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Lars’ Leben ist eintönig geworden. Ständig vom Chef gedemütigt und seine Ehe in Scherben, muss er sich eingestehen, in einer Sackgasse zu stecken. Nur dieses eine, dunkle Geheimnis lässt ihn sich hin und wieder lebendig fühlen: die Hände vieler Männer, die seinen Körper berühren und unterwerfen. In seltenen Nächten erlaubt er sich, seiner Realität zu entfliehen, doch niemand darf das je herausfinden. Denn Lars ist nicht schwul und er hat auch nicht vor, zu ergründen, was es mit dieser seltsamen Anziehung zu Janus, einem der Chefs des Anwesens, auf sich hat. Seine Angst vor der Wahrheit lähmt ihn, doch seine Fantasien und seine Sehnsucht werden immer mächtiger ... Die Geschichte kann unabhängig von anderen Büchern der Reihe gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Noa Liàn
Erotikroman
1. Auflage, 03/2022
© Noa Liàn – Alle Rechte vorbehalten.
c/o Werneburg Internet Marketing und Publikations-Service, Philipp-Kühner-Straße 2, 99817 Eisenach
Text: © Noa Liàn
Coverdesign: © Noa Liàn
Bildmaterial von stock.adobe.com: © Dark Illusion; depositphotos.com: © prometeus, Krisdog
Lektorat und Korrektur: Katharina Rose und Tatjana Germer
www.noa-lian.de
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden/realen oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig.
Verleugnete Sehnsucht
Der dunkle Schreibtisch hält meinen Blick gefangen. Nicht aufgrund besonderer Merkmale, sondern weil ich mich mal wieder in meiner eigenen Dunkelheit verliere.
Seit mehreren Minuten kann ich nur hier stehen, mich mit meinen Händen abstützen und nach unten sehen. Das Gewicht, das ich auf meinen Schultern spüre, drückt mich nieder. Oder ist es die Hoffnungslosigkeit?
Wie so oft endet dieser Tag einsam, mit neuen Problemen, die gelöst werden müssen, ohne Aussicht auf Entlastung. Und natürlich erwartet mein Chef, dass ich dennoch alles sofort auf die Reihe bekomme.
Ich will nur noch raus hier, Ablenkung finden und mich besser fühlen. Wenigstens bis morgen früh, dann kann ich mir immer noch anhören, wie unfähig ich bin. Eigentlich könnte ich mir auch mal wieder ein besonderes Vergnügen gönnen. Sollte es womöglich tun. Die Frage ist nur, wie sehr mir das wirklich helfen würde. Hinterher fühle ich mich meist einsamer als zuvor. Und die Scham über mich und mein Verhalten überlagert oft genug noch die Einsamkeit.
Andererseits ...
Die Vorstellung von vielen, warmen Händen auf meinem Körper lässt so etwas wie Vorfreude in mir aufsteigen. Das erste Mal seit Wochen. Lange habe ich es mir verboten, Gründe gefunden, mich nicht noch einmal in das Anwesen zu begeben. Aber es könnte die Ablenkung sein, die ich gerade so dringend benötige. Die Verlockung, meine Gedanken für einen Abend lang ruhen zu lassen, ist groß. Schon den ganzen Tag lang habe ich immer wieder das Bild des großen Gebäudes vor Augen gehabt, als würde es mich rufen, mich nach langer Zeit wieder in seine Arme schließen wollen. Ich könnte dann endlich wieder an etwas anderes denken als die Versicherung, meine gescheiterte Ehe oder das Treffen mit meinen Eltern nächstes Wochenende. Oder nein, ich würde nicht denken, nicht viel jedenfalls. Nur am Anfang, wenn ich mich erst wieder darauf einlassen muss. Es kostet Überwindung. Immer. Aber sobald es geschieht, ich allein für diesen einen Zweck existiere, kann ich nur noch fühlen.
Ich schlucke heftig. Es ist so lange her …
Die Erinnerung an das letzte Mal ist nur noch verschwommen. War es vor drei Monaten? Oder doch schon vier? In der Zwischenzeit ist so viel geschehen, dass ich das Gefühl habe, die Zeit ist durch meine Finger geronnen. Und dennoch habe ich nicht viel erreicht. Nach wie vor schiebe ich die Entscheidung vor mir her, ob ich mit Franzi über eine Trennung sprechen sollte. Gerade bin ich mir sogar sicher, dass sie einen anderen kennengelernt hat. Sie telefoniert viel, lacht dabei und wirkt ausgelassener. Wenn sie mit mir redet, dann nur oberflächlich. Aber ich kann ihr keinen Vorwurf machen, wir haben uns beide gerade einfach nichts zu sagen.
Gestern hat mich ihre gute Laune am Telefon sogar erleichtert. Für einen Moment war ich glücklich, dass sie es ist. Bis sie sich zu mir umgedreht hat und die Freude weg war. Wann haben wir uns so verloren? Oder war es von Anfang an aussichtslos gewesen?
Das Gefühl von Schuld steigt wieder in mir auf. Dabei denke ich immer noch, dass es richtig war. Ich mag Frauen, doch … das ist wirklich so. Es ist nur diese eine Komponente, die mir fehlt. Nur dieses unerträgliche Verlangen nach …
Ich schüttle den Kopf. Nein, darüber muss ich nicht schon wieder nachdenken. Es passiert oft genug in letzter Zeit. Ich bin nicht unnormal, einfach nur manchmal verwirrt. Das kommt vor und es geht anderen sicherlich genauso. Ich habe Franzi nicht belogen, ich mag sie wirklich. Mochte sie wirklich. Tue ich es nicht doch noch? Gibt es eine Chance für uns?
Ohne ein Klopfen wird meine Bürotür aufgerissen und mein Chef steht in der geöffneten Tür, sieht mich von oben herab an, obwohl er ein ganzes Stück kleiner ist als ich. Nur lehnt er eben nicht auf einem Schreibtisch, in der Hoffnung, dass er von einer größeren Macht gerettet wird. »Ich warte immer noch auf meinen Bericht, Lars«, sagt er barsch und gibt sich erst gar nicht die Mühe, so auszusehen, als würde er in mir einen wichtigen Mitarbeiter erkennen. Tut er nie. »Wie oft muss ich dich noch daran erinnern, bevor dein Gehirn diese Information verarbeiten kann? Du hast doch noch eins, oder?«
Es ist beinahe beruhigend, zu wissen, dass er mich nach wie vor für zurückgeblieben hält. Den Job habe ich auch nur wegen der Kontakte meines ehemaligen Trainers. Und mein Chef wird nie müde, mich daran zu erinnern. »Ich habe die Aufstellung zur Überprüfung an Johann geschickt und warte noch auf seine Rückmeldung.« Wenn er mir trauen würde, hätte er seinen verdammten Bericht schon, aber das sieht er natürlich anders.
Seine Miene verdunkelt sich noch mehr und er kommt weiter in den Raum rein. »Wenn du einfach nur deine Arbeit zuverlässig erledigen würdest, bräuchte ich nicht ewig auf alles warten. Du solltest dich endlich zusammenreißen. Auch wenn Julius dein Versagen ständig entschuldigt, werde ich mir das nicht länger ansehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja.«
Er verengt seine Augen, sieht an mir auf und ab und schüttelt dann mit zusammengepressten Lippen den Kopf, bevor er das Büro wieder verlässt und die Tür laut ins Schloss schlagen lässt, sodass ich unweigerlich zusammenzucke.
Obwohl ich nicht viel gesagt habe, kann ich fühlen, wie das letzte bisschen Kraft aus meinem Körper weicht. Ich lasse mich nach hinten in meinen Stuhl fallen, denn meine Beine fühlen sich seltsam wackelig an.
Vor einer Kündigung habe ich nicht einmal Angst, inzwischen hat er sie so oft angedroht, wie er mich beleidigt hat. Er tut es nicht und ich tue es auch nicht. Aber trotzdem raubt mir jeder Kontakt mit ihm Energie. Energie, die ich nicht habe und um die ich selbst jeden Tag kämpfe. Die letzte Nacht, in der ich gut geschlafen habe, liegt auch schon ewig zurück.
Seufzend beende ich den Bildschirmschoner an meinem PC und verfasse eine kurze E-Mail an Johann. Ich weiß, dass es ihm auch lieber wäre, wenn er diese Überprüfung nicht machen müsste, er hat ja selbst genug zu tun. Aber wenn ich nicht will, dass Oskar noch ein paarmal in mein Büro platzt, brauche ich etwas, was ich vorzeigen kann.
Ich klicke auf senden und lehne mich schwer zurück, als hätte ich nicht nur eine Nachricht geschickt, sondern wäre einen Marathon gelaufen. Gerade fühle ich mich genauso dumm und erbärmlich, wie Oskar mich sieht.
Meine Augen fallen zu und sofort habe ich wieder dieses eine Bild vor Augen. Das große Anwesen mit dem schmiedeeisernen Tor, der einladenden, noblen Auffahrt und den großen Türflügeln, den Menschen, die mich dankend willkommen heißen.
Auch wenn ich nur ein einziges Mal die Vordertür genutzt habe. Damals, als ich nur aus Neugier vorbeigefahren bin, um mich zu vergewissern, dass es stimmt, was Chris erzählt hat.
Ihn habe ich auch schon ewig nicht mehr gesehen. Ich weiß, dass er immer noch im Anwesen verkehrt und dort sogar kleine Kämpfe bestreitet. Aber weder will ich das selbst, noch möchte ich, dass er erfährt, was ich im Anwesen getan habe. Das gebe ich ja auch nur ungern vor mir selbst zu.
Bevor ich es richtig realisiere, habe ich mein Smartphone in der Hand, habe mich aufgerichtet und beginne eine Nachricht. Diese fällt mir ähnlich schwer wie die an Johann, doch aus anderen Gründen. Ich weiß nicht einmal mehr, wann die speziellen Events sind oder ob gerade eines ansteht. Für heute Abend werde ich kein Glück haben und vor zehn komme ich sowieso nicht aus dem Büro. Oskar hatte es allen angedroht. Durch eine Misskalkulation müssen wir alle Überstunden machen. Wenigstens noch für zwei Wochen. Und obwohl gerade erst Montag ist, fühle ich mich schon jetzt kraftlos, und habe keine Ahnung, wo ich die Energie hernehmen soll.
Aber wenn das ausgestanden ist, könnte ich mich selbst belohnen. Denn genau so fühlt sich der Gedanke, in das Anwesen zurückzukehren, mittlerweile an. Purer Egoismus treibt mich dorthin zurück. In die Hände der vielen Männer, die dort ebenfalls ihr Verlangen stillen wollen. An mir zum Beispiel.
Ich lecke mir kurz über meine Unterlippe. Das Prickeln der Gänsehaut kann ich an meinem gesamten Körper spüren. Es ist unmöglich, ich kann es mir nicht länger verbieten, will es unbedingt.
Und mit dieser Erkenntnis schreibt sich auch die Nachricht leichter, die ich umgehend abschicke, ohne sie noch einmal zu lesen. Denn dann besteht immer die Gefahr, dass die Scham siegt und ich einen Rückzieher mache.
Als schon kurz darauf zu sehen ist, dass die Nachricht gelesen wurde, spüre ich meinen Herzschlag bis in meinen Hals.
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Ich kann sehen, dass er schreibt. Ist er überrascht? Zu gerne würde ich wissen, wie er reagiert hat. Viel gibt er nie von sich preis, aber man kann ihm immer ansehen, wann er jemanden durchschaut. Und dieses Gefühl gibt er mir oft, ohne mich dabei zu erniedrigen. Er weiß einfach, was ich brauche, und hilft mir dabei, genau das zu bekommen. Alles andere überlässt er mir. Er braucht keine Erklärungen und Ausflüchte, nur mein Einverständnis.
Seine Antwort ist kurz, aber eindeutig. Und sie gibt mir eine gute Rechtfertigung, das Treffen mit meinen Eltern abzusagen. Noch zwei Wochen, dann lasse ich mich vom Sog des Anwesens einfangen.
Verdrängte Trauer
Die Seile auseinanderzusortieren, ist heute mal wieder besonders mühsam. Sie sind einfach achtlos zusammengeworfen und in den Vorbereitungsraum gebracht worden. Einige sind so fest miteinander verknotet, dass ich mich frage, wie das überhaupt möglich war und ob sich Loy womöglich einen Scherz erlaubt hat. Andererseits ist er zwar oft albern, aber nicht auf diese Art. Er weiß ja, dass ich genug zu tun habe.
Endlich habe ich ein weiteres lose und wickle es in einer fließenden Bewegung auf, bis ich der kleinen Acht mit dem letzten Stück Seil einen Gürtel anlegen kann. Zufrieden bewundere ich mein Werk und hänge das Seil an den Haken, an dem auch andere Fünfmeterseile hängen.
Nachdem ich noch einige auseinandergeknotet habe, stelle ich fest, dass eins der Kurzseile beschädigt ist. Ich sehe es mir genauer an, doch ich denke nicht, dass sich daran etwas retten lässt. Da die Seile aus diesem Teil des Anwesens auch gerne für Suspension genutzt werden, gehe ich besser kein Risiko ein, selbst wenn es nur ein Ergänzungsseil ist. Wer weiß, auf welche Ideen die Leute kommen.
Ich werfe es in den Materialeimer, in dem auch andere beschädigte Spielzeuge und Manschetten liegen. Wenn ich es mir recht überlege, kann ich die Bestellung eigentlich jetzt schon aufgeben. Ich habe erst noch warten wollen, aber inzwischen brauchen wir genug Nachschub.
Als die Tür geöffnet wird, sehe ich auf.
»Janus, hier bist du.« Henni kommt herein und lächelt mir zu. »Ich habe die zwei Jungs nach Hause geschickt«, erklärt er und ich nicke.
»Sie haben heute auch genug zu tun gehabt. Ilias bleibt, vermute ich?«
»Ja, er wollte ohnehin die Nachtschicht übernehmen, weil er morgen was zu erledigen hat. Und ich denke, heute bleibt es ruhig, viele sind nicht geblieben.«
»Na dann passt das ja.«
»Ben kann dir aber aushelfen, wenn was ist. Seine letzten Termine haben für heute abgesagt. Irgendwo muss Stau sein, meinte er.«
»Ich denke, ich brauche keine weitere Hilfe. Räume nur noch die Seile weg und dann mache ich mich an die Bestellung. Hatte Loy etwas wegen des Gleitgels gesagt?«
»Er nicht, aber Elfchen meinte, dass die Tütchen zur Neige gehen. Flaschen sind aber noch genügend da, hab eben nachgesehen.«
»Gut, dann bestelle ich die Briefchen noch dazu. Ein paar neue Seile brauchen wir auch. Diese Woche habe ich einige entsorgt.«
»Hm.« Henni geht zum Eimer mit dem aussortierten Zeug und holt das eine Seil heraus. »Mit denen bin ich ehrlich gesagt auch nicht so zufrieden. Das sind doch die aus der vorletzten Bestellung, oder?«
»Ja, die aus der neuen Manufaktur. Kai hat sie nur einmal verwendet, aber der bringt meist sowieso seine eigenen mit. Meinte aber, die wären zu spröde und geben auch unter Benutzung nicht gut nach.«
»Den Eindruck hatte ich ebenfalls. Paul fand sie auch unangenehm auf der Haut.«
»Dann hole ich wieder die anderen. Oder hattest du eine neue Idee?«
»Nein, nimm ruhig die. Die sind ja nach wie vor sehr beliebt und verkaufen sich gut. Und wenn wir welche tauschen müssen, auch nicht ganz so teuer.«
»Ist gut. Ich werde wieder ein paar Sets Baumwollseile dazuholen, warum auch immer, die sind gerade sehr beliebt.«
»Das hat Loy auch schon erzählt.« Henni gluckst. »Na ja, Trends kommen und gehen. Und wer sich ausprobieren möchte, kommt sicherlich mit diesen Seilen besser zurecht.«
Ich schüttle sachte den Kopf. »Den Duft würde ich bei denen trotzdem vermissen.«
Henni lacht auf, wirft das Seil wieder achtlos in den Eimer und kommt auf mich zu, legt mir eine Hand auf die Schulter. »Wir gehören eben zu der alten, aussterbenden Sorte.«
Ich schnaube. »Erzähl nicht so einen Blödsinn! Außerdem bin ich nicht alt.«
»Wir sind hier für die Seniorenpartys zugelassen, mein Freund, vergiss das nicht.«
»Du bist der Chef, du kannst auf jede Party hier, also zählt das schon mal nicht.«
»Ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass wir ein ordentliches Stück über vierzig sind.«
»Das ist nicht alt«, gebe ich schwach zurück, aber in meinem Bauch zieht etwas. Der alte Gedanke, etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben.
»Was denkst du, bleiben wir auf ewig Junggesellen?«
Ich gebe nur ein unbestimmtes Grunzen zurück und kümmere mich weiter um die Seile. Immerhin hängen die sich nicht selbst an die Haken. Außerdem möchte ich nicht darüber nachdenken, ob ich jemanden finden werde oder nicht, eigentlich habe ich ohnehin damit abgeschlossen. Der Mann, der es hätte sein sollen, nein, sein müssen, ist für immer unerreichbar geworden. Was mich daran erinnert, dass ich ein neues Gesteck holen sollte. Wahrscheinlich müsste ich mir angewöhnen, diese privaten Dinge in einen digitalen Kalender zu schreiben, damit ich daran erinnert werde. Im Anwesen ist immer so viel zu tun, dass ich Schwierigkeiten habe, mich außerhalb an Termine und Erledigungen zu erinnern. Morgen werde ich den vierten Versuch unternehmen, Küchenrollen für mich einzukaufen. Vielleicht klappt es mit zwei Einkaufszetteln ja doch mal.
»Du grübelst schon wieder«, sagt Henni leise und als ich aufsehe, sieht er mich mit einem milden Lächeln auf den Lippen an.
»Zu viele Gedanken«, erwidere ich. »Ständig vergesse ich auch irgendwas. Vermutlich bin ich doch alt.«
»Oder ein kleines bisschen überarbeitet?«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst, aber das Thema hatten wir schon. Mir geht es gut und ich fühle mich hier wohl.«
»Dass du dich hier sehr gut fühlst, stelle ich auch nicht infrage, ich muss nur mal wieder feststellen, dass du zu viel hier machst. Inzwischen muss ich dich nach Hause prügeln.« Er lässt mir Zeit, um zu antworten, doch ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Nach einer längeren Pause beschließt er wohl aber, dass dies noch nicht das Ende unseres Gesprächs ist. »Möchtest du darüber reden?«
»Es geht mir gut«, wiederhole ich, aber ich kann ihm ansehen, wie sehr er das anzweifelt.
»Das möchte ich wirklich gern glauben, aber wenn selbst Paul fragt, was mit dir los ist, und Loy freiwillig anbietet, Extraschichten zu schieben, falls du Hilfe brauchen solltest, um mal früher Feierabend zu machen, dann denke ich schon, wir sollten uns darüber unterhalten, was dir zu schaffen macht.«
Genervt verdrehe ich die Augen. »Die Jungs wissen einfach nur nicht, wie echte Arbeit wirklich aussieht. Für Loy ist ohnehin alles im Leben nur ein großer Spaß.«
»Für dich anscheinend aktuell gar nichts.« Henni runzelt die Stirn und hält mich an der Schulter fest, als ich mich von ihm abwenden möchte. »Natürlich bist du nicht Loy und ich erwarte auch nicht, dich hier fröhlich durch das Anwesen herumhopsen zu sehen, aber dass du dich gerade sehr zurückziehst … das hatten wir schon einmal.«
»Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst«, sage ich einlenkend, immerhin habe ich Henni überhaupt zu verdanken, dass ich mich aus der schlimmsten Zeit in meinem Leben herauskämpfen konnte. Damals hat er auch nicht lockergelassen und mich schließlich dazu bewegt, mich ihm anzuvertrauen. »Es ist aber nichts vorgefallen oder sonst etwas passiert. Ich bin eben nur gern hier und … das ist alles.«
»Dann solltest du vielleicht mal über einen Tapetenwechsel nachdenken. Ich weiß, der Gedanke fällt dir bestimmt nicht leicht, aber du kannst dir schon länger etwas Größeres leisten. Ein kleines Haus mit Garten wäre doch auch was. Selbst hier in der Umgebung gibt es da gerade ein paar Angebote, wenn du so unbedingt gern hier in der Nähe bist. Die Luftveränderung tut dir vielleicht gut.«
Ich weiß, worauf er anspielt, aber ein Umzug kam bisher für mich nicht infrage, auch wenn ich das ein oder andere Mal darüber nachgedacht habe. Praktischer für mich wäre es allemal. Aber es würde bedeuten, einige Erinnerungen zurücklassen zu müssen. Sachen auszusortieren und wegzugeben. Und dafür fühle ich mich immer noch nicht bereit, egal, wie viele Jahre vergangen sind.
»Nimm es bitte nicht als Vorwurf, aber ich würde dich gern mal wieder lächeln sehen«, ergänzt Henni leise und es fällt mir schwer, ihn weiter anzusehen.
»Tue ich doch.«
»Ein wenig hebt sich dein Mundwinkel hier und da, das stimmt, aber ich meine, so richtig befreit. Ich möchte einfach sehen, dass es dir gut geht. Und wenn ich dir dabei irgendwie helfen kann, indem wir reden oder wir mal weggehen, von mir aus auch ein Wochenende zu zweit wegfahren, dann lass mich das unbedingt wissen. Selbst wenn du gar nicht reden und einfach nur neben mir sitzen möchtest. Okay?«
Als ich nach dem letzten Seil greife, zittert meine Hand ein wenig. »Danke«, antworte ich und meine Stimme klingt belegt.
»André hat mich vorhin gefragt, ob ich noch mal mit dir reden kann, weil du auch seinen zehnten Versuch, einfach mal abends Essen zu gehen, abgewehrt hast.«
Ich seufze schwer. Dass mein bester Freund nicht einmal mehr mit mir redet, sondern Henni dazwischenschaltet, sollte mir wohl doch zu denken geben. »Ich rede mit ihm.«
»Und?«
Verwirrt sehe ich auf. »Was und?«
»Geht ihr dann essen?«
»Ja doch. Ich sage zu.«
»Schreib ihm gleich mal, sonst vergisst du es nur wieder.«
»Ist das dein Ernst?« Doch ob er es so meint oder nicht, brauche ich gar nicht fragen, denn Henni hat bereits in mein Sakko gegriffen und zielsicher mein Smartphone herausgefischt, das er mir nun mit einem breiten Lächeln unter die Nase hält. »Du bist unmöglich!«, behaupte ich, aber eigentlich ist es genau dieser Charakterzug an ihm, der ihn nicht nur zu einem guten Chef, sondern auch zu einem wertvollen Freund macht.
»Mich wundert ja, dass da noch keine Staubschicht auf dem Bildschirm ist. Weißt du eigentlich, wie es angeht?«
»Ha ha, wirklich sehr witzig. So alt bin ich dann doch nicht!«
»Aber du bist ein unverbesserlicher Anhänger von Papier. Wann kann ich eigentlich noch mal mit dir über die Digitalisierung der –«
»Also entweder wir reden darüber oder ich schreibe André.«
»Dann schreib André«, sagt Henni schnell und grinst schuldbewusst.
Latent genervt, aber doch berührt von seiner Fürsorge beginne ich meine Nachricht, lese aber automatisch meine letzte Antwort, an die ich mich kaum noch erinnere. Es ist schon seltsam, wie schnell ich die Absage an das Abendessen getippt habe, ohne wirklich darüber nachzudenken, und jetzt habe ich Probleme, mir zu überlegen, was ich schreiben soll. ›Hey mein Bester, es tut mir leid, ich wollte dich nicht ignorieren. Mir gehen nur so viele Dinge im Kopf herum. Wie sieht es bei dir Mittwochabend aus? Morgen habe ich leider zu viel zu tun und muss auch noch einkaufen.‹
»Das war nicht so schwer, oder?«, fragt Henni und bestimmt fallen ihm gleich die Augen heraus, wenn er weiter versucht, über Kopf zu lesen, was ich getippt habe.
»Nein, war es nicht.« Ich zögere kurz, dann … »Danke. Manchmal sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
»Das erklärt wohl deine Vorliebe für Papierstapel.«
»Sehr witzig, wirklich.«
Er kichert übertrieben jungenhaft und nimmt mich dann einfach in seine Arme. Erst weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll, ich bin ohnehin kein Mensch, der permanent angefasst werden möchte, aber nach einem kleinen Moment erwidere ich die Umarmung und lehne meine Stirn gegen seine Schulter, atme tief durch. Manchmal ist es doch gut, zu wissen, nicht mit allem allein zu sein. Selbst dann, wenn die richtigen Worte fehlen.
»Du wirst gebraucht, Janus, auch wenn du denkst, du müsstest alles mit dir allein ausmachen«, sagt Henni, als könnte er meine Gedanken lesen. »Du bist unser Freund und wir möchten für dich da sein. Dafür musst du nichts Besonderes leisten, einfach nur da sein.«
»Es tut mir leid.«
»Das braucht es nicht. Es wird immer Phasen geben, in denen diese seltsamen Gedanken überhandnehmen. Aber dafür sind Freunde auch da. Um ab und an daran zu erinnern, wie wichtig du uns bist.«
»Ihr seid mir auch sehr wichtig. Auch wenn ich das nicht oft genug sage.«
Henni gibt mich wieder frei, hält mich aber sachte an den Schultern. »Das musst du nicht, das wissen wir. Aber es ist schön, zu sehen, dass deine Schale doch nicht ganz so fest ist, wie ich erst befürchtet habe. Womöglich kann ich dich doch noch für die Seniorenparty begeistern.«
»Nein, danke. Dass du sie so genannt hast, finde ich schlimm genug. Nichts für ungut, aber das klingt nach einem Treffen im Pflegeheim.«
Henni lacht und knufft mir gegen den Oberarm. »Stell dir vor, Fritz hat gemeint, er könnte einen Rollator klarmachen.«
Mir entgleiten die Gesichtszüge. »Ihr seid furchtbar, ehrlich.«
Doch Henni scheint sich darüber köstlich zu amüsieren und erzählt mir noch von ein paar anderen, denen das Motto der Party ein wenig zu gut zu gefallen scheint. Irgendwann muss ich doch etwas schmunzeln, wir sind hier schon ein verrückter Haufen.
»Hah, ich hab’s genau gesehen!«, sagt Henni plötzlich und deutet auf mein Gesicht.
»Vergiss es«, sage ich abwehrend und drehe mich weg.
»Doch, doch, du hast gelacht, ganz eindeutig!«
Ich verdrehe erneut meine Augen, kann aber kaum verbergen, dass ich tatsächlich amüsiert bin. Und eigentlich ist das ja auch nicht notwendig.
Während Henni noch ein paar Anekdoten erzählt, räumen wir den Rest auf, der nach den Kampfspielen in der Arena immer anfällt. Es ist nicht nur leichter, weil wir nun zu zweit sind, sondern weil Henni eine angenehme Stimmung dabei kreiert. Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, wie mechanisch ich inzwischen meine Arbeit erledigt habe. Und ja, meistens allein, um nicht in dieser Mechanik unterbrochen zu werden. Dabei gibt es keine Notwendigkeit dafür. Nur diese merkwürdigen Gedanken, mit mir allein klarkommen zu müssen.
Mein Smartphone vibriert und als ich nachsehe, ist es eine Antwort von André. »Ich schätze, du musst mich Mittwoch ausplanen.«
»Halleluja«, antwortet Henni und hebt theatralisch die Hände zum Himmel. »Wo geht ihr dann hin?«
»Haben wir noch nicht beschlossen. Warst du schon in dem neuen Griechen drin?«
»Ich nicht, aber Elfchen und Niels meinten, dass er ganz gut ist.«
»Dann werden wir den vielleicht ausprobieren.« Ich will gerade mein Smartphone wieder einstecken, als ich eine weitere Nachricht bekomme. Allerdings nicht von André.
›Guten Abend, Janus. Ich würde gern wieder vorbeikommen. Wann ist das nächste, größere Treffen? In zwei Wochen hätte ich wieder Zeit.‹
Für einen Moment bin ich so überrascht, dass ich nur die Nachricht anstarren kann. Wie unerwartet. Eigentlich hatte ich schon gedacht, Lars würde gar nicht mehr vorbeikommen. Aber es scheint doch, dass er diesen Teil von sich selbst nicht dauerhaft verleugnen kann.
»Wer schreibt?«, fragt Henni, der sich anhand meiner Reaktion denken kann, dass es nicht André ist.
»Lars«, antworte ich knapp und tippe bereits eine Antwort.
»Dein Lars?«
»Er gehört nicht zu mir«, sage ich grummelnd.
»Dann eben der Lars, der nur mit dir redet. Den meine ich.«
»Ja, der.«
»Kommt er doch wieder?«
»Scheint so.«
»Hat aber lange durchgehalten.«
Ich zucke mit den Schultern. »Ist eben nicht so einfach für manche.«
Henni seufzt leise. »Das stimmt wohl.«
›Du hast Glück, nächste Woche Samstag ist eins geplant. Kein Motto, nur die Trennwände. Start ist um sechs, wenn du etwas vorher kommst, bereite ich dich vor den anderen vor.‹
Seine Antwort erfolgt umgehend. Ja, das Anwesen hat ihn wieder. Und ein bisschen freue ich mich doch, dass er zurückkommt. Für ihn freut es mich. Es hat ihn sicherlich einiges gekostet, über seinen Schatten zu springen. Aber heute ging es mir sogar ähnlich.
Bei dem Gedanken, wie zufällig die Dinge manchmal zusammenlaufen, muss ich noch einmal schmunzeln.
Heimliche Hingabe
»Wo gehst du hin?«
Ich drehe mich zu Franzi um, die mich verwundert ansieht. Sicherlich, ich gehe inzwischen selten am Wochenende weg, aber ehrlicherweise muss ich mir eingestehen, nicht damit gerechnet zu haben, dass ihr auffallen würde, wenn ich eine Ausnahme mache. »Ich treffe mich mit Chris«, sage ich schnell, da ich gerade noch an ihn gedacht habe.