Das mach ich doch im Schlaf - Gunter Böhnke - E-Book

Das mach ich doch im Schlaf E-Book

Gunter Böhnke

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Beschreibung

Gunter Böhnke hat sein Leben wie im Schlaf verbracht, denn er leidet an Narkolepsie. Doch diese Schlafkrankheit hat ihn nicht davon abgehalten, eine traumhafte Karriere als Kabarettist, Autor und Übersetzter hinzulegen. Der bekennende Leipziger Gunter Böhnke kommt aus Dresden und hat einen ostpreußischen Migrationshintergrund. Achtsamkeit und Nachhaltigkeit bestimmen sein Leben. Er achtet darauf, dass er den Nachmittagsschlaf hält. Sonst gerät sein Leben aus den Fugen. Denn Gunter Böhnke leidet an Narkolepsie. Er schläft auf dem Motorrad ein, wird im Tiefschlaf aus einer Klamm in der Sächsischen Schweiz geborgen, hat die Hälfte der Schulzeit verpennt und die meisten Vorlesungen an der Uni verschlafen. Als Kabarettist auf der Bühne aber war und ist er immer hellwach!

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Seitenzahl: 316

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Ebook Edition

Gunter Böhnke

DAS MACH ICH DOCH IM SCHLAF

Ein Heldenepos

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-793-1

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Inhalt
Vita Gunter Böhnke – Teil 1
Einleitung – Gesund werden im Schlaf
Und immer auf der Flucht – von Dresden nach Merzwiese
Bäbbeln und Gaggsch machen6 – eine Kindheit in Dresden
Meine Eltern und meine Schwester
Die Schule – meine Traumfabrik
Pionierrepublik »Wilhelm Pieck«
Leipzig und kein Ende
Babelsberg und Hochzeit
Und meine Frau?
Das Neue Forum
»Die Wende«
Wie ich Dickens entdeckte
Die Geldkarten mögen mich nicht
Die Schweiz
Zwischen Softeis und ­Broilerbude …
Die Trasse
Die zweite Diagnose
Der Unfall
Berlin – eine Episode und zwei Knaben
Edition Leipzig
Übersetzer
Die Fähre verbindet
Skatwandern
Hamlet
Lob der Müdigkeit
Ä Schlafgrankr von Lene Voigt
Wie wird man Schriftsteller?
Politisch korrekt: Wie wird man Schriftsteller*in?
Bernd-Lutz Lange 75
Die Sächsische Hitparade
Lene Voigt hat die Sachsen wirklich geliebt
Tausend kleine Katastrophen
In der südlichsten ­Leihbibliothek Europas
Projekte
Was wäre wenn …
Neben großen Kolleg*innen
Kurzer Abriss
Nibelungen
Was wird aus dem Tafelsilber?
Poetenzuflucht im Poetenweg
Arno Amselhain
Abgesang
Was mir (dienstlich) besonders gefiel
Vita Gunter Böhnke – Teil 2
Nachwort
Fussnoten

Einleitung – Gesund werden im Schlaf

Ja, das wärs. HEILSCHLAF. Abends krank ins Bett und morgens früh wieder gesund. Und dazu vielleicht noch eine Sprache lernen. Alles im Schlaf.

Das gab es schon in der Antike. Da ging man einfach zum Gott Asklepios. Also, in seinen Tempel. Dort reinigte man zunächst sich selbst, und dann wurde geopfert. Nicht sich selbst, sondern zum Beispiel zwei Rinder und vier Hühner.

Danach durfte man sich zum Heilschlaf niederlegen. Das war kein Schlaf für Arme. Im Schlaf, vermutlich im Traum, heilte der Gott sofort oder empfahl ein Rezept für Zuhause. Kurz und schmerzlos, wie der Kranke sich das wünscht.

Für Christen (ein paar hundert Jahre später) war das nichts. Die mussten sich in den Katakomben verstecken, bis das Christentum Staatsreligion wurde. Dann konnten auch die Christen zum Heilschlafen gehen. Natürlich nicht zum griechischen Gott, sondern zu ihren Heiligen, »die ohne Geld« – das war ein Fortschritt! Aus den Tempeln waren christliche Kirchen geworden. Aber sonst war alles wie früher: erst ins Bad und dann ins Bett. Und natürlich musste man dran glauben, was die Göttlichen aufs Rezept schrieben.

Schlaf und Traum kommen daher wie Geschwister. Nicht wie Zwillinge, so ähnlich sind sie sich nun auch wieder nicht. Der Schlaf kann ohne Traum sein. Der richtige Traum jedoch eigentlich nicht ohne Schlaf. Er braucht sogar einen ganz besonderen Schlaf, den REM-Schlaf1. Der tritt ein paarmal in der Nacht auf. Und dann träumst du. Manchmal lange Geschichten, manchmal wirres Zeug. Wenn du Glück hast, träumst du etwas Schönes, wenn die Straßenbahn um die Ecke quietscht, und du wirst wach, dann passiert es manchmal – eigentlich fast nie –, dass du da weiterträumst, wo du warst, ehe die Bahn kam. O Glückliche*r!

Aber manchmal kommen auch Albträume. Ungerufen und unerklärlich. Immer zur gleichen Zeit. Und du kannst nicht ausweichen. Dann schlaf doch nicht »zur gleichen Zeit«. Ganz easy. Aber nicht für mich. Denn ich habe einen Defekt. Ja, ich bin suchtkrank. Nein, damit spaßt man nicht. Es handelt sich nicht um Heroin, Alkohol oder Nikotin. Ich leide an der Schlummersucht. Zugegeben: Diese Bezeichnung ist überholt. Sie ist ja eigentlich auch keine Sucht, die Narkolepsie, sondern eine Anfallskrankheit. Sie äußert sich, als ob man einen Schalter umlegt: Eben noch im in­ter­essantesten Gespräch, verändert sich plötzlich die Artikula­tion, die Augäpfel beginnen zu kreisen, die Nackenmuskulatur verliert ihre Stützfunktion, und der Kopf fällt auf die Brust. Oder in die Suppe – ohne Mist. Nach zehn Sekunden ist der Spuk vorbei. Er kann sich aber auch wiederholen, dann ist der Abend gelaufen. Aber auch als Wiederholungstäter wird man nicht als Kranker betrachtet, sondern als schläfriger Sonderling: »Was macht Ihr Mann eigentlich, wenn er nicht schläft?«

An Narkolepsie leiden schätzungsweise etwa 40 000 Menschen in Deutschland. Das sind 0,05 Prozent der Bevölkerung. Die Dunkelziffer ist hoch. Weltweit sind es drei Millionen. Nicht jeder Arzt kennt die Funktionsstörung der Schlaf-Wach-Regulierung. Das frappierendste Kennzeichen der »Schlafkrankheit« oder »Schlummersucht« ist die Zeitspanne zwischen dem Auftreten der Krankheit und der Diagnose. Im Durchschnitt sind es zwölf Jahre. In zahlreichen Fällen wird die Krankheit als Epilepsie oder psychische Störung behandelt, manchmal sogar als Schizophrenie.

Bei mir waren es bis zum medizinisch begründeten Verdacht 13 Jahre, bis zur endgültigen Diagnose noch einmal 25 Jahre. Als die Krankheit ausbrach, war ich zwölf, zur Zeit der Diagnose 50. Medikamente nahm ich schon seit meinem 25. Lebensjahr. Die Medikamente unterliegen dem Betäubungsmittelgesetz und wurden in einigen Fällen nach ein paar Jahren vom Markt genommen. Ich habe die besten Erfahrungen mit Ephedrin gemacht. Der Zeitraum zwischen Einnahme und Wirkung betrug genau 90 Minuten. Ich war also sicher, nach eineinhalb Stunden nicht einzuschlafen, sondern zum Beispiel einem Konzert hellwach folgen zu können. Diese zuverlässige Wirkung habe ich seitdem bei keinem Medikament erlebt. Anfang der 90er-Jahre verschwand Ephedrin mit der Begründung, es sei als Dopingmittel eingesetzt worden. Und zwar ausgerechnet bei Fußballern! (Die Wirkungsdauer betrug etwa fünf Stunden.) Ich kenne als ehemaliger Fußballspieler kein Spiel, das 300 Minuten dauerte …

Alle Medikamente, die ich seitdem eingenommen habe (Tradon, Reactivan und Vigil), wirken nicht so sicher.

Schlaf soll ja so gesund sein. Richtig. Wenn er keine Krankheit ist. Deshalb schlafen ja auch die kleinen Kinder so viel. Ihr Körper braucht das, um sich zu entwickeln. Und ich schlafe zu wenig – zumindest nachts. Deshalb fällt mir das Entfalten am Morgen so schwer. Das Okapi schläft nur 30 Sekunden, aber dafür mehrmals. Ich auch, aber am Tage. Ich ähnele also einer afrikanischen Waldgiraffe. Nicht in der Farbe. Nicht in der Größe. Doch im 30-Sekunden-Schlaf! Darüber müsste ich mal nachdenken.

Mich interessiert: Was bedeutet eigentlich «Das mach ich doch im Schlaf.« Ist es identisch mit »Das mach ich doch mit links und 40 Fieber.«?

Da der Schlaf als Zustand des geschwundenen Bewusstseins verstanden wird, ist das Machen im Schlaf umso höher zu bewerten. Die linke Hand ist (für Rechtshänder) die schwache, und 40 Grad Fieber schränken das Handlungsvermögen beträchtlich ein. Wer da zum Macher wird, beweist überdurchschnittliche Fähigkeiten. Er ist cool, und was er macht, ist megageil! Ich glaube, jetzt wird das Eis dünn. Doch wer sich auf dünnem Eis sicher bewegt, der ist voll krass.

Ich glaube, ich bin mit dem Titel Das mach ich doch im Schlaf auf dem richtigen Weg. Außerdem ist mein Titel doppelbödig. Er bedient nicht nur die Redewendung, sondern beschreibt ganz realistisch einen Teil meines Lebens.

Wie oft habe ich andächtig im Gewandhaus gesessen und war ein ganz normaler Konzertbesucher. Dachten die anderen. Während ich zu einem »verum gaudium« entschwebte. Und wie oft habe ich vor meinem Teller gesessen – daheim oder im Restaurant – und ein leckeres Mahl verspeist, ohne zu wissen, was es ist und wie es geschmeckt hat. Ich war abgehoben.

Wie damals, als ich fünf war. Nur – da lag ich neben mir. Nachdem ich abgehoben war und dem Fahrradkindersitz entschwebte. Also einem geflochtenen kleinen Sitz auf dem Gepäckträger des NSU-Rades (Halbballon) meiner Mutter. Ein kleines Körbchen, das zum Katapult wurde.

Gunter Böhnke als Dreijähriger mit »Hahnenkamm«

Und das kam so: Meine Mutter spielte bei Rotation Dresden Handball. An jenem Sonntag hatte sie noch vor Spielbeginn die große Wäsche gemacht, also gewaschen und aufgehängt. Dann schwang sie sich aufs Fahrrad und fuhr in einem »Affentempo« von Mickten nach Trachenberge. Sie erreichte den Sportplatz kurz vor dem Anpfiff. Die Einfahrt wies ein Gefälle auf, sodass bei flotter Passage Gepäckstücke vom Gepäckträger in die Luft geschleudert wurden – in diesem Falle ich. In hohem Bogen landete ich im Gras. Meine Mutter rief: »Gerhard, kümmere dich um den Gunter.« Gerhard – ein Spielerin-Mann – kümmerte sich. Ich heulte. Dass just dieser Sturz möglicherweise der Auslöser meiner späteren Schlummersucht sein könnte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht ahnen.

Müde war ich schon immer. Bei meiner Geburt soll ich so langsam gewesen sein, dass der Doktor Unterdörfer schon die Zange geholt hatte, als ich dann doch noch den Kopf raussteckte und so laut schrie, dass dem Arzt die Zange aus der Hand fiel. Es handelte sich also nicht um eine Zangengeburt!

So laut wie bei meiner Geburt habe ich später nicht mehr geschrien, aber ich war auch nicht sprachlos. Ich war ja von Anfang an nicht auf den Mund gefallen. Meist nur auf die Knie. Die Narben sind heute noch zu sehen. Beim Fußballspielen bin ich übrigens nie eingeschlafen. Ich saß auch nicht einmal auf der Auswechselbank. Und beim Wandern? Da durfte ich mich beim Rasten nicht auf eine Bank setzen, sonst schlief ich sofort ein. Das beweisen viele Fotos von Klassenfahrten. Einmal bin ich in der Sächsischen Schweiz beim Klettern sogar in einer Klamm eingeschlafen – klammheimlich. So wird erzählt, aber erzählt wird viel …

Eingeschlafen in der Klamm

Zum Beispiel soll ich bei einer Radtour im Muldental zwei schlafende Biber überfahren haben. Das entspricht keineswegs der Wahrheit. Erstens war ich nicht im Muldental, sondern im Werratal unterwegs. Zweitens handelte es sich nicht um Biber, sondern um Eichhörnchen. Und drittens habe ich sie nicht umgefahren, sondern umfahren. Außerdem haben die Tiere nicht geschlafen. Ich habe geschlafen. Natürlich im übertragenen Sinne.

Dabei werden unzählige Bürger in unserem Land von Schlaflosigkeit geplagt. Nur ich nicht. Ich kann immer schlafen. Wenn ich will und auch wenn ich nicht will. Ich träume schon nach fünf Minuten, das kann nicht jeder. Aber fast jeder kann sich nicht an seine Träume erinnern. Ich auch nicht. Mit einer Ausnahme: Nachmittagsträume. Die sind immer grausam und eindrücklich. Glücklicherweise handelt es sich nicht um Wiederholungsträume. Jedes Mal passiert etwas anderes Schreckliches – nur im Traum, zum Glück.

Nach unserer Geburt träumen wir im Schlaf etwa neun Stunden. Mit acht Jahren sind es nur noch drei, und das bleibt für den Rest unseres Lebens so. Die Bezeichnung für den Traumschlaf (REM) ist englisch: Rapid Eye Movement, schnelles Augenrollen. Und das bei geschlossenen Lidern. Eigentlich paradox für einen Schlafenden. Und so ist die deutsche Bezeichnung: Paradoxer Schlaf. Entdeckt wurde das Phänomen erst vor 50 Jahren von Wissenschaftlern in Chicago.

Und wissen Sie, wer gar nicht träumt? – Der Ameisenigel und der Delfin! Deswegen weisen die beiden eine hervorragende Lernleistung auf und haben ein überdurchschnittliches Gedächtnis. Und keine nächtlichen Erektionen.

Frauen können sich häufiger an Träume erinnern als Männer. Weil der Traum im Leben der Frau eine weitaus größere Rolle spielt als beim Mann. Erst träumt sie von einem Mann, der sie liebt und sie beschützt. Danach erwacht sie aus einem ernüchternden Albtraum. Und am Ende träumt sie davon, wie schön es gewesen wäre, wenn alles anders gekommen wäre. Aus der Traum. Oder?

Der Traum kann auch kreative Anstöße geben: Der Russe Dmitri Mendelejew hat das Periodensystem der chemischen Elemente geträumt. Und dem Amerikaner Elias Howe ist die Nähmaschine im Traum erschienen. Selbst Paul McCartney fiel die Grundmelodie für »Yesterday« im Schlaf ein. Aber dass sie 3 000-mal gecovert würde, das hat er sich nicht träumen lassen.

Dazu noch eine Anekdote: Ein Schriftsteller legt jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Notizblock und einen Bleistift neben das Bett. Nach dem Motto »Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe.« Mitten in der Nacht wacht er auf und hat eine tolle Idee für seinen neuen Roman. Ohne Licht zu machen schreibt er auf, was ihm durch den Kopf schießt. Am Morgen liest er auf dem Block: »Junge Frau – alter Mann – große Affäre!« Vielleicht sind die Ideen im Schlaf auch müde?

Schon seit frühester Kindheit war die Straßenbahn für mich eine Schlaftablette. Sie hatte unterschiedliche Namen: Bühlau, Löbtau und Wilder Mann, Coschütz, Niedersedlitz und Radebeul-West. Für uns Kinder war es de Elfe, de Achte und de Dreie, de Neine, de Zwelfe und de Eens. Natürlich schlief es sich nicht in jeder Bahn gleich gut. Am besten war die Elf. Sie hatte »Hechtwagen«, die sich nach hinten und vorn stromlinienförmig verjüngten. Da war der Traumschlaf schnell unterwegs.

Denn meine Tagesschläfrigkeit – wie kurz die einzelnen Phasen auch waren – war immer mit Träumen verbunden. Es waren Träume, in denen ich fliegen konnte, aber auch Traumvisionen voll unausweichlicher Grausamkeit. Oder Verfolgungsjagden, bei denen ich nicht vom Fleck kam.

Nicht vom Fleck kam ich auch manchmal nachts beim Einschlafen oder morgens kurz nach dem Aufwachen. Wir wohnten im Erdgeschoss, und beim Einschlafen sah ich den Schatten eines Mannes mit Hut am geöffneten Fenster vorbeihuschen. Beim Versuch, aus dem Bett zu steigen und nachzusehen, merkte ich, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich war zwar noch wach, aber gelähmt. Ich konnte weder sprechen noch mich bewegen. Nach einer Zeit der absoluten Starre schlief ich übergangslos ein. Morgens beim Aufwachen hörte ich manchmal ein undefinierbares Geräusch und erstarrte. Es war kein Schreck im eigentlichen Sinne. Ich nahm meine Umgebung wahr, konnte mich aber nicht rühren. Und plötzlich war ich wach, und der Spuk war vorbei.

Der Arzt sollte das später als Schlaflähmungen und hypnagoge Halluzinationen bezeichnen. Außerdem diagnostizierte er automatisches Verhalten als automatisches Verhalten. Dabei werden in einem schlafähnlichen Zustand Handlungen wie Schreiben oder Autofahren stereotyp fortgesetzt.

In solch einem Moment habe ich einmal versucht, im Münchner Stadtmuseum ein Gemälde abzuhängen. Ich war vor einer Darstellung der Frauenkirche eingenickt. Die Arme hingen schlaff herab, die Augen waren geschlossen. Plötzlich hoben sich die Arme wie bei einer Marionette (so beschrieb es später meine Frau), und ich griff nach dem Rahmen des Bildes. Ein Aufschrei meiner Frau weckte mich, und ich blickte verdattert auf meine erhobenen Hände.

Falls das wirklich die Fortsetzung einer Handlung war, so müsste ich ja die Absicht gehabt haben, das Gemälde abzuhängen. Aber wozu? Hatte ich eine Affinität zur Münchner Frauenkirche? Ich dachte nach. Da fiel mir ein, dass ich bei der Betrachtung des Gemäldes bemerkt hatte, dass neben dem Fenster des Kirchturms ein Stück Mauerwerk fehlte. Wenn auch nur ein kleiner Stein. Und den hatte ich. In meiner Uhr. Ja, ich besitze eine goldene Uhr mit einem Original-Steinsplitter der Dresdner Frauenkirche. Ein Geschenk der Dresdner Bank. Und dieses Dresdner Steinchen wollte ich in meinem Tagtraum in das Münchner Gemälde einsetzen. Ohne den Schrei meiner Frau säße ich jetzt im Gefängnis. Oder ich läge wenigstens auf der Couch eines Psy­chia­ters.

Das habe ich schon oft in meinem Leben erleben können. Zum Beispiel, wenn ich einen Witz erzählte – das soll in meinem Beruf ja vorkommen –, mir kurz vor der Pointe die Worte entglitten und ich nicht mehr weitersprechen konnte. Der Satz war mir im Munde zerbröselt. Zwar dauerte das nur eine halbe Minute, aber der Witz war im Eimer und der Zuhörer verstört. Die ex­treme Form ist in der Medizin als Lachschlag bekannt. Dabei haut es dem Witze-Erzähler im wahrsten Sinn des Wortes »de Beene weg«. Bei Pointen im Text auf der Bühne passierte das eigentlich nie. Ein Glück.

Der Arzt nennt das Versagen gewisser Muskelgruppen (Knie, Ellenbogen und Nacken) Kataplexie.

Verstört war ich auch, wenn ich etwas Bewegendes erzählte, das mich emotional sehr anrührte und mir die Knie einknickten. Zum Glück war meist ein Stuhl da. Und wenn ich nicht höllisch aufpasste, konnte es passieren, dass mir beim Mittagessen der Kopf nach vorn fiel und ich mit der Nase die leckere Spargelsuppe touchierte. Das konnte sehr heiß werden.

Übrigens soll das einem Leidensgenossen wirklich passiert sein: Alfred Hitchcock. Und sogar Napoleon, dem ein Schlafbedürfnis von vier Stunden pro Nacht nachgesagt wurde, soll bei Audienzen unter Schlafattacken gelitten haben. Das kann ich mir gut vorstellen.

Nun wird man sich fragen, wie ein Betroffener mit solchen Symptomen ein normales Leben führen kann.

Es ist zu berücksichtigen, dass man die Krankheit, die vor mehr als 100 Jahren erstmalig in Frankreich von Jean-Baptiste Gélineau beschrieben wurde, in Deutschland erst in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts erforschte. Die Krankheit ist chronisch und unheilbar. In der DDR wurde die Diagnose vorsichtig umgangen. Aber ich hatte das Glück, auf Grund des Verdachts in letzter Minute vom Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee freigestellt zu werden. Den Einberufungsbefehl hatte ich schon.

Natürlich treten nicht alle Symptome gleichermaßen stark auf. Die Tagesschläfrigkeit und die Kataplexien sind am meisten verbreitet, automatisches Verhalten und hypnagoge Halluzinationen mit Schlaflähmungen weniger häufig. Ein Betroffener oder eine Betroffene mit voller Ausprägung aller Symptome kann keinen normalen Beruf ausüben oder nur mit wesentlichen Einschränkungen. Es gibt in diesen Fällen Einstufungen als Schwerbeschädigte von mindestens 80 Prozent. Beim Treffen der Deutschen Narkolepsie-Gesellschaft, die aus deutschlandweiten Selbsthilfegruppen besteht, waren die Vorträge kurz. Mit mehreren Pausen, da das Auditorium sonst wegschnarcht. Im Hotel lehnten die Teilnehmer wie die Fliegen an der Wand. Vom Frühstücksraum bis zum Vortragssaal. Da die Schlafphasen nur kurz sind, erreichten alle pünktlich den ersten Beitrag.

In der Schule erhaschte ich den ersten Beitrag des Lehrers mühelos. Dann wurde es schwierig. Ich saß meist in der letzten Bank (guter Schüler!) mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Was dem Lehrer nicht besonders auffiel, denn die meisten Schüler machten irgendwas unter der Bank. Ja, wir hatten noch Vorkriegsschulbänke mit versenkten gläsernen Tintenfässern – falls sie noch vorhanden waren. Benutzt wurden sie ohnehin nur bis zur zweiten Klasse, vielleicht bloß in der ersten.

Die Aktivitäten unter der Bank machten dem Lehrervortrag durchaus Konkurrenz. Da wurde »Schund- und Schmutzliteratur« gelesen. Von »Mickey Mouse« bis »Tom Mix«. Es wurden Kaugummi-Bilder getauscht oder Fortsetzungsgeschichten geschrieben. Natürlich auch Liebesbriefchen: »Hehe, Mouni, willsde mid mir gehn?« Nie kam die Rückfrage: »Ja, und wohin?« Die Antwort lautete vielleicht: »Ich denke, du gehst middr Rousi, där Schlambe?« Oder auch: »Habbe keene Zeit. Muss Einkellerungsgartoffeln auslesen.«

Und einer schlief. Wurde er aufgerufen, sprang er auf und antwortete auf die Frage des Lehrers nach dem Triumvirat der Marxschen Lehre. »Die drei Musketiere!« – »Fünf! Setzen!«, parierte der Lehrer. Der Schüler hatte eigentlich gar nicht provozieren wollen – die Antwort war auch unter seinem Niveau. Er war im Traumschlaf bei den drei Musketieren gelandet, und die Frage des Lehrers hatte ihn in eine Traum-Realität katapultiert. Schnell fand er sich auf dem Boden der Tatsachen wieder.

Narkolepsie ist eine organische Krankheit. Der Erkrankte kann sich nicht durch Willensanstrengung gegen die Symptome wehren. Entscheidend für sein Leben mit der Krankheit ist die Akzeptanz durch die Umwelt. Viele der Betroffenen versuchen die Krankheit zu verheimlichen. Sie schämen sich ihrer Schlafanfälle. Und eine große Anzahl weiß gar nicht, dass sie unter einer Krankheit leidet. Sie werden gemobbt, verlieren ihre Arbeit, ziehen sich zurück.

Ich habe als Schüler sowohl die Schlafattacken als auch gelegentlich Kataplexien wahrgenommen, wäre aber nicht auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um eine Krankheit handelt. Von meinem zwölften Lebensjahr an habe ich als Kinderdarsteller am Theater und beim Fernsehen gearbeitet. Seit meinem siebten Jahr habe ich in einer Mannschaft Fußball gespielt. Das heißt, ich habe mich körperlich verausgabt und bin oft erst nach Mitternacht ins Bett gegangen. Einschlafen in der Schule gehörte dazu, und weder meine Eltern noch die Lehrer schöpften Verdacht.

Im Schulchor, im Dramatischen Zirkel, in der Turnerriege und beim Fußball fielen mir nie die Augen zu. Auch nicht im Mathezirkel, den ich jahrelang leitete. Vielleicht habe ich bevorzugt in den Pausen geschlummert. In den Pausen wurden aber auch die Hausaufgaben vom vergangenen Tag gemacht, und es gab Ringkämpfe und Rempeleien, durch die die Rangordnung festgelegt wurde. Eigentlich kaum Gelegenheit zum Schlafen in den Schulpausen.

Anders in der Universität. Da gab es Vorlesungen, Seminare und Versammlungen. Wie geschaffen für einen Schlummersüchtigen. Topfavoriten waren die Vorlesungen in Pädagogik, Didaktik und Methodik, pädagogischer Psychologie und Geschichte der Pädagogik. (Pädagogik galt bei uns Lehrerstudenten als das »Klofenster zur Wissenschaft«.) Allerdings gab es für einen Schläfer (das konnte man damals noch ohne Probleme sagen) ein Problem: Da die Vorlesungen nur von einer »Delegation« der Seminargruppe besucht wurden und für die anderen mit mehreren Bögen Durchschlagpapier mitgeschrieben werden mussten, konnte man nur jede dritte Vorlesung schwänzen. Meine Mitschriften entbehrten nicht einer gewissen grafischen Gestaltung. Auf manchen Seiten verschlangen sich die Wörter zu kalligrafischen Ungetümen, die in einem senkrechten Absturz zusammenbrachen. Im Anschluss war die Schrift wieder ganz normal. Nur selten schmuggelte sich ein Wort in den Text, das nicht dazu gehörte. Es konnte dann schon mal vorkommen, dass neben »Mitschurin« ein »Fußlappen« auftauchte.

Einmal in meinem Leben hat mich die »Krakelschrift« nicht verraten. Als ich Lektoratsleiter im Verlag »Edition Leipzig« war, musste ich nebenbei ein postgraduales Studium absolvieren. Falls ich mich recht erinnere, wurden die DDR-Verlage vom Kulturministerium »verdonnert«, Mitarbeiter zu diesem Studium zu schicken. (Wahrscheinlich gab es keine Studenten, die freiwillig am Institut für Buchhandel und Verlagswesen der Karl-Marx-Universität studiert hätten.) Es dauerte anderthalb Semester, und man erhielt am Ende ein Zeugnis sowie eine Urkunde, die den erfolgreichen Abschluss des postgradualen Absitzens beglaubigten.

Da ich nebenbei noch zu Hause »Maschineschreiben mit zehn Fingern« praktizierte, streikte mein rechter Arm, und ich bekam einen »Tennisarm«, das heißt eine Sehnenscheidenentzündung. Sehr schmerzhaft und langwierig. Einen Vorteil hatte die Erkrankung: Ich konnte in Vorlesungen und Seminaren nicht mitschreiben. (Was sowieso eigentlich nicht sinnvoll gewesen wäre.) Nachdem ein Dozent mich vor der Gruppe ob meiner Faulheit gerügt hatte, schlug er mir vor, mit links zu schreiben. Das versuchte ich auch. Mit dem Ergebnis, dass meine Krakelschrift in den Einschlafattacken jetzt ganz normale »Linksschrift« wurde. Obwohl die Schrift kaum zu lesen war, fehlte mir kaum Stoff für die Prüfung. Es war ohnehin viel »marxistisches Kauderwelsch« über die Bedeutung der Arbeiterklasse für die Entwicklung des Grauwerts2 der Seite.

Eine Ausnahme gab es im Lehrplan: Die Seminare des Slawisten Ralf Schröder. Die waren hochinteressant. Er berichtete über neue Entwicklungen der Gegenwartsliteratur in der Sowjetunion, die in der DDR noch tabu waren. Und er holte aus seiner abgeschabten Ledertasche eine Flasche Bier, die er während der Vorlesung trank. Böse Zungen behaupteten, es sei Wodka gewesen.

Eines Tages beobachteten wir, wie Ralf Schröder mit dem Fahrrad auf den Hof des Instituts fuhr und dort vom Institutsdirektor gestoppt wurde. Es folgte ein kurzes Gespräch, der Slawist nahm einen Schluck aus der Bierflasche, stieg aufs Rad und fuhr davon. Kurz darauf wurde uns mitgeteilt, dass Ralf Schröder krank sei und seine Vorlesungen bis auf weiteres ausfielen. Aber wer aus politischen Gründen sechs Jahre in Bautzen gesessen hatte, dem konnte das Nachtreten der kleinkarierten Parteibürokratie nur ein müdes Lächeln abringen.

Kommen wir zum Versammlungswesen: Bei FDJ3- und Institutsversammlungen gab es eine Anwesenheitspflicht. Parteilehr­jahre4, zu denen in den 70er-Jahren auch Nichtgenossen geladen waren, gab es damals offenbar noch nicht. Zu den Versammlungen des Instituts für Anglistik lud die Sekretärin, Fräulein Schulze. Sie leitete auch die ansehnliche Bibliothek, die kurz vor der Sprengung der Universität 1968 in die feuchten Keller des Dolmetscher-Instituts ausgelagert wurde.

Fräulein Schulze war Jahrgang 1902 und eine Kommilitonin von Professor Dr. Walther Martin, dem Institutsdirektor. Das Schicksal hatte die beiden, nach dem gemeinsamen Studium Ende der 20er-Jahre und der Arbeit in der Schule danach, in das gleiche Institut an der Leipziger Karl-Marx-Universität geführt. Wir hatten durchaus den Eindruck, dass – bei anderem Schicksalsverlauf – auch Fräulein Schulze hätte Institutsdirektor sein können. Damals. Heute natürlich Institutsdirektorin.

Also sie lud uns ein. Den Direktor, seinen Stellvertreter, alle Lehrkräfte, Anglisten und Amerikanisten. Sechs Herren und zwei Damen, beide waren Fräulein Doktor. Heute natürlich Doktorin. Es gab zwei Tagesordnungspunkte: Einsatz als Lehrer*in und Übergang in die Universitätskirche. Zwei Themen, die nicht direkt mit dem Studium der englischen und amerikanischen Sprache und Literatur verbunden waren.

Wir wurden darüber aufgeklärt, dass für eine Fortsetzung des Studiums unser schriftliches Einverständnis erforderlich sei. Ich meinte, nachdem ich kurz eingenickt war – mit weit geöffneten Augen -, ich sei voll und ganz für die Weiterführung. Das sei nicht das geforderte Einverständnis, wurde ich gebremst. Wir sollten erklären, dass wir nach dem Abschluss des fünfjährigen Studiums ohne Zaudern und Zagen in der Schule unterrichten würden, an der uns Partei und Regierung einzusetzen gedächten. Das klang ziemlich unverfänglich, hatte aber mindestens einen Haken. Zumindest für mich. Seit dem zweiten Studienjahr hatte ich ein Auge auf eine Kommilitonin geworfen, um es euphemistisch auszudrücken. Ich stellte mir nun vor, dass sie an eine Schule nach Rostock käme und ich an eine nach Suhl. Die Entfernung betrug zwar nur 500 Kilometer, aber die Zugreise dauerte damals sieben Stunden. Vorsichtig fragte ich, ob man – falls man zu zweit war – wenigstens in einem Bezirk eingesetzt werden könnte. Dann wäre die Entfernung zwischen den Arbeitsstätten maximal 200 Kilometer. Darauf wurde mir klargemacht, dass »zu zweit sein« absolut unpräzis ausgedrückt sei. Falls ich damit eine vom Standesamt beglaubigte Ehe meinte, gäbe es schon Möglichkeiten, dass die Ehepartner näher zusammengerückt würden. Wenn auch nicht gleich auf Sichtweite, scherzte ein Professor.

Ich glaube, diese Aussage hat nicht unwesentlich zu unserem Entschluss beigetragen, noch während des Studiums zu heiraten.

Der zweite Tagesordnungspunkt, Übergang in die Universitätskirche, war so zu verstehen, dass es für Lehrerstudenten keinen geben sollte. Neben unserer Institutsbibliothek – dem Reich von Fräulein Schulze – gab es eine kleine Tür, die in den alten Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert führte. Er war der Rest des Dominikanerklosters, das beim Bau der Universität verschwunden war.

Wenn man aus der Institutsbibliothek kam und zehn Schritte nach links machte, stand man in dem düsteren Gang, der unmittelbar an die Universitätskirche grenzte. Uns wurde nun klargemacht, dass der Weg aus der Bibliothek nach rechts führte, zum Ausgang aus der Universität.

Falls ich mich recht erinnere, wurde die kleine Tür bald danach verschlossen, sodass man sich die Belehrung hätte schenken können.

Die FDJ-Versammlung, an die ich denke, verlief kurz und schmerzhaft. Die FDJ-Universitätsleitung hatte eine Vorlage ausgearbeitet, der wir uneingeschränkt zustimmen sollten. Die Erklärung besagte, dass wir bereit sein sollten, uns mit der Waffe in der Hand an jedem Ort der Deutschen Demokratischen Republik einzufinden, den Partei und Regierung bestimmten. Eine Abstimmung fand nicht statt. Eine zustimmende Unterschrift wurde überraschenderweise auch nicht verlangt. Ich bin sicher, dass einhundertprozentige Zustimmung nach oben gemeldet wurde. Diesmal hatte ich nichts verschlafen.

Die meisten Deutschen verschlafen ohnehin nichts. Und dass sie aus Sachsen kommen, dürfte auch nicht zum Allgemeinwissen zählen. Oder?

Die meisten Deutschen sind aus Sachsen.

Das merkt der Mensch auf Reisen schnell:

Aus Chemnitz, wo die Strümpfe wachsen,

Aus Dresden, wo sie höllisch hell,

Aus Leipzig, wo sie egal drucken

Der Sachse kriegt den Kram nicht satt.

Und alles muss er sich begucken,

Was auf der Welt zwei Sternchen hat.

Wenn du ein stilles Plätzchen fandest,

Sei’s deiner Heimat fern, sei’s nah.

Wenn du bei den Lofoten landest –

Ein Sachse ist gewiss schon da.

Wenn dich die höchsten Gipfel grüßen,

Zieht es dich in die Wüste hin,

Liegt dir ein Paradies zu Füßen –

Ein Sachse liegt schon mitten drin.

»Unsere lieben Sachsen«. Ernst von Wolzogen. 1901

– Ausgerechnet ein Preuße! –

Und immer auf der Flucht – von Dresden nach Merzwiese

Nach dem 13. Februar 1945, den wir – meine Mutter und ich – im Keller unseres Hauses in Dresden-Pieschen überlebt hatten, wurden Frauen mit kleinen Kindern aufgefordert, die brennende Stadt zu verlassen.

Unser Haus gehörte meinem Urgroßvater mütterlicherseits, Robert Wachs. Er arbeitete auf dem Schlachthof und versorgte die manchmal tagelang auf ihren Tod wartenden Tiere mit Futter.5 Er lieferte ihnen sozusagen die »Henkersmahlzeit«. Er war Kleinunternehmer, obwohl er einen Meter fünfundsiebzig groß war. Seine Kinder hießen Hulda, Hella, Hedwig (meine Großmutter), Hilma, Linda und Liddy, Emil (fiel im 1. Weltkrieg), Paul (fiel im 2. Weltkrieg), Otto und Hugo. Die Frauen waren alle ziemlich klein. Wie ich als Kind bemerkte. Zum Ausgleich hießen sie Großtanten. Hulda und Hella waren nicht verheiratet. Sie lebten in einer Wohnung. Hilma hatte keine Kinder. Hugo war lustig, schielte aber mächtig, sodass man nie wusste, wann er einen anschaute. Linda hieß die Hempel-Linda, weil sie mit Walter Hempel verheiratet war. Onkel Walter war immer zu Späßen aufgelegt. Also eigentlich eher selten. Denn meist saß er in einem alten LKW und fuhr nach Hamburg. Dabei ist er dann auch verunglückt. Er war Beifahrer. Der Fahrer ist eingeschlafen und eine Böschung hinuntergefahren, in den Wald. Ihm ist nichts passiert, aber Onkel Walter war tot. Er war der erste Tote in meiner Verwandtschaft, an den ich mich erinnern konnte. Ich war etwa drei Jahre alt. Da soll ja das Erinnerungsvermögen einsetzen.

Genau erinnern kann ich mich noch an die große gehäkelte Decke. Sie war aus roter Wolle und etwa fünf Quadratmeter groß. Vielleicht ist sie in der Erinnerung etwas größer, als sie wirklich war. Aber sie wärmte wie fünf Quadratmeter Wolle. Diese Decke hatte meine Mutter gehäkelt, nachdem mein Vater seinen vorletzten Fronturlaub gehabt hatte und ich – noch weltentrückt – zu strampeln begann. Eine große Rolle sollte diese Decke auf unserer Flucht im Januar 1945 spielen.

Meine Mutter und ich waren schon Ende 1943 aus Dresden aufs Land gefahren, um den drohenden Bombenangriffen zu entgehen. Wir fuhren nach Merzwiese, einem Ort, der 35 Kilometer östlich von Guben lag. Da wohnte die Schwester meines Vaters, die aus Ostpreußen dorthin geheiratet hatte. Sie arbeitete in der Kreisstadt Crossen als Krankenschwester.

Merzwiese war ein Dorf umgeben von pommerschen Kiefernwäldern. Hinter dem Ortseingangsschild quert man auch heute noch die Bahnlinie Guben – Crossen. Dahinter steht das Stellwerk oder Schrankenwärterhaus mit dem Schild »Wezyska«, wie der Ort seit 1945 heißt. Die katholische Kirche sieht man schon aus einiger Entfernung. Ein Backsteinbau, vermutlich vom Ende des 19. Jahrhunderts. Sie steht an einem großen Platz, der von Einfamilienhäusern flankiert wird. Die Nummer 28 ist das dritte Haus von der Kirche. Ein kleiner Vorgarten, ein größerer Hof.

70 Jahre später klingel ich an diesm Haus. Ein etwa 45-jähriger Mann öffnet. Ich erkläre ihm, warum ich hier bin, und frage, ob ich einen Blick ins Haus werfen darf. Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss. Im Wohnzimmer ein Kachelofen. Unser Ofen (das heißt der meiner Tante) aus dem Jahre 1935. Die Kacheln glänzen. Ich bedanke mich bei dem polnischen Mann, der mich durch die Wohnung führt, nachdem ich ein Foto aus dem Jahre 1944 gezeigt hatte: Ich als Baby vor dem Kachelofen.

Gunter Böhnke unter einem Jahr

Merzwiese war ein unbedeutendes pommersches Straßendorf hinter der Oder. Nicht weit von dem Ort lagen die Dörfer Hundsbelle und Brankower Theerofen. Nicht alle Orte hatten solch sprechende Namen. Übrigens wurde Theerofen 1842 nach Merzwiese eingepfarrt. Und 1852 dem Amtsbezirk angeschlossen. Weitere wertvolle Informationen konnte ich mir noch nicht erschließen. Oder doch? 1939 hatte der Ort 1027 Einwohner. Die Besitzerin unseres Hauses hieß Frieda Heidingsfeld. Seit 1979 liegt sie auf dem Friedhof Neu-Aumund.

Wir lebten in Merzwiese, bis sich im Januar 1945 die Front näherte. Am 2. Januar hatte die Rote Armee die Offensive begonnen, mit der sie innerhalb von sechs Wochen die Oder-Neiße-Linie erreichte. Wir verließen den Ort in Richtung Westen. Natürlich nicht ohne die rote Häkeldecke. Dass wir den Ort überhaupt verlassen konnten, verdankten wir einem Hauptmann, der meine Mutter, meine Tante und mich in einem Schützenpanzerwagen mit Kettenantrieb mitnahm, was den Truppen strengstens verboten war. Zivilisten durften bei Rückzugsbewegungen auf keinen Fall die Beweglichkeit der Truppe einschränken. Und ich war mit 16 Monaten nur eingeschränkt für einen Rückzug geeignet. Außerdem war meine Ernährung nur bedingt gewährleistet, und mich plagte ein rücksichtsloser Durchfall. Dennoch schleppte der Offizier uns mit seiner Raupe bis nach Cottbus, klingelte an einem vornehmen Bürgerhaus, in dem noch Licht brannte, und erreichte, dass eine freundliche Dame in den besten Jahren die beiden Frauen und mich aufnahm. Ich revanchierte mich und hinterließ den Inhalt meiner überquellenden Windeln auf dem echten Perserteppich.

Die freundliche Dame quittierte das Geschehen mit einem bitteren Lächeln: »Das macht gar nichts, den Teppich und alles andere kriegen sowieso bloß die Russen.« Auf jeden Fall haben wir uns irgendwie nach Dresden durchgeschlagen. Und als die Rote Armee an der Weichsel stand, waren wir in Dresden-Pieschen. Es war der 12. Februar 1945. Am nächsten Abend saßen wir wieder in unserem Keller. Wir wussten nicht, dass in der Nacht und am folgenden Tag Dresden unwiederbringlich zerstört werden würde. Am 14. Februar verließen wir Dresden und blickten von Wahnsdorf im Norden auf die noch immer brennende Stadt. Wir waren bei einer Handballerin aus der Mannschaft meiner Mutter untergekommen.

Als wir wieder nach Dresden zurückkehrten, war unser Haus eine Ruine. Es war bis zum Erdgeschoss abgebrannt. Wir besaßen noch zwei Wäschekörbe, die im Keller gewesen waren: in einem war Geschirr, in dem anderen Dokumente und Bücher. Ausgebombt …

Die Eltern und die Schwester meiner Mutter lebten in kleinen Wohnungen. Kein Platz für meine Mutter mit dem Winzling. Doch es gab ja noch die Tante aus Ostpreußen, die wir nach der gemeinsamen Flucht hinter Cottbus verloren hatten. Bisher gab es kein Lebenszeichen von ihr.

Wir machten uns wieder auf den Weg zur Handballerin. Es fuhr keine Straßenbahn. Der Kinderwagen war gleichzeitig Transportkarre für das Nötigste: Teller und Besteck, ein Tischtuch und Windeln.

An der Stadtgrenze zwischen Dresden und Radebeul kommt uns ein großer, von einem Pferd gezogener Tafelwagen entgegen. Auf der Ladefläche fast 20 Personen. Plötzlich ein Schrei: »Irmi!« (Meine Mutter hieß Irmgard.) Wir erstarrten. Also meine Mutter. Ich starrte nur aus dem Kinderwagen: Tante Else!

Die Tante Else aus Ostpreußen wohnte jetzt in einem kleinen Dorf hinter Wittenberge an der Elbe. Nach dem Bombardement Dresdens hieß es in Brandenburg, die Bombennacht habe niemand überlebt. Tante Else glaubte es nicht. Sie fuhr nach Dresden. Und begegnete uns an der Stadtgrenze. Es war ein Wunder.

Wir fuhren – mit welchen Verkehrsmitteln auch immer – mit ihr nach Ferbitz. So hieß das Dorf. Es hatte etwa 100 Bewohner. Auf jeden Fall 52 Feuerstellen (Wohnhäuser). 1423 fand das Runddorf erstmalig Erwähnung. Dort lebten wir fast zwei Jahre. Meine Mutter arbeitete auf dem Feld und auf dem Bauernhof. Und ich lebte zwischen Hühnern, Gänsen und Kaninchen. Mit dem Hofhund Karlfriedrich war ich befreundet. Er verjagte die Gänse, die mich bedrohten. Und ich brachte ihm manchmal einen Knochen vom Mittagessen. Offensichtlich gab es ab und an Fleisch. Davon konnte man in Dresden nur träumen. Manchmal durfte ich zum Melken der Kühe mit in den Stall. Da war es immer schön warm. Die Kühe brummten zufrieden, wenn das Euter geleert war. Und ich bekam einen Schöpflöffel Milch, die durch ein Leinentuch geseiht wurde, direkt von der Kuh.