Wolfsbrüder - Noa Liàn - E-Book

Wolfsbrüder E-Book

Noa Liàn

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Beschreibung

Zwei Brüder. Tiefe Abneigung. Und eine Liebe, die nicht sein darf. Wolfswandler Andrew hat hart gearbeitet, um Anwalt zu werden. Doch in einer Gesellschaft, wo Machtgier und Korruption bestimmen, wer Erfolg haben darf, kann er sich bisher nicht behaupten. Nachdem er erneut seinen Job verliert, bleibt ihm nichts weiter übrig, als seine Familie um Hilfe zu bitten. Aber der Einzige, der bereit ist, ihm zur Seite zu stehen, ist sein millionenschwerer Stiefbruder Henry. Der Mann, der scheinbar mühelos alles erreicht, was Andrew sich erträumt. Gedemütigt und gekränkt beschließt er, die Hilfe anzunehmen, nicht ahnend, wie nahe sie sich dadurch kommen. Als Henry plötzlich in Gefahr schwebt, muss Andrew eine Entscheidung treffen: Wird er seinen Bruder fallen lassen oder sich eingestehen, dass seine Gefühle für ihn tiefer gehen? Und ist er überhaupt in der Lage, als Anwalt über sich hinauszuwachsen und sie beide zu retten?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Brüderliche Hilfe
Bilder der Vergangenheit
Wolfsseele
Der blaue Brief
Soulmates
Geld vor Recht
Madam & Steve
Alles für die stilvolle Wölfin
Geheimnisse der Nacht
Das schwarze Schaf der Familie
Überraschender Besuch
Anwalt des Vertrauens
Katze und Maus
Jetzt oder nie!
In Sicherheit
Soulmates
Familienfeier
Mehr als Brüder
Nachwort
Leseprobe »Der Kampf des Löwen«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Noa Liàn

 

 

Wandlerroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 10/2022

© Noa Liàn – Alle Rechte vorbehalten.

c/o WirFinden.Es | Naß und Hellie GbR | Kirchgasse 19, 65817 Eppstein

 

Text: © Noa Liàn

Coverdesign: © Noa Liàn

Bildmaterial von depositphotos.com: © logoboom, vgorbash, sbelov & Tverdohlib.com

Lektorat und Korrektur: Katharina Rose und Tatjana Germer

 

[email protected]

www.noa-lian.de

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden/realen oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig.

Brüderliche Hilfe

 

Es fällt mir heute noch schwerer als sonst, mich mit gestrafften Schultern und unbeteiligter Miene der Gesellschaftsfeier zu stellen. Hier und da trifft mich bereits ein abschätziger Blick und Travis gibt sich erst gar keine Mühe, zu verheimlichen, dass er sich mit Olivia über mein neuestes Versagen unterhält.

Mir ist schlecht und am liebsten würde ich sofort verschwinden. Doch die Wahrheit ist: ich habe keine Wahl. Nun gut, ich könnte mich bei der Wolfshilfe melden, aber bevor ich das tue, schlafe ich lieber in einem Gebüsch. Wo mich niemand sehen kann. Wenn erst herauskäme, dass ich mich dafür angemeldet habe, könnte ich wahrscheinlich gleich aufs Land ziehen, mit meiner Karriere wäre es dann ohnehin vorbei. Und meine Familie würde mich auch komplett verstoßen. Aber genau von der muss ich mir jetzt Hilfe erbetteln, damit meine Notsituation nicht schlimmer wird, als sie sowieso schon ist.

Mein Stiefvater Scott scheidet von vorn herein aus, wenn meine Mutter nicht wäre, hätte er vermutlich schon jemanden angeheuert, der sich des Problems angenommen hätte. Am Ende hat mich sicherlich auch der Umstand gerettet, dass ich nicht mit ihm blutsverwandt bin – was er nie müde wird, zu betonen.

Dass meine Mutter gerne dasselbe sagen würde, macht meine Lage allerdings nicht besser. Gerade unterhält sie sich mit dem Mann, den sie liebend gern ihr eigenes Fleisch und Blut genannt hätte, weil er um so vieles erfolgreicher ist als ich. Henry. Großer, attraktiver, starker … absolut dummer Henry. Dass mein Stiefbruder sich überhaupt ein Brot schmieren kann, wundert mich jedes Mal aufs Neue. Unglaublicherweise kommt das bei Frauen auch noch gut an. Als ich ihn vor meiner ehemaligen Kollegin als Himbo bezeichnet habe, hat sie sofort zugestimmt und sich Luft zugefächert. Absolut verrückt! Aber nicht nur das, die Financial Wolf hat ihn jüngst zum reichsten Jungunternehmer der Stadt erklärt – während ich nach dem verlorenen Fall meine Sachen packen und gehen musste und nun absolut pleite bin. Mal wieder. Wahrscheinlich sieht meine Mutter deshalb so aus, als würde sie Henry vom Fleck weg adoptieren, einfach um die Schande in der Familie mit irgendetwas zu überdecken.

Das Grollen, das sich tief in meiner Kehle bilden will, muss ich mit aller Macht zurückdrängen, jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt, an dem ich das riskieren könnte. Aber die Ungerechtigkeit wurmt mich einfach. Während hier alle wie üblich Champagner saufen und ihre neuesten Schmuckstücke bewundern, habe ich wochenlang durchgearbeitet und kaum geschlafen. Nur sieht das keiner, am Ende zählt nur das leidige Ergebnis.

Unvermittelt sieht sich Henry um und entdeckt mich. Er blinzelt schnell, lächelt dann aber und winkt mich heran. Verfluchter Mistkerl. Das Schlimmste ist, dass er wirklich immer so verdammt nett sein muss bei allem. Wenn er wenigstens eher wie Scott wäre, könnte ich ihn besser hassen.

Meine Hand verkrampft um das Wasserglas, während ich mich Schritt für Schritt nähere, hoffend, dass noch irgendetwas passiert, was mich rettet.

»Guten Abend, Claire. Henry.« Ich bemühe mich um ein förmliches Lächeln, doch der verkniffene Gesichtsausdruck meiner Mutter macht das beinahe unmöglich.

Sie sieht an mir auf und ab und schürzt dann die Lippen. »Bei der guten Hanwi, konntest du deinen Anzug nicht vorher bügeln lassen? Was sollen die Leute nur denken?«

Ich wusste, dass sie das sagen wird und ich wusste, dass es ein weiterer Punkt auf ihrer endlos langen Liste an Gründen werden wird, warum sie sich so für mich schämt, dass sie sogar die Mondgöttin anruft. Aber die Wahrheit ist einfach, ich konnte wirklich nicht. Weil ich mit meinem letzten Geld Brot und ein Stück Käse gekauft habe und zu guter Letzt den Fahrer, um hierher zu kommen. Meine letzte Chance, Obdach für heute Nacht zu finden. Denn mein sogenannter bester Freund hat es gerade mal über sich gebracht, zwei von meinen Taschen bei sich in den Schrank zu stellen.

»Du musst dir echt was einfallen lassen«, hat er mir düster erklärt, ohne auch nur die Ironie der Situation zu begreifen.

Nun stehe ich hier und muss mich gerade vor Henry rechtfertigen. Dessen Sakko natürlich akkurat sitzt. Vermutlich eine Maßanfertigung.

»Ich habe noch ein wichtiges Telefonat führen müssen«, antworte ich schließlich, was immerhin stimmt. Leider hat es nicht so lange gedauert, wie ich erhofft habe.

Meine Mutter sieht überrascht aus. »Ein neuer Job?«

»Noch nicht ganz, aber ich bin nahe dran«, sage ich und hoffe, sie nimmt mir die Lüge ab. Allerdings lässt mich ihr zweifelnder Blick etwas anderes annehmen.

Sie rückt näher zu mir heran und bringt ihren Mund nahe an mein Ohr. »Ich hoffe, du bist dir deiner Lage bewusst. Alle reden schon über dich und – so ehrlich will ich dir gegenüber sein – mir wurde bereits nahegelegt, dich fallenzulassen.«

Nur mit größter Mühe wahre ich eine starre Miene, während sich mein Inneres komplett verkrampft. Ich bin vielleicht nicht erfolgreich, aber deswegen nicht dumm. Dass sie mir hier eine Drohung ausspricht, ist mir daher vollkommen bewusst. Sollte sie mir den Familiennamen absprechen, bin ich ausgestoßen und kann zusehen, wo ich bleibe. In der Stadt gibt es dann nichts mehr für mich, nur Verachtung und Ausgrenzung. Wer keine Familie hat, ist so gut wie tot. Innerlich auf jeden Fall. Die einzige Chance, die es dann noch gibt, ist die Wolfshilfe, aber deren Wohnungen sind entweder irgendwo am Rand oder weit weg in Dörfern und auf dem Land.

Ich vermeide, zu Henry zu sehen, der mal wieder nicht mitbekommt, dass das hier nicht für ihn ist. Jeder andere hätte sich abgewandt, um nicht als unhöflich zu gelten, aber nein, für Henry gelten immer andere Regeln. Und natürlich sagt meine Mutter deswegen auch nichts.

»Ich bin mir meiner Lage bewusst. Daher wollte ich fragen, ob es möglich wäre –«

»Nein.« Ihre Antwort ist so prompt und kalt, dass ich ihr erschrocken in die Augen sehe. Doch das macht es nicht besser. Da ist kein Mitgefühl, nur dieser urteilende Blick, den sie normalerweise immer für die übrig hat, die sich kein eigenes Haus leisten können. Aber was wundere ich mich, ich gehöre dazu.

»Du weißt doch gar nicht –«

»Und ob ich das weiß, Andrew. Glaub ja nicht, ich hätte mir nicht gedacht, dass du nur hier auftauchst, um wieder bei mir einzuziehen und dich durchzuschnorren. Das ist vorbei, ein für alle Mal. Bis zum Ende des Monats gebe ich dir noch Zeit, hast du dann keinen neuen Job, werde ich mich nicht mehr für dich rechtfertigen. Meine Güte, du bist fünfunddreißig, andere sind da schon zum Juniorpartner ernannt worden und du schaffst es nicht einmal, länger als ein Jahr angestellt zu bleiben. Eine Schande ist das.«

Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. Meine mühsam aufrechterhaltene Fassung schwindet und die Last ihrer Worte drückt schwer auf meine Schultern. Was denkt sie denn, wie ich das ohne Unterstützung anstellen soll? Womöglich sollte ich etwas erwidern, aber ich kann meinen Mund einfach nicht mehr öffnen, sehe nur hilflos dabei zu, wie sie sich von Henry verabschiedet und dann zu ihren Freundinnen geht.

Das war es dann also. Vermutlich ist es sowieso Zeitverschwendung, mich weiter nach einem Job umzusehen, ich sollte gleich planen, so unauffällig wie möglich abzuhauen. Bevor Scott mich doch noch zwischen seine Krallen bekommt.

Ich kann nicht einmal schlucken, weil mein Mund viel zu trocken ist. Aber ich fühle mich auch zu schwach, um mein Wasserglas zu heben. Das Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter. Es ist vorbei.

Eine Berührung an meinem Arm lässt mich wieder aufsehen. Natürlich, Henry. Warum sollte er auch gegangen sein. Und jetzt lächelt er wieder so unerträglich. Wenn ihn doch nur endlich der Blitz treffen würde!

»Was?«, frage ich ungehalten und rücke von ihm ab. Das fehlt mir noch, dass er mich jetzt blöd aufheitern will.

»Amy hat mir vorhin schon erzählt, dass du heute aus deinem Appartement raus musstest.«

»Schön für Amy.« Blödes Tratschweib!

»Weiß ich nicht, sie hat es ganz normal erzählt.«

»Was … Ach, vergiss es.« Es gibt wenige Dinge, die noch schlimmer sind als meine Gespräche mit Henry. Dass wir gerade eins führen, schiebe ich daher auf meine Notlage, andernfalls wäre ich schon weg.

»Aber du suchst jetzt immer noch, richtig?«

»Das hast du doch gerade mitbekommen, oder nicht?«

Henry lächelt unschuldig und hebt seine Hände. Als einziger auf der Veranstaltung hat er keinen Alkohol und auch sonst nichts zu trinken in der Hand. »Ihr redet immer so, als könntet ihr Gedanken lesen, da komme ich nie mit.«

Na wenigstens ist er sich seiner Dummheit manchmal bewusst. Ich schüttle den Kopf und schaffe es endlich, mein Glas anzuheben und zu trinken. Wer weiß schon, wann ich wieder etwas bekomme.

»Aber ich verstehe immer noch nicht ganz …«, Henry kratzt sich über seinen Dreitagebart, »wenn du eine Wohnung brauchst, kannst du doch erst einmal zu mir kommen.«

Prompt verschlucke ich mich an meinem Wasser und muss so stark husten, dass ich ungewollt Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Vermutlich hoffen alle, dass ich ersticke. Ich irgendwie auch.

»Oh, hast du dich erkältet? Dann brauchst du doch erst recht ein Dach über dem Kopf.«

Ich versuche immer noch, so unauffällig wie möglich zu husten, schaffe es dabei gerade so, den Kopf zu schütteln und mir auf die Brust zu klopfen, was Henry wie durch ein Wunder zu verstehen scheint.

»Ach so, das Wasser, sag das doch gleich.«

Keine Ahnung, was er denkt, wie ich mich artikulieren soll, aber seine beherzten Schläge auf meinen Rücken helfen mir, wieder zu Atem zu kommen. »Danke«, bringe ich mühsam und mit tränenden Augen hervor.

»Gern geschehen«, sagt er und sieht dabei so aus, als hätte ich ihm eine saftige Hühnerkeule angeboten.

»Mach dich das nächste Mal einfach nicht über mich lustig, dann verschlucke ich mich auch nicht.«

»Was, warum? Das habe ich doch gar nicht! Wann soll das gewesen sein?«

»Na … eben gerade!«

»Ich habe dir nur auf den Rücken –«

»Davor, zum nackten Faunus noch mal!« Dass ich jetzt auch noch den Waldgott so unflätig ins Spiel bringe, zeigt, wie verärgert ich bin.

Henry sieht mich vollkommen verwirrt und mit geöffnetem Mund an. Bis etwas in seinem Kopf offenbar Licht anmacht, jedenfalls sehen seine Augen plötzlich auch heller aus. »Du meinst, weil ich dir angeboten habe, bei mir einzuziehen?« Ich nicke und er freut sich, etwas Richtiges gesagt zu haben. »Aber das war kein Witz. Ich meine das ganz ernst. Du weißt doch, das Haus ist riesig. Ich habe mehr Betten als Bücher, wenn du einziehen möchtest, ist genug Platz für dich.«

Kurz will ich ihm antworten, dass ich auch in seinem damaligen Loft, das nur aus einem einzigen großen Raum bestanden hat – mit nur einem einzigen Bett – davon ausgegangen wäre, er würde mehr Bett als Buch besitzen, aber ich bringe die Worte einfach nicht über meine Lippen.

Die Selbstverständlichkeit mit der Henry mir dieses Angebot unterbreitet, kann ich ihm nicht absprechen. Während mich alle verstoßen, nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, steht er nach wie vor neben mir, wirklich nahe bei mir, und bietet mir einen Ausweg an.

Kurz schließe ich meine Augen, weil mein verletztes Ego aufbegehren will, aber sein Angebot kann ich unmöglich ablehnen. Es ist immer noch besser, als mir einen Strick nehmen zu müssen. Seine Adresse bei Bewerbungen angeben zu können, kann mir sogar einen Vorteil verschaffen.

Ich sehe ihn wieder an, direkt in seine Augen, die hell und aufmerksam auf mich gerichtet sind. »Ich … würde dein Angebot gerne annehmen.«

Bilder der Vergangenheit

 

Es ist schon eine Ewigkeit her, dass ich in so einer edlen Limousine nach Hause gefahren worden bin. Obwohl ich natürlich nicht wirklich nach Hause fahre, sondern von Henry mitgenommen werde.

Irgendetwas an dieser Situation scheint ihn gewaltig fröhlich zu stimmen, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Es ist mir sowieso ein Rätsel, warum er ständig dieses Grinsen mit sich herum trägt, selbst noch, als Scott ihn eben darüber belehren wollte, dass es schlecht auf ihn abfärben könne, wenn er mit mir gesehen wird.

Aber eine Sache muss ich Henry wirklich zugutehalten, er hat noch nie sein Wort gebrochen. Jedes Versprechen, das er gibt, ist für ihn wie ein Schwur, der nicht gebrochen werden darf. Als wir noch Kinder waren, habe ich das regelmäßig ausgenutzt und mich darüber lustig gemacht, heute bin ich erleichtert, dass sein Wort sogar über dem seines Vaters steht – dass er, so wenig hilfreich das für mein Ego ist, zu mir steht.

»Wir sind da«, erklärt er fröhlich das Offensichtliche, nachdem wir anhalten und uns die Tür von seinem Chauffeur geöffnet wird. »Danke, James.«

Während er zügig aus der Limousine steigt, hieve ich mich schwerfällig aus dem Wagen und folge ihm mit trägen Schritten.

Eine gewisse Leichtigkeit hat Henry schon immer umgeben und gerade, als er so vor mir läuft, erinnere ich mich wieder daran. Erinnerungsfetzen, wie wir damals mit den anderen Jungen im Wald gespielt haben, tauchen vor meinem inneren Auge auf. Selbst damals, als wir alle noch furchtbar tapsig waren und unsere Energie nicht einschätzen konnten, hatte sein Lauf etwas Kraftvolles und Elegantes. Und auch in seiner menschlichen Gestalt erinnern mich seine kräftigen Beine, die wirklich hervorragend in dieser Anzugshose sitzen, an seinen Wolfskörper, den ich immer neidvoll bewundert habe.

Aber gut, es gibt kaum etwas an Henry, was mich nicht neidisch macht. Außer seine Dummheit natürlich, die ist so unsexy wie sein steinalter, rabennasiger Butler, der mich jetzt so verkniffen ansieht, als würde er erwarten, ich räume gleich die Villa leer.

»Guten Abend, Henry. Hatten Sie einen guten Aufenthalt im Kastell?«

»Es war schon sehr langweilig, Seth, aber dann ist Andy gekommen und war einverstanden, hier einzuziehen.« Henry strahlt geradezu und ich frage mich, was ich verpasst habe.

Da ich mich nicht selbst sehen kann, bin ich mir unsicher, ob mein Gesichtsausdruck mit dem des Butlers mithalten kann, aber es fühlt sich zumindest so an.

»Er zieht hier ein?«, fragt Seth und seine Stimme ist am Ende des Satzes so hoch wie der Ruf einer Nachtigall.

»Ja«, antwortet Henry mit unverminderter Freude und winkt mich dann ungeduldig hinein.

Ich sage lieber gar nichts und gehe vorsichtig an Seth vorbei, dem ich zutraue, mich gleich noch auf der Schwelle niederzuringen. Oder mir wenigstens seine falschen Zähne an den Kopf zu werfen.

Als wir den Eingangsbereich betreten, überwältigen mich neue Erinnerungen. Nachdem ich gezwungen worden war, bei der Einweihungsfeier dabei zu sein, habe ich mir noch gedacht, dass so viel Luxus gar nicht zu Henry passt. Auch heute wirkt er etwas verloren zwischen den zwei großen Treppen, die links und rechts nach oben in den ersten Stock führen. Wenn ich mich richtig entsinne, führt die Tür zu unserer Rechten in einen kleinen Wohnbereich mit Kamin und die zur Linken in ein Esszimmer und dahinter die Küche.

Etwas hat sich aber auf den ersten Blick verändert. Der relativ kleine Empfangsbereich beherbergt nun einen Billardtisch. »Wusste gar nicht, dass du snookerst«, sage ich unüberlegt, denn wir wissen ja beide, dass ich gar nichts über Henry wissen will.

Er wirkt dementsprechend verwirrt, aber nicht unglücklich. Nach einem kurzen Moment des Zögerns nickt er eifrig und lächelt noch breiter. »Spielst du auch? Seth möchte leider nicht mehr, er sagt, es macht keinen Spaß, nur zu verlieren.«

»Bist du so gut?«, frage ich und kann meine Verwunderung nicht verbergen, was mir prompt ein ärgerliches Schnaufen von Seth einbringt, der an der geschlossenen Tür steht und uns argwöhnisch beobachtet.

»Ich bin nicht so schlecht, nein«, antwortet Henry nach einem kurzen Blick auf Seth überraschend zurückhaltend, was mir endgültig bewusst macht, dass ich mich nicht wie ein Vollidiot verhalten sollte.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Ach«, er winkt ab und zeigt dann zu einer der Treppen, »ich wollte dir doch zeigen, wo du wohnen kannst.«

»Danke. Wie gesagt –«

Henry will offenbar nichts weiter hören und läuft mir schon voraus die Treppe nach oben. Ich folge ihm langsamer und betrachte die Bilder, die an den Wänden aufgehängt worden sind. Alles Familienfotos. Als ich oben ankomme, stutze ich, denn mit dem Foto, was hier hängt, hätte ich nun wirklich nicht gerechnet.

»Du und ich«, erklärt Henry mal wieder vollkommen überflüssig und tritt ganz nahe an mich heran.

»Ich habe das Foto schon ganz vergessen. Warum hast du es aufgehängt?« Ein Bild, auf dem wir beide gerade einmal zehn und neun Jahre alt sind und total bescheuert in die Kamera sehen, ist jetzt für die meisten nicht das Andenken, was sie in ihrem Flur haben wollen.

»Ich habe kein anderes von uns beiden. Nur von uns beiden.« Henry wirkt erst geknickt, lächelt aber wieder, als er zum Foto sieht. »Das war eine schöne Zeit.«

»Hm«, mache ich, weil ich nicht unhöflich sein will, aber mein genervter Blick auf dem Bild drückt ohnehin schon genug für mich aus. Eigentlich ist es mit dem immer fröhlichen Henry sogar wie ein Spiegelbild. Nur dass wir älter geworden sind. Und er mich in allem übertrumpft hat.

»Soll ich dir einen Stuhl holen?«

»Hm, was?« Ich sehe zu Henry, der mich schon wieder so enervierend anstrahlt.

»Na, wenn du noch weiter schauen willst, ist das vielleicht bequemer.«

»Nein, ich … Nein. Ich wollte dich auch nicht aufhalten, war nur gerade in Gedanken.«

»Oh, okay. Ich habe schon ganz vergessen, dass du gern grübelst. Das passiert mir eher selten.«

»Hm«, mache ich erneut, weil ich es für unverbindlich genug halte, und lasse mich dann von Henry den Flur entlang führen.

»Am besten ist das Zimmer, denke ich. Das liegt direkt neben dem Hauptschlafzimmer, also meinem Zimmer, so sind wir ganz nahe zusammen.«

»Oh … ja, wie gut.« Ich überprüfe sein Gesicht, aber er scheint das wirklich so zu meinen. Da Ironie nicht zu seinen Stärken zählt, sollte ich vermutlich auch nicht so argwöhnisch sein.

Er öffnet mit neuem Elan die Tür und zeigt mir das wirklich sehr großzügige Zimmer. »Es hat sogar ein eigenes Bad. Dort drüben.« Er durchquert den Raum und zeigt mir auch das Bad. Als müsste er beweisen, dass er die Wahrheit sagt.

Ich sehe mich unsicher um und stecke dann meine Hände in die Hosentaschen. Alles hier sieht makellos gepflegt und einfach … teuer aus. Das habe ich mir nicht einmal leisten können, als ich in meiner zweiten Kanzlei gearbeitet habe. »Henry, ich …«

»Ja?« Er kommt wieder auf mich zu, bleibt irritierend nahe vor mir stehen. Seine eisblauen Augen nehmen mich für einen Moment komplett gefangen, erinnern mich erneut an seine Wolfsgestalt mit dem strahlend weißen Fell.

»Ich …« Wie ein Fisch auf dem Land öffne ich meinen Mund und schließe ihn wieder, weil ich nicht weiß, wie ich es genau anfangen soll. Es ist schlimm genug, dass ich gerade auf seine Hilfe angewiesen bin, aber ich will mir selbst gerade nicht einmal eingestehen, dass ich ihm das hier niemals zurückzahlen könnte.

»Grübelst du wieder?«

Manchmal hat er ja doch helle Momente. »So was in der Art. Also … es ist mir eher unangenehm, das sagen zu müssen, aber ich weiß nicht, wann ich dir deinen Gefallen zurückzahlen kann.«

Henry öffnet jetzt selbst den Mund, sieht aber vor allem schockiert aus, hebt sogar abwehrend seine Hände. »Aber das brauchst du doch gar nicht. Du bist mein Bruder.«

»Stiefbruder«, korrigiere ich ihn, weil ich das inzwischen automatisch tue. Claire und Scott erinnern mich ja auch ständig daran. Schon witzig, früher hieß es immer, wir wären jetzt Brüder und ich müsste alles mit ihm teilen, auch meine liebsten Spielsachen, aber jetzt wird permanent darauf herumgeritten, dass ich nur so halb zur Familie gehöre.

»Du bist mein Bruder«, wiederholt er und hebt sein Kinn ein wenig. »Ich möchte nichts weiter von dir. Du kannst hier wohnen, bis … na, bis du wieder gehen möchtest.« Etwas in seiner Stimme lässt mich schon wieder unwohl fühlen.

»Ich werde mich bemühen, schnell wieder Arbeit zu finden, dann bin ich weg. Es könnte nur sein, na ja, aktuell bin ich kein heißbegehrter Kandidat. Ich kann es nur noch bei ein paar Kanzleien probieren, die keinen großen Kontakt zu unserer Familie oder den anderen Anwälten haben. Ansonsten muss ich sowieso schauen, ob ich … vielleicht ganz weggehe.«

»Aber warum? Es hetzt dich doch niemand. Irgendwann findet sich schon etwas Passendes und so lange bleibst du hier.« Henry freut sich schon wieder ganz offensichtlich über seinen hervorragenden Einfall und nickt zu seinen Worten. Wirklich wie ein Welpe im Wolfskörper. Aber gerade bewundere ich seine Naivität etwas. Also nur ein winziges bisschen. Er scheint damit ja gut leben zu können, während ich ständig Kopfschmerzen habe. »Ich kann dir auch so helfen«, behauptet er dann noch. »Immerhin brauche ich für mein Unternehmen auch Anwälte. Ich kann mit Alistair reden, der kümmert sich um solche Personalsachen.«

»Ich möchte dir weder Zeit stehlen noch auf deiner Tasche liegen«, sage ich dennoch, wobei mir wieder etwas einfällt. »Wäre es eigentlich möglich, mir ein Auto auszuleihen? Ich muss noch meine Sachen von Connor abholen. Will nicht riskieren, dass er sie doch weggibt.«

»Warum macht er so was?«

»Das weiß ich nicht, er war nur … seltsam drauf.«

»Dann brauchst du andere Freunde«, stellt Henry recht scharfsinnig fest und zieht seine Augenbrauen zusammen. »Wir können James fragen, ob er uns morgen fährt, ich habe erst abends wieder etwas zu tun.«

»Du musst nicht mitkommen. Eigentlich bevorzuge –«

»Aber wenn er deine Sachen weggeworfen hat, kann ich ihn gleich einsperren lassen.«

»Also … Ich glaube nicht, dass das notwendig werden wird.« Du liebes bisschen, seit wann verhält sich Henry so? »Außerdem wird das niemand ernst nehmen. Er müsste mir höchstens den Schaden ersetzen und –«

»Oh, das glaube ich nicht, Maverick meinte zu mir, dass ich ihm Bescheid sagen soll, wenn es Probleme gibt. Er kümmert sich dann darum.«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Maverick, einen der letzten Sheriffs der Stadt, missverstanden hat. Denn der kümmert sich vor allem um Personenschutz und Terrorismusabwehr. Wenn wir zu dem fahren und ihm erzählen, dass meine drei letzten Poloshirts abhandengekommen sind, erklärt er das höchstens zu einem terroristischen Akt gegen seine Person. »Wir sollten vielleicht erst einmal schlafen«, sage ich in einem schwachen Versuch, ganz von diesem Thema wegzukommen.

»Okay, gut. Brauchst du noch etwas?«

»Nein, ich denke, ich komme klar.«

»Im Bad ist ein Bademantel.«

»Danke.«

»Und morgen gibt es Brötchen mit Mett.«

»Klingt sehr gut.« Das Rumoren in meinem Bauch unterstreicht das bereits.

»Oh. Möchtest du jetzt noch etwas?«

»Nein«, lüge ich, denn gerade möchte ich lieber allein und hungrig sein als satt und weiter in seiner Gegenwart.

»Na gut. Wie du möchtest.« Henry reibt sich seine Hände und sieht mich unschlüssig an.

Da es unhöflich wäre, ihn aus seinem eigenen Zimmer zu weisen, warte ich, ob er noch etwas möchte. Aber offenbar sind wir gerade beide zu unentschlossen, um aus der Situation herauszufinden. Andererseits fühlt es sich für mich so an, als hätte ich vergessen, etwas Entscheidendes zu tun.

Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll, sehe schließlich in Henrys Gesicht. Seine blauen Augen sind inzwischen auch wieder fest auf mich gerichtet.

Meine lang gehegte und intensive Aversion gegen ihn kann ich gerade nicht finden, eigentlich bin ich nur froh, dass er mir trotz allem hilft. Und mit diesem Gedanken weiß ich auch wieder, was ich eigentlich sagen wollte. Ich schlucke meinen Stolz herunter und versuche mich an einem Lächeln. »Danke, dass du mir hilfst. Ich wäre ohne dich jetzt ziemlich aufgeschmissen.«

Seine Augen weiten sich eine Spur und ausnahmsweise ist nicht einmal der Ansatz eines Lächelns zu finden. »Hättest du mich gefragt?«

»Was meinst du?«

»Wenn ich dir nicht angeboten hätte, bei mir zu wohnen, hättest du mich gefragt, ob ich dir helfe?«

»Nein«, antworte ich leise, halte aber seinem Blick stand. Ich gehe ohnehin davon aus, dass er das schon vermutet. Mir fällt nicht einmal eine Gelegenheit ein, bei der ich ernsthaft Hilfe gebraucht und ihn darum gebeten habe. Diese Beziehung haben wir nicht miteinander. Wir haben überhaupt keine.

Schließlich ist es Henry, der den Blick senkt. An seinem Kiefer zuckt ein Muskel und er presst kurz die Lippen aufeinander. »Das ist schade«, gesteht er dann unvermittelt und atmet tief durch. »Aber ich helfe dir, wenn du Hilfe brauchst. Du musst nur fragen.«

»Danke«, sage ich erneut, mehr Worte passen gerade nicht durch meine Kehle.

»Du fragst dann also?« Er sieht mich jetzt so hoffnungsvoll an, dass ich ihn einfach nicht enttäuschen kann. Oder will.

»Mache ich.«

»Gut.« Und da ist wieder sein Henry-Lächeln, das mich irgendwann noch einmal umbringen wird.

 

 

Nachdem ich mich seit Tagen zum ersten Mal ausführlich und ohne Zeitdruck gewaschen habe, liege ich aufgewühlt und doch erschöpft in dem viel zu großen und bequemen Bett. Die Decke habe ich mir bis über meine Nase gezogen und mich ganz darin eingewickelt.

Ein Gedanke, der mich gerade hartnäckig und unangenehm wachhält, ist Henrys seltsames Verhalten. Oder meine Vorurteile ihm gegenüber. Denn irgendwann habe ich einfach gedacht, dass er sich einen Spaß daraus macht, mich in allem zu besiegen. Warum sonst hätte er nacheinander alles erreicht, was ich mir eigentlich erarbeiten wollte?

Er wusste, dass es schon immer mein Traum war, einmal eine eigene, gutgehende Firma zu haben. Und was tut er? Noch während der Schulzeit lässt er sich diese komische App zusammenbasteln, gibt für die Entwicklung sein ganzes Geld aus und wird damit sofort berühmt. Dieser Mist hat auch noch einen ultrakitschigen Namen. Soulmates. Dabei glaubt niemand mehr an so was. Heute ist es bedeutend wichtiger, eine gute Partie zu sein und Erfolge vorweisen zu können. Ich kann immer noch nicht begreifen, warum so viele das nutzen, wenn die Gesellschaft doch ohnehin etwas anderes verlangt. Aber es ist ja immer so, was Henry anfasst, wird zu Gold, egal, wie dumm es ist.

Er wusste aber auch, dass ich diese Villa hier gern irgendwann gekauft hätte. Natürlich war es immer nur ein Gedankenspiel, weil nicht einmal Scott das Vermögen dazu gehabt hätte – und es mir auch nicht geliehen hätte, selbst wenn es anders wäre. Aber es war eben der Familiensitz der Marshalls gewesen, der Familie meines Vaters. Leider mussten meine Großeltern die Villa verkaufen, als der große Crash kam. Durch den Erlös waren sie zwar immer noch vermögend, aber sie starben lange bevor sie die Möglichkeit bekamen, das Haus zurückzukaufen. Mein Vater hat natürlich ebenfalls an diesem Ziel gearbeitet, war sogar gut mit dem Besitzer bekannt, sodass wir manchmal vorbeikommen und ich mit den anderen Kindern im Garten spielen konnte. Dass er dann an der Aujeszkyschen Krankheit verstarb, war der größte Schock für uns alle. Ich kann es nach wie vor nicht verstehen und alles, was wir herausfinden konnten, wurde von den Schweinswandlern blockiert. Kein Richter hat uns anhören wollen und damals wusste ich nichts von dem, was ich noch hätte tun können.

Aber eine Lektion habe ich gelernt: zu Recht kommt, wer Geld hat. Zumindest sehr viel leichter. Nachdem ich an der Business-Akademie nicht angenommen worden bin, musste ich die zweite Möglichkeit ergreifen. Nur ist es als Anwalt nicht anders. Zuerst das Geld, dann das Recht. Nur so war es überhaupt möglich, dass ich den letzten Fall verloren habe.

Diese Ungerechtigkeit wurmt mich erneut. Und jetzt liege ich hier auch noch in dem Haus, was ich selbst zurückkaufen wollte, bei dem Mann, der sich das mit seinen inzwischen wer weiß wie vielen Firmen leisten konnte – im Bett des Mannes, der all meine Wünsche umgesetzt hat und sie ohne mich lebt.

Wie ich diese verlogene Welt inzwischen hasse. Als Kind habe ich noch daran geglaubt, dass es Spaß machen muss, sich den ganzen Tag mit Luxus zu umgeben, heute sehe ich nur, wie viel Blut daran klebt. Auch wenn ich es nie laut sagen würde, aber selbst meine Mutter ist dem verfallen. Sie hat sich nur auf Scott eingelassen, weil er ihr wieder zu Stand verholfen hat, bevor auffallen konnte, dass sie das Erbe fast komplett verbraten hat. Umso ungeheuerlicher ist es eigentlich, dass sie ausgerechnet mich hängenlässt. Denn das war nicht nur ihr Geld.

Ich drehe mich vom Fenster weg auf die andere Seite, was mir erlaubt, einen Blick durch das dunkle Zimmer zu werfen. Die Sitzgruppe und der Mahagonitisch wirken selbst in der Dunkelheit erhaben und doch gemütlich. Die hellen Teppiche saugen das Mondlicht beinahe auf, geben einen beruhigenden Glanz ab. Und das ist es, was ich brauche. Ruhe.

Um nachdenken und meine nächsten Schritte überlegen zu können. Es kommt natürlich nicht infrage, dass ich für Henry arbeite! Am Ende reden die Leute dann nur darüber, dass ich ihn ausnutzen würde. Was Scott vielleicht jetzt schon tut. Nein, ich muss endlich einen Weg finden, mich unabhängig von dieser ganzen Bagage zu entwickeln. Gleich morgen werde ich die neuen Bewerbungen schreiben, was mir jetzt sicherlich etwas leichter von der Hand geht. Immerhin muss ich mir keine Gedanken um Essen und Wohnung machen.

Wenigstens das kann ich Henry glauben, es wäre wirklich nicht seine Art, mich wieder hinauszuwerfen. Er hat vielleicht seltsame Prinzipien, aber die stehen unumstößlich fest. Allerdings mache ich mir nichts vor, irgendwas scheint er sich davon zu versprechen, mich hierhergeholt zu haben. Da ich nur seinen Vater kenne und weder der noch Henry je über seine Mutter gesprochen haben, kann ich schwer einschätzen, wo seine Motive verankert sind. Gerade bei Wölfen ist es doch oft der Fall, dass viel davon in das Erbe übergeht. Ich komme auch eindeutig nach meinem Vater, äußerlich und innerlich, was Scott vermutlich zusätzlich abstoßend findet. Aber Henry …

Scott hat definitiv auch Prinzipien, denen er treu ist, doch dem würde ich nicht mal so weit trauen, wie ich ihn werfen könnte. Äußerlich kommt Henry trotzdem sehr nach ihm. Der nordische Wolfsschlag ist unverkennbar. Kräftig, zäh … manche behaupten, der Inbegriff von Männlichkeit. Die tiefe Stimme rundet das Ganze ab. Während Scotts Inneres das Äußere nur bestätigt, ist das bei Henry nicht so einfach. Er geht geradlinig seinen Weg, besitzt aber bei Weitem nicht die Schärfe und Voraussicht seines Vaters. Henry ist hart und unnachgiebig, wenn er ein Ziel hat, aber mir fällt kein Beispiel ein, bei dem er jemandem direkt dabei geschadet hätte. Vielleicht unwissentlich. Aber bei aller Zielstrebigkeit hat er etwas Weiches an sich.

Ich seufze. Was auch immer Henry mit mir hier vorhat, ich kann daran gerade ohnehin nichts ändern. Immerhin – er hat mich seinen Bruder genannt. Darum hoffe ich, dass er mir wirklich nicht schaden will. Zum Faunus, er hat ja sogar ein Foto von uns beiden an der Wand hängen. Das tut doch niemand, der die nächste Racheaktion plant, oder?

Aber was frage ich mich das, es ist oft genug vorgekommen. Dennoch, ohne Vertrauen komme ich nicht weiter und es ist definitiv an der Zeit, die ausgetretenen Wege zu verlassen, wenn ich weiterkommen will.

Wolfsseele

 

»Ja, ich verstehe … hm … danke. Das habe ich eingereicht, ja. Genau, in drei Tagen. Ich …«

Mitten in meinem Telefongespräch erscheint Henry im Raum und sieht mich neugierig an. Ich verliere den Faden, habe aber Glück, dass der Firmenanwalt einfach weitererzählt und mich vertröstet, bis entschieden wird, wer in der Firma bleiben kann. Immerhin hat er mich mit auf die Liste gesetzt und ist jetzt schon dabei, mir einen schönen Tag zu wünschen.

»Vielen Dank«, füge ich schnell hinzu und verabschiede mich artig.

»Ist es gut gelaufen?« Henrys hoffnungsvolles Lächeln lässt mich zögern.

---ENDE DER LESEPROBE---