zu erreichen.

Natürlich gibt es keinen Einkaufswagen mehr, ich werde mir drinnen einfach eine Pappe suchen und meine paar Sachen dort hineinlegen. Die Wärme des Marktes schlägt mir schon entgegen. Die Menschen drängen sich eilig an mir vorbei und ziehen dabei noch längere Gesichter als ich. Ein Hoch auf die entspannte Vorweihnachtszeit.

Die Schlange an der Kasse, als ich endlich erfolgreich alles zusammen in einen viel zu kleinen Karton gestapelt habe, ist unfassbar lang. Heute ist wohl einfach so ein Tag, an dem nichts richtig klappt. Na was soll’s, es gibt schlimmere Dinge im Leben und ändern kann ich sowieso gerade nichts. Außerdem gibt es Licht am Ende des Tunnels. Der Mann vor mir ist echt nett anzusehen.

Normalerweise mache ich mir nichts aus dem Business-Typ, erst recht nicht, wenn er die ganze Zeit an einem Smartphone hängt, doch er trägt seinen langen Mantel über Anzugshose und -schuhe mit einer zeitlosen Eleganz, die mir ein wenig den Atem raubt. Und mein Türmchen in der Pappe gefährlich ins Wanken bringt.

Meine ruckartige Bewegung, um meine Lebensmittel zu retten, scheint er mitbekommen zu haben, jedenfalls dreht er sich direkt zu mir und sieht mich etwas verwirrt an.

»’tschuldigung«, nuschle ich und werde rot. Das hat mir gerade noch gefehlt, dass ich mich vor ihm blamiere.

Er nickt nur und wendet sich dann wieder seinem Telefon zu, die Stirn bleibt gerunzelt. Was mich annehmen lässt, dass er mit seinem angestrengten Gesichtsausdruck nicht einmal mich gemeint hat. Da er anscheinend nicht besonders aufmerksam ist, nutze ich die Gelegenheit und sehe ihn mir genauer an. Wenn hier ein Laufsteg wäre, würde ich glatt denken, dass er Model für Herrenmode ist. Vielleicht ist er aber auch eine Idee zu alt dafür. Mitte oder Ende vierzig möglicherweise. Ob er mit seinem Kiefer Nüsse knacken kann? Auch so würde ich ihn gern mal ablecken. Bevor ich noch anfange zu sabbern, schließe ich schnell wieder meinen Mund und sehe woanders hin. Inzwischen ist mir so warm, dass ich denke, jemand hat die Heizung angemacht.

Endlich geht es voran. Vorne muss irgendjemand fünfzig Euro in Eincentstücken bezahlt haben, jedenfalls scheint mir nur das die lange Wartezeit zu rechtfertigen. Als Mr Geschäftsmann an der Reihe ist, bemerke ich erst, dass er zwei Flaschen Champagner auf das Band gelegt hat. Wusste gar nicht, dass es hier so etwas zu kaufen gibt. Die Kassiererin lächelt ihm freundlich zu, doch er nickt wieder nur und beeilt sich, zu bezahlen. Er ist nicht direkt unhöflich, aber er wirkt sehr distanziert. Oder abwesend. Was weiß ich schon?

Als er gehen will, drückt ihm die Kassiererin einige Gewinnlose in die Hand, da gerade eine Aktion läuft, für die man je Zehner eins bekommt. Leider bekomme ich meist nicht so viel zusammen, ich muss ja auch sehen, dass ich bis zum Ende des Monats zurechtkomme.

Doch er scheint damit nicht viel anfangen zu können. »Was mache ich mit denen?«

»Wenn Sie den Gewinncode freirubbeln, dann können Sie eine Traumreise gewinnen. Oder kleine Sofortgewinne, die Sie dann direkt hier im Markt einlösen können.«

Er bleibt einen Moment stehen und betrachtet nur unschlüssig die Lose in seiner Hand. »Ich denke nicht, dass ich die haben möchte.«

Bevor ich weiß, was ich tue, nehme ich allen meinen Mut zusammen. »Also ich … ich würde gern eins davon nehmen, wenn Sie nicht möchten.«

Der Mann sieht mich nun aufmerksamer an und reicht mir einfach den ganzen Packen. »Bitte sehr.«

»Oh, das ist wirklich sehr nett. Danke!«

Er nickt und anstatt weiter verwirrt und abwesend zu schauen, lächelt er mich an. Doch gleich darauf nimmt er seinen Einkauf, dreht sich um und ist schon verschwunden.

Ein Einkaufswagen, der mir rüde in meinen Rücken geschoben wird, erinnert mich daran, dass ich jetzt dran bin. »Ganz schön viel los heute, oder?«, frage ich die Kassiererin lächelnd, um den seltsamen Moment zu überspielen und mich selbst von meinen wackeligen Beinen abzulenken.

Sie lacht und wirft einen kurzen Blick in die Schlange, die inzwischen noch länger geworden ist. So gesehen, habe ich vielleicht doch Glück gehabt. »Um die Zeit ist es immer etwas verrückt.«

Als meine Waren fertig eingescannt sind, hilft sie mir, alles wieder halbwegs sicher in dem kleinen Karton aufzubauen. Ich verabschiede mich eilig, nehme meine Sachen an die Seite und stopfe alles in meinen Rucksack. Noch immer habe ich so ein warmes Gefühl im Bauch, als ich an das Lächeln des Mannes denke. Er hat damit gleich ganz anders gewirkt.

Erst draußen vor dem Markt fällt mir wieder auf, dass ich nasse und kalte Füße habe.

 

 

Die Arbeitstage vor Weihnachten sind mal wieder besonders stressig. Meine Füße fühlen sich langsam an, als wären sie nur noch eine einzige Blase. Trotzdem scheucht mich mein Chef den ganzen Tag durch das Lager und lässt mir kaum Zeit, mich auszuruhen. Umso glücklicher bin ich, endlich wieder zuhause zu sein.

Die Lose habe ich schon beinahe vergessen, aber als ich gerade völlig erschöpft vor meinem Kühlschrank stehe, sehe ich, dass sie noch immer auf dem Küchentisch liegen.

Ich nehme mir erst ein Toast, bestreiche es mutig dick mit Butter und lege ganz verwegen noch eine Salamischeibe oben drauf. Dann greife ich nach dem Stapel und gehe in mein Wohnzimmer, wo ich erst noch schnell die Decke von meiner Schlafcouch beiseiteschiebe. Krümel im Bett mag niemand.

Ich beiße in den Toast, lege ihn dann aber hastig beiseite. Jetzt will ich doch wissen, ob ich vielleicht einmal in meinem Leben Glück habe. Ich öffne die Lose vorsichtig an der Perforierung und – sehe nicht viel. Bis auf ein graues Feld, unter dem ich die Gewinnmitteilung vermute. Oder die Niete. Ich zucke mit den Schultern. Zu verlieren habe ich nichts. Mit meinen ohnehin kaputten Fingernägeln rubble ich die Felder frei. Und, wow, ich habe Glück. Beim nächsten Einkauf kann ich mit einem Los einen Euro sparen! Und ein weiteres Los gewährt mir Rabatt auf eine bestimmte Jogurtmarke. Das passt doch ganz gut zusammen und ich kann mir mal eine Kleinigkeit gönnen. Der Rest der Lose enthält nur eine lange Reihe an Zahlen, die ich auf einer Internetseite eingeben soll.

Es dauert eine Weile, bis der Laptop hochgefahren ist, und eine noch längere, bis ich mich auf dieser seltsamen Internetseite zurechtgefunden habe. Dann tippe ich die Codes ein und zusätzlich noch meine E-Mail-Adresse, die demnächst wahrscheinlich unter einer Flutwelle unnützer Werbung verschwinden wird, und füge meine persönlichen Daten hinzu.

Die Seite behauptet nun, dass am Ende der Woche ausgelost wird. Das wären noch etwas mehr als achtundvierzig Stunden. Aber gut, es ist nicht so, dass ich erwarte, ab morgen in einer Luxusvilla zu wohnen. Es sind nur alberne Lose einer Supermarktkette, um die Leute in den Laden zu locken. Und in meinem Leben kann ich nun echt nicht behaupten, besonders viel Glück gehabt zu haben.

Da fällt mir ein, dass ich wieder meine Mutter besuchen sollte. Schon allein, um sicherzustellen, dass sie nicht doch einen Weg gefunden hat, neue Rechnungen anzuhäufen.

Und plötzlich ist da doch der Wunsch, dass es wenigstens einmal in meinem Leben zu etwas Gutem reichen könnte. Manchmal bin ich einfach nur so müde von all den Sorgen, dass ich echt gern weit weg in den Urlaub fahren würde. Selbst wenn danach alles wieder beim Alten wäre mit genau denselben Problemen – ich denke, ich hätte wieder etwas mehr Kraft, mich dem Ganzen zu stellen. Eine naive Idee, aber wer hat behauptet, dass träumen nicht erlaubt ist?

Wie gewonnen, so zerronnen!

 

Der Sonntag kommt und bevor ich ganz weiß, was ich tue, brühe ich mir zur Feier des Tages einen schwarzen Tee. Zur Verlosung möchte ich ja schließlich wach sein. An meinen Arbeitstag wird mich mein Wecker schon erfolgreich erinnern.

Die Minuten bis Mitternacht vergehen unfassbar langsam und wenn ich mir noch ein paarmal übers Gesicht streiche, habe ich bestimmt bald Hängewangen.

Der Countdown auf dem Bildschirm stimmt tatsächlich mit der richtigen Uhrzeit überein, für einen kurzen Moment hatte ich Angst, dass sich mein Laptop vielleicht wieder aufgehangen hat und im Schneckentempo zählt.

»Komm schon, mach schneller!« Zum Glück kann mich Einstein nicht mehr hören, der hätte zu meiner Einstellung zur Zeit bestimmt einiges zu erzählen.

Endlich, die letzte Minute ist angebrochen. Laut zähle ich herunter, als gäbe es in meinem Leben nichts Besseres zu tun. Na gut, so weit ist das nicht mal von der Wahrheit weg.

Nur noch zehn Sekunden … sieben … fünf … eine …

Auf der Seite erscheint plötzlich ein Ladebalken, der sich noch langsamer zu füllen scheint, als der Countdown gerade heruntergezählt hat.

Und dann erscheint plötzlich wieder ein langer Code, der das Gewinnerlos darstellen soll.

›Der Gewinner für die Traumreise zu zweit wird per E-Mail informiert.‹

Doch ich brauche mir gar nicht erst die Mühe zu machen, mein Handy zu holen und meine Mails abzurufen. Ich mag meine Schwächen haben, doch mit Zahlenreihenfolgen bin ich ganz gut. Und diese hier kommt mir sehr vertraut vor.

Einige Minuten sitze ich nur so da und registriere kaum, dass mir der Mund offen steht. Erst, als etwas mein Kinn herunterläuft und ich merke, dass ich mich gerade vollsabbere, schließe ich ihn wieder und wische mir mit dem Ärmel über den Mund.

Heiliger Bimbam. Das ist meine Losnummer. Jedenfalls eine davon. Mit zittrigen Fingern greife ich nach den Zetteln und suche das richtige Los. Da ist es! Ich gleiche die Zahlen vorsichtshalber noch einmal ab. Mit jeder weiteren erwarte ich schon, dass eine Ziffer doch abweicht. Aber nein, auch, nachdem ich sie viermal abgeglichen habe, bleibt die Nummer auf meinem Los dieselbe wie die auf dem Bildschirm.

Ich stehe auf. Und setze mich wieder hin. Nur um wieder aufzustehen und drei Schritte vor dem Sofa hin und herzulaufen. Und mich dann wieder hinzusetzen.

Kann das wahr sein? Jetzt bereue ich, mir schwarzen Tee gemacht zu haben, mein Herz legt gerade einen Spurt ein, den es vorher noch nie zustande gebracht hat.

Ich lache hysterisch auf. Das wär’s jetzt. Traumreise gewinnen und direkt danach einen Herzinfarkt bekommen.

Noch einmal gleiche ich die Nummern ab und so langsam sickert die Erkenntnis in mein überfordertes Gehirn. Ich habe eine Traumreise gewonnen. Zu zweit. Ich kann mein Glück kaum fassen.

Aber … war es denn mein Glück? Eigentlich nicht, denn immerhin gehört das Los zu dem Mann an der Kasse vor mir. Er hätte Glück gehabt und … hätte er es dann nicht eher verdient als ich?

Es ist ein dummer Gedanke, aber mein schlechtes Gewissen lässt mir jetzt schon keine Ruhe mehr. Doch davon will ich mir meine fünf Minuten Glück und Freude nicht nehmen lassen.

Ich spurte in die Küche, öffne eine Flasche Sprudelwasser und gieße mir den Inhalt in das einzige Stielglas, das ich besitze. Und stürzte alles in einem Zug herunter.

Danach wanke ich ins Schlafzimmer und überantworte mich meiner Matratze.

 

 

Ich kann mich heute kaum auf meine Arbeit konzentrieren. Mein Chef brüllt auch schon rum und meine Kollegen sind genervt. Selbst Theo, mein bester Kollege, verdreht die Augen, als ich ein weiteres Paket bringe, das nicht mit dem Lieferschein übereinstimmt.

Doch in meinem Kopf ist nur noch dieses Los, das mir angeblich eine Traumreise bescheren wird. Natürlich behalte ich das für mich. Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass man niemals aussprechen sollte, was einem noch Gutes widerfahren wird. Denn das ist ein sicherer Garant dafür, dass diese Sache nie eintreten wird. Allerdings behauptet nun auch mein E-Mail-Postfach, dass ich gewonnen habe. Ich habe tatsächlich eine seriös aussehende Nachricht bekommen.

Schließlich kann ich nach einem langen und tumben Arbeitstag wieder nach Hause. Und ja, dort liegt es immer noch. Das Los. Ich werde es hüten wie ein Schatz, denn in der Gewinnbenachrichtigung stand, dass ich es unbedingt vorzeigen muss, damit die Echtheit bestätigt werden kann. Eigentlich logisch.

Nun muss ich es nur an einen Ort legen, wo ich es auch wiederfinde. Also tatsächlich wiederfinde und nicht die nächsten einhundert Jahre verschollen bleibt. Und ich darf nicht vergessen, zurückzuschreiben, wie ich in den nächsten Tagen zu erreichen bin.

Mann, das ist alles richtig aufregend. Am liebsten würde ich jetzt schon meine Tasche packen. Habe ich überhaupt eine Badehose? Verdammt, nachträglich kaufen ist eigentlich gerade nicht drin. Ich gehe zum Schrank und finde doch noch eine … recht altersschwache Badehose mit mittellangen Hosenbeinen.

Hat das Gummi schon immer geknirscht, wenn ich am Bund gezogen habe? Na egal, immerhin hat das Ding auch was zum Zuschnüren, damit sollten alle vor meinem nackten Arsch in Sicherheit sein.

Ich kichere über diesen albernen Gedanken und schaue mir den Rest meines Kleiderschranks an. Dann lese ich mir erneut die E-Mail durch. Sage und schreibe zwei Wochen soll das gehen. Das ist alles unglaublich! Und es passt sogar gut, denn Anfang des nächsten Jahres habe ich meinen Jahresurlaub, der in einen der Zeiträume fällt, der als mögliche Reisezeit angegeben worden ist.

Sollte einmal wirklich etwas für mich zusammenlaufen? Ich will mich echt freuen, doch ein kleiner Restzweifel bleibt, der mich bremst. Ich mag es einfach nicht, mich bedenkenlos zu freuen, um dann wieder enttäuscht zu werden. So naiv ich manchmal bin, in dieser Angelegenheit bin ich Realist.

Und dazu nagt immer noch ein unangenehmer Gedanke an mir. Der Mann an der Kasse.

Der hat auch echt gestresst ausgesehen und könnte vielleicht den Urlaub gebrauchen. Klar, der kann ihn sich sicherlich auch selbst leisten, aber manchmal braucht man einen Stupser von außen, um zu sehen, dass man eine Auszeit nötig hat. Und nur, weil er Geld zu haben scheint, sollte ich nicht davon ausgehen, dass er diese Reise nicht auch verdient hätte. Gut, er hat das Los abgelehnt, aber wer erwartet bei so etwas schon, zu gewinnen? Ich ganz sicher nicht, nur ein Moment voll von grenzenlosem Optimismus hat mich dazu gebracht, nach einem Los zu fragen. Und hat er sie mir nicht sogar alle gegeben? Das hat entscheidend dazu beigetragen, dass ich gewonnen habe.

Ich bemerke, wie ich inzwischen im Flur auf und ab laufe wie so ein alter Denker. Aber nachdenken muss ich wirklich. Und … eine Lösung wäre doch recht naheliegend. Es mag sein Los gewesen sein, aber ich habe die Reise gesichert. Eine Reise, die es zwei Personen ermöglicht, Urlaub zu machen. Das ist es doch!

Ich könnte versuchen, ihn ausfindig zu machen, und dann fragen, ob er mitkommen möchte.

Hm, so zu Ende gedacht, klingt das gruselig, aber der Zweck heilt doch bekanntlich die Mittel, oder? Ich will ihm ja nur etwas Gutes tun.

Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke, als ich mir vorstelle, wie ich diesem Mann gegenübertrete.

Hallo, ich bin der Lennard, fahr mit mir in den Urlaub, Süßer.

Ja, nein, so ganz sauber ist das wirklich nicht. Andererseits … was habe ich schon zu verlieren? Wenn er nicht will und mich für einen verrückten Spinner hält, brauche ich kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. Und wenn er zustimmt, nun, dann fahre ich mit einem heißen Kerl in den Urlaub und kann mir schöne Fantasien dabei machen.

Das größte Problem ist damit trotzdem noch nicht gelöst, denn ich muss ihn so oder so erst einmal finden. Er sah nicht gerade danach aus, als würde er häufiger dort einkaufen gehen. Eher so, als hätte er schnell noch etwas Vergessenes für eine Firmenweihnachtsfeier organisiert.

Andererseits scheine ich gerade etwas wie eine Glückssträhne zu haben. Es kann nicht schaden, es diese Woche zur selben Zeit zu versuchen. Am besten an mehreren Tagen. Da ich Frühschicht habe, könnte das sogar klappen. Und wenn er dort spontan für eine Firma eingekauft hat, könnte die zumindest in der näheren Umgebung liegen. Ein paar Internetseiten von Firmen in der Gegend zu suchen, auf der sie Mitarbeiter vorstellen, sollte nicht so schwer sein.

Mit frischem Mut will ich mich gerade ans Werk machen, als mein Blick noch einmal auf das Los fällt. Ich nehme es ganz vorsichtig hoch und stelle es auf ein Regal neben meine Lieblingspflanze Bianca. Hier sollte ich es auf jeden Fall wiederfinden. Vielleicht lege ich es morgen aber besser ins Portmonee, meinen Ausweis habe ich schließlich auch noch nie verloren.

 

 

Nachdem ich auf die E-Mail der Veranstalter geantwortet und das Los fotografiert habe, geht alles recht zügig. Morgen wollen die Leute nun vorbeikommen und das Los abholen und Reiseunterlagen mitbringen. Irgendein Interview soll dann auch stattfinden, was mich tierisch nervös macht. Hoffentlich wollen die keine Fotos machen, ich weiß nicht einmal, was ich dazu anziehen soll.

Und ich bin immer noch keinen Schritt weitergekommen. Die Firmen, die ich herausgesucht habe, hatten entweder keine allzu aussagekräftige Internetseite oder keinen Mitarbeiter, von denen einer wie mein Mann aussieht. Wahrscheinlich muss ich mich doch damit abfinden, dass ich ihm das Los abgeluchst habe und nun auf seine Kosten Urlaub machen werde.

Ich schlendere sinnlos durch die Gänge des Marktes und bekomme einen ganz neuen Eindruck von dem Angebot. Kurzentschlossen greife ich nach einer Tüte Cracker und gehe zur Kasse.

Ein kleines bisschen habe ich gehofft, dass ich ihn auf magische Weise wiedersehe, doch auch hier taucht er nicht einfach vor mir auf.

Als ich den Laden verlasse, vernichte ich schon den ersten Cracker. Nur, um meinem schlechten Gewissen noch mehr Futter zu geben, das mich jetzt dafür anmotzt, mir dieses unnötige Zeug gekauft zu haben.

Als würde das nicht schon ausreichen, schallt eine unangenehm hohe, Gläser zerbrechende Stimme quer über den gesamten Parkplatz. Sie gehört zu einer zierlichen Gestalt an einem echt schicken Auto. Ich sehe erst nicht, warum sie so einen Krach macht, aber als ich näher komme, bemerke ich, dass sie wohl über einen Witz von dem Mann lacht, der gerade am Kofferraum hantiert. Als er sich halb umdreht, trifft mich fast der Schlag. Da ist er! Der Mann von der Kasse.

Eilig laufe ich weiter auf ihn zu, nur um kurz vor dem Auto langsamer zu werden. Jetzt kommt mir doch alles wie eine echt dumme Idee vor. Was habe ich mir dabei eigentlich gedacht?

Als ich fast bei ihnen bin, verlässt mich der Mut. Ich will halbwegs unauffällig vorbeigehen, als der Mann sich ganz umdreht und mich fragend ansieht. Verdammt. Ich bin eindeutig zu nahe, um teilnahmslos zu wirken.

»Äh …« Ich muss nachdenken. Schnell. »A-Also …« Mein Hals wird immer trockener und ich bringe kein richtiges Wort hervor, muss mich mehrmals räuspern. Es hilft auch echt nicht, dass die Frau mich ebenfalls bemerkt hat und ansieht, als wäre ich ein Blutegel oder etwas anderes Schleimiges. »Ich habe die Lose mitgenommen, die Sie letzte Woche nicht haben wollten.« Mir klopft das Herz bis zum Hals. »Und … na ja, ich habe die Gewinncodes eingegeben und eines der Lose hat die Reise gewonnen.«

Da er mich immer noch verständnislos anstarrt und die Frau mich ansieht, als würde ich sie gleich ausrauben wollen, greife ich schnell nach meinem Rucksack, werfe erst die Crackertüte hinein und hole dann mein Portemonnaie heraus, um ihm das Los zu zeigen.

Ich drücke es ihm in die Hand und öffne dann die E-Mail an meinem Handy. »Ich … also das Los hat den Urlaub auf die Malediven gewonnen. Für zwei Personen. Zwei Wochen lang. Und … na ja, ich dachte, weil das ja irgendwie Ihr Los war –«

Die Miene der Frau hellt sich schlagartig auf und sie greift blitzschnell nach dem Los, an das ich alle Kontaktinformationen der Veranstalter geheftet habe. »Schön, dass du es zurückgibst. Wir werden uns einen tollen Urlaub machen. Danke.«

Mein Herz, eben noch rasend vor Aufregung, hat jetzt aufgehört zu schlagen. Schon hat sie das Los in ihre Manteltasche gesteckt und bewegt sich zur Beifahrertür des Autos.

Geschockt, aber vor allem wütend auf mich selbst, greife ich schnell meinen Rucksack und laufe einfach los. So gedemütigt habe ich mich ewig nicht mehr gefühlt. Und das heißt schon was, mein Chef ist immerhin auch ziemlich gut darin, mein Selbstbewusstsein auf Kellerniveau zu halten.

Mir laufen die Tränen herunter und ich fluche unanständig, als ich unabsichtlich in eine Schneematschpfütze trete, die mir wieder die Schuhe volllaufen lässt.

Warum habe ich das getan? Warum habe ich mich nicht einmal über etwas freuen und für mich behalten können? Vielleicht war es am Anfang nicht mein Los, aber ich habe es doch eingelöst, oder? Nur deswegen war ein Gewinn möglich.

Ich wische mir mit meinem Ärmel über das Gesicht, denn die Kälte lässt meine Tränen unangenehm auf der Haut brennen. Ich versuche, mich wieder zu beruhigen und der Sache etwas Positives abzugewinnen. Da ist nicht viel, aber wenn ich eins lernen kann, dann, dass es eine Grenze gibt, an der man zu viel für andere tut und zu wenig für sich selbst. Wenn mich meine Mutter das nächste Mal wieder um Geld bittet, werde ich einfach ablehnen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn schon niemand was für mich tut, muss ich es wenigstens selbst einmal tun.

Ich schlucke dennoch bei dem Gedanken an die sorgsam gefaltete, viel zu alte Badehose, die ich in einem Anflug von Vorfreude draußen liegen gelassen habe. Und die dort immer noch liegt, wenn ich gleich wieder zuhause bin. Nicht ahnend, dass sie unbenutzt in den Schrank zurückmuss.

Kaffee oder Motoröl

 

Mitten in meine trüben Gedanken hinein dringt ein Hupen. Neben mir hält ein Auto und aus diesem springt kein anderer als der Mann von der Kasse. Er kommt so hastig auf mich zu, dass ich aus Reflex ein paar Schritte zurückweiche.

»Entschuldigen Sie«, sagt er mit tiefer und fester Stimme. »Das hier gehört Ihnen.« In seiner ausgestreckten Hand befindet sich das Los.

Ich kann es kaum glauben. Er bringt es mir wieder? »D-Dann wollen Sie keinen Urlaub machen?«

Plötzlich lächelt er zaghaft, was sein Gesicht wieder komplett verändert, gleich um einige Jahre jünger aussehen lässt. »Ich habe meine Chance gehabt und abgelehnt. Sie haben dafür eine bekommen. Es ist nur fair, wenn Sie auch in den Urlaub fahren.«

Zaghaft greife ich nach dem Los, rechne jeden Moment damit, dass er es doch wieder zurück in seine Jacke steckt. »Ich hatte nicht mal zehn Euro in meinem Einkauf, ich hätte gar kein Los bekommen dürfen.« Ich kann echt nicht meine Klappe halten, wenn es drauf ankommt, irgendwas drängt mich immer, ehrlich zu sein.

Sein Blick wandert über meine Kleidung und ich werde mir meiner abgetragenen Sachen unangenehm bewusst. Allerdings hält er sich nicht lange damit auf und mustert dann mein Gesicht, dem sicherlich immer noch anzusehen ist, dass ich gerade wie ein Baby geheult habe. »Das Glück ist mit den Tüchtigen. Und für die Unannehmlichkeit, die Ihnen meine Sekretärin bereitet hat, möchte ich mich aufrichtig entschuldigen. Sie ist manchmal ein bisschen übereifrig. Darf ich Sie zur Wiedergutmachung auf einen Kaffee einladen? Nicht weit die Straße herunter ist ein sehr angenehmer Laden, in dem ich morgens immer meinen hole.«

»Oh … Äh, ja, meine ich. Gern.« Er lächelt nun breiter und weist zu seinem Auto. In dem kein weiterer Mensch sitzt, was mich etwas verwundert. Umständlich steige ich ein, klopfe mir vorher, so gut es geht, Schnee und Matsch von den Schuhen.

Auf der kurzen Fahrt sagt er nichts weiter, sieht nur hin und wieder zur Uhr. Hoffentlich klaue ich ihm jetzt nicht noch Zeit. Ein Kaffeekränzchen hat sicherlich nicht auf seinem Tagesplan gestanden.

Vor dem Café angekommen geht er voraus und hält mir äußerst galant die Tür auf. Meine nächtlichen Fantasien wird es freuen. Jetzt kann ich mir fast einbilden, dass ich ihn morgen heirate.

Ich unterdrücke ein allzu offensichtliches Schmunzeln darüber und trete ein. Der Laden ist irgendwie urig. Gemütlich aussehende Sesselchen stehen um die Tische herum, die von kleinen Trennwänden ein wenig voneinander separiert werden.

»Was möchtest du trinken?«

»Ähm, ich … nehme einfach einen Latte macchiato.«

Er nickt und bestellt dann für uns beide. Dass er einen schwarzen Kaffee ohne Zucker trinken will, finde ich ein bisschen gruselig. Leute, die so etwas trinken, würden sich doch auch Motoröl hinterkippen, um morgens in die Gänge kommen zu können!

Allerdings muss ich eingestehen, dass er sich wirklich sehr zuvorkommend verhält. Er trägt sogar mein Getränk zu einem der Tische in einer gemütlichen Ecke, die man vom Eingang aus nicht gleich einsehen kann. Ganz heimlich fühle ich mich wie ein Prinz. Sein Prinz.

Um die Stille, die zwischen uns herrscht, ein wenig zu überbrücken, beschäftige ich mich mit meinem Kaffee und rühre darin unbeholfen herum, bevor ich einen Schluck nehme. Wow, der ist echt gut.

»Schmeckt es?«

Ich sehe hoch und begegne seinem Blick, der ganz auf mich gerichtet ist. »Ja, sehr. Wirklich lecker.«

»Gut.« Er nickt und trinkt dann selbst einen Schluck, nur, um nach dem Abstellen seiner Tasse wieder auf die Uhr zu sehen.

»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände mache. Sie haben sicherlich noch Besseres zu tun.«

»Wie meinen Sie? Ach so, weil ich zur Uhr sehe. Sie müssen dieses schlechte Benehmen entschuldigen, ich mache das zu oft am Tag. Selbst dann, wenn es nicht notwendig wäre. Eigentlich habe ich sogar Feierabend.« Er wirkt anstandshalber ein wenig zerknirscht.

»Oh, okay.« Ich trinke wieder einen Schluck. »Wenn ich auf das Gespräch von vorhin zurückkommen darf …«

Er sieht mich wieder mit diesem angespannten und leicht verwirrten Gesichtsausdruck an. »Sie müssen wirklich kein schlechtes Gewissen haben, die Reise steht Ihnen zu.«

»Na, eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir zusammen fahren.« Laut ausgesprochen klingt das richtig bescheuert. »A-Also ich meine, es ist doch eine Reise für zwei Personen und es spräche doch nichts dagegen, dass Sie auch mitkommen.«

Seine Augen werden etwas größer und er lässt sich nach hinten in den Sessel fallen. Habe ich ihn so damit geschockt? »In den Urlaub?«, fragt er ungläubig, als wäre das eine völlig abwegige Sache.

»Warum nicht? Es waren immerhin Ihr Los und mein Einsatz zusammen, die für den Gewinn gesorgt haben. Morgen kommen die Leute, die für die Reise verantwortlich sind und wollen auch ein Interview mit mir führen. Und natürlich sehen, dass das Los echt ist.« Ich plappere zu viel, doch er hört mir sichtlich interessiert zu. »Na jedenfalls sind es die Malediven und wenn ich es richtig gesehen habe, schläft man nicht in einem Hotel, sondern in so einem Wasserbungalow. Weit und breit nichts als Wasser um eine paradiesische Insel, auf der kein Stress von außen reinkommt.« Ich bin ein bisschen ins Schwärmen geraten, doch mal ehrlich, wem würde das nicht gefallen?

Er lächelt. Irgendwie ein bisschen wehmütig. Und dann habe ich wieder das Gefühl, dass er mich mustert, zumindest scheinen seine Augen mein Gesicht in allen Einzelheiten zu erfassen. »Das klingt wirklich schön. Doch zwei Wochen sind eine lange Zeit, in der viel passieren kann. Ich befürchte, dass ich mir die nicht nehmen kann.«

»Oh, dann hatten Sie in diesem Jahr schon zu viel Urlaub?«

Er runzelt die Stirn. »Für mich ist es generell schwierig, großartig Urlaub zu machen. Ich bin Chef einer größeren Marketingfirma und für alles verantwortlich. Ich kann mich nicht einfach für zwei Wochen abmelden.«

Das klingt deprimierend. Da renne ich lieber noch im nächsten Winter mit meinen löchrigen Schuhen herum. »Wann haben Sie denn zum letzten Mal Urlaub gemacht? Oder wie lang geht es denn, wenn schon nicht ganze zwei Wochen? Vielleicht kann man das mit denen auch noch besprechen, wenn Sie nur eine Woche verreisen können.«

»Ich war … Ja, letztes Weihnachtsfest war ich alle drei Tage zuhause. Sogar den Vierundzwanzigsten.« Er sieht richtig stolz aus und trinkt mit einem breiten Lächeln einen weiteren Schluck seines tiefschwarzen Kaffees.

Langsam verstehe ich, warum er den braucht. »Das ist zu wenig!«, sage ich energischer, als ich es beabsichtigt habe, und er sieht mich beinahe schockiert an. »Na was denn? Ich arbeite im Lager bei einem Chef, der mich am liebsten jede Woche vierzig Überstunden machen lassen würde. Und selbst ich habe mehr Urlaub als Sie. Sie müssen sich doch zwischendrin erholen. Batterien aufladen oder so was.«

Er blinzelt auffällig viel und runzelt die Stirn. »Es ist nicht so, dass ich mir nicht gerne mal hin und wieder eine Auszeit nehmen würde, doch ich habe Verantwortung und kann die nicht einfach ablegen.«

Jetzt kann ich nicht anders und greife zu meinem letzten Mittel, mit dem ich auch meiner Mutter gegenüber Missfallen auszudrücken pflege – und hebe eine Augenbraue. »Aha.«

Er wirkt unangenehm berührt und schiebt seine Tasse hin und her. »Ich kann mich gar nicht entspannen, wenn ich nicht weiß, ob alles in Ordnung ist. Dort ist man sicherlich auch nicht gut erreichbar.«

»Nicht erreichbar zu sein, ist der Sinn eines Urlaubs.«

»Und wenn dann etwas mit der Firma ist?«

»Gibt es sicherlich einen Stellvertreter.«

»Aber der müsste alle meine Aufgaben zusätzlich übernehmen.«

»Es sind nur zwei Wochen, nicht zwei Jahre.«

»Und wenn etwas völlig Unvorhergesehenes passiert und ich außer Landes bin –«

»Kommt zur Not die Feuerwehr und löscht den Brand.« Langsam werde ich ein bisschen ungeduldig mit ihm. Will er nun Urlaub machen oder erfindet er gerade Ausreden dafür, keinen mit mir machen zu müssen? Das könnte ich ja sogar verstehen, er muss es nur sagen. »Selbst wenn die Firma von einem Tsunami überschwemmt werden sollte, wird Ihre Anwesenheit nicht auf magische Weise dafür sorgen, dass es keine Schäden gibt. Die können so und so passieren und, wenn ich das so sagen darf, Sie scheinen mir nicht wie der Typ Mensch zu sein, der schlechtes Personal einstellt. Die regeln das dann schon.« Die Sekretärin verdränge ich jetzt einfach mal. Aber so ein Auto würde er definitiv nicht fahren, wenn er knapp bei Kasse wäre und sein Geschäft beschissen laufen würde. Und zu einem solchen gehört nicht nur ein Chef, sondern auch ein gutes Team.

Er senkt seinen Blick und sinniert wohl eine Weile vor sich hin, jedenfalls sagt er erst einmal kein Wort. Ich trinke daher wieder den echt guten Kaffee und bemühe mich, nicht zu erkennen, welcher Preis für dieses Getränk an der großen Tafel über dem Tresen ausgeschrieben ist. Stattdessen driften meine Gedanken dahin ab, dass er mich eingeladen hat und das hier damit fast ein Date ist. Meiner Fantasie ist das enorm wichtig.

»Ich werde es mir überlegen. Wann würde die Reise denn stattfinden?«

Ein bisschen überrascht sehe ich wieder in sein Gesicht, das nun bedrückt wirkt. Zusetzen wollte ich ihm wirklich nicht. »Es gibt mehrere Termine, der im Februar würde mir am besten passen, aber ich kann Ihnen auch die E-Mail weiterleiten. Vielleicht kann ich auch zu einem anderen Zeitpunkt dann Urlaub machen.«

Er schüttelt gleich den Kopf. »Nein, machen Sie sich wegen mir nicht auch noch Umstände. Aber die E-Mail können Sie mir dennoch schicken, dann erfahre ich womöglich auch Ihren Namen und kann Ihnen das Du anbieten.«

»Ich heiße Lennard und ein Du reicht mir normalerweise auch«, sage ich peinlich berührt. Mir wird siedend heiß bewusst, dass ich mich gleich zu Beginn hätte vorstellen sollen. Für ihn muss es echt nach einem Parkplatzüberfall ausgesehen haben.

»Freut mich Lennard, ich heiße Alexander«, sagt er und greift dann in seinen Mantel, um erstaunlicherweise einen Kuli und einen kleinen Notizblock herauszuholen. Das ist so was von Anfang des Jahrhunderts, dass er mich damit noch mehr beeindruckt als mit der Kaffeeeinladung. Verdammt, er ist echt heiß!

Auf Kopf mitlesend kann ich erkennen, dass er eine E-Mail-Adresse vermerkt. Und seinen vollständigen Namen. Mit leicht zittrigen Fingern nehme ich den Zettel, als er ihn mir reicht, und falte ihn vorsichtig, um ihn sicher in meiner Jackentasche zu verstauen. Darf ich mir jetzt vorstellen, dass das fast ein Liebesbrief ist?

Alexander greift erneut zu seiner Tasse und trinkt den letzten Rest Kaffee aus. »Es war sehr interessant, mit dir zu reden, Lennard.« Er knöpft seinen Mantel wieder zu und schenkt mir ein weiteres Lächeln, bei dem ich schmelzen möchte. »Melde dich, wenn morgen alles klappt, und ich mache mir in der Zwischenzeit Gedanken. Du hast nicht ganz Unrecht, aber ich fürchte, dass ich es nicht einrichten kann.«

Wieder ist da dieser aufmüpfige Mut in mir, der sich unbedingt zu Wort melden muss. »Aber du versprichst, darüber nachzudenken? Es nicht gleich zu verwerfen, nur, weil es unpassend erscheint?«

Er sieht mich lange und aufmerksam an und nickt schließlich. »Darauf hast du mein Wort.« Er steht auf, verabschiedet sich sehr höflich von mir und geht dann zum Tresen, um die Rechnung für uns beide zu fordern.

Meine Hände klammern sich noch einen Augenblick länger an dem fast leeren Glas fest, als könnten sie den Moment festhalten, den ich hier gerade mit Alexander erlebt habe. Sicherlich ist es unvernünftig, doch ich hoffe wirklich darauf, dass er mitkommt.

 

 

Ich sitze unnatürlich steif auf meinem Sofa und lächle unsicher mal zu der Dame, die mich interviewt, und mal zu dem Kameramann.

---ENDE DER LESEPROBE---