Der gläserne Regent - Noa Liàn - E-Book

Der gläserne Regent E-Book

Noa Liàn

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Beschreibung

Prinz Zaynar von Vuscar wird von seiner Familie gezwungen, einen wichtigen Verbündeten aus Usgror zu heiraten – einem Land, das für seine kriegerischen Auseinandersetzungen berüchtigt ist. Dieses Land liebt oder schätzt Zaynar genauso wenig wie den Gemahl, der ihn fortan kontrollieren will. Da der mittlerweile geisteskranke König unfähig ist, Vuscar zu regieren, soll es nun Zaynars Aufgabe sein, mit dem Feind zu verhandeln und das legendäre Dunkelglas in ihren Besitz zu bringen. Doch dieser Feind, Regent Acrain von Vastar, beeindruckt Zaynar auf eine Art, die ihn in Schwierigkeiten bringt. Gefangen zwischen der Angst um sein Land und seine Familie und der unmöglichen Aufgabe, die er gestellt bekommen hat, muss Zaynar unbequeme Entscheidungen treffen. Allerdings wird hinter seinem Rücken bereits ein Komplott geschmiedet, in dem er wie eine Schachfigur eingesetzt werden soll. Kann ihm sein Feind am Ende helfen? Und welches Spiel spielt sein Gemahl wirklich mit ihm? Die Geschichte ist in sich abgeschlossen und alleinstehend lesbar. Die in diesem Buch beschriebene Welt und einige der Protagonisten sind auch im Roman »Der erste Wächter« zu finden.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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HOMINÎ ED LOCALÎ A MÎDPRANÎ
PROLOG
Das Unwetter
KAPITEL 1
Goldene Jahrwende
KAPITEL 2
Schloss der Freiheit
KAPITEL 3
Der Diplomat
KAPITEL 4
Freund des Feindes
KAPITEL 5
Magie des Badewassers
KAPITEL 6
Tanz auf der Klinge
KAPITEL 7
Der zweite Blick
KAPITEL 8
Wege in der Dunkelheit
KAPITEL 9
Ein überraschendes Angebot
KAPITEL 10
Das Glück des Einzelnen
KAPITEL 11
Botschafter der Lüge
KAPITEL 12
Annäherung
KAPITEL 13
Entfernung
KAPITEL 14
Das Schicksal eines Königs
KAPITEL 15
Der letzte Plan
KAPITEL 16
Die Rache des Regenten
KAPITEL 17
Hoffnung in Scherben
KAPITEL 18
Wasser über Blut
KAPITEL 19
Der Mêamon
KAPITEL 20
Neue Überlegungen
KAPITEL 21
Langes Sehnen
KAPITEL 22
Ein weitreichender Schwur
KAPITEL 23
Guter Rat
KAPITEL 24
Ein Plan für Diebe
KAPITEL 25
Schatten in der Nacht
KAPITEL 26
Die Wut des Regenten
KAPITEL 27
Ein frischer Wind
KAPITEL 28
Magie der Vastarî
KAPITEL 29
Wärme in der Kälte
KAPITEL 30
Erwachen aus der Starre
KAPITEL 31
Rückkehr eines Herrschers
KAPITEL 32
Der vereitelte Wunsch
KAPITEL 33
Abschied
KAPITEL 34
Der Grenzwald
KAPITEL 35
Feldzug im eigenen Land
KAPITEL 36
Heimweh
KAPITEL 37
Der Traum
KAPITEL 38
Der richtige Weg
KAPITEL 39
Glas zerbricht
KAPITEL 40
Eine entsetzliche Wahrheit
KAPITEL 41
Der Gefallen
KAPITEL 42
Der Geburtsstein
KAPITEL 43
Das Bündnis
KAPITEL 44
Die Macht des Regenten
EPILOG
Das Ende einer langen Tagwende
Nachwort
Leseprobe »Der erste Wächter«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Noa Liàn

 

 

 

 

Fantasyroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 03/2021

© Noa Liàn – Alle Rechte vorbehalten.

c/o Werneburg Internet Marketing und Publikations-Service Philipp-Kühner-Straße 2, 99817 Eisenach

 

Text: © Noa Liàn

Coverdesign: © Noa Liàn

Bildmaterial: © Stefan Keller, © depositphotos.com: Shaiith79, longquattro, filkusto

Lektorat und Korrektur: Katharina Rose und Tatjana Germer

 

[email protected]

www.noa-lian.de

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden/realen oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig.

HOMINÎ ED LOCALÎ A MÎDPRANÎ

 

Register der wichtigsten Personen und Orte des Festlandes Mîdpranî.

 

Vescar (Königssitz von Vastar)

Acrain Mammuî [ak’ʁaɪ̯n mamʊɪ̯]: Regent von Vastar und Enkel von Awohr.

Seymon Mammuî [sīm’ən mamʊɪ̯]: Erster Wächter von Vastar und Gemahl von Jahmez.

Awohr Mammuî [avoːmamʊɪ̯]: König von Vastar.

Jahmez Mammuî [dʒa’mɛs mamʊɪ̯]: Berater und Freund von Acrain, Gemahl von Seymon und Enkel von Awohr.

Tamyrelia Solema [tamyʁeli.aː zɔlɛmə]: Heilige Beraterin für den Rat in Vescar.

Jahson [jaːˈzɔn]: Sohn von Seymon und Jahmez.

Jehm [dʒɛm]: Verstorbener Zwillingsbruder von Jahmez.

Tiburg [tiːbʊrk]: Hoheitlicher Heiler.

Tofro [to’fʁoː]: Leibwächter von Seymon.

 

Brocar (Königssitz von Vuscar)

Zaynar Kianar [zɛɪnaʁkiːanˈaʁ]: Botschafter und Diplomat von Vuscar und Sohn von Zaranor.

Zaranor Kianar [t͡saˈʁaˈnɔʁkiːanˈaʁ]: König von Vuscar.

Ubror Brigro [uːbʁoː bʁi’ɡʁoː]: Regent von Vuscar.

Corvin Kianar [kɔʁvɪn kiːanˈaʁ]: Thronfolger von Vuscar und Zaynars Neffe.

Keno Kianar [ˈkeːnoː kiːanˈaʁ]: Gemahl von Zaynar und vertrauter Ubrors

Taavi [taːvi]: Leibwächter von Zaynar.

 

Blodor (Königssitz von Usgror)

Devilon Sammael [devɪlɔn sa’ma’ɛl]: König von Usgror.

Asghar [as’ɡaː]: Zweiter General von Devilon.

Bonin [boːnin]: Erster General von Devilon.

 

Vanarar (Königssitz von Vaplar)

Aswing Xaglo [as’wɪŋ ksaːɡlo]: König von Vaplar.

 

Tambor (Königssitz von Taswor)

Dreok Taprey [dʁeːɔk taːpʁaɪ̯]: König von Taswor und einer Söldnerinsel.

Okko Taprey [ˈɔkkoː taːpʁaɪ]: Ältester Sohn und Thronfolger von Dreok

 

 

 

 

 

PROLOG

Das Unwetter

 

Die Türen der großen Festhalle schlossen sich dröhnend und unheilvoll. Es gab keinen Weg zurück. Die Zeremonie, seit jeher ein heiliger Brauch, begleitet von Gesang und der Segnung der hohen Frau, würde für Zaynar heute an Bedeutung verlieren. Das große Sehnen nach diesem Moment war lange verloschen, die Schritte so schwer geworden, dass er sich nur mit Mühe bewegen konnte. Der opulente Fellmantel lag schwer auf seinen Schultern, wärmte nicht, hielt nur die äußere Kälte davon ab, sich zur inneren zu gesellen und ihn vollständig erstarren zu lassen.

Die Hand, die nach seiner griff, versprach nur Kälte, Leere und eine Härte, vor der er sich fürchtete. Er sah hinüber zu seinem Neffen, der verloren an der Seite eines Mannes stand, der ein Vater hätte sein sollen, sich aber für die Rolle eines Despoten entschieden hatte. Zaynars Blick wanderte weiter, hinauf zur Tafel, an der der König saß. Sein eigener Vater. Oder das, was davon übrig geblieben war.

Es gab kein Zurück. Selbst, wenn die schweren, eisernen Türen weit offen stehen würden, er wäre immer noch gefangen zwischen seiner eigenen Verantwortung, der Ehre seiner Familie und dem Wohlergehen seines Volkes. Doch ob irgendetwas zu retten war, ließ sich nicht sagen. Ob sein Opfer seinen Zweck erfüllen würde, mochten allein die Elemente bestimmen. Doch nicht heute. Vorerst gab es nur eisige Klauen, die sich sinnbildlich und tatsächlich an ihn klammerten und ihn in ihr Verderben zogen.

Der Stimme der hohen Frau zu lauschen, als sie die bedeutungsvollen Worte aufsagte, hätte seine Stimmung heben sollen, doch sie versprachen an diesem Tag auch nicht mehr als die leere Hand, die er halten musste. Seine Gedanken versuchten stattdessen, von diesem Ort zu fliehen, zu den großen Fenstern hinaus, die einen dunklen und bedrohlichen Himmel zeigten, der gelegentlich von grellem Licht durchbrochen wurde. Keine Vermählung, an die sich Zaynar erinnern konnte, war je unter schlechteren Vorzeichen verkündet worden. Dass es seine eigene sein musste, ließ sein Herz noch schwerer werden.

Irgendwann waren alle Worte gesprochen. Die Zeremonie neigte sich ihrem unausweichlichen Ende entgegen. Ein letztes Mal bezwang Zaynar seine viel zu rasche Atmung und das heftige Klopfen in seiner Brust. Dann drehte er sich zu seinem Gemahl und brachte mit letzter Anstrengung den Kuss zustande, der von ihm gefordert wurde.

Kalt. Wie alles, was die Tagwenden nur noch bereithielten. Das Wetter änderte sich. Und als er sich gemeinsam mit seinem Ehemann zu den versammelten Gästen umdrehte, hörte er das wütende Grollen der Elemente in seinem Rücken. Mochte das hier ein Sieg sein, so wollte sich Zaynar nicht festlegen, wem dieser vorherbestimmt sein würde. Eine Ahnung beschlich ihn, dass es keiner für sein Volk sein würde.

Bedächtig schritten sie die Stufen hinab, hin zu der unnötig großen Fläche, die Platz für Spiel und Tanz bot, und nun gemeinsam mit dem Einsetzen der traditionellen Musik einen feierlichen Abschluss ermöglichen sollte.

Zaynar fühlte nichts, sah niemandem in die Augen, als er den Tanz für alle eröffnete. Nur das Grollen des Sturms drang an sein Ohr und er wünschte sich, er würde genauso hinfortgeweht werden wie die jungen, aber doch bereits herabfallenden Blätter einer eigentlich neu erwachten und grünen Jahrwende. Wenn die Silberstreifen am Nachthimmel einen Wunsch von Sterblichen aufnehmen konnten, dann würde er sich wünschen, dass der Sturm seine endlosen Bitten um Gnade an Ohren dringen lassen würde, die mächtig genug waren, einen Umbruch zu bewirken.

Ein letztes Grollen und dann war die Nacht hereingebrochen.

 

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 1

Goldene Jahrwende

 

Leise knisterte das Feuer im Kamin und wärmte seine Schreibstube, die sich am Morgen noch empfindlich kalt angefühlt hatte. Die goldene Zeit des Jahres war dieses Mal so bedrückend kühl und neblig, dass er froh war, in Vescar residieren zu können. Im Schloss aus Dunkelglas, das jeden Funken Wärme in sich aufnahm und in kühleren Stunden wieder abgab. Der Regen, der gegen die hohen Fenster prasselte, verbreitete aus diesem Grund keine allzu schlechte Stimmung, sorgte eher für einen angenehmen Gegensatz, der die prasselnde Wärme in seinem Rücken nur noch einladender erscheinen ließ. Zu einer besseren Zeit würde Acrain in seinem behaglichen Sessel vor genau diesen Fenstern sitzen und der Melodie von Feuer und Wasser lauschen. Es war lange her, dass er sich das gegönnt oder auch nur Zeit dafür gehabt hatte. Als er noch geschult worden war, hatten ihn seine Freunde damit aufgezogen, doch auch heute fand er, dass es nichts Beruhigenderes gab, als dem heftigen Trommeln des Regens gegen Glas zuzuhören, während ein Becher Tee und ein gemütliches Fell auf den Beinen für die Gewissheit sorgten, dass selbst der größte Sturm nicht gegen die Macht des eigenen Zuhauses ankommen konnte. Genau das hatte ihm auch später Zuversicht gegeben, wenn es zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen war.

Dass sein Land über die wilden und gefährlichen Zeiten hinweg immer Bestand gehabt und in Vescar eine wahre Festung gehabt hatte, war zu einer Art Urvertrauen geworden. Und die Elemente Teil dieser Gewissheit.

Mühsam drängte er die aufwallenden Kräfte in sich zurück, die diesen Gedanken sehr zu begrüßen schienen. Dann drehte er sich zu seinem Ratgeber um und beobachtete ihn eine Weile. Seymon schien immer noch die unterirdischen Wege der vielen Dunkelglasminen zu studieren, die dem Volk von Vastar erheblichen Reichtum beschert hatten. Selbst das Schloss hätte es ohne diesen gar nicht erst gegeben. Es war bitter, dass gerade dieser Umstand dafür sorgte, dass sie sich erneut gierigen Mächten entgegenstellen mussten. Sie hielten weiter an ihrem Vorhaben fest, eine Einigung mit dem Nachbarland zu finden, die Aussichten darauf waren jedoch schlecht. Die diplomatischen Beziehungen zu Vuscar waren schon lange vor Acrains Zeit eingeschlafen, stattdessen verkehrten die Hochgeborenen nun mit Usgror und dessen mörderischem König Devilon Sammael. Dass dieser es geschafft hatte, eine seiner Marionetten in Vuscar einzuschleusen und die Königsfamilie zu untergraben, machte alles nur noch komplizierter.

Acrain entfuhr ein Seufzen.

Sogleich sah Seymon besorgt auf. »Habe ich etwas übersehen?«

»Nein, ich war nur in Gedanken.«

Er nickte und schien zu verstehen. »Wenigstens beginnen demnächst die Verhandlungen. Das Warten darauf ist das Schlimmste. Wenn wir sie erst an unserem Tisch haben, können wir zumindest Zeit herausschlagen.«

Seymon hatte recht. Am Krieg mit Devilon würde kein Weg vorbeiführen, er war bei einem letzten Treffen sehr deutlich geworden und zeigte keinerlei Willen zu einer andersgearteten Ausgleichsverhandlung. Doch durch einen geschickten Schachzug eine Jahrwende zuvor, hatten sie verhindern können, dass andere Länder, wie auch Vuscar, in eine erste Schlacht hatten eingreifen können. Die magische Barriere hielt noch. Acrain spürte, wie sie schwächer wurde, doch die bloße Tatsache, dass sie Bestand hatte, hatte Devilon offenbar zur Vorsicht gezwungen. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass Vuscar rechtzeitig an seine Seite eilen konnte. Noch nicht.

Die Zustimmung zu Verhandlungen hatten sie daher alle als Eingeständnis verstanden, dass sich auch die Gegenseite über den weiter bestehenden Schutz und die Risiken eines vorschnellen Angriffs bewusst war.

Acrain war sich inzwischen nicht einmal sicher, ob der magische Schild völlig zusammenfallen würde. In einer fast unwirklich glücklichen Schicksalswende hatte sich Seymon als unvergleichlich wertvoll herausgestellt. Acrain konnte immer noch nicht begreifen, wie leichtsinnig Devilon gehandelt hatte, als er ihnen seinen ungeliebten Sohn ausgeliefert hatte. Sicherlich, sie hatten ein Todesurteil über ihn gesprochen, doch im Moment großer Not hatte Seymons Zustimmung zur Vermählung mit einem Angehörigen des Königshauses dafür gesorgt, dass Devilons Verbündete sie für die Dauer ihres eigenen Paktes nicht angreifen konnten.

Da Loyalität keine nennenswerte Eigenschaft unter den Ländern war, hatten sie, wie es üblich war, einen magischen Vertrag über eine einzelne Jahrwende abgeschlossen. Und diese war inzwischen verstrichen. Der Schutz jedoch war nicht im selben Maß zurückgegangen. Irgendetwas schien die Barriere aufrechtzuerhalten, sie wussten nur nicht, was genau. Und welche Auswirkungen das haben würde. Denn inzwischen war es vereinzelten Kriegern aus Vuscar möglich, in zweifelhafter Absicht über ihre Grenze nach Vastar zu gelangen. Allerdings hatten ihre Späher festgestellt, dass dies nur in kleinen Gruppen und nur leicht bewaffnet möglich gewesen war. Einem der mächtigeren Feuermagier war es dagegen nicht gelungen, vastarer Boden zu betreten.

Sich in dieser Sache auf etwas voll und ganz zu verlassen, erschien ihnen fahrlässig, doch es hatte ihre Überlegungen eher auf Devilon und dessen Söldnerarmee konzentrieren lassen. Und darauf, wie diese am besten in Schach zu halten und im besten Fall zu besiegen wäre. Alle Nachforschungen zusammengenommen, waren sie sich beinahe sicher, dass er für den zweiten Krieg einen Angriff über das Meer plante. Da Vastar von gleich drei Landseiten aus von Wasser umgeben war, sahen sie sich vor erhebliche Probleme gestellt. Es war schlicht unmöglich, überall Präsenz zu zeigen und auf Angriffe vorbereitet zu sein.

Viele Späher waren daher unermüdlich in ganz Mîdpranî unter Einsatz ihres Lebens unterwegs, um jede noch so kleine Veränderung schnellstmöglich melden zu können. Selbst Jahmez, Seymons Gemahl und vormaliger Wächter des Landes, war wieder einmal in den gefährlichsten Teilen des Landes unterwegs, zusätzlich darum bemüht, die bestehenden Beziehungen mit Seidor, Taswor und Vaplar zu pflegen. Wobei Vaplar ihnen keine Sorgen bereitete. Seit einer denkwürdigen Schlacht, in der sie Seite an Seite gegen Devilons Männer gekämpft hatten, pflegten sie mit König Aswing freundschaftliche Beziehungen. Und da dessen Sohn als Königsgemahl in Seidor regierte, hegten sie auch um das kleine Land im Norden kaum Befürchtungen.

Weniger eindeutig war dagegen ihr Verhältnis zu Taswors König Dreok, der ihnen zwar Neutralität zugesagt, aber ganz offen bekannt hatte, dass er vor einer Jahrwende mit Devilon angegriffen hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Er schien ein seltsames Interesse an Seymon zu haben, was ihn auf eine verdrehte Art wohlgesonnen erscheinen ließ, doch Acrain hatte nie auch nur einen Augenblick daran gezweifelt, dass er weitaus eigennützigere Motive für sein Handeln hegte.

Rückblickend betrachtet war es ärgerlich, wie leichtsinnig sie sich viele Jahrwenden lang verhalten hatten. Es hatte für sie eine relative Zeit der Ruhe gegeben. Aus Konflikten zwischen den anderen Ländern hatten sie sich herausgehalten und nach der letzten, großen Grenzschlacht zwischen Seidor und Usgror, die Devilon für sich entschieden hatte, war es für alle ruhiger geworden. Es war ein wachsamer Frieden gewesen, jedenfalls hatten sie sich das gern eingeredet. Streng genommen war die eigene Wachsamkeit bald eingeschlafen und sie hatten darauf vertraut, als das größte und reichste Land in Mîdpranî außerhalb der Interessen der anderen Mächte zu stehen. Wie sehr sie sich geirrt hatten, zeigte sich nun auf bittere Weise. Jeden Augenblick konnte es so weit sein, dass der schwache Schutz gänzlich in sich zusammenfiel und gleich drei Ländern einen Angriff auf sie ermöglichte.

Seymon betrachtete nun mit einem Stirnrunzeln eine weitere Karte und zog bereits eines der dicken Geschichtsbücher zu sich heran.

»Wir sollten unsere Zusammenkunft für heute beenden«, schlug Acrain nach einem weiteren Moment des Grübelns vor, weil er nicht wollte, dass Seymon die ganze Nacht wach blieb. Die erste Mondwende war bereits vergangen und alle Nächte zuvor waren auch schon zu kurz gewesen. Schlaf war für sie wichtig, wenn sie weiter klug und besonnen vorgehen wollten.

»Wenn Ihr Euch ausruhen wollt, gern, aber ich kann mich auch noch um die Nordmine kümmern. Der Rat kann dann über alles zusammen entscheiden.«

»Das hat bis zum Morgen Zeit. Außerdem wird dich Jahson schon vermissen, ich halte dich ohnehin zu lange von ihm fern.«

Wie immer bei dessen Erwähnung, stahl sich ein Lächeln auf Seymons Gesicht, ganz der stolze Vater, der er war. »Ihr habt recht. Er brabbelt inzwischen so viel, dass ich aufpassen muss, dass Tofro ihm nicht aus langer Weile heraus unsinnige Worte beibringt. Jahmez und ich müssen inzwischen sogar überlegen, was wir bereden, wenn Jahson in Hörweite ist. Es war durchaus unangenehm, als er vor kurzem auf Tiburgs Bauch gezeigt und im Brustton der Überzeugung ›Fett!‹ gerufen hat.«

Acrain lachte laut auf und sah Seymon dabei zu, wie er aufstand und sorgsam das Tintenglas verschraubte.

»Ich weiß nicht einmal, wo er das her hat. Zum Glück war Tiburg nicht beleidigt, er ist ja auch ein recht direkter Mensch und mitnichten fett.«

»Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Und Tofro traue ich zu, dass er das ausnutzen würde.«

Seymon nickte. »Der ist genauso albern wie Jahson. Ich weiß nicht einmal, warum ich dachte, dass er als Patenonkel ein vernünftiges Vorbild abgeben würde.«

»Hättest du mich gefragt, hätte ich dir gesagt, dass er als Junge schon gern Streiche gespielt hat. Sogar noch sehr viel mehr als Jahmez. Und das will durchaus etwas heißen.«

Nun war es Seymon, der laut lachte. »Ich sollte mich öfter mit Euch unterhalten. Mein Gemahl behauptet nämlich ständig, dass er schon als Junge ein Vorbild war.«

»Ich werde ihn fragen müssen, ob ich an dieser Tagwende womöglich krank gewesen bin«, erwiderte Acrain. Die Vorstellung, dass sein bester Freund und Schreck aller Lehrmeister ein Vorbild gewesen sein wollte, war wirklich erheiternd. Aber vermutlich war Jahmez tatsächlich darauf bedacht, seinem Sohn gegenüber mustergültig zu sein.

Glucksend nahm Seymon seinen leichten Mantel und warf ihn sich über die Schultern. »Ich wünsche Euch eine angenehme Nachtruhe, Acrain. Bleibt nicht mehr so lange auf, Ihr seid in der Nacht davor auch schon nicht zu Bett gegangen.« Die Strenge auf Seymons jungen Gesichtszügen hatte etwas Anrührendes. Und es war zweifellos beeindruckend, wie er über vieles im Schloss Bescheid zu wissen schien. Womöglich sollte Acrain in Erfahrung bringen, welche Quellen er dafür nutzte. In letzter Zeit hatte er das Gefühl, dass Seymons Vögelchen zuverlässiger waren als seine eigenen.

»Ich nehme es mir zu Herzen. Schlaf gut.«

Beinahe schaffte es Seymon, sich nicht vor ihm zu verbeugen, bevor er schließlich ging. Der kleine Ruck mit dem Oberkörper war fast nicht zu bemerken gewesen. Irgendwann würde auch das wegbleiben. Jedenfalls hoffte Acrain das, denn der erste Wächter von Vastar und der Regent des Landes hatten durch die Zeitwenden hinweg immer auf Augenhöhe agiert. Seymon mochte dieses Ansehen nicht in die Wiege gelegt worden sein, doch er hatte bewiesen, dass er nicht umsonst das volle Vertrauen des Rates, des Majestî und nicht zuletzt von ihm selbst besaß. Seymon musste sich vor niemandem im Schloss verbeugen. Doch seine Treue und sein Pflichtbewusstsein schienen ihn immer wieder dazu zu bringen, seinen Respekt zu bekunden.

Acrain ging hinüber zu einem der Fenster, lauschte erneut den großen Regentropfen. In der Ferne braute sich ein Unwetter zusammen. Helle Blitze zuckten am Himmel, erhellten die Nacht unnatürlich. Was für eine seltsame Zeit war das? Es fehlten auch die warmen Winde, die sanft die goldfarbenen Blätter von den Bäumen herabwehten. Die wolkenlosen Tagwenden, die langsam zunehmende Kälte brachten, bevor diese von leichten Böen über das Land verteilt wurde, sodass es zu keinem plötzlichen Wettereinbruch kam. Auch die Pflanzen vermissten offenbar etwas. Ohne Übergang hatten sie ihre Blüten verloren und sich in ihr buntes, letztes Kleid geworfen. Immerhin hatten sie die Ernte dadurch früher einholen können. Der Norden des Landes hatte zwar über zunehmende Kälte geklagt, doch die Felder waren ertragreich aufgegangen und die Tiere gesund geblieben. Die Versorgung während des Krieges konnte somit ausreichend gesichert werden. Durch herabgesetzte Abgaben waren die Bauern zusätzlich angespornt worden, für guten Ertrag zu sorgen.

Seymon war es gewesen, der dem Rat diesen Vorschlag unterbreitet und argumentiert hatte, dass auf diese Weise alle einen Vorteil daraus ziehen konnten. Es hatte noch einen weiteren Vorteil gebracht. Dass der erste Wächter des Landes, der erst vor kurzem dazu ernannt worden war, sich auf diese Weise für das Volk eingesetzt hatte, hatte Eindruck gemacht. Wo immer Acrain unterwegs war, hörte er inzwischen nur noch Gutes und viel Lob über Seymon. Vertrauen in die Königsfamilie war dieser Tagwenden beinahe noch wichtiger als alles andere. Sie waren darauf angewiesen, dass die Moral gut blieb, anders ließen sich keine Kriege gewinnen.

Doch diese Sorgen waren nur ein paar wenige von vielen in dem ganzen, sinnlosen Konflikt. Und sich diesem allein stellen zu müssen, löste Unwohlsein in Acrain aus. Nun, er war natürlich nicht wirklich allein, doch da Majestî Awohrs Gesundheit weiter schwand, würde der Rat des Königs in dieser Krise wegfallen. Er besaß zwar keine direkte Befehlsgewalt, doch der Majestî hatte die Fähigkeit gehabt, allein durch seine Präsenz das Vertrauen in die eigenen Überlegungen zu stärken.

Auf den Rat der Zwölf konnte sich Acrain natürlich verlassen und auf Seymon ebenso, doch das Volk würde zu Acrain sehen, wenn sie einen falschen Weg einschlugen. Erschwerend kam hinzu, dass Tamyrelia, als heilige Beraterin, für ihn gerade nicht unmittelbar greifbar war. Um eine alte, wertvolle Dunkelglasmine keinen Gefahren auszusetzen, hatte sie Vorkehrungen getroffen, um diese dauerhaft zu schützen. Dazu hatte sie den magischen Schutz im großen Grenzwald verstärkt und überprüfte diesen nun auf Schwachstellen. Spähtruppen waren vor kurzem dort eingedrungen und bedrohten die vaplarer Grenze und die Bauern auf beiden Seiten, die sich in ihrem Handel gestört sahen. Sie vermuteten, dass es sich vor allem um Scheinangriffe handelte, doch der letzte Krieg hatte dort am heftigsten gewütet. Schon die Vorsicht gebot es, diesen Teil mit allen Kräften zu schützen.

Zuweilen schwirrte Acrain der Kopf, wenn er über all die Aufgaben nachdachte, die es zu erledigen galt. Der letzte Konflikt hatte viele Opfer gefordert und allein der Gedanke, dass weitere Familien ihre Lieben verlieren würden, machte ihn körperlich krank. Man hatte ihm oft vorgeworfen, zu weich für die Regentenbürde zu sein, und in Augenblicken wie diesen hatte er Angst, dass es tatsächlich stimmte. In der letzten Jahrwende, als er zum ersten Mal alleinige Verantwortung für eine Schlacht übernommen hatte, war er siegreich gewesen. Nicht allein, sondern mit maßgeblicher Hilfe von Seymon, doch die Vastarî hatten vor allem Acrains Umsicht und Weisheit gepriesen und als Garant für den Sieg ausgemacht.

Die Stirn gegen das warme Glas lehnend bemerkte Acrain die zunehmende Müdigkeit, die sich in seine Glieder schlich. Er sollte auf Seymon hören und nicht zuletzt auch auf seinen eigenen Rat. Bevor er sich noch den Kopf anschlug, weil ihn seine Beine nicht mehr tragen wollten, verließ er ebenfalls seine Schreibstube.

Auf dem Weg zu seinen Wohnräumlichkeiten spürte er die ruhige und sichere Präsenz seines Leibwächters im Rücken. Lexians Überlegungen, zur Verbesserung der Sicherheit im Schloss, musste Acrain auch noch mit dem Rat besprechen. Seine Gedanken wanderten zurück an den Abend, als er gezwungen gewesen war, mit Devilon einen Schaukampf anzusehen. Es war abstoßend gewesen, ihm beim Reden zuzuhören, doch zeitgleich auch lehrreich. Es war immer faszinierend, zu beobachten, wie leicht Menschen ihren Schutz sinken ließen, wenn sie dachten, die Oberhand über eine Situation oder andere zu besitzen. Leider hatte Acrain nach diesem Treffen das sichere Gefühl gehabt, dass Devilon mehr über das Schloss und bestimmte Bewohner wusste, als ihm durch Nachforschungen von außen möglich gewesen sein sollte.

Dass Lexian ihn auf diesen Umstand aufmerksam gemacht hatte, bedeutete auch, dass Acrain das nicht nur auf seine übervorsichtige Natur schieben konnte. Die Möglichkeit, dass es jemanden in Vescar gab, der Informationen an Devilon weiterreichte, war nicht von der Hand zu weisen. Doch wie sollte er damit umgehen? Beweise hatten sie immer noch nicht dafür gefunden und Lexian und Acrain waren sich einig gewesen, dass sie niemanden darauf aufmerksam machen würden, um zu vermeiden, nicht versehentlich den Spitzel zu warnen. Noch vor einer Jahrwende hätte er das für unmöglich gehalten, doch die Zeiten änderten sich, wie auch das Wetter es tat.

In seinen Räumen angekommen, drehte sich Acrain nicht einmal mehr um. Er konnte ohnehin spüren, dass sein Leibwächter nach ihm eingetreten war. Die Müdigkeit gewann die Oberhand und er beließ es sogar nur bei einer Katzenwäsche. Im Bett liegend stellte er ärgerlicherweise fest, dass er nun auch vergessen hatte, die Kerzen zu löschen. Doch sie waren schon weit heruntergebrannt, er würde damit durchkommen, sie einfach von selbst verlöschen zu lassen. Auch wenn es gegen seine Philosophie ging, verschwenderisch zu sein.

Er drehte sich auf den Bauch, um sich gegen den flackernden Schein abzuschirmen, und ging ein letztes Mal den Abend mit Seymon durch. Sie waren wirklich gut vorangekommen. Mit den letzten Plänen zur Absicherung der Minen und Anlegestellen, die für den Feind am leichtesten zu erreichen waren, konnten sie dem Rat in den nächsten Tagwenden etwas Handfestes präsentieren. Garêth und Bêdiv würden nur zustimmen, wenn sie ihre Kämpfer nicht in den sicheren Tod schicken mussten. Wenn sie sich in einer Sache einig waren, dann in der, dass sie es Devilon nicht gleichtun und Menschen als entbehrlich ansehen wollten.

Nein, jedes Leben war ihnen heilig und so war es nur richtig, keine Ausreden für ein anderes Verhalten zu erfinden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb noch. Sollten sie eine Einigung mit Vuscar erzielen, würde Devilon umplanen müssen, denn dann stünde er mit seinem Vorhaben in Mîdpranî allein da. Doch wie wahrscheinlich war das, wenn inzwischen klargeworden war, dass er seine Männer in die Königsfamilie Vuscars hatte einheiraten lassen? Das war immer noch ein schwer nachvollziehbarer Gedanke. Wenige ließen das zu und wenn doch, dann nur, um sich in Zeiten der Not auf ein Bündnis berufen zu können, nicht, um gemeinsam ihre Völker aufzureiben.

Vuscar war überdies ein kleines Land, mit wenig Reichtum gesegnet, der im Lauf der Historiâ weniger geworden war. Erst mit König Zaranor hatten sie begonnen, sich nach und nach zu erholen. Doch von diesem König hörte man nicht mehr viel, nur, dass sein Geist zerrüttet war. Seine Tochter Zayana hatte daraufhin die Landesgeschäfte übernommen, zusammen mit ihrem Gemahl Ubror Brigro – den geschätzten Berater von Devilon.

Müde erinnerte sich Acrain wieder an einen der Briefe aus Vuscar. Zaynar, der Sohn von König Zaranor, hatte sie monatswendenlang hingehalten, weil er darauf bestanden hatte, erst zur goldenen Jahreszeit einzureisen. Wozu das gut sein sollte, hatten weder Acrain noch Seymon annähernd herausfinden können und nicht einmal Maho, der jeden Stein lesen konnte, hatte über dieses Motiv etwas in Erfahrung bringen können. Dazu hatte sich Zaynar auch strikt geweigert, mit Seymon in Verhandlung zu treten, musste gar erst überzeugt werden, dass Acrain die Regierungshoheit innehatte, um letztlich nachzugeben und wenigstens mit diesem anstatt mit Awohr zu verhandeln. Dieses Verhalten war nicht normal, jedenfalls nach den Maßstäben zu urteilen, die sie hier kannten. Insgesamt roch alles nach einer Falle und war der Hauptgrund, warum sich der Schlaf nur noch schlecht einstellen wollte.

Lange und oft hatte Acrain wach gelegen, doch heute hatte er genug davon. Er hielt die Augen fest geschlossen und zwang sich, seine Atemzüge zu vertiefen. Seine Schulter war nicht ganz bedeckt und fühlte sich kühl an, doch er wollte sich wirklich nicht mehr bewegen, sondern einfach nur einschlafen.

Ganz allmählich gelang es ihm, seinen Geist zu beruhigen und seine Glieder zu entspannen. Die Schlaflosigkeit der vorigen Tagwenden half dabei. Kurz bevor er ganz wegdriften konnte, merkte er auf. Es war nun sehr dunkel. Die Kerzen mussten verloschen sein. Als auf einmal seine Schulter wärmer wurde, lächelte Acrain jedoch sanft. Lexian an seiner Seite zu haben, bedeutete mehr, als nur einen Leibwächter zu seinem Schutz anvertraut bekommen zu haben. Wenn der Krieg vorbei war, würde er ihn reichlich für seine Arbeit entlohnen. Nur Lexian war es zu verdanken, dass Acrain überhaupt so etwas wie Ruhe finden und sich manchmal eben auch auf eine warme Schulter verlassen konnte.

 

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 2

Schloss der Freiheit

 

Es fiel ihm schwer, bei der Sache zu bleiben. Ständig verloren sich seine Gedanken in allerlei Problemen, die außerhalb der Ratssitzung auf ihn warten würden. Sein Glück war, dass Seymon wie üblich einen Großteil der Absprachen übernahm, während Acrain gelegentlich nickte, um anzuzeigen, dass er einverstanden war.

So unaufmerksam hatte er sich lange nicht erlebt, doch eigentlich war es nicht verwunderlich. Viele Jahrwenden hatte er den Beistand seines Großvaters Awohr gehabt. Doch der war nach wie vor nicht in der Lage, an den Ratssitzungen teilzunehmen. Er hatte immer, so weit Acrain zurückdenken konnte, auf dem Platz rechts neben ihm gesessen, außer einem einzigen Mal, als er zum Bergschloss aufgebrochen war, um sich seiner Gesundheit zuliebe auszuruhen.

Acrain hatte es nicht wahrhaben wollen, doch der Majestî wahr wahrhaft alt geworden, seine Lebensmagie geschwunden. Oft hatte er davon gesprochen, doch nie hatte dieses Gerede Bedeutung gehabt, denn auf Awohr war immer Verlass gewesen. Auch dann, als Acrains Vater gestorben war.

Acrain seufzte und auf einmal wurde es still im Raum. Er blickte auf. Alle sahen zu ihm, gespannt, mancher offenkundig verwirrt.

»Wollt Ihr meinen Ausführungen etwas anfügen?«, fragte Seymon, sichtlich besorgt, und sah noch einmal über die vielen Schriftrollen, die zu kleinen Haufen gestapelt vor ihm lagen.

»Nein, ich … habe nur daran denken müssen, dass wir derzeit im Rat denkbar schlecht aufgestellt sind.«

Betretenes Schweigen setzte ein, was Acrain nur noch unbehaglicher fühlen ließ. Es war seine Aufgabe, alles zusammenzuhalten, und nicht, in trübsinnigen Gedanken zu verweilen. In gewisser Weise musste er nun beides sein, Regent und König, doch Letzteres erschien ihm nahezu unmöglich. Dazu gehörte einiges mehr und er hatte sich auch darauf ausgeruht, dass das ein anderer übernahm.

»Ich denke, für den Augenblick ist eine Unterbrechung ganz gut. Garêth, Lamok, ihr überprüft die Sicherung der Außenanlagen und den Status des Walltrupps. Ich möchte nichts dem Zufall überlassen. Kayo, ich brauche einen weiteren Vorschlag für die Heilung der Kämpfer. Seymon hat recht, sollten wir gezwungen werden, unsere Truppen stark zu streuen, sind wir noch nicht ausreichend in der Lage, sie gesundheitlich zu versorgen. Beziehe ruhig auch den Medicâ aus der Kinderversorgung mit ein. Wir werden alle Kräfte brauchen. Jeder sollte die gängigsten Verletzungen und Vergiftungen notdürftig behandeln können. Bôr, der Plan für den Aufenthalt unserer Gäste ist mir noch zu unsicher. Zaynar ist nicht Devilon, er wird sich aller Voraussicht nach im Schloss bewegen wollen. Und wie ich höre, wird sein Gemahl ihn begleiten. Je mehr wir sie in irgendwelche Belustigungen einbinden können, desto weniger Zeit haben sie, selbst Pläne zu schmieden. Seymon, du wirst mit mir mitkommen. Zu Beginn des letzten Sonnendrittels erwarte ich euch wieder zurück.«

Während sich schon alle erhoben hatten und den Ratssaal verließen, hielt Acrains Bruder ihn auf. »Was werde ich tun?« Natürlich hatte Acrar bemerkt, dass er keine Aufgabe erhalten hatte.

Doch Acrain war nach wie vor bestrebt, seinen jungen Bruder weitestgehend aus den Sicherheitsplanungen herauszuhalten. Gerade einmal vierzehn Jahrwenden war er alt und viel zu ungestüm in seinem Vorgehen. Er mochte das Recht haben, im Rat zu sitzen, da er natürlich lernen musste, wie dieses Land zu regieren war, allerdings wollte ihm Acrain seine Jugendjahre nicht zu sehr trüben. Er wusste schließlich am besten, was es bedeutete, jung in die Verantwortung genommen zu werden. »Tamy und Asnea haben darum gebeten, den Vorrat von Terpinâ aufzustocken. Durch den kurzen Sommer sind die Pflanzen weniger wirkungsvoll und Tamy befürchtet, dass wir mehr als vorher angenommen brauchen werden. Sieh mal, was der Kräutermeister für uns tun kann.«

Acrar schnaufte. »Für solchen langweiligen Kram findet sich bestimmt jemand anderes. Gibt es keine Aufgaben bei den Truppen?«

Das war so typisch für ihn, dass sich Acrain ernstlich bemühen musste, nicht unangemessen zu reagieren. »Diese Aufgabe ist sehr verantwortungsvoll. Unsere Krieger werden Verletzungen davontragen und müssen dann versorgt werden. Zu wenig Terpinâ kann bedeuten, dass die Wunden nicht heilen und die Truppen reihenweise dem Wundbrand zum Opfer fallen werden. Wie schlecht das für den Krieg wäre, muss ich dir nicht erklären.«

Sein Bruder wirkte weiterhin nur mäßig begeistert, doch nach dieser Erklärung wagte er es wohl nicht, noch einmal zu widersprechen. Er nickte schließlich und schlurfte dann davon.

Gedankenverloren sah Acrain ihm hinterher und kam erst wieder zu sich, als Seymon ihn ansprach. »Ich sollte mit Euch mitkommen.«

»Natürlich. Verzeih mir, ich sollte mich besser zusammennehmen. Zumal ich etwas Wichtiges mit dir besprechen möchte.« Sie setzten sich in Bewegung und machten sich auf den Weg zur Schreibstube, die glücklicherweise in der Nähe des Ratssaals lag. Statt auf den Hauptflur hinaustreten zu müssen, konnten sie sich einem Seitengang zuwenden und dort bereits ungestört reden.

»Etwas Wichtiges? Geht es um den Majestî?«

Seymons Scharfsinn überraschte Acrain inzwischen nicht mehr, dennoch fand er ihn nach wie vor bemerkenswert. »In gewisser Weise geht es um ihn, ja. Wir müssen eine Lösung finden, wie wir weitermachen. Ich war vorhin bei ihm und … Lass mich ehrlich zu dir sein, es steht nicht gut um ihn.« An einer kleinen, verzierten Holztür angekommen, blieb Acrain kurz stehen, um ihnen zu öffnen.

»Wie meint Ihr das?« Seymon stolperte beinahe durch die Tür und sah ihn entsetzt an. »Tiburg wird ihn sicherlich wieder auf die Beine bekommen, er war doch so zuversichtlich.«

Warum keiner von ihnen Seymon hatte verraten wollen, wie es um Awohr stand, zeigte sich nun in aller Deutlichkeit. Der Blick aus angsterfüllten, türkisgrünen Augen, der Acrain nun traf, ging ihm ans Herz und zerriss es beinahe. Dieses Gespräch hatte er lange aufgeschoben, hatte gehofft, sich dafür inzwischen genügend gewappnet zu haben, aber Seymons heftiger werdender Atem verriet ihm bereits, wie schwer das hier wirklich werden würde.

Um etwas Zeit zu gewinnen, schloss Acrain sehr bedächtig die Tür und atmete noch einmal tief durch, bevor er sich wieder zu Seymon drehte. »Es ist so, durch die unnatürlich vielen Jahre, die Awohr in der Regenten- und dann Königswürde gestanden hat, um dieses Land mitzugestalten, ist sein Körper langsam, aber stetig schwächer geworden. Seine Muskeln arbeiten nicht mehr so, wie sie sollten, und es gibt kaum einen Weg, diesen Vorgang aufzuhalten. Er wird weiter schwächer werden. Gerade kann er noch sitzen, doch auch das wird immer anstrengender. Irgendwann wird der Augenblick kommen, an dem ihm das Atmen schwerfallen und sein Herz immer langsamer schlagen wird.«

Bestürzung war es. Bestürzung und Fassungslosigkeit ließen Seymons Gesicht deutlichere Worte sprechen, als er es gerade wohl mit Worten gekonnt hätte. Mehrere Male öffnete er den Mund und schloss ihn wieder, ring um Worte und Atem, fuhr sich verzweifelt durch die blonden Haare und presste schließlich die Hände vors Gesicht. Acrain selbst versuchte, sich die Verzweiflung nicht zu nahe gehen zu lassen. Er musste jetzt stark sein.

Nach einer ganzen Weile schien sich Seymon wieder zu fangen. »Ich verstehe nicht«, flüsterte er, die Stimme brüchig. »Warum hilft ihm die Magie nicht? Es müsste ihm doch damit bessergehen?«

Zuweilen vergaß Acrain, wie wenig Seymon mit den inneren Vorgängen ihrer Macht vertraut war. Er hatte in der letzten Jahrwende zwar einige Fortschritte gemacht, doch noch immer merkte man ihm an, dass er keine richtige Ausbildung darin genossen hatte. »Die Magie der Königsfamilie wirkt etwas anders als die normale Elementmagie. Du, als Feuermagier, wirst es nicht erleben, dass dir das passiert. Du kannst Energie und Kraft aus deinem Element schöpfen, genau wie jeder andere Elementmagier es ebenso kann.«

Seymon sah auf, sein Gesicht war nass von leise geweinten Tränen, die auch jetzt noch ihre Spuren über seine Wangen zogen. »Was bedeutet das?«, fragte er schwach und Acrain bemerkte, dass seine Hände zitterten.

Natürlich musste es ihm nahegehen. Awohr hatte sich Seymon auf eine Weise angenommen, die er nie zuvor erlebt haben dürfte. Hatte ihn an ruhigen Abenden zu sich rufen lassen, ihn großväterlich unter seine Fittiche genommen und ihm viele Geschichten über das Land erzählt. Und natürlich über ihr Schloss. Und Awohr hatte in Seymon wohl den dankbarsten Hörer für diese Erzählungen gefunden. Acrain hatte sie ein paarmal beobachten können. Seymon hatte jedem Wort geradezu mit Verzückung gelauscht, schien nie gelangweilt zu sein oder ungeduldig. In diesen Augenblicken hatte er beinahe genauso jung und unbedarft gewirkt wie Acrar.

Seymon hatte hier bei ihnen eine Familie gefunden und sie hatten ihn ohne Zweifel als Teil ihrer Familie aufgenommen. Wie ungerecht war es, ihm sobald wieder einen wichtigen Bestandteil seines Lebens entreißen zu müssen?

»Acrain? Bitte, sagt es mir.«

»Wenn wir unsere Würden antreten, werden wir magisch eingeschworen. Das bedeutet, dass wir gewissermaßen alle magischen Elemente in uns vereinen. Zu einem ganz geringen Teil kannst auch du auf andere Elemente wirken, doch du wirst sie niemals so beeinflussen können wie eine Flamme. Ich dagegen könnte das.«

Seymons Augen wurden groß. »Ihr beherrscht jedes Element?«

»Ja und nein.« Acrain seufzte und setzte sich an den großen Tisch, was Seymon ihm gleichtat und dicht an ihn heranrückte. »Ich kann auf alles Einfluss nehmen, was mich umgibt. Während du vor allem die Magie bemerkst, die von einer Flamme ausgeht, spüre ich zu jeder Zeit die Magie in meiner Umgebung. Sogar deine.« Was es ihm zusätzlich erschwerte, einen klaren Kopf zu behalten, aber das würde er Seymon nicht sagen, da dieser sich nur unnötig Vorwürfe machen würde.

»Und warum könnt Ihr dann keine Kraft daraus ziehen?«

»Weil sich diese Art der Magie von mir … ernähren muss, könnte man sagen.«

»Aber warum dann das alles? Warum lasst Ihr Euch einschwören, wenn diese Magie nur Kraft raubt?«

Acrain lächelte unwillkürlich über Seymons größer werdende Besorgnis. Er war wirklich niemand, der es ertragen konnte, dass Menschen um ihn herum irgendeinen Nachteil hatten. »Sie raubt vor allem Kraft, wenn man sie bewusst und in großem Maß einsetzt. Weshalb wir das auch nur selten tun. Doch du darfst nicht vergessen, seit jeher ist Vescar die letzte Zuflucht. Wenn alles aussichtslos erscheint, suchen die Menschen hier Schutz. Auch wenn es nicht den Anschein hat, weil ich während des letzten Krieges nicht in vorderster Reihe gekämpft habe, ich bin für diese Verteidigung zuständig. Fällt das Schloss, fällt auch Vastar. Meine Magie ist daher groß, aber sie ist nicht unendlich.« Acrain ließ Seymon einen Augenblick Zeit, um das Gesagte zu verstehen. Erst als er sich sicher war, dass er ihn verstanden hatte, fuhr er fort. »Und es ist gut so. Macht, in dem Ausmaß, wie wir sie besitzen, darf nicht unendlich sein. So etwas hat noch nie Gutes hervorgebracht. Das Volk zu schützen, bleibt somit die einzige und wichtigste Aufgabe, die ich mit meiner Magie zu erfüllen habe.«

Die Ehrfurcht in Seymons Blick, die zumindest für diesen Moment die Trauer überlagerte, behagte Acrain nicht. »Das ist unglaublich. Aber um das zu tun –«

»Ich würde einen großen Teil meiner eigenen Lebensenergie hergeben müssen, ja. Es kommt, wie gesagt, nicht oft vor, dass wir das tun, und meistens sind wir dabei nicht allein. Um das Schloss zu schützen, haben Tamy und Awohr einmal einen Schleier darum entstehen lassen. Damals wurden wir von den Ostinseln angegriffen, die sich Zugang zu unseren Ländern und Minen erkämpfen wollten. Der Plan ging auf. Kein einziger von ihnen hat Vescar gefunden und wir konnten sie aus dem Hinterhalt heraus angreifen. Doch Awohr war danach sehr geschwächt. Das war auch die letzte große magische Tat, die er vollbracht hat. Danach hat er eingesehen, dass er mich nicht länger schonen kann.«

»Wie alt wart Ihr da?«

»Nicht ganz elf Jahrwenden, mein Bruder war da noch gar nicht geboren.«

Seymon runzelte die Stirn. »Aber das würde ja bedeuten … Ist Acrar Euer Halbbruder?«

»Ja, meine Mutter hat sich nach dem Tod meines Vaters noch einmal trauen lassen und recht spät Acrar bekommen. Er war für uns alle eine kleine Überraschung.«

Seymon schluckte. »Wo ist sie jetzt? Ich habe noch nirgends von ihr gehört. Ich bin sogar davon ausgegangen, dass Eure beiden Eltern –«

»Sie wollte nicht, dass Acrar die Königslinie fortsetzt. Und war sehr verbittert, als ihrem Wunsch nicht stattgegeben worden ist. Sie ist fortgegangen, lebt zusammen mit ihrem zweiten Gemahl in dessen Heimat. Weit nördlich unseres Landes, noch über den Nordinseln.«

Lange sagte Seymon nichts, schien angestrengt nachzudenken. Doch dann: »Wollte sie nicht, dass Acrar eingeschworen wird, weil sie Angst um ihn hatte?«

Acrain lächelte wieder. Seymons Fähigkeit, selbst durch das dichteste Gebüsch sehen zu können, war wirklich bemerkenswert. »Ja, du hast recht. Sie konnte erst nicht verhindern, dass ich eingeschworen werde, und war bitterböse auf meinen Großvater. Doch irgendwie musste es weitergehen. Wie du weißt, durfte Awohr nur vier Jahrwenden lang beide Ämter, die des Majestî und Hîghnes, zugleich ausüben. Er hat bis zum letzten Tag gewartet, doch … Mein Vater starb im letzten großen Krieg der sechs Reiche. Er starb, während er mit all seiner Macht das Volk von Vescar schützte. Awohr hat dir von dem Krieg erzählt, oder?«

Seymon nickte. »Ich war da gerade erst geboren. Und später lernte ich vom Krieg nur das, was die Lehrmeister in Usgror erzählt haben. Aber diese Geschichte war sehr viel anders als die von Awohr.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Usgror war eines der Länder, das im letzten Aufbegehren vernichtend geschlagen worden ist. Viele Jahrwenden haben sie gebraucht, um sich halbwegs davon zu erholen.«

Seymon schüttelte jedoch energisch den Kopf. »Ich denke nicht, dass wir uns je davon erholt haben. Das Schloss bröckelt an jeder Stelle, genau wie die Straßen, Städte und Dörfer. Alles, was sich erholt hat, ist das Kriegsgeschäft, aber für viel mehr hat mein Vater keine Münzen hingelegt.«

Das war nicht unbedingt überraschend, wenn Acrain sich in Erinnerung rief, wie Devilon im Schloss aufgetreten war. Nichts hatte ihn mehr interessiert als die Kämpfer Vescars und das Kriegshandwerk. Anstatt sein Land von innen heraus aufzubauen, schien er zu bevorzugen, die Mittel aus anderen Ländern zu beschaffen. Nur die Elemente wussten, woher er die Mittel für seine Söldnerarmee hatte.

Schließlich nickte Acrain. »Jedenfalls opferte sich mein Vater an dem Tag, als die Dreiheeresarmee vor dem großen Tor stand.« Noch immer stellten sich Acrains Haare auf, wenn er daran zurückdachte. Er war zwar jung gewesen, doch die Macht, die seine Welt an dem Tag erschüttert hatte, hatte sich fest in sein Gedächtnis eingebrannt. »Einen größeren Sturm hat Mîdpranî wohl nie zuvor gesehen. Er zerstörte alles, was sich außerhalb der Mauern befunden hat. Und viele Meilen in das Land hinein alles, was wir aufgebaut hatten. Die Sümpfe dort sind zum Beispiel ein Vermächtnis dieses Sturms. Meines Vaters. Aber seit diesem dunklen Tag wächst bei uns auch das Terpinâ.«

Seymons Augen wurden wieder glasig. Er schien zu verstehen. »Ein bisschen ist es, wie mit den großen Magmabergen, oder? Erst vernichten sie alles, überziehen die Länder mit Lava, Asche und Staub, nur um danach den kraftvollen Boden preiszugeben.«

»Ja«, sagte Acrain leise.

»Und Awohr … Was hinterlässt er uns?« Seymons Unterlippe bebte und am liebsten hätte Acrain ihn in den Arm genommen.

Er wusste, wie wichtig seine nächsten Worte sein würden, wie bedeutsam sie für Seymon waren. »Wir alle sind sein Vermächtnis. Er hat uns vorbereitet, so gut er es vermochte. Hat uns gelehrt, weise, umsichtig, aber auch entschlossen zu sein. Wenn er geht, wird nicht nur Leere in uns sein. Nach der Trauer werden wir uns daran erinnern, dass die Liebe zu unserem Land, die er so innig verspürte, in uns weiterwächst und gedeiht.«

Seymons Schultern bebten und er senkte erneut das Gesicht in seine Hände. Acrain ließ ihn weinen, erlaubte sich ebenso einen Augenblick der Trauer. Es war gut so. Ihre Gefühle waren nicht schlecht und sie zu zeigen war besonders für Seymon wichtig, der immer nur gelernt hatte, sie zu verstecken. Dabei waren seine Gefühle mächtiger, als Acrain selbst und Devilon es damals geahnt hatten.

Vorsichtig spürte Acrain den pulsierenden Wellen nach, die von Seymon ausgingen. Er brauchte ihn nicht einmal berühren, so deutlich fühlte er sie. Doch sie waren anders als vorhin, als der Schock sie durcheinandergewirbelt hatte. Beinahe hätte Acrain gedacht, dass er daraus Kraft ziehen konnte, doch das war, wie er Seymon erklärt hatte, unmöglich für ihn.

»Wie geht es jetzt weiter?«, flüsterte Seymon plötzlich und wischte sich vorsichtig über sein Gesicht.

»Wir müssen überlegen, wie wir Awohrs Fehlen ausgleichen können. Er selbst hat damals die vier Jahrwenden nur durchgehalten, weil keiner danach gewagt hat, uns anzugreifen. Doch jetzt kann ich diese Aufgaben nicht allein bewältigen.«

»Das bedeutet, jemand muss sein Amt einnehmen.«

»Ja.« Acrain versuchte, gelassen zu bleiben, doch der Gedanke, dass er selbst Majestî werden musste, machte ihm Angst. Er hatte sich in der Rolle des Regenten eingefunden und war gut darin. Doch Awohrs Platz erschien ihm zu groß, um ihn ausfüllen zu können. »Am leichtesten wäre wohl, wenn ich aufrücke«, sagte er dennoch. Was blieb auch anderes übrig? »Doch Acrar ist zu jung, jemand muss für ihn übernehmen. Ich möchte nicht, dass er jetzt schon eingeschworen wird. Es ist zu viel. Allerdings wird Jahmez dieses Amt nicht nehmen können, wir brauchen ihn bei den Wächtern. Meine Schwester hat jede Würde abgelehnt und ist für Tamy und die Sicherungsmaßnahmen unabdingbar. Und so sehr ich dir vertraue Seymon, du bist der erste Wächter des Landes. Eher kann ich den Regentenplatz besetzen, als diese Aufgabe neu zu belegen.«

Wie erhofft kehrte bei diesen Worten ein kleines Funkeln in Seymons Augen zurück. Man merkte ihm immer mehr an, wie stolz er darauf war, ein so bedeutender Teil des Landes zu sein, und das konnte den Unterschied machen, den sie brauchen würden. »Mit dem ergebensten Respekt, Hîghnes, ich muss Euch widersprechen.«

Für einen Moment war Acrain so überrascht, dass ihm die Worte fehlten. »Mir widersprechen? Worin?«

Seymons trauriges, aber festes Lächeln verwirrte Acrain nun ernstlich. »Ihr könnt nicht aufrücken. Vastar braucht einen Regenten und niemand außer Euch wird dieser Aufgabe gerecht werden können. Ihr seid da, wo Ihr jetzt seid, unverzichtbar.«

All die Zweifel, die Acrain in letzter Zeit mit sich herumgetragen hatte, schrumpften, wurden seltsam leise und dumpf. Seymon hatte keine Magie gewirkt und doch wirkten seine Worte wie ein heilsamer Zauber auf seiner Seele. Mehrfach musste er sich räuspern, um wieder sprechen zu können. »Welchen Rat hat mein Wächter dann für mich?«

»Euer Bruder muss Awohrs Nachfolge antreten.«

Acrain keuchte. »Acrar –«

»Natürlich nicht Acrar. Doch was ist mit Asnar? Awohr hat mir erzählt, dass es damals Streit gegeben und Asnar sich von den Königswürden verabschiedet hätte. Aber sein Land braucht ihn jetzt. Warum ruft Ihr nicht ihn in die Pflicht? Worin der Streit auch bestanden hat, sicherlich ist er jetzt nicht mehr von so großer Bedeutung, dass Asnar Vastar weiterhin den Rücken kehren würde, oder?«

Völlig verblüfft lehnte sich Acrain zurück. An Asnar hatte er lange nicht gedacht. Zuletzt hatten sie im Rabenwechsel gestanden, als es um Jahmez’ Vermählung mit Seymon gegangen war. Und noch ein paar Monatswenden später, als klargeworden war, dass Awohr von ihnen scheiden würde. So abwegig es früher erschienen war, der Gedanke, Asnar an seine Seite zu bitten, fühlte sich nicht schlecht an. Immerhin war er mit allen Vorgängen im Wesentlichen betraut, hatte dieselbe Ausbildung genossen und liebte sein Land genauso innig wie Awohr. Sie waren sich sogar recht ähnlich. Der Streit war eine Sache zwischen Asnar und ihrem Vater Johgal gewesen, der auf die Vermählung mit einer Dame von Stand gedrungen hatte. Als ältester hätte er immerhin auch das Regentenamt übernommen, wenn die Zeit reif gewesen wäre. Doch dazu war es nicht gekommen.

Es hatte einen riesigen Eklat gegeben, nachdem sich Asnar heimlich mit einer anderen Frau vermählt hatte, die so gar nicht der Vorstellung seines Vaters entsprochen hatte. Böse Dinge waren gesagt worden und Asnar und Johgal hatten danach nie wieder ein Wort miteinander gewechselt. Asnar war mit seiner Familie in eine Burg an der Nordküste gezogen und war nicht einmal zur Beerdigung von Johgal aufgetaucht.

Acrain bemerkte, dass Seymon ihn aufmerksam beobachtete. »Es wird nicht leicht werden, ihn zu überzeugen. Aber du hast recht, er ist versiert, alt genug und … ich kann nicht leugnen, dass mir seine Gegenwart hier im Schloss helfen würde.«

Seymon nickte. »Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was Awohr mir über ihn erzählt hat, dann wird er uns nicht im Stich lassen.«

»Ihr habt über ihn gesprochen?«

»Ja. Sie haben sich sehr nahe gestanden, oder? Awohr hat nicht viel davon erzählt, warum Asnar gegangen ist, nur, dass er es für sich tun musste, doch er hat berichtet, wie viel sie früher zusammen unternommen haben.«

»Das stimmt«, erwiderte Acrain leise und sah nachdenklich in seinen Schoß. Sein älterer Bruder und Awohr waren in Friedenszeiten immer viel umhergereist. Als Kind war Acrain sogar wütend darüber gewesen, dass sein Großvater Asnar zu bevorzugen schien.

»Ist er gegangen, als Euer Vater …«

Acrain sah wieder auf. »Schon eine Weile davor. Ich denke nicht, dass ihm damals bewusst war, was das für mich und Awohr bedeuten würde.«

Seymon wirkte auf einmal größer, als Acrain ihn je erlebt hatte. Entschlossen und unbeugsam. Wie einer der großen und legendären Könige, über die die Historiâ zu berichten wusste. »Es könnte etwas Gutes bedeuten. Er hat lange Kraft sammeln können, hat kaum Lebensmagie verbraucht. Wenn ihr die Pflichten zusammen ausübt, wird niemand zu Schaden kommen und jeder noch viele Jahrwenden lang gesund leben können. Ich denke nicht, dass Asnar zulassen würde, dass Ihr Euer ganzes Leben für Vastar opfert. Er weiß doch trotzdem, welchen Preis Euer Vater zu geben bereit war, was es Awohr abverlangt hat.« Seymons Stimme wackelte verdächtig beim letzten Satz, doch er wirkte genauso aufrecht wie zuvor. »Er lässt Euch nicht im Stich. Ich bin mir sicher.«

Und diese Sicherheit fühlte nun auch Acrain. Ja, er würde Asnar schreiben. Seit Seymon seinen Namen genannt hatte, fühlte Acrain sich seltsam beruhigt, so, als würde alles nun endlich wieder an seinen vorbestimmten Platz kommen. Die Elemente allein wussten, warum.

 

 

 

 

 

 

 

KAPITEL 3

Der Diplomat

 

»Hîghnes, sie haben sich angekündigt.«

Der Wächter der oberen Mauer reichte Acrain eine Schriftrolle, die er sogleich öffnete. Schnell überflog er die Zeilen und nickte Praelor zu. »Gut. Es wird auch Zeit. Sie haben uns lange warten lassen. Schicke ihnen die Garde entgegen, sie sollen ihnen den leichtesten Weg hierherweisen.«

»Wie Ihr wünscht, Hîghnes.« Praelor verbeugte sich und verließ die Schreibstube.

Nun war es so weit. Noch bevor er viel mehr tun konnte, würde sein Feind und gleichzeitig auch die einzige Hoffnung auf einen guten Ausgang des Krieges hier eintreffen. Noch einmal ging Acrain alles durch, was er wusste. Jede Kleinigkeit, die er mit Seymon in Erfahrung gebracht hatte, konnte am Ende einen Unterschied in den Verhandlungen machen.

Acrain ließ seine Aufmerksamkeit durch den kleinen Raum wandern, der durch die vielen Bücher und das Sammelsurium an Karten und anderen Gegenständen eine ganz eigene Wärme und Sicherheit erzeugte. Am Rande spürte er Lexians erhöhte Wachsamkeit. Acrain würde sich keine Sorgen um seinen Schutz machen müssen. Sobald jemand aus dem Trupp versuchen würde, ihm etwas anzuhaben, würde Lexian ihnen zeigen, woraus ein Leibwächter aus Vescar gemacht war.

Mit diesem letzten, grimmigen und doch zuversichtlichen Gedanken stand Acrain auf und straffte seine Schultern. Er betrachtete sich kurz in dem kleinen Spiegel, den Seymon kurz zuvor noch in die Schreibstube gebracht hatte.

Acrain sah sich im Spiegel lächeln. Was wäre wohl passiert, wenn er damals darauf bestanden hätte, Seymon zu ehelichen? Ein kleiner Teil von ihm bereute, dass er es nicht getan hatte. Natürlich liebte er ihn nicht, wie Seymon es verdient hatte und nicht annähernd so sehr wie Jahmez Seymon regelrecht verehrte, doch die Warmherzigkeit, die Güte und auch der wache Verstand, die in Seymon wohnten, ließen wohl kaum jemanden unberührt. Und wäre Acrain nur eine Spur selbstgerechter, würde er wohl auf seinen besten Freund und Weggefährten neidisch sein.

Doch da er das nicht war, nahm er sich zusammen und betrachtete sich ausführlich. Er hatte sich für eine Tunika entschieden, die zwar nur gering verziert war, doch sie war mit Dunkelglasfasern durchzogen und funkelte je nach Lichteinfall beeindruckend. Er zog sie nicht oft an, doch zu einem solchen Anlass erschien es ihm passend. Auf den ersten Blick sah sie beinahe unauffällig aus, machte eher auf den zweiten Eindruck und vermochte, eine Wirkung zu erzeugen, die dem Gegenüber nicht einmal bewusst war. Seine Krone wirkte ebenso unscheinbar, war aber ebenfalls aus Dunkelglas gefertigt und in ihrer Schlichtheit wiederum auffällig. Sie zähmte sein wirres Haar, das ihn ohne die Krone immer wie einen verrücktenKräutersammler aussehen ließ.

Er sah sich lächeln. Die Worte von Asnar kamen ihm nicht zufällig in den Sinn. Seit seiner Antwort war ihm leichter ums Herz und er brannte begierig auf dessen Ankunft. Seymon hatte recht behalten und seither fielen Acrain immer mehr Dinge ein, die Asnar und ihn verbunden hatten. Dabei hätte Acrain noch vor einer Monatswende behauptet, dass ihn und Asnar nicht viel verband. Festzustellen, dass das Gegenteil der Fall war und sie sich beide auf ein Wiedersehen freuten, hatte ihn beinahe vergessen lassen, in was für einer ernsten Situation sie sich befanden.

Nahezu beschwingt glättete Acrain eine kleine Falte seines Stehkragens und machte sich dann auf dem Weg zur großen Halle. Lexian schritt hinter ihm her, doch seine Präsenz war deutlicher, als er es zuvor erlebt hatte. Natürlich, er sorgte sich.

Viel redeten sie nicht, doch über die Jahrwenden hatte sich ein unausgesprochenes Band der Loyalität, des Vertrauens und Respekts entwickelt. In der finstersten Nacht würde Acrain noch darauf vertrauen können, dass Lexian ihn beschützen würde. Und diese Gewissheit begleitete ihn überall hin. Auch jetzt auf dem Weg zu seiner größten Prüfung. Diese zu bestehen, konnte bedeuten, großen Schaden von Vastar abzuwenden. Was auch immer er selbst geben konnte, Acrain war bereit, den größten Preis zu zahlen, wenn dieser bedeutete, sein Volk in Sicherheit zu wissen.

Noch bevor er die letzte Treppe zur Vorhalle heruntergehen konnte, trat Seymon an seine Seite. »Salvetî, Acrain. Wenn Ihr erlaubt, begleite ich Euch.«

Acrain lächelte über die freundschaftliche Begrüßung. »Das tue ich gern. Hast du eine Vorstellung, was uns gleich erwartet?«

Seymon stöhnte. »Ich bin einige hundert Varianten durchgegangen, ich denke, ich bin auf alles vorbereitet.«

Acrain lachte auf. Seymons oft so unbeschwerte Art konnte selbst in solchen Momenten für einen Augenblick ungetrübter Erheiterung sorgen. »Dann bist du besser vorbereitet als ich.« Er bezwang sein Grinsen und versuchte, etwas mehr Ernst in die Situation zu bringen. »Du weißt hoffentlich, dass ich dir die Verhandlungen mit Zaynar zugetraut hätte. Ich übernehme sie nicht, weil ich denke, dass es unabdingbar ist.«

Der Blick, den Seymon ihm schenkte, hätte jeder ohne Probleme als liebevoll erkennen können. »Acrain, selbst wenn es anders wäre, würde ich Euch vertrauen. Ihr seid der Regent des Landes, ein großer noch dazu. Ich folge Euch oder führe Euch. Ihr müsst mir nur sagen, welche dieser Aufgaben angebracht ist.«

Die Wärme, die sich in Acrains Herzen ausbreitete, war fast unnatürlich schön und beruhigend. Und da war er auch wieder, dieser kleine Funke Neid auf Jahmez. Bei nächster Gelegenheit würde er dem erzählen müssen, welch unverschämtes Glück er mit Seymon hatte.

Endlich waren sie auf der langen Treppe vor dem großen Tor angelangt. Der Lôngscâla. Seit jeher wurden hier Könige und Abgesandte anderer Länder empfangen. Auch Seymon hatten sie damals hier empfangen. Zur Vollstreckung des Todesurteils.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus fasste Acrain nach Seymons Hand. Dieser schien überrascht, erwiderte den Händedruck jedoch. »Ihr werdet sehen, Acrain, alles wird sich zum Guten wenden. Wenn selbst mir das vergönnt war, sehe ich keinen Grund, warum es Euch nicht vergönnt sein sollte.«

Acrains Herzschlag, den er jetzt erst überdeutlich wahrnahm, beruhigte sich langsam. Er sandte ein Stoßgebet zu den Elementen und hoffte, sie würden ihm gnädig sein. Er musste sich eigentlich nur oft genug bewusst machen, dass er nicht allein war. Dem Rat würde er jedes Anliegen von Zaynar unterbreiten, Seymon ebenso. Die Last lag nicht allein auf seinen Schultern, sie alle würden sie tragen und zu schultern wissen. Sie ergänzten sich, gaben aufeinander acht. Das hatten sie Unholden wie Devilon voraus. Darin bestand ihre größte Stärke. Nicht im alleinigen Machtstreben, sondern in ihrem Wunsch nach Frieden. Und wer den Fehler machte, diesen als Schwäche auszulegen, würde gegen sie nicht bestehen können.

So gewappnet, richtete sich Acrains Blick in die Ferne. Dort dachte er, eine kleine Staubwolke und Punkte in dieser erkennen zu können. Und tatsächlich, die Staubwolke bewegte sich auf Vescar zu und wurde größer, nahm langsam Konturen an. Das waren sie wohl. Die Abgesandten Vuscars.

Acrain hatte viel von Zaynar gehört, hauptsächlich vom König aus Seidor. Dieser hatte ihn als harten Diplomaten beschrieben, der über das gewöhnliche Maß hinaus begabt war. Sie waren also vorgewarnt.

Acrain richtete seinen Blick kurz auf Seymon. Andererseits waren sie in dieser Sache nicht minder gut ausgerüstet. Auch wenn Zaynar nicht vorgehabt hatte, mit Seymon zu verhandeln, Acrain würde darauf bestehen, dass dieser den Verhandlungen beiwohnte. Er hielt sich selbst nicht für geringer befähigt und hatte auch keine Angst vor einer Konfrontation, doch den Unterschied zwischen zwei intelligenten Menschen mochte womöglich ein dritter ausmachen. Und diesen hatte er eindeutig auf seiner Seite.

Grimmig lächelnd sah er wieder auf den größer werdenden Punkt, der inzwischen eindeutig als Kutsche auszumachen war, die von Reitern begleitet wurde. Seine Begleitboten hatten ihr Ziel also erreicht. Das war sehr gut. So oberflächlich eine halbwegs angenehme Reise anmuten mochte, sie konnte helfen, jemanden in einen aufgeräumten Geisteszustand zu versetzen. Und ein anderer König hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit gelehrt, dass aus holprigen Wegen Missmut entstehen konnte. Awohr hatte es damals nicht wirklich ernst genommen, immerhin hatten ihre vermeintlich schlecht ausgebauten Wege eine wichtige Bedeutung im Krieg, doch Acrain hatte sich einen gedanklichen Vermerk gemacht, dass er dieses Ärgernis bei dem Diplomatenbesuch gering halten wollte.

Inzwischen konnte er die Pferde erkennen, die einen großen und opulenten Kutschwagen zogen. Was für eine Verschwendung von Ressourcen. Acrain unterdrückte ein Schnauben. Er würde sich in Gegenwart des Diplomaten ohnehin zusammennehmen müssen. Überheblichkeit hatte schon so manche Verhandlungen zunichtegemacht. Acrain bevorzugte es daher, dem Gegenüber geringer vorzukommen, als er eigentlich war. Was kümmerte ihn auch eine falsche Annahme, wenn diese dazu verhelfen konnte, seinen Feind in Sicherheit zu wiegen? Hatte sich Devilon nicht auch auf diese Weise zu weit aus dem Fenster gelehnt?

Noch einmal spürte Acrain nach Lexians Präsenz. Er war ganz in der Nähe. Was auch immer gleich passieren mochte, hier und heute war er nicht zu besiegen. Und das gab ihm genügend Luft, um sich zu beruhigen, zu sammeln und innerlich vorzubereiten.

Der opalfarbene Kutschwagen durchfuhr endlich den großen Torbogen, schillerte dabei in den hellen Farben eines gewöhnlichen Kristalls. Stolz auf seine Vorfahren durchflutete Acrain, die den Wert von Dunkelglas erkannt und darauf gebaut hatten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nichts reichte an dieses besondere Gestein heran und Acrain erkannte den schalen Versuch, dem etwas entgegenzusetzen. Doch der oberflächliche Anschein von Überlegenheit konnte der tiefen Gewissheit, dass kein Opal aus dieser Weltenkugel einem kleinen Brocken Dunkelglas etwas voraushatte, etwas anhaben. Sollten sie glänzen und strahlen, Acrains und Vescars Macht bestanden nicht aus Schein. Und würden an einem solchen auch nie zerbrechen können.

Die Kutsche hielt, die Pferde wurden gebändigt. Es dauerte unangenehm lang, bis sich die Wagentür öffnete.

Sogar so lang, dass Acrain Seymon neben sich ungeduldig mit der Zunge schnalzen hörte. »Wenn sie jetzt nach einem kristallenen Nachttopf verlangen, um sich nach der unerträglich langen Fahrt zu erleichtern, gehe ich mich noch dreimal umziehen. Bei den Elementen, Jahson kackt schneller in seine Windel, als diese Abgesandten ihr Doublet gerichtet haben.« Seymons Stimme troff nur so vor Spott und Acrain gab sich gar nicht erst die Mühe, seine Erheiterung zu verbergen.

Hinter sich hörte er Gaherô, Bêdiv und Lamok, die ebenfalls leise lachten. Sie hatten also alle denselben Gedanken. »Hoffen wir, dass sie es nicht tun.«

»Glauben sie echt, sie können uns so beeindrucken?«

»Ich fürchte, darum geht es ihnen nicht einmal. Sie wollen uns nur zeigen, dass wir auf sie warten und nicht umgekehrt. Ein kleines Machtspielchen vor den Verhandlungen.«

Seymon schnaubte und Acrain sah aus dem Augenwinkel, wie er den Kopf schüttelte. »Manche suchen in ihrem kleinen Untergewand nach etwas, was noch nie da war.«

Dieses Mal war sich Acrain sogar sicher, auch Lexian lachen zu hören, was, wenn er sich zurückerinnerte, wohl noch nie vorgekommen war. Und dann, endlich, hatte ihr leidvolles Warten ein Ende. Der erste Mann stieg aus und klappte eine Art Leiter aus, auf der ein anderer, sehr schlanker Mann herabschritt. Selbst aus der Entfernung konnte Acrain erkennen, dass die helle Kleidung mit goldfarbenen Fasern durchwirkt worden war. Der davon ausgehende Glanz war verdächtig. Selbst die Haare schienen zu glänzen, was keinen erhabenen, sondern eher schmierigen Eindruck machte.

Nach ihm stieg ein ganz anderer Mann aus. Kräftiger gebaut, mit schlichterer Kleidung. Acrains Haare auf seinem Arm stellten sich auf. Er spürte ohne jeden Zweifel, dass dieser Mann Zaynar Kianar war. Ja, das würde auch zur Beschreibung passen, die er vorher erhalten hatte. Unaufgeregt, stark und durchsetzungsfähig. Trotz des Prunks und Pomps neben ihm wirkte er ohne Mühe fähiger als das, was er da im Schlepptau hatte.

Auch Seymon schien zu demselben Schluss gekommen zu sein, denn seine neue Anspannung konnte er spüren. »Es ist so weit«, flüsterte er dann auch und trat einen kleinen Schritt zurück, wohl, um Acrain den Vortritt zu lassen.