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Seit der Tod seines Zwillingsbruders sein Leben aus den Angeln gehoben hat, ist Jahmez, erster Wächter von Vastar, vom Gedanken an Rache getrieben. Das Ziel scheint zum Greifen nahe, als das verfeindete Königreich ihm den jungen Kämpfer Seymon ausliefert. Doch dann erschüttert die Bedrohung eines bevorstehenden Krieges von ungeheurem Ausmaß ihr Land und Jahmez sieht sich gezwungen, Seymon zu heiraten – ausgerechnet den Mann, der für all sein Leid verantwortlich ist ...
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Noa Liàn
Fantasyroman
2. Auflage, 03/2023
© Noa Liàn – Alle Rechte vorbehalten.
c/o WirFinden.Es | Naß und Hellie GbR | Kirchgasse 19, 65817 Eppstein
Text: © Noa Liàn
Coverdesign: © Noa Liàn, Logodesign: Vanessa Mertens
Bildmaterial: © Stefan Keller (pixabay.com), © deposithphotos.com: @worac, @D0r0thy @longquattro, @filkusto
Lektorat und Korrektur: Katharina Rose und Tatjana Germer
www.noa-lian.de
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden/realen oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig.
HOMINÎ ED LOCALÎ A MÎDPRANÎ
Register der wichtigsten Personen und Orte des Festlandes Mîdpranî.
Vescar (Königssitz von Vastar)
Jahmez Mammuî [dʒa’mɛs mamʊɪ̯]: Erster Wächter von Vastar und Enkel von Awohr.
Awohr Mammuî [avoːmamʊɪ̯]: König von Vastar.
Acrain Mammuî [ak’ʁaɪ̯n mamʊɪ̯]: Thronerbe von Vastar und Enkel von Awohr.
Tamyrelia Solema [tamyʁeli.aː zɔlɛmə]: Heilige Beraterin für den Rat in Vescar.
Jehm [dʒɛm]: Verstorbener Zwillingsbruder von Jahmez.
Tiburg [tiːbʊrk]: Hoheitlicher Heiler.
Balog [baːlɔk]: Leibwächter von Jahmez.
Tofro [to’fʁoː]: Ehemaliger Leibwächter von Jehm.
Blodor (Königssitz von Usgror)
Seymon Sammane [sīm’ən sa’maːnə]: Dritter General und Sohn von Devilon.
Devilon Sammael [devɪlɔn sa’ma’ɛl]: König von Usgror.
Asghar [as’ɡaː]: Zweiter General von Devilon.
Bonin [boːnin]: Erster General von Devilon.
Brocar (Königssitz von Vuscar)
Ubror Brigro [uːbʁoː bʁi’ɡʁoː]: Thronfolger des Königs von Vuscar.
Vanarar (Königssitz von Vaplar)
Aswing Xaglo [as’wɪŋ ksaːɡlo]: König von Vaplar.
Elwin Xaglo [ɛl’wɪn ksaːɡlo]: Sohn von Aswing und Königsgemahl von Seidor.
Tambor (Königssitz von Taswor)
Dreok Taprey [dʁeːɔk taːpʁaɪ̯]: König von Taswor und einer Söldnerinsel.
Der Mörder
Manche Tagwenden waren gleichsam bedeutend und bedeutungslos. Wer auf sie zurückblickte, konnte sich nicht erinnern, wie sie im Einzelnen ausgesehen hatten. Nur, dass sie wichtig gewesen waren. Einen Sinn hatten, Wandel verhießen. Sie waren wie eine Schwelle. Nicht hoch, aber hoch genug, um sie beachten und sich darauf besinnen zu müssen, dass sie etwas zu bedeuten hatten.
Dieser Tag war einfach grau. Und wenn er es doch nicht war, dann war es Jahmez nicht möglich, etwas anderes als grau zu sehen. Alles schien auf diesen Augenblick hinausgelaufen zu sein. So viele Nächte hatte er wachgelegen und diesen Moment durchdacht. Sich danach gesehnt, ihn zu erleben.
Und dann hatte sich eine Möglichkeit aufgetan. Eine, an die er nicht mehr geglaubt hatte, kurz bevor er die Hoffnung verloren hatte. Jetzt stand er hier, konnte sich nicht daran erinnern, wie genau er heute an diesen Ort gefunden hatte, wusste nur, dass es genau so richtig war. Dass es so sein musste.
Der Wind war aufgefrischt, wehte ihm seine Haare ins Gesicht. Doch das war nicht wichtig. Was er sehen wollte, hatten seine Augen bereits erfasst. Die Erkenntnis, dass er am Ziel war – oder beinahe – sickerte träge in ihn hinein. Sie brachte Wärme und Aufregung zugleich. Die kalte Wut wich dem Gefühl, wieder die Kontrolle erlangt zu haben. Nicht in allem, doch in dieser Angelegenheit ganz sicher. Nie wieder würde er zulassen, dass ihn jemand derart verletzte, sein Leben durcheinanderbrachte und ihn kalt und leer zurückließ – all das, ohne ihm vorher je begegnet zu sein.
Er blickte gen Himmel und dankte den Elementen, dass sie ihn erhört hatten. Nahm den Moment in sich auf und schwor, dass der Tag Veränderung bedeuten würde.
Der Ton einer Fanfare ließ ihn wieder nach vorn sehen. Das Gefolge sah festlich aus, der eingeschworene Begleitschutz dagegen grimmig. Dieser war es auch, der die Gruppe Menschen nicht so aussehen ließ, als stünde ein Fest aus einem fröhlichen Anlass bevor. Dass die Männer aus Usgror einen der Ihren an den Feind auslieferten, hätte man sonst auch missdeuten können. Niemals würde Jahmez verstehen, wie wenig Treue und Loyalität sich diese Menschen untereinander entgegenbrachten. Doch das war nicht sein Problem. Nicht mehr.
Endlich erlaubte er sich, seinen Blick auf den Mann in der Mitte zu richten. Ganz in schwarz gekleidet, in Fesseln, bereit für die Übergabe. Sein Blick wurde offen erwidert. Nicht zu herausfordernd, doch mit einer Intensität, die ihm einen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Da war er nun. Der Mörder. Und er sah genau so aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Blasierte Miene, kalt und arrogant. Aufrecht stand er da, aber leidenschaftslos, als wäre er unbeteiligter Zuschauer einer mäßig interessanten Darbietung. Das passte gut, denn es würde helfen, dieser Kreatur Schmerzen zufügen zu können und jeden Lebenswillen zu nehmen. Ihn auszulöschen.
Einzig das leichte Flackern in den Augen wollte dieses Bild nicht abrunden. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er angenommen, dass es gut verborgene Unsicherheit war. Doch das wollte er nicht sehen. Er wollte keine Unsicherheit im Gesicht des Mörders sehen. Wollte stattdessen, dass er ihn sorgfältig und langsam zerbrechen konnte. Seit zwei Jahrwenden brannte dieser Wunsch so stark in ihm, dass er keine Abweichung dieser Fantasie akzeptieren konnte. Er hatte seinen Hass seine Vorstellung von Folter neu definieren lassen und er war nun endlich bereit, Rache zu nehmen.
»Seymon Sammane, Emincé. Die Übergabe verlief gemäß Stipulî.«
»Danke, Maho. Dein Trupp sichert den Rückweg. Ab hier übernehme ich … unseren Gast.«
»Wie Ihr wünscht.«
Dass Maho sich würdevoll verbeugte, sah Jahmez kaum noch, sein Blick war wieder fest auf den Mann vor ihm gerichtet. Er stellte sich bereits vor, wie diese attraktiven Gesichtszüge unter seiner Behandlung hinwegschmelzen würden. Doch noch lächelte dieser Teufel.
»Ihr seht aus, als würdet Ihr Euch meine Zukunft in den buntesten Farben ausmalen, mî Suzeriâ.«
Da war kein Spott, den Seymon in seine Anrede gelegt hatte. Er erkannte ihn sogar als seinen neuen Herren an, als ihm übergeordnet.
Mî Suzeriâ.
Die fremdartige Betonung erinnerte Jahmez daran, dass Seymon die Titulierung extra gelernt haben musste. Seine Männer redeten ihn mit Emincé an, von ihnen konnte er es nicht gehört haben. Eine sonderbare Wortwahl, so viel stand fest. Für einen kaltblütigen Mörder umso mehr.
Jahmez konnte nicht anders und musste jetzt ebenfalls lächeln. »Das tue ich. Doch so bunt ist deine Zukunft dabei nicht, ich sehe vielmehr verschiedene Rottöne.«
Das Lächeln veränderte sich nicht, die Haltung nicht, doch die winzige Bewegung des Kehlkopfes verriet ihn. Jahmez’ Augen waren zu gut geschult. »Ich verstehe. Nun, mî Suzeriâ, ich möchte Euch nicht aufhalten. Ich bin für die Weiterreise bereit, wenn Ihr es seid.«
Wieder kein Spott. Und das musste er ihm anrechnen. Er meinte, was er sagte. Doch die Nervosität war jetzt offensichtlich. Beim näheren Hinsehen waren es auch die Anzeichen von einer tieferen Müdigkeit. »Seymon … « Er ließ den Namen ausklingen und wartete, bis er sich sicher war, die volle Aufmerksamkeit von ihm zu genießen. »Du hast mir das Wichtigste in meinem Leben genommen. Ich erwarte, dass du den Anstand besitzt, mir meine Rache zu lassen.«
Sie sahen sich schweigend an. Abschätzend. »Eure Sorge ist unbegründet. Ich werde meinem Namen keine Schande bereiten.«
Jahmez nickte und winkte einen der Träger herbei. »Gebt ihm jede Stunde zu trinken. Seine Fesseln bleiben, wie sie sind.«
»Sehr wohl, Emincé.«
»Geht voran, ich werde die Nachhut bilden.« Jahmez erlaubte sich einen letzten, genauen Blick auf seinen persönlichen Gefangenen und wandte sich dann ab. Er würde Zeit genug haben, ihn in allen Einzelheiten zu studieren. Für den Moment war die Sicherung dieser überaus kostbaren Beute wichtiger.
Nutrâl Greûn
Seymon strauchelte wieder. Der Wächter, den Jahmez nach einer ganzen Wegstrecke neben ihn geschickt hatte, hielt ihn weiter am Oberarm fest, verhinderte ein Hinfallen, bewegte ihn unnachgiebig weiter.
Wie lange Seymon vorher am Stück gelaufen war? Die Stipulî, die magisch vereinbarten Rechte und Pflichten, an die sie alle gebunden waren, hatten vorgesehen, dass er elf Tagwenden barfuß laufen sollte. Nur kurze Rastpausen waren Seymon dafür zugestanden worden. Die Fußsohlen waren mit Sicherheit lange blutig. Schmerzen hatte Jahmez in dem Gesicht nicht ablesen können, diese Fehltritte sprachen jedoch für sich.
Ein paar Meilen wollte Jahmez eigentlich noch hinter sich bringen. Die drei Tagwenden, die sie außerhalb der Landesgrenze und im Nutrâl Greûn verbringen mussten, würden heikel genug werden. Verzögerungen konnten sie sich nicht leisten.
Er sah sich um. Die Bäume um sie herum standen jetzt dichter, links von ihnen bot das Grüne Gebirge Schutz. Er erinnerte sich, dass das Gelände voraus wieder offener wurde. Es konnte sich am Ende als hilfreich erweisen, an dieser Stelle zu nächtigen. Die Mulden im Gebirge boten einen nicht zu vernachlässigenden Schutz und der Wald wurde an dieser Stelle noch von Aswing Xaglos Leuten bewacht. Und dessen Reich stand Vastar immerhin nicht feindschaftlich gegenüber.
Es beunruhigte ihn dazu nicht wenig, dass sie einigen Wanderern begegnet waren. Oder Personen, die wie solche erscheinen wollten. So neutral, wie der Name der Gegend vermuten ließ, war sie nicht – und das war allgemein bekannt. Wer nicht dringende Geschäfte zu erledigen hatte, hielt sich hier nicht auf. Darüber hinaus blies ein unangenehmer Wind. Jahmez vermutete, dass der Wechsel zwischen der dritten und vierten Jahreszeit dieses Mal turbulenter sein würde. Er sah also keinen Grund, der diese Menschen erklären konnte. Keinen guten jedenfalls.
Schutz vor Wetter und Leuten zu suchen, konnte alles in allem notwendig sein. Wenigstens konnte er die Enge besser von seinen Leuten bewachen lassen.
Seymon stolperte erneut.
»Wir machen eine Pause«, rief Jahmez zu den Männern vor ihm. Am Ende war er einfach selbst zu egoistisch. Er wollte nicht, dass dieser Weg Seymons Kräfte raubte. Jahmez wollte, dass er derjenige war, der das verursachte – und es sollte um keinen Preis vorschnell enden.
Nach und nach kamen alle zum Stehen und die Träger begannen, ein provisorisches Lager aufzubauen. Seine Hauptsorge betraf aber seinen Gast.
»Ich übernehme, geh dich stärken.«
»Danke, Emincé«, sagte Balog und überließ ihm das Seil, welches er als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme an Seymon befestigt hatte.
»Gibt es einen Grund für die frühe Rast, mî Suzeriâ?« Ein kurzes Luftholen, das von leichter Atemlosigkeit zeugen konnte. »Ich nahm an, wir würden bis zur Mondwende weitergehen. So hat man es mir gesagt.«
Jahmez schwieg und überlegte, ob er antworten sollte. Er hatte nicht vorgehabt, sich viel mit Seymon zu unterhalten. Er war verpflichtet, sich zusammenzureißen, bis sie wieder in Vescar waren. Aber wenn ihn dieser Mann in Gespräche verwickelte, konnte er für nichts garantieren.
Er schluckte.
Seymon sah ihn indes nicht direkt an, sein Kopf war leicht gesenkt, der Blick auf den Boden eine Wenigkeit rechts von ihm gerichtet. Fast teilnahmslos. Es bestand trotzdem kein Zweifel daran, dass er auf eine Antwort wartete. Er forderte sie jedoch nicht ein.
»Barmherzigkeit ist es nicht, falls du das vermutet haben solltest. Oder gehofft. Und meine Entscheidungen stehen nicht zur Diskussion.«
Seymon blickte auf, wirkte überrascht. »Das nahm ich nicht an, nein. Verzeiht die Nachfrage, mî Suzeriâ.«
Jahmez ignorierte ihn und zog ihn stattdessen zu einem Felsstück, in welches zuvor Sicherungshaken eingeschlagen worden waren. »Setz dich hin.« Seymon tat, was er ihm befahl und ließ sich in einer nicht ganz flüssigen Bewegung auf die Erde sinken. »Ich warne dich ein einziges Mal, versuchst du zu fliehen, wird das nur zur Folge haben, dass dein Leiden am Ende verlängert wird. Verstanden?«
»Ich habe nicht vor, zu fliehen, mî Suzeriâ.«
»Ich habe gefragt, ob du mich verstanden hast.«
Seymon sah wieder auf und dieses Mal direkt in Jahmez’ Augen. Verwirrung spiegelte sich in dessen Miene wider. Vielleicht auch etwas anderes. »Ich habe Euch verstanden.« Er zögerte kurz. »Ich sicherte Euch zu, dass ich meinem Namen keine Schande bereiten werde. Flucht wäre ein Akt der Feigheit. Ich bin ein Mörder, ein Feind. Aber kein Feigling.«
Nein, das war er wohl nicht, das musste auch Jahmez zugeben. Auch, dass er sich in einer vergleichbaren Situation wahrscheinlich nicht selbst ausgeliefert hätte.
Das Türkis in Seymons Augenfarbe schien sich zu intensivieren. Der Ausdruck in ihnen war jetzt unlesbar. War es das, was sein Bruder zuletzt gesehen hatte? Kalte Augen, die den Tod versprachen?
Er brach den Blickkontakt, setzte einen letzten Knoten auf die anderen und drehte sich um. »Balog?« Er entdeckte ihn beim Verpflegungsbiwak und ging zu ihm.
»Emincé. Ich bin sofort bereit.«
»Nur die Ruhe.« Er sah zu Seymon. Dieser hatte sich an den Felsen gelehnt und die Augen geschlossen, seine Beine im Schneidersitz gekreuzt. »Wenn du aufgegessen hast, bewachst du ihn weiter. Er soll ebenfalls etwas essen. Nach der ersten Mondwende wechselst du dich mit Tofro ab und legst dich bis zum Aufbruch hin. Ich brauche dich bei vollen Kräften, wenn wir die Weite passieren.«
»Wie Ihr wünscht.«
Obwohl er keine Eile gefordert hatte, kaute Balog hastig sein Fleischstück und machte sich bereits währenddessen auf den Weg zurück zu Seymon.
Jahmez war froh, dass er für die Rückführung seine besten Männer zur Verfügung hatte. Überhaupt konnte er sich glücklich schätzen, dass die Dinge sich so ergeben hatten.
Er lief zu seinem Biwak, direkt an einer felsigen Gebirgswand, und ging hinein. Die Träger hatten ihm bereits Wasser und getrocknete Früchte bereitgelegt. Erschöpft setzte er sich auf die Felle, die ihm den Boden etwas bequemer machen sollten, trank und aß eine Wenigkeit.
Obwohl er die letzten zwei Tagwenden kein Auge zugetan hatte und nur wenig essen konnte, fühlte er sich seltsam aufgeputscht und noch appetitloser als zuvor. Er hatte gedacht, dass er ruhiger werden würde, wenn er Seymon endlich in seiner Gewalt hatte. Stattdessen zerrte es an seinen Nerven, den Mann in seiner Nähe zu wissen. Und auch, dass es ihn nicht kalt ließ, dass der Mörder nicht halb so abgebrüht wirkte, wie er es sich erhofft hatte.
Du bist nicht für Hass geschaffen worden.
Tamys Worte fielen ihm wieder ein. Obwohl er sonst immer einer Meinung mit ihr war, ihren Rat wie keinen anderen schätzte, hatte dieser Satz ihn wütend gemacht. Es war ihm unbegreiflich, wie ruhig sie auch in dieser Situation geblieben war. Dabei wusste sie genau, was er durchgemacht hatte, was seine Familie durchgemacht hatte! Und Jehm …
Er legte seinen Kopf in seine Hände. Versuchte sich selbst zu halten, sich damit zu beruhigen, dass schon bald alles wieder einen Sinn hätte. Er würde sein Leben füllen können. Mit der Gewissheit, dass er alles getan hatte, um Gerechtigkeit herbeizuführen.
Seine Augen fielen ihm jetzt doch zu und er ließ sich gänzlich auf die Felle sinken. Bevor er ganz einschlief, sah er wieder in Seymons Gesicht. Und in das bodenlose Türkis.
»Emincé?«
Jahmez schrak aus einem unruhigen Schlaf hoch. Er sah auf und erblickte Balog. »Was gibt es?«
»Die erste Mondwende ist vorbei. Ich habe versucht, dem Gefangenen Essen zu geben, aber er schläft sehr tief. Was verfügt Ihr?«
Jahmez dachte nach. Sie mussten in der nächsten Tagwende einen weiten Weg zurücklegen, eine weitere frühe Rast war nicht möglich. Wenn Seymon allerdings so tief schlief, konnte es einfach sein dringenderes Bedürfnis sein. »Leg dich hin, wir sind nicht seine Ammen. Wenn er hungrig ist, wird er schon wach werden. Weiß Tofro Bescheid?«
»Ja, Emincé.«
»Gut, dann ruh dich jetzt aus.«
»Wie Ihr wünscht.« Er verbeugte sich und ging hinaus.
Wie erschlagen ließ sich Jahmez zurücksinken. Sollte er nachsehen gehen? Eine innere Unruhe hatte ihn erfasst. Vor dem Wachwerden hatte er von einem Kampf geträumt. Gesichtslose Menschen waren auf ihn zugestürmt und hatten ihn niederringen wollen. Hatte das etwas zu bedeuten? Mit der ersten Mondwende war wie üblich das Tageslicht erloschen und die tiefer werdende Dunkelheit, die erst mit dem Ende der dritten Mondwende weichen würde, legte sich nun wohl auch auf seine Gedanken. Ließ alles um ihn herum düster und gefahrvoll erscheinen.
Andererseits war auf seine Männer verlass, die Abläufe eingespielt, kein unnötiges Wort musste gewechselt werden – jeder wusste, was von ihm erwartet wurde. Sollten sie in unmittelbarer Gefahr sein, wäre er von seinem Leibwächter anders geweckt worden. Und er war ihnen keine Hilfe, wenn er seine Zeit anders als mit Ruhen verbrachte. Der nächste Morgen konnte ganz andere Probleme mit sich bringen. Er drehte sich auf die Seite, um erneut in den Schlaf zu finden.
Es gelang ihm lange nicht. Die Geräusche der schwindenden Tagwende vermischten sich mit seinem Traum, mit türkisen Augen und dem Gefühl nahender Gefahren. Und mit dieser Vorahnung schlief Jahmez schließlich ein.
Seine Füße brannten wie Feuer. Seymon konnte keinen Schritt ohne mühsam unterdrücktes Keuchen gehen. Wenigstens hatte er sich nach der Übergabe etwas ausruhen können. Weit effektiver, als es ihm von seinem eigenen Vater gestattet worden war. Heute, nach der dritten Tagwende, gelangte er jedoch an seine Grenzen. Aber er wusste, dass es seine Aufgabe war, diese nicht nach außen zu zeigen. Den Furchtlosen und Unzerstörbaren zu spielen, bis es ihm schließlich erlaubt war, zu sterben. Mehr noch als die Angst vor der Folter quälte ihn der Umstand, dass er sich nicht sicher sein konnte, wirklich standhaft zu bleiben. Dabei war er es ihm schuldig …
Er war langsamer geworden. Konnte es selbst nicht mehr verhindern. Er war vorher zu lange ohne Rast gelaufen und seine Verletzungen taten ihr Übriges.
»Ich übernehme, Balog.«
»Emincé.«
Überrascht sah Seymon, dass Jahmez sich neben ihn gesellt hatte. Er hatte seit der ersten Tagwende nicht mehr mit ihm gesprochen und er hatte auch nicht mehr damit gerechnet, dass Jahmez sich freiwillig in seine Nähe begeben würde.
»Mî Suzeriâ.«
»Dir wird aufgefallen sein, dass wir das Gebirge und den Wald weit hinter uns gelassen haben.«
»Das ist es.«
»Der grüne Streifen vor uns ist der Grenzwald von Vastar. Haben wir diesen erreicht, werden wir rasten.« Jahmez sah ihn jetzt hintergründig an. »Und für einen kurzen Moment wird es danach noch bequemer für dich. Wir werden erwartet und abgeholt. Bis Vescar wirst du nicht laufen müssen.«
Seymon war sich unschlüssig, was er darauf antworten sollte. Natürlich war nichts auf seine Bequemlichkeit ausgerichtet. Dass ihm der Rest des Weges erspart blieb, hatte nur zur Folge, dass früher als später das Urteil an ihm vollstreckt werden konnte.
»Verrate mir, Seymon, bist du noch genauso sicher wie zuvor? Oder hast du schon bereut, dich mir ausgeliefert zu haben.«
»Bereut? Nein, das habe ich nicht.« Die Alternative dazu wäre auch viel zu schlimm gewesen.
»Gut.«
Sie schwiegen. Zweimal konnte Seymon ein Straucheln nicht verhindern. Doch wie schon zuvor hielten ihn ein Seil und ein fester Griff an seinem Oberarm aufrecht. Dazu war er sich sicher, dass Jahmez allmählich das Tempo erhöht hatte. Er konnte es sicherlich kaum noch abwarten, ihn endgültig in seine Finger zu bekommen.
»Beherrschst du Magie?«
Die Frage traf ihn unerwartet. Normalerweise wurde sie auch nicht derart gestellt. Man teilte diese Information freiwillig oder gar nicht. Doch in seinem Fall zählten diese Regeln wohl nicht mehr. »Nun … nicht besonders gut. Aber ja, ein wenig Magie kann ich wirken.« Zumindest noch.
»In welchem Element?«
Seymon zögerte erneut. Warum war das überhaupt wichtig? »Feuer, mî Suzeriâ.«
Jahmez sah ihn von der Seite an. »Höflichkeiten sind nicht notwendig, wenn du sie nicht so meinst. Sie bringen dir keinen Vorteil ein.«
»Darum geht es mir nicht.«
»Worum dann?«
»Weil die Dinge nun einmal so liegen. Ihr seid mir in jeder Hinsicht übergeordnet, bestimmt über mein Leben und meinen Tod … Ich finde die Anrede der Situation angemessen.«
Jahmez schwieg wieder und antwortete nicht. Dem grünen Streifen am Horizont kamen sie indes immer näher. Seymon hatte als kleines Kind viel über den Grenzwald zu Vastar gehört. Vor allem viele Gruselgeschichten, die den Feind besonders skrupellos erscheinen ließen. Jetzt würde er feststellen, wie viel an diesen Geschichten wahr war. Vermutlich wenig, wenn überhaupt irgendetwas davon. Er glaubte inzwischen fast nichts mehr von dem, was er einst gelernt hatte. Nicht, nachdem er so offensichtlich falschgelegen hatte.
»Wenn du Feuermagie wirken kannst, warum bist du darin nicht besser ausgebildet? Sie ist eine starke Waffe.«
Seymon sah hoch und lächelte verlegen. »Mein Talent dafür ist nicht groß genug.« Jahmez schnaufte und es war allzu offensichtlich, dass er ihm nicht glaubte. »Abgesehen davon hat meine Familie viele hervorragende Kämpfer hervorgebracht. Es hat Tradition, dass wir den Weg des Waffenkriegers einschlagen.«
»Das ist nicht besonders klug.«
An dieser Stelle hätte Seymon seine Familie verteidigen müssen, allerdings … »Ihr habt wohl recht. Aber manchmal lassen sich Klugheit und Pflichtgefühl nicht gut miteinander vereinbaren.«
»Was hättest du gemacht, wenn du die freie Wahl gehabt hättest?«
Seymon lachte laut auf. »Nichts, was mit Ehre und Ruhm zu tun gehabt hätte.« Er dachte nach. »Und nichts, was Ihr mir glauben könntet.«
»Also?«
Er schwieg. Konnte er das wirklich erzählen? Andererseits war sein Vater nicht hier und er selbst so gut wie tot. »An meinem fünften Jahrestag habe ich einen Kuchen mit einer Kerze darauf bekommen. Ich sollte sie auspusten und mir etwas wünschen.« Sein Magen verkrampfte sich leicht. Die Erinnerung daran, was sich sein jüngeres Selbst vom Leben erhofft und erträumt hatte, war mit vielen Emotionen behaftet. Es war vielleicht ungebührlich gewesen, aber auch nach all den Jahrwenden konnte er nicht umhin, festzustellen, dass es ein unschuldiger Wunsch gewesen war. »Ich habe mir gewünscht, Mutter zu sein, wenn ich groß bin.« Er lächelte wehmütig. »Und es hat mir eine riesige Tracht Prügel eingebracht.«
Jahmez sagte nichts, aber seine Stirn lag in Falten. Dann sah er Seymon direkt an und suchte nach etwas in seinem Gesicht. »Schade.«
»Was findet Ihr schade?«
»Wenn dich dein Vater gelassen und dir diesen Wunsch erfüllt hätte, wären wir uns nie begegnet. Und mein Bruder dir ebenfalls nicht.«
Seymon schluckte. An dieser Tatsache gab es nichts zu rütteln. Er holte Luft, um etwas zu sagen, kam aber nicht zu einer Antwort.
»Das will ich nicht hören«, unterbrach ihn Jahmez aufgebracht und funkelte ihn böse an. »Egal, was du zum Mord meines Bruders sagen willst, ich will es nicht hören. Schon gar kein verlogenes Bekenntnis einer Reue, die nicht da ist. Dein Geständnis hat alles gesagt, was gesagt werden musste.«
Natürlich, sein Geständnis. Von dem er nicht einmal genau wusste, was darin gestanden hatte. Sein Vater hatte es vor zwei Jahrwenden aufgesetzt, um eine direkte Konfrontation mit dem Feind zu vermeiden. Dass Seymon in Abwesenheit verurteilt worden war, war nur eine unbedeutende Randnotiz gewesen. Bis zu dem Moment, als er nicht mehr tragbar für seinen Vater geworden war.
Der Wind hatte aufgefrischt und ihn fröstelte. Trotzdem wirkte die Gegend um sie herum jetzt lebendiger. Grüner und allgemein offener. Seymon nahm einige tiefe Atemzüge, um sich zu beruhigen und diesen kostbaren Moment des Lebens in sich aufzunehmen. Wer wusste schon, wie viele Möglichkeiten er dazu noch hatte.
Der letzte Rest des Weges war eine Qual für ihn. Seine Füße wollten nicht weiter, er musste sich zwingen. Er hatte erwartet, dass Jahmez ihn wieder dazu ermahnen würde, keine Schwäche zu zeigen, aber als die Bäume voraus detaillierter zu erkennen waren, verlangsamte er sein Tempo sogar und hielt ihn ununterbrochen fest. Um ihn zu stützen. Vielleicht verstand er, dass körperliche Grenzen nicht einfach umgangen werden konnten. Oder zumindest, dass das nicht in seiner Macht stand. Was Seymon nur dazu brachte, wieder festzustellen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Was dieser Mann ihm antun würde, hatte er ohne Zweifel verdient, aber auch an der Art, wie er ihm jetzt trotzdem half und nicht wie ein verendendes Tier behandelte, konnte er festmachen, dass Demütigung nichts war, was er befürchten musste. Und das war, in Anbetracht der Situation, in der er sich befand, mehr, als er verlangen konnte.
Sie hatten es fast geschafft und Seymon erlaubte sich einen erleichterten Seufzer, der ihm wieder Jahmez’ Aufmerksamkeit einbrachte. »Laut den Stipulî müsstest du vorher elf Tagwenden zu Fuß gegangen sein. Stimmt das?«
»Ja, mî Suzeriâ«, antwortete er und ärgerte sich gleich darüber, dass die Atemlosigkeit seiner Stimme deutlich anzuhören war.
»Ich bin mit deiner Ausdauer zufrieden. Ich kann also hoffen, dass du denselben Willen zeigst, wenn wir in der Stadt sind.«
»Natürlich. Ich versprach es Euch bereits mehrfach.«
Jahmez machte eine abfällige Handbewegung. »Die Dinge, die wir sagen, und die, die wir am Ende tun, sind nicht immer dieselben. Ich vertraue darum dem Handeln der Menschen, nicht ihren Worten.«
Unter anderen Umständen hätte sich Seymon nicht schlechtfühlen müssen, Jahmez zu mögen. Heute blieb ihm nur die stille Bewunderung für einen Mann, der so viel anders war als sein eigener Vater, obwohl der und Jahmez in seinem Fall die gleichen Interessen hatten. »Dann werde ich dazu schweigen und Euch zeigen, was mir möglich ist.«
Jahmez studierte wieder für einen Moment sein Gesicht, um danach seinen Blick erneut geradeaus zu richten und zufrieden zu nicken.
Seymon sah auch wieder nach vorn, denn seine Füße bemerkten, dass der Boden unebener wurde. Die Wurzeln der Bäume über- und unterhalb der Erde, erforderten seine ganze Konzentration. Mit letzter Kraft schaffte er es, in den Schatten der Bäume zu treten.
Er wusste sogleich, dass sie eine Barriere durchschritten hatten. Sein Körper prickelte warm. Ein untrügliches Zeichen von Magie. Schützender Magie. Und es war auch nicht so schwer, den Verursacher auszumachen.
Vor ihnen stand eine schlanke Frau in einem silbernen Kleid. Sie sah jung aus, aber Seymon hätte nicht beschwören können, dass sie es auch war. Alles an ihr schien magisch zu sein. Und in dem Moment, in dem er zu dieser Erkenntnis gelangt war, wusste er auch, wen er vor sich hatte. »Aureâ.« Er verbeugte sich tief. »Mî côrmeo plo tû.« Auch wenn es eine reine Höflichkeitsformel war, so empfand er in diesem Moment genau das. Er wäre sofort bereit, sie mit seinem Leben zu verteidigen oder seines ganz ohne Gefahr aufzugeben, wenn sie es nur verlangte.
»Vielen Dank, Seymon Sammane, und willkommen in Vastar. Es ist lange her, dass mich ein Fremder mit solch einer Hingabe begrüßt hat.« Sie lächelte ihn an. Ein Stück vom Zauber brach und sie wirkte auf einmal sehr viel menschlicher.
Sie schritt auf sie zu, wandte sich aber jetzt an Jahmez. »Ich freue mich, dich wohlbehalten wiederzusehen. Deine Nachricht hat mich beunruhigt.« Sie umarmte ihn und ihr sorgenumwölkter Blick nahm den Rest von der überirdischen Aura, die sie umgeben hatte.
»Danke, Tamy. Vielleicht sehe ich Gespenster, aber ich bin sehr erleichtert, endlich in deinem Schutzbereich zu sein. Ist Grandpâ unterrichtet?«
»Natürlich. Er macht sich ebenfalls Sorgen. Wenn wir zurück sind, wird er mit dir sprechen wollen.« Sie trat einen Schritt zurück und sah Seymon wieder an. »Wir werden noch ein Stück tiefer in den Wald gehen und dann rasten. Sollen sich die Träger deiner annehmen?«
»Ich laufe selbstverständlich, Aureâ.« Er verbeugte sich erneut. Auf keinen Fall würde er sich die Blöße geben und sich wie ein kleines Kind tragen lassen. Dass das Angebot offensichtlich ernst, gar freundlich gemeint war, bestärkte seinen Entschluss darin.
»Gut, dann lasst uns gehen.«
Urteil in Vescar
Der Weg durch den Grenzwald verlief nicht ganz so, wie Jahmez es sich vorgestellt hatte. Tamy erklärte einem aufmerksam zuhörenden Seymon, welche Bäume hier wuchsen und warum die Pflanzenwelt so dicht und üppig vorhanden war. Natürlich war es gleich, ob er das wusste oder nicht, aber allein die Tatsache, dass Tamy so freundlich und aufmerksam mit ihm umging, machte Jahmez unglaublich wütend. Und es verwirrte ihn.
Tamy war keine Person, die sich leicht beeindrucken oder gar umschmeicheln ließ. Doch als Seymon fast vor ihr auf die Knie gesunken war, hatte das irgendeinen Eindruck auf sie gemacht. So hatte es jedenfalls ausgesehen. Warum sonst sollte sie ihn mit offenen Armen im Land willkommen heißen?
Er ging weiter hinter ihnen und beobachtete, wie Seymon sich eifrig bemühte, Schritt zu halten und sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen. Jahmez hätte sich darüber am liebsten übergeben. Noch lieber wäre ihm inzwischen, er würde sich verabschieden und den Rest des Weges getrennt von ihnen zurücklegen können.
»In den letzten hundert Jahrwenden hat man deshalb den Wuchs der kleineren Pflanzen gefördert«, erklärte Tamy gerade, als sie auf den Weg stießen, der sie auf den Hauptpfad nach Vescar führen würde.
Jahmez wollte seinen Augen nicht trauen, als er sah, wie sie abgeholt werden sollten, und hielt mitten in seinem Schritt inne. Tatsächlich hatte man die schwarzen Abacos vor den Kutschwagen des Majestî gespannt, um sie in Empfang zu nehmen. Nicht einmal einem Herrscher aus einem anderen Land hätte man diese Ehre zuteilwerden lassen.
Tamy hatte gerade die Tür geöffnet, um Seymon hineinzulassen, als sie sich zu Jahmez umdrehte und ihm direkt in die Augen sah. Ihr Blick war wissend und bestimmt. Jetzt mit ihr zu diskutieren, würde ihn nicht voranbringen. Ihr Lächeln versicherte ihm immerhin, dass sie dieses Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt führen konnten. Seine Aufgabe bestand in diesem Moment darin, Haltung zu bewahren. Was auch immer der Grund für diesen Aufzug und ihr offenes Auftreten gegenüber Seymon war, er würde ihr vertrauen müssen. Sie hatte sich damals zwar gegen die Möglichkeit der Torturâ ausgesprochen, ihm aber seinen Willen gelassen, als er sie auch ein drittes Mal gefordert hatte. Sie hatte ihm sogar zugesichert, ihn in seinen Wünschen, diese Sache betreffend, zu unterstützen. Er atmete einmal verstohlen tief durch, bevor er zu ihr aufschloss und selbst in den Wagen stieg.
Seymon war bereits von zwei Wächtern in Empfang genommen worden, die gerade damit beschäftigt waren, ihn zwischen sich zu sichern. Auch Balog stieg ein und half stumm, den Gefangenen zu fixieren, bevor er sich ihm direkt gegenübersetzte. Jahmez setzte sich neben ihn an das Fenster. Um das hier zu überstehen, würde er frische Luft brauchen.
»Ich denke, wir sind dann vollzählig«, sagte Tamy und verriegelte von innen die Tür. Sie wirkte überrascht, als sie die vielen Seile sah, die Seymon an seinem Platz hielten. »Ich hoffe doch, dass du uns nicht mit einem Fluchtversuch aufhalten möchtest.«
»Ganz bestimmt nicht, Aureâ«, erwiderte Seymon, der auch so aussah, als würde er diese Vorstellung tatsächlich rundheraus ablehnen.
Jahmez konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen, das ihm die Blicke aller im Wagen einbrachte. Er sagte nichts, verschränkte nur die Arme und wartete darauf, dass sie sich wieder von ihm abwandten. Seymon ließ den Kopf sehr schnell sinken und wirkte auf eine seltsame Art betroffen.
»Nun, ich möchte sagen, dass unser Gast auch nicht so schnell laufen könnte, wie es notwendig wäre, um unserem besten Wächter zu entkommen«, sagte Tamy schmunzelnd und zwinkerte Jahmez zu, bevor sie aus dem anderen Fenster sah und das Zeichen für den Aufbruch gab.
Gewollt oder nicht, sein Blick fiel auf Seymons Füße. Er hatte seine Beine ausgestreckt, sodass nur noch seine Fersen den Boden berührten. Die Füße waren stark geschwollen und die Sohlen blutig. Mehrere tiefe Schnittwunden waren auszumachen. Allerdings sahen diese älter aus. Sie schienen tief entzündet zu sein und Jahmez konnte nicht umhin, sich zu fragen, auf welche Weise sie entstanden sein mochten. Die am rechten Fuß verliefen nahezu parallel und unnatürlich gerade. Die Wunden waren nicht ausgefranst, obwohl das eigentlich der Fall hätte sein müssen. Hatte man sie ihm vor dem Opferweg zugefügt? In den Stipulî war es weder verlangt worden, noch vorgesehen. Sicherlich, das Barfußlaufen über viele Tagwenden und das raue Gelände hinweg sollte Strafe sein und Schmerzen zufügen, es sollte aber auch die Möglichkeit der inneren Einkehr bieten, Buße ermöglichen. Eine, die im Einklang mit den Elementen, insbesondere der Erde stand, keine von Menschenhand erzwungene.
Jahmez ärgerte sich, dass er sich darüber Gedanken machte und den Blick nicht von diesen Verletzungen lösen konnte. Es hätte ihm egal sein sollen, dass jemand offenkundig nachgeholfen hatte, aber das war es nicht. Und er wusste sicher, dass es auch seinem Bruder nicht egal gewesen wäre.
Er sah hoch und stellte verwundert fest, dass Seymon ihn beobachtete. Ertappt senkte dieser wieder den Blick, ohne jedoch den fragenden Ausdruck auf seinem Gesicht zu verlieren. War er erstaunt, dass Jahmez nicht darüber hinwegsehen konnte? Doch im Gegensatz zu ihm selbst, machte sich Seymon nicht die Mühe, über seine Opfer auch nur ein zweites Mal nachzudenken, das hatte er eindrucksvoll bewiesen. Es war nicht richtig, aber fast wollte Jahmez ihn um diese Fähigkeit beneiden. Sie musste ein Segen für die Seele sein.
Ich wischte das Tantō an seiner Robe ab und ging.
Jahmez schloss die Augen und versuchte, angestrengt ruhig und gleichmäßig zu atmen. Der Schmerz über den Verlust rollte über ihn hinweg und ließ ihn beinahe seine mühsam aufrechterhaltene Beherrschung vergessen. Er vergewisserte sich selbst, dass es nicht mehr lange dauern würde. Noch ein paar Tagwenden, dann brauchte er sich nicht mehr zurückhalten. Seymon würde noch einmal in den Genuss eines geheilten Körpers kommen, einen letzten Tag in Frieden verbringen und dann gehörte er ihm. Und mit ihm auch die Schmerzen, die er ihn durchleiden lassen würde. Er würde ihm alles abringen, damit er am Ende wahrlich zurückgezahlt hatte, was er an Schmerzen zugefügt hatte.
Er öffnete die Augen und sah aus dem Fenster. Sah die Landschaft von Vastar vorüberziehen, die noch grünen Felder, hier und da ein Wasserreh. Bald war er zuhause und er wusste auch schon, wo er einkehren würde, wenn er erst angekommen war. An diesem Ort fand er bei all dem Schmerz immer auch Trost. Und die Elemente wussten, dass er diesen mehr denn je brauchte.
Sie hatten zum Aufstieg des ersten Mondes Pause gemacht. Während Seymon mit Balog im Wagen zurückbleiben musste, hörte er, wie Jahmez mit den Pferden sprach und half, sie zu versorgen. Sie mussten weit gekommen sein, wenn sie morgen bereits am Ziel sein sollten. Seymon konnte das kaum glauben. Die Pferde in seinem Land hätten so viele Wegstunden am Stück nicht hinter sich gebracht. Oder nicht, ohne danach zusammenzubrechen. Auch hatte er bemerkt, dass sie schneller als üblich gelaufen waren. Diese Art musste demnach sehr kräftig und ausdauernd sein. Er lauschte weiter angestrengt und hörte, dass die Tiere sachte schnauften und Jahmez sich weiter entspannt mit ihnen unterhielt. Zumindest klang es danach.
Seymon fühlte sich dagegen zunehmend unwohler. Die vielen Tagwenden in permanenter Fesselung, die jetzt immerhin öfter gewechselt wurde, und die langen Märsche forderten ihren Tribut. Er war am Rand totaler Erschöpfung, sein Körper schmerzte und die Stimmung in diesem Wagen war den ganzen Tag zum Zerreißen gespannt gewesen. Keiner hatte ein weiteres Wort geredet. Auch die Heilige Beraterin hatte ihn nicht mehr angesprochen. Sie hatte nur noch vielsagende Blicke mit Jahmez ausgetauscht. Dieser hatte ihm ebenfalls keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Dabei war sich Seymon einen verwirrten Moment lang sicher gewesen, dass er die Verletzungen an seinen Füßen nicht gutgeheißen hatte. Sie waren nicht Teil der Stipulî gewesen, doch sollte er nicht größtmögliche Schmerzen auf dem Weg haben? Jahmez musste es doch beruhigen, dass ihn niemand geschont hatte.
Er versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Da er nicht am Fenster saß und die Dunkelheit fast vollständig war, konnte er nicht allzu viel von ihrem Lagerplatz ausmachen. So blieb ihm doch nur wieder der Ausweg in seine eigene Gedankenwelt. Er versuchte, sich noch einmal den Duft des Grenzwaldes in Erinnerung zu rufen. Den sanften Klang der Vögel und die Worte der Aureâ zu den Ursprüngen dieses Ortes. Er war zweifelsohne faszinierend gewesen. Es war gut, dass er als Kind geglaubt hatte, dass das ein verfluchter Ort war. Hätte er gewusst, welcher Frieden darin wohnte, wäre er vermutlich weggelaufen und hätte dort den Rest seines Lebens verbracht. Die bessere Wahrheit war wohl aber, dass er einfach noch mehr vor sich hingeträumt und eine solche Wirklichkeit nur herbeigesehnt hätte. So mutig, wie er es sich selbst zu sein wünschte, war er dann doch nicht.
Seymon verspürte eine gewisse Aufregung, als er an Vescar dachte. Wenn der Grenzwald schon so anders und besonders war, wie würde dann diese Schlossstadt erst sein? Es war ihm nicht erstrebenswert erschienen, so zu leben. Er hatte sich immer vorgestellt, dass die Bewohner in diesem überdimensionierten Gebäude aufeinandergestapelt sein mussten. Dass die Gänge und Flure erbärmlich stanken und jeder nur auf die nächstbeste Gelegenheit wartete, diesem Ort zu entkommen. Wie sonst sollte es funktionieren?
Doch was wusste er schon? Die letzten Jahrwenden hatte er nur eine einzige Sache bewiesen, nämlich die, dass er ganz und gar unwissend war. Ihm fiel wieder ein, was Jahmez noch vor der Ankunft am Wald gesagt hatte.
Das ist nicht besonders klug.
Seymon hatte zugestimmt, weil er auch nichts anderes hatte vorbringen können. Es war unklug, Tradition hin oder her. Er fühlte sich dumm, weil er sie selbst nie infrage gestellt hatte. Überhaupt waren seine Gedanken und auch die seines Vaters und seiner Lehrer immer auf das gerichtet, was hunderte Jahrwenden praktiziert worden war. Selbst das Bild, das sie von ihren Feinden hatten, änderte sich nicht. Auch sein Halbbruder hatte später ganz genau dasselbe erzählt bekommen – obwohl zwei weitere Kriege gewaltige Risse in diesen Erzählungen hervorgebracht hatten. Doch solche Details waren für seinen Vater unwesentlich.
Bestimmt wird er dich ausweiden und zusehen lassen, wie deren Köter deine Innereien fressen.
Seymon war sich sicher, dass Jahmez einige Dinge für ihn vorbereitet hatte, aber der Mann, der sich ihm gezeigt hatte, würde wohl kein Spektakel veranstalten, sondern ihn auf eine … ja, intelligentere Art foltern. Er versuchte also, sich von den unschönsten Vorstellungen freizumachen, die ihm sein Vater in den schillerndsten Farben dargeboten hatte. Doch diese bösartige Stimme in seinem Kopf ließ sich nicht so einfach abstellen.
Wer weiß, vielleicht hast du Glück und er reicht dich wie eine Frau bei seinen Kriegern herum.
Seymons Herz setzte bei dieser Vorstellung einen Schlag aus, bevor er sich auf das besann, was er wusste. Der Mann würde persönlich Rache nehmen wollen und so schätze er ihn erst recht nicht ein. Er hatte das ganz bestimmte Gefühl, dass Jahmez das auch selbst nicht tun würde. Er war von Seymon und seiner Tat angewidert, ausgeschlossen, dass er auf diese Weise an ihn herantreten würde. Er hoffte fest darauf.
Diese Gedankengänge waren ermüdend, doch er wollte nicht einschlafen. Nur die erste Nacht nach der Übergabe hatte er seinem Bedürfnis nach Schlaf nachgeben müssen, da es der erste Moment nach elf Tagwenden gewesen war, an dem man keine Anstalten gemacht hatte, ihn wachzuhalten. Doch sein körperlicher Zustand und das Fehlen einer unmittelbaren Gefahr, ließ seinen Willen zum Wachbleiben schwinden. Nur die Position, in der er sich befand, verhinderte noch, dass er sofort einschlief.
Die Tür des Wagens ging auf und die Aureâ trat ein. Seymon setzte sich aufrechter hin und zu einer Ehrerbietung an. Diese wurde jedoch mit einem Handzeichen unterbrochen. »Ich habe ein Angebot für dich. Du kannst dir aus zwei Dingen aussuchen, was du lieber haben möchtest oder besser gesagt, dringender brauchst.« Sie wartete auf sein Nicken und fuhr fort: »Du kannst heute Nacht entweder im Liegen schlafen oder ein reichhaltiges Nachtmahl haben. Entscheide dich schnell.«
Trotz der Aufforderung am Ende, war ihr Ton freundlich und Seymon glaubte, dass beide Angebote ernst gemeint waren. Er überlegte kurz, entschied sich aber für die Option, die ihm schon zu lange verwehrt worden war. »Ich würde mich gerne hinlegen, Aureâ, wenn Ihr es gestatten möchtet.«
Sie sah ihn aufmerksam an, nickte dann langsam und wandte sich an Balog. »Du kannst ihm die Fesselung für die Nacht abnehmen, ich werde einen Schutzzauber um die Kutsche herum wirken. Tofro und Maho lösen dich nach der zweiten Mondwende ab. Komm dann ans Feuer, wir haben frisches Wild.«
»Vielen Dank, Aureâ.« Er lächelte zum ersten Mal, seit Seymon ihn gesehen hatte. »Allein dafür lohnt es sich doch, wieder nach Hause zu kommen.«
Sie lachte und sah dann wieder zu Seymon. »Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
»Habt Dank, Aureâ. Ich wünsche sie Euch ebenso.«
Sie schmunzelte und ging rückwärts wieder nach draußen. Balog war dagegen schon aufgestanden und machte sich ans Werk. Diese lockere Art der Kommunikation beeindrucke Seymon. Es war ihm über die Tagwenden bereits aufgefallen, dass Anweisungen nicht in einem Befehlston gegeben wurden, sondern fast schon den Anschein einer belanglosen Unterhaltung machten. Dabei hatte er ebenso festgestellt, dass mitunter mehr gemeint war, als er gehört hatte.
Als Balog den letzten Knoten am Oberkörper löste, versuchte er, unauffällig gegen den Schmerz anzuatmen. Die Arme fielen Seymon schwer nach vorn. So gut es ging, versuchte er, seine Oberarme zu drücken, um den Schmerz schneller abflauen zu lassen. Zu viele Zeichen des Unwohlseins wollte er aber nicht nach außen zeigen. Er durfte nie vergessen, weswegen er hier war und was von ihm verlangt wurde. Es wäre nicht gut, wenn man ihm vor dem Ende unterstellen würde, dass er sich über seine Behandlung beschwert hätte. Dazu hatte er auch keinen Anlass. Sie waren sogar mehr als gerecht zu ihm gewesen. Selbst Jahmez, dem zwischendurch anzumerken war, dass es ihm nicht leicht fiel.
»Müsst Ihr noch einmal austreten?«
»Nein, danke.« Seymon sah zu, wie auch die letzten Seile von seinem Körper genommen wurden.
»Legt Euch hin.« Balog kommandierte ihn auf die Seite und half ihm dann mit seinen Beinen. Auch wenn er sie den Tag über nicht mehr groß benutzt hatte, waren sie immer schwerer geworden und es schien, dass sämtliche Kraft aus ihnen gewichen war.
»Danke.«
»Wofür?«
Er sah zu Balog hoch, der seine Stirn gerunzelt hatte. »Für die Hilfe beim Hinlegen.«
Zu dem Stirnrunzeln gesellte sich nun auch eine erhobene Augenbraue. »Es war mir aufgetragen worden und meine Pflichten erfülle ich gewissenhaft.«
»Ich hatte nichts anderes sagen wollen. Ich meinte nur … nicht so wichtig.« Ihm fielen die Augen zu und er ergab sich seiner Erschöpfung.
»Wie Ihr meint. Ich stelle für die Nacht einen Krug Wasser bereit, an dem könnt Ihr Euch bedienen.«
Sein eigenes Danke hört Seymon kaum noch. Nur ein kleiner Teil war in der wachen Welt und kam nicht umhin, sich zu fragen, warum die Wächter nicht aufgehört hatten, ihn höflich anzusprechen. In einem früheren Leben hätten sie es gemusst, doch jetzt … sie konnten nicht einmal wissen, zu was sie genau verpflichtet wären, wenn er nur ein Gast wäre.
Gast. Genau das wäre er gern gewesen. Ein Gast, der mit draußen stehen und den Pferden freundliche Worte zuflüstern konnte.
Sie hatten die zweite Brücke überquert, der Weg zum Ziel konnte jetzt nicht mehr weit sein. Und es waren noch keine Zeichen von Dunkelheit am Himmel zu sehen. Seymons Aufregung wuchs. Seit der kleinen Mahlzeit am Morgen versuchte er, sich Vescar vorzustellen. Überlegte, wo sie ihn hinbringen mochten, wie viel er sehen würde. Womöglich konnte er sich vor seinem Tod noch ein anderes Bild von den fremden Menschen und ihrer Lebensweise machen. Es war unnütz, aber ein Teil von ihm wollte gespannt darauf sein, wie diese Leute lebten und eine letzte Lebenserfahrung sammeln.
Er saß angestrengt aufrecht, um von seiner Position aus doch einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. Die Hufe der Pferde bewegten sich über befestigtem Grund und sie fuhren durch etwas, was Teil eines großen Bogens zu sein schien. Er konnte Stimmen hören, Rufe, ihren Inhalt verstand er aber nicht, weil sie nicht sich nicht der gemeinen Sprache bedienten. Seymon hatte nach dem Abkommen zur Auslieferung zwar einige Worte und die gängigsten Anredeformen in Vastarî gelernt, hatte aber bei weitem nicht genug Zeit gehabt, die Sprache richtig zu erlernen. Viel Nutzen konnte es ohnehin nicht haben.
Sie hielten an und gleich darauf wurde die Tür des Wagens geöffnet und ein junger Mann verbeugte sich feierlich. »Tamy, Jahmez, salvetî!«
»Vielen Dank, für die Willkommensgrüße, Acrar«, erwiderte die Aureâ und auch Jahmez nickte freundlich. »Da wir einen Gast dabeihaben, würde ich vorschlagen, dass wir uns verständlicher ausdrücken.«
Acrar sah zu Seymon, zögerte einen Moment, nickte dann aber zur Bestätigung. »Natürlich, wie du wünschst.«
Sie stieg zuerst aus, gefolgt von Balog, der direkt am Wageneingang stehenblieb und Seymon auffordernd ansah. Er erhob sich nun ebenfalls und gab sich alle Mühe, festen Schrittes nach draußen zu gelangen. Dass Jahmez ihn von hinten an der Schulter packte, hätte ihn einschüchtern müssen, half ihm aber, dass er sich sicherer fühlte, als er die kleine Treppe hinabstieg.
»Dreh dich nach rechts zum Eingang und dann lauf so lange geradeaus, bis Balog stehen bleibt. Ich warne dich, du blamierst mich jetzt besser nicht.« Jahmez’ Stimme so nahe an seinem Ohr zu spüren, ließ an seinem ganzen Körper Gänsehaut entstehen. Allein die Tonlage machte jede Drohung überflüssig. Er hätte ihm auch sagen können, dass rechts Engel vorbeifliegen würden, er hätte trotzdem nicht gewagt, einen falschen Schritt zu tun.
Seymon nickte verhalten und drehte sich nach rechts. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken und beinahe vergessen, dass er loslaufen sollte. Vor ihm erhob sich das größte Gebäude, das er je gesehen hatte. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob das überhaupt ein Gebäude war. Es wirkte viel mehr wie ein Gebirge. Eines, in welches kunstvoll Türme, Fenster und Bögen hineingeschnitzt worden waren. Keine Fahnen und Flaggen waren zu sehen, nur ein dunkles Glitzern des Materials, aus dem dieser Berg zu bestehen schien.
Dunkelglas, durchfuhr es Seymon. Es konnte nichts anderes sein. Doch in einer solchen Menge und so kunstfertig verbaut, hatte er es noch nie gesehen. War dieses ganze Schloss, das zeitgleich auch eine Stadt von enormem Ausmaß war, daraus gebaut worden? Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wo es solche Mengen an Dunkelglas geben sollte. Ganz zu schweigen davon, dass der Reichtum eines ganzen Landes nicht ausgereicht hätte, auch nur ein simples Haus daraus zu bauen.
Seine Füße, obgleich sie schmerzten, zogen ihn jetzt ganz von selbst zu dem Gebäude hin. Er war fasziniert, sprachlos und, in Ermangelung anderer Worte, verzaubert. Es war ein wahres Meisterwerk der Magie. Dagegen fühlte er sich so klein und unbedeutend, dass er vergaß, warum er eigentlich hier war. Bis die Hand an seiner Schulter ihn etwas bremste.
Sie gingen auf den Eingang und eine riesige Treppe zu. Links und rechts standen Menschen, die den Weg flankierten und neugierig in ihre Richtung sahen. Andere sahen wütend aus, manche wirkten besorgt. Als sie an der Treppe ankamen und er nach oben blickte, sah er mehrere Menschen dort stehen. Die Treppe war so hoch und lang, dass er noch keine genauen Details ausmachen konnte, doch der Mann ganz vorn schien sehr alt zu sein. Wenn er sich nicht ganz irrte, konnte das eigentlich nur König Awohr sein. Seymon hatte nicht erwartet, dass so viele Menschen und Awohr selbst bei seiner Ankunft warten würden, andererseits sollte es ihn nicht verwundern, denn immerhin hatte er einen Enkel des Königs ermordet, wenn auch glücklicherweise keinen aus der direkten Erblinie.
Sie waren nun fast oben. Die Aureâ war ein Stück vorausgegangen, hatte das Gefolge begrüßt und stand nun wartend neben dem König. Vor der letzten Stufe blieb Balog stehen und trat an die Seite. Da Jahmez ihm geboten hatte, anzuhalten, wenn Balog es tat, wagte er es nicht, den letzten Schritt nach oben zu gehen, und sah nur ehrfürchtig von unten zur Majestät von Vastar auf.
»Willkommen in Vescar, Seymon Sammane. Wir haben lange auf dich gewartet.«
Seymon verbeugte sich tief und zögerte. Er hatte es nicht genau in Erfahrung bringen können, aber da die meisten Herrscher darauf bestanden, vorher das Wort zu erteilen, bevor man sie begrüßen konnte, wollte er vorsichtig sein. Vastar hatte in vielen Dingen eigene Gesetze und dass die Aureâ ehrerbietig und ohne Aufforderung zu begrüßen war, konnte Ähnliches für den König bedeuten. Der Moment ohne Aufforderung währte auch lang genug, um diese letzte Möglichkeit wahrscheinlicher werden zu lassen. »Majestî, vitâ aeterna plo tî.«
Der König nickte kurz und sah dann an ihm vorbei. »Mein Junge. Komm zu mir.« Jahmez löste sich endlich von Seymon und ging an ihm vorbei. Es folgte keine förmliche Begrüßung, sondern eine sehr herzliche Umarmung. »Ich bin erleichtert, dich wiederzusehen. Ich fürchte, dir nachher auch noch schlechte Neuigkeiten überbringen zu müssen. Doch jetzt möchte ich froh sein, dass ich dich wiederhabe. Soll er gleich weggebracht werden?«
Jahmez nickte und drehte sich wieder um. »Seymon Sammane, als erster Wächter des Reiches Vastar und seiner Menschen verkünde ich, dass du von hier an meiner Gewalt unterstehst. Du bist von den hohen Richtern von Mîdpranî zum Tode verurteilt worden. Und ich werde der Vollstrecker sein. Drei Tagwenden seien deine, an denen dir zusteht, was du benötigst, um deinen Frieden damit zu machen. Drei seien meine, dir dein Leben zu nehmen. Balog, schaff ihn in den Kerker!«
Seymon schluckte, als Balog ihn auffordernd ansah und ihm bedeutete, nach oben, vorbei am Königsgefolge, zu gehen. Sie liefen beide voraus und in das Gebäude hinein, das er nie wieder verlassen würde. Die Schönheit und der Glanz, den es eben noch ausgestrahlt hatte, waren verschwunden. Was blieb, war der verzweifelte Wunsch, es bereits hinter sich gebracht zu haben. Der lange Flur, der sich vor ihm auftat, erinnerte ihn an eine Sackgasse, schlimmer noch, einen Weg ohne Wiederkehr.
Ein Plan
Man hatte ihn in eine recht komfortable Zelle gebracht. Nicht in einen Keller mit nassem und modrigem Stroh. Es war ein paar Stockwerke tiefer gegangen, doch in diesem Raum gab es immer noch ein Fenster, welches zum Meer zeigte. Er hatte eine Liege mit einem weichen Federbett und sogar fließendes Wasser, verbunden mit einer Ecke für körperliche Reinlichkeit. Da das Wasser salzig war, vermutete Seymon, dass sie es aus dem Meer einleiteten. Er hatte keine Ahnung, wie das genau möglich war, da aber die ganze Stadt mithilfe von Magie aufgebaut worden war, konnte dieser Teil nicht zu schwer gewesen sein.
Dunkelglas. Er setzte sich auf die Liege und streckte die Beine aus. War sein Vater wirklich nur blind den Veränderungen in den Ländern gegenüber oder hatte er solche Dinge gewusst und bewusst verschwiegen? Er hatte immer so überlegen getan, keine Gelegenheit ausgelassen, Vastar und den König zu verunglimpfen und ihren Erfolg auf ihre geklauten Ländereien und die Unterjochung der Unwilligen geschoben, die sie mit unlauterer Magie sicherstellen würden. Seymon seufzte schwer und lehnte sich an die Wand, bevor ihm wieder einfiel, woraus sie bestand. Langsam und bedächtig fuhr er mit seinen Fingerspitzen darüber. Sie schien keine eigene Temperatur zu haben. Welch ein Wunderwerk. Und dazu auch noch so schön.
Plötzlich hörte er näherkommende Schritte und setzte sich etwas auf. Statt Schlüsselklirren war da nur ein Surren und die Tür ging wieder auf. Halb hatte er erwartet, dass Jahmez nachsehen würde, ob er sicher untergebracht war, doch diese Erwartung erfüllte sich nicht. Der Mann in der Tür war älter und trug eine weiße Robe.
»Guten Abend, Seymon. Man hat mich geschickt, Eure Verletzungen zu behandeln. Wenn ich mich kurz vorstellen darf, ich bin Tiburg, einer der hoheitlichen Medicî.«
»Ihr heilt mit Magie?« Seymon war so erstaunt, dass er jede Höflichkeit vergaß. »Verzeiht, ich –«
»Schon gut, auf den Unsinn kann ich verzichten, ich soll heilen, nicht reden. Und ja, das tue ich mit Magie.« Er schritt auf ihn zu und besah sich sogleich seine Füße. »Wie alt sind die ersten Verletzungen?« Er drehte sich zur Tür. »Ihr könnt gehen.«
Seymon sah, wie die Wachen gingen und die Tür wieder geschlossen wurde, zögerte dann aber.
»Ihr könnt offen sprechen. Alles, was Ihr sagt, bleibt unter uns.«
»Warum?«
»Warum alles unter uns bleibt? Nun, damit Ihr keine Hemmungen habt, mit mir zu reden. So kann ich Euch am besten helfen.«
»Ihr müsst doch sicherlich wenigstens dem Majestî Bericht erstatten.«
»Nein, das muss ich nicht. Außer, ich würde eine Gefahr von anderen abwenden können. Aber bei tiefen Schnitten in die Fußsohle steht das nicht zu erwarten, oder?«
Seymon war verwirrt. »Ich habe sie seit meinem Aufbruch aus Usgror.«
»Hm.« Tiburg setzte sich auf die Liege und besah sich seine Füße genauer. »Wie sind sie Euch zugefügt worden?«
»Mit einem Tantō«, erwiderte Seymon leise.
Tiburg sah zu ihm auf. »Verstehe. Die Entzündung bekommen wir in den Griff, die Schnitte sollten dann an deinem letzten Friedenstag verheilt sein. Gibt es weitere Verletzungen? Balog erzählte bereits etwas von Problemen durch die Fesseln.«
Seymon zögerte erneut. Würde sich Tiburg das ansehen müssen? Und wie weit würde er ihn untersuchen? Er wollte nicht zu viel preisgeben. Auch wenn er kein Bürger Usgrors mehr war, er wollte seinen und den Ruf seines Vaters nicht beschädigen.
Er rang mit sich. Eine Gefahr war er für niemanden mehr, doch stimmte es wirklich, dass Tiburg nur unter diesen Umständen Bericht erstatten würde? Der Heiler drängte ihn jedenfalls nicht. Wartete geduldig auf eine Antwort. Würde er ihn verurteilen?
Am liebsten würde er erzählen, sich wenigstens einer Person anvertrauen. Ging es nicht auch darum? Frieden zu machen mit sich und seinem Schicksal?
Er sah Tiburg in die Augen und traf eine Entscheidung.
»Warum wusste ich, dass ich dich hier finden werde?«
Jahmez hatte sie nicht kommen hören, doch das war auch nicht verwunderlich. Sachte strich er über die Platte, die den Namen seines Zwillingsbruders trug. »Weil ich jedes Mal hierher komme?« Er hörte, wie sie sich zu ihm auf den Boden setzte.
»Du bist wütend auf mich.« Keine Frage, eine Feststellung.
»Ja.«
»Erzählst du mir, warum?«
Er sah Tamy verwundert an. Seine beste Freundin seit Kindertagen, auch, nachdem sie die heilige Beraterin geworden war. Und doch war da eine Distanz gewachsen, die er nicht überbrücken konnte. »Ich dachte, das wäre offensichtlich. Du hast gesagt, dass du mich unterstützen wirst.«
»Das habe ich, ja.«
»Und? Das tust du, indem du mich von meiner Rache abbringen willst? Den Mörder meines Bruders mit offenen Armen empfängst? Ihm nette Geschichten über Waldelfen erzählst? Ihn in der königlichen Kutsche fahren lässt?« Er hatte sich in Rage geredet und war immer lauter geworden, bis ihn sein eigenes Echo und die Erinnerung, dass sie im Saal der ewigen Ruhe waren, wieder zur Besinnung riefen.
Tamy sah zu Boden, schien über seine Worte nachzudenken. »Ich stehe zu dem, was ich sagte, Jahmi. Ich unterstütze dich, in allem, was dir wichtig ist. Ich denke nur, dass mir das im Moment bewusster ist als dir.«
Jahmez sah sie völlig verwirrt an. »Was soll das heißen? Dass ich selbst nicht weiß, was ich will?«
»Nein. Was du willst, das weißt du genau. Du willst Rache nehmen. Aber das ist nicht das, was dir wirklich wichtig ist. Ich sagte dir, dass du nicht für den Hass gemacht bist.« Sie lächelte wehmütig. »Und sieh nur, was passiert ist. Nicht ein Seymon Sammane hat uns einander fremdwerden lassen. Sondern dein Hass auf diesen Mann.«
»Er ist der Mörder meines Bruders. Wie soll ich ihn nicht hassen?«
»Er hat ihn umgebracht, ja. Und ich habe Angst, dass er noch viel mehr dabei getötet hat.«
Jahmez sah wieder auf die Grabplatte und Tränen sammelten sich in seinen Augen. »Das spielt keine Rolle mehr. In ein paar Tagwenden ist alles vorbei.«
»Ist es das? Zu welchem Preis?«
»Der Preis ist sein Tod. Und den hat er mehr als verdient. Ich werde dagegen endlich weiterleben können.«
Tamy schwieg. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nicht mit ihm übereinstimmte und überlegte, wie sie es ihm möglichst schonend erklären konnte. So war es immer gewesen. Rücksicht gegenüber anderen war ihr heilig, umso mehr hatte es ihn geschockt, dass sie Seymon gegenüber so freundlich gewesen war. Das hatte mit Rücksicht wenig zu tun. Also konnte sie ihm jetzt auch deutlich sagen, was sie dachte.
»Ich habe heute keine Geduld für nette Überlegungen. Sag, was du zu sagen hast.«
Sie sahen sich an und Tamy wirkte nicht ganz überzeugt. »Ich denke, dass sich nach Seymons Tod nicht viel ändern wird, wenn du nicht bereit bist, ihm und dir selbst zu vergeben. Was du vorhast, wird es eher noch schlimmer machen.«
»Ich soll was?« Jahmez sprang auf. »Und was soll das heißen? Ich habe mir nichts zu vergeben!« Sie schwieg erneut. »Rede mit mir!«
»Jahmi …« Sie schüttelte leicht den Kopf, bevor sie ebenfalls aufstand. »Bei allem, was passiert ist, hast du dir keinen Moment Zeit gelassen, über die Konsequenzen deiner Forderung Gedanken zu machen. Ich verstehe deine Wut, ja, auch deinen Hass und glaube mir, ich verurteile dich nicht dafür. Ich habe nur Angst, dass er dich zu blind gemacht hat. Du behauptest sogar, dir nichts vergeben zu müssen. Aber habe ich nicht aus deinem Mund gehört, dass du schuld seist, weil Jehm deinen Auftrag übernommen hat? Dass er leben würde, wenn du ihn nicht gebeten hättest, an deiner statt zu gehen?« Jahmez schloss die Augen, als könnte er dadurch verhindern, dass ihre Worte ihn wie Nadelspitzen trafen.
»Du fragst, warum ich Seymon gegenüber freundlich war. Das war ich, weil er zu Tode geängstigt ausgesehen hat. Und ich wundere mich, wo dein Gespür dafür geblieben ist. Geh in dich und frag dich, ob der Mann, den du aus dem Geständnisbrief zu kennen glaubst, der ist, der dir gegenübergestanden hat!«
Jahmez schnaufte. »Willst du –«
»Nein, ich möchte nicht sagen, dass er unschuldig ist, aber ich bin mir sicher, dass es mehr zu dieser Geschichte gibt, als wir bisher wissen. Hast du die Rune hinter seinem rechten Ohr nicht gesehen?«
Sie sah ihn fest an. Ihre Augen funkelten und sie wirkte auf einmal so viel größer als er selbst. Jahmez konnte ihrem Blick nicht länger standhalten. Er sah weg und nickte. »Doch, habe ich.«
»Dann solltest du auch wissen, dass die Geschichte, die man uns erzählt hat, nicht der vollen Wahrheit entsprechen kann. Normalerweise können mit Runenmagie berührte Menschen keine solche Untaten begehen, sie bannen zu viel des dunklen Selbst.« Sie war aufgebracht und ihre Atmung war deutlich zu hören. »Noch einmal, ich verstehe, dass dich das alles auffressen muss, aber dass du darüber sogar vergisst, wie wichtig du mir bist, tut weh. Warum ich Seymon mit der königlichen Kutsche abgeholt habe? Es ging dabei doch nie um ihn. Es sind deine liebsten Pferde und es ist der sicherste Wagen in Vastar. Ich wollte dich sicher nach Hause bringen. Und ich würde mir wünschen, dass du wieder mehr als nur das sehen kannst, was du sehen willst. Foltere ihn in den Tod, aber ich sage dir, dass du damit nur noch mehr Schuld auf dich lädst, weil irgendwann doch der Punkt kommt, an dem du erkennen wirst, was aus dir in den zwei Jahrwenden geworden ist.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich von ihm ab und ließ ihn mit all seinen Emotionen allein zurück. Die Kraft in seinen Beinen verließ ihn und er sank zurück auf den Boden. Zu seinem Bruder.
Völlig erschöpft kam er endlich am großen Besprechungssaal an. Dass alle Ratgeber dazu eingeladen worden waren, war hochbedenklich. Sein Grandpâ Awohr hatte ihm auf der Wachtreppe zu verstehen gegeben, dass er schlechte Nachrichten hatte, doch da war Jahmez noch nicht davon ausgegangen, dass es derart schlimm sein könnte. Hatte das etwas mit den seltsamen Menschen zu tun, die er im Nutrâl Greûn gesehen hatte?
Er ging hinein. Fast alle zwölf Plätze waren bereits belegt. Nur der Platz rechts von seinem Grandpâ war noch leer und sein eigener direkt daneben.
»Komm herein, Junge. Tamyrelia verspätet sich etwas, wir sollen schon beginnen.«
Jahmez ging auf seinen Platz zu und sah in die Gesichter der anderen. Acrain und Acrar schienen besorgt zu sein. Als Enkel des Königs und Herrscher von Vastar waren sie vermutlich vor allen anderen im Bilde gewesen. Die anderen sahen wiederum erwartungsvoll aus, aber nicht über Gebühr angespannt. Dass Tiburg mit in der Runde saß, verwunderte Jahmez jedoch. Ihr bester Heiler war zwar offiziell Teil der Großrunde, aber nur anwesend, wenn es wirklich wichtig war. Ansonsten hatte er es immer bevorzugt, sich später in Kurzform informieren zu lassen, da das Wohlergehen seiner kranken Schützlinge Vorrang hatte. Seine Anwesenheit bedeutete, dass sein Rat als Medicâ gefragt war. Und das bedeutete meistens Krieg. Jahmez setzte sich endlich und sah zu seinem Grandpâ. Wie auf ein vereinbartes Zeichen hin, wurde die schwere Saaltür von außen geschlossen. Bevor diese Besprechung nicht zu Ende war, würde keiner den Raum verlassen.