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»Wenn alle schweigen, wird sich nie etwas ändern.« Majella Lenzen war 40 Jahre lang Schwester Maria Lauda Über die Katholische Kirche wird viel geredet und noch mehr spekuliert, denn nur selten können wir hinter die Mauern des Vatikans oder der Klöster schauen. Informationen aus erster Hand gibt nun Majella Lenzen, sie bricht das Schweigen und berichtet von ihren Erfahrungen als Schwester Maria Lauda. 33 Jahre war sie im Dienst der Kirche in Afrika tätig. In Tansania baut die gelernte Krankenschwester ein Krankenhaus auf. Cholera, Malaria, Kaiserschnitte gehören zu ihrem Alltag. Als Provinzoberin in Simbabwe versucht sie die Ordensregeln zu erneuern und gerät in Konflikt mit der Kirche. Sie wird in eine von HIV stark betroffene Krisenregion versetzt, wo sie die kirchliche Aidsarbeit koordiniert. Als sie Kondome ins Rotlichtviertel von Morogoro transportiert, provoziert sie den finalen Skandal. Sie wird von ihrem Bischof in ein sozial prekäres Leben entlassen und von ihren Gelübden entbunden. Majella Lenzen erzählt mit Humor, Ironie und Demut von den abenteuerlichen Episoden ihres Lebens als Missionarin. Sie wankt nicht in ihrem Glauben, trotz der Ungerechtigkeit, die sie erlitten hat, sondern hofft auf eine bessere, eine aufrichtigere Kirche.
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Seitenzahl: 333
Majella Lenzen
DAS MÖGE GOTT VERHÜTEN
Warum ich keine Nonne mehr sein kann
Die Autorin erklärt, dass die Schilderungen im Buch auf ihren Erinnerungen beruhen. Es ist ihre persönliche Meinung, die sich durch subjektive Empfindungen gebildet hat. Die Dialoge spiegeln nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß das damals Gesagte wider.
eBook 2009
© 2009 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Zero, München
Satz: Fagott, Ffm
ISBN eBook: 978-3-8321-8509-1
ISBN App: 978-3-8321-8528-2
www.dumont-buchverlag.de
Meinen Eltern, die mir das Leben schenkten.
Meinen Freunden und allen, die immer an mich geglaubt haben.
»Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt ... Sagte ich aber, ich will nicht mehr an dich denken und in deinem Namen sprechen, so war mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer. Ich quälte mich, es auszuhalten ... Doch der Herr steht mir bei wie ein gewaltiger Held ... Singt und rühmt den Herrn, denn er rettet das Leben der Armen!«
Jesaja, 20,7–14
Einleitung – »Maisha ni Safari«
»Wir haben einen neuen Papst«, tönt es aus dem Fernseher. Und wenig später sehe ich Josef Kardinal Ratzinger, der sich als Papst Benedikt XVI. den begeisterten Menschen auf dem Petersplatz zeigt. Als er Präfekt der Glaubenskongregation in Rom war, hat er leider zugelassen, dass durch das Verbot von Kondomen meine Aids-Arbeit in Ostafrika zu einem jähen Ende kam – was schließlich zum Austritt aus meinem Orden führte. Jetzt bekleidet er das höchste kirchliche Amt. Ich bin sprachlos und kämpfe mit den Tränen. Als ich den Papst dann aber in Ruhe anschaue und in seiner menschlichen Gebrechlichkeit da stehen sehe, empfinde ich Mitgefühl. Auch er kann sich nur im Rahmen des Systems Kirche bewegen, unter dem Mandat der »Frohen Botschaft«, wie das Evangelium zeitgemäß genannt wird.
Am selben Abend ging ich zu einer Aufführung des Russischen Balletts, Peter Tschaikowskys Dornröschen stand auf dem Spielplan. Die Musik war etwas laut für das kleine Stadttheater in Düren, wo ich jetzt lebe. Aber die Geschichte trug mich über das Erstaunen, ja, Erschrecken des Tages hinaus, in längst vergangene Zeiten. Oder waren sie noch gar nicht so lange vergangen, wie ich glaubte?
Die Uraufführung von Dornröschen hatte 1890 in Sankt Petersburg stattgefunden. Und Tschaikowski selbst hielt dieses Ballett für sein bestes Werk. Die Grazie und Anmut der Tanzenden, ihre perfekte Körperdisziplin und die träumerische Musik waren auch an diesem Abend ein Genuss. Ein Geschenk des Himmels, würde ich am liebs ten sagen, und ein Hinweis darauf, dass es sich lohnt zu leben.
Während die Freude über diesen Kunstgenuss auch jetzt noch – beim Aufschreiben des Erlebnisses – nachschwingt, wird ein früheres wach, das mich schnell ernüchtert. Denn vor gut einem Jahrzehnt hatte ich eine andere Erfahrung mit Tschaikowski gemacht, und zwar in einem unserer Klöster in Ostafrika. Meinen Mitschwestern machte ich damals den Vorschlag, gemeinsam ein Video des Balletts Schwanensee anzuschauen – ich hatte es bei einer befreundeten Ärztin ausgeliehen. Die Einführung zu der Inszenierung war in einem verständlichen Englisch, sodass wir alle wussten, worum es beim »Tanz der vier kleinen Schwäne« ging. Das Gehörte begeisterte mich, und ich freute mich, den nun kommenden Genuss mit den anderen zu teilen.
Doch es kam nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Meine Mitschwestern merkten nichts von der schönen Musik und der ausdrucksstarken Darbietung. Nein, überhaupt nicht. Sie reagierten nur auf die vermeintlich obszöne Kleidung, auf die »unanständigen« Posen. Von Kunst keine Rede. Und da ich als Überbringerin des Videos der Auslöser für ihren Unmut war, wurde ich auch als Teil dieses Bösen gesehen, das ich den Mitschwestern zugemutet hatte. Sie protestierten derart vehement, dass ich schließlich kopfschüttelnd die Vorführung abbrach und den Videorekorder ausschaltete.
Es handelt sich hier nicht um irgendeine Anekdote. Es geht auch nicht darum, dass die damalige Schwesternkommunität wohl nie zuvor in einem Ballett war. Nein, dieses Erlebnis war für mich deshalb so schmerzhaft, weil ich spürte, dass es keine Chance gab, über diese Aufführung, über die Märchenmotive, über die unglücklich verzauberte Prinzessin zu diskutieren. Für die Schwestern existierte nur die eine Wahrnehmung, das Gut-und-Böse-Prinzip, so wie es in der Ordensregel festgelegt worden war und wie es, leicht verständlich, als Gradmesser für alles angelegt werden konnte. Ein Dialog war unmöglich, weil wir nicht angeleitet wurden, in gegenseitigem Austausch voneinander zu lernen. Und das betraf nicht nur diese Situation, ich erlebte dies bei vielen Gelegenheiten. In unserem Orden verhinderten Gebote und Kontrollen eine eigenständige, freie Meinungsfindung. Im Bemühen um das ideale Ordensleben spielten wir alle unsere vorgegebene Rolle. Das hieß: Das System Orden ließ keine Individualität zu. Man kann das auch Indoktrination nennen. Und wer wie ich gegen dieses System rebellierte, musste mit kirchlichem Mobbing rechnen. Was ich dann auch erleben musste – mit schweren gesundheitlichen Folgen.
Der bekannte Psychologe Michael Lukas Moeller sagte einmal: »Die Wahrheit beginnt zu zweit.« Und Thomas Merton, einer der großen Mystiker der Neuzeit, drückte es so aus: »Keiner ist eine Insel.« Eine Gemeinschaft, die keinen Dialog praktiziert und sich dem gemeinsamen Wachsen verschließt, behindert ihren eigenen Reifungsprozess. Wovor haben wir Angst, dass wir uns diesem Prinzip der Wahrheitsfindung so verweigern, dass wir sogar Unwahrheiten hinnehmen?
Mittlerweile bin ich von der Bindung an die Ordensregel befreit, besser gesagt: Ich bin 1995 befreit worden. Freiwillig war mein Austritt aus meinem Orden nicht, ich bin dazu gedrängt worden, weil zu vieles in meinem Leben passierte, für das ich keine ehrlichen Antworten erhielt, weil zu vieles in meinem Leben über meinen Kopf hinweg beschlossen wurde. Aber nichts kann mich von einer weiteren Suche nach Wahrheit entbinden, der Suche nach einer besseren, aufrichtigeren Kirche. Vierzig Jahre lang war ich Mitglied in einer Gemeinschaft, in der mir die Schwestern nahe standen, die einen offeneren Umgang mit den Ordensregeln leben wollten. Dreiunddreißig Jahre war ich als Schwester Maria Lauda im Dienst der Kirche in Afrika tätig. Dreiunddreißig Jahre lang habe ich Menschen geholfen, insbesondere Kranken, damit sie ein Leben in Würde führen konnten. Die Menschen litten unter Cholera, Malaria, HIV, Aids – ihr Unglück hat mich mutig werden lassen. Bis es zum finalen Skandal kam: Ich wurde als »Kondom-Nonne« stigmatisiert, weil ich mich – gegen die Gebote der Kirche – für Verhütungsmittel einsetzte, als eine Möglichkeit, der Immunschwäche Aids präventiv entgegenzuwirken. Für mich war das eine Notwendigkeit, denn ich habe das Elend in den Hütten der verwaisten Kinder in Ostafrika erlebt, habe die entsetzlich abgemagerten Körper der gezeichneten Frauen gesehen, ihre entkräfteten Hände gehalten und in ihre sorgenvollen, tief liegenden Augen geschaut. Doch trotz all meiner Kritik an der katholischen Kirche und den Konflikten mir ihr: Nicht ein Jahr möchte ich von meiner Zeit als Ordensschwester missen. Dazu habe ich auch zu viel Glück in den Augen der Menschen gesehen, denen ich helfen konnte. Und das allein war auch der Grund, warum ich Missionarin werden wollte – nicht, um andere Menschen zum Glauben zu bekehren oder mich mit den Kirchenfunktionären auseinanderzusetzen. Aber was wusste ich als junges Mädchen schon von der Geschichte der Missionsarbeit? Eigentlich nichts, außer, dass eine Tante von mir diese Tätigkeit in Afrika ausübte, mein Vater selbst gern Missionar geworden wäre.
Wenn ich im Austausch mit anderen Menschen von meinem Leben erzähle, stoße ich auf die unterschiedlichsten Reaktionen. »Das System Kirche ist wirklich kaum zu verstehen«, meinen viele. Oder schlicht: »Sie haben aber Mut!«
Wiederholt wurde ich ermutigt, alles aufzuschreiben. »Maisha nisafari ndefu – das Leben ist eine lange Reise«, heißt es auf Swahili. Meine Lebensreise führte mich dreiunddreißig Jahre lang nach Afrika, auf diesen wunderbaren und doch so unbekannten Kontinent. Diese Jahre sind ein Teil von mir. In dieser Zeit konnte ich mich zu dem Menschen entwickeln, der ich jetzt bin. Dafür bin ich sehr dankbar. Gleichzeitig drängte es mich, auch das festzuhalten, was ich für Unrecht halte, was mich zutiefst demütigte, die Erfahrung, dass wir Schwestern als Einzelne uns dem System unterordnen müssen und im Grunde wie in einem Gefängnis leben. Vielleicht regen meine Zeilen zum Dialog oder wenigstens zum Nachdenken an.
Ich lernte im Kloster, perfekt zu funktionieren, und musste, als ich von meinen Gelübden entbunden wurde, feststellen, dass meine bisherige Lebensweise in der sogenannten säkularen Welt nicht mehr griff. Mit dieser Erfahrung wurde ich nicht nur von der Kirche alleingelassen, sondern ich war, wie jede Nonne, die austritt, stigmatisiert, ähnlich den HIV/Aids-Patienten, die ich in den letzten Jahren meiner Schwesternzeit betreuen durfte.
»Die Wahrheit bedarf eines mutigen Menschen, der sie ausspricht!« Diese Worte werden den unterschiedlichsten Vorbildern in den Mund gelegt, etwa Mahatma Gandhi, Sigmund Freud oder Albert Einstein. Jeder Einzelne von ihnen hat auf seine Art Zeugnis für die Wahrheit abgelegt. Sie waren Propheten ihrer Zeit. Und wir? Können wir nicht alle Propheten unserer Zeit sein?
Warum kann die Kirche nicht eine solche Rolle übernehmen? Statt Neues zu wagen, wird es reflexhaft verurteilt. Als das Kirchenoberhaupt im März 2009 zu seiner ersten Afrikareise seit seiner Wahl aufbrach, verbot er weiterhin kategorisch den Gebrauch von Kondomen, obwohl seit den achtziger Jahren mehr als fünfundzwanzig Millionen Menschen auf diesem Kontinent an Aids gestorben sind. Seine Worte auf dem Weg nach Kamerun: »Man kann das Aids-Problem nicht durch die Verteilung von Kondomen regeln. Ihre Benutzung verschlimmert vielmehr das Problem.« Die Lösung liege in einem »spirituellen und menschlichen Erwachen« und der »Freundschaft für die Leidenden«. Was für ein Hohn. In meinem Orden habe ich genau das gelebt, als »Mama Twiga« oder »Schwester Giraffe«.
Flug über den Wolken
Im April 1955 nahm die Lufthansa, zum ersten Mal nach dem Krieg, ihre Flüge wieder auf, und schon bald war der Luftverkehr die gängige Verbindung zwischen den Kontinenten. Der Seeweg dauerte bedeutend länger und war zudem teurer. Auch wenn ich das bedauerte – ich hätte mich gern langsam dem afrikanischem Kontinent genähert –, so gehörte ich zu denjenigen, die sich am 8. Dezember 1959 auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol versammelten. Eine Maschine war extra für uns Missionare bereitgestellt worden. Deshalb wimmelte es in der Abflughalle nur so von Ordensleuten. Es war ein denkwürdiger Tag, und wir wurden mit viel Begleitung verabschiedet, denn alle wollten an diesem großen Ereignis teilhaben. Der äußere Trubel half, die innere Aufregung zu überspielen. Damals waren noch drei Tage nötig, um von Amsterdam nach Tabora in Tanganjika zu gelangen, meinem Ziel.
Der erste Stopp war in Rom, wo damals Papst Johannes XXIII. residierte; dass er die Kirche durch Reformen beleben wollte, ahnte noch niemand. In einer Audienz wurden wir gemeinsam nochmals kirchlich ausgesandt, also mit dem Segen der Kirche in die Mission geschickt. Danach folgte eine weitere Zwischenlandung – direkt in der Wüste – zum Auftanken, wie es hieß. Eine Baracke mit einer Girlande aus vertrockneten Orangen blieb mir in Erinnerung, dazu der heiße, trockene Wüstensand und ein wunderbar funkelnder Sternenhimmel, der mein Herz höherschlagen ließ und leicht aufkeimendes Heimweh besänftigte. Immerhin hatte ich noch nie eine so weite Reise unternommen. Ich wusste nicht, wann ich meine Eltern wiedersehen würde. Zehn Jahre würden es sicher sein, so wurde uns gesagt.
Als wir in Entebbe landeten, der damaligen Hauptstadt Ugandas (heute Kampala), ging die Sonne bereits wieder unter, und der Schlafsaal bei den Karmeliterinnen bot eine willkommene Bleibe für die Nacht im Unbekannten. Der Zementboden war kalt, jedes Geräusch hallte durch den Saal. Wir mussten uns mit Kerzenlicht behelfen, die einzelnen Betten waren notdürftig durch Laken voneinander abgegrenzt. Moskitos schwirrten überall herum. Doch auch das Zirpen der Grillen war zu hören und das Gequake der Frösche aus dem nahen Ufergras. Im Innenhof konnte ich wieder zu einem sternenübersäten Himmel aufblicken, der sich in atemberaubender Leuchtkraft über mir ausspannte. Der Anblick war überwältigend. Genauso faszinierend wie zuvor der schwerelose Flug über den Wolken. Angst? Nein, die ließ ich nicht zu. Jetzt konnte ich in diesem Neuanfang mein Gottvertrauen auf die Probe stellen. Seit dem siebten Lebensjahr und dem Tag der Ersten Heiligen Kommunion glaubte ich, dem inneren Drang meiner Berufung folgen zu müssen. Wie meine Patentante im fernen Afrika wollte ich ein ähnliches Abenteuer wagen, wollte erfüllen, was sich mein Vater immer erträumt hatte, aber aus familiären Gründen nicht realisieren konnte. Und so war ich mit fünfzehn als Aspirantin im Missionsinternat Neuenbeken in der Nähe von Paderborn aufgenommen worden. Jetzt war ich einundzwanzig – und hatte ostafrikanischen Boden betreten.
Achttausend Kilometer Entfernung lagen zwischen der Heimat und dieser neuen Welt, die ich nur flüchtig kannte, etwa durch die Berichte und Briefe meiner Tante. War es nun die Erfüllung meines eigenen, persönlichen Traumes? Folgte ich nicht nur dem Wunsch meiner Tante und meines Vaters? War ich wirklich Missionarin geworden, um anderen Menschen zu helfen? Und zwar hier, in Afrika, wo der schneebedeckte Kilimandscharo, der höchste Berg Afrikas, mit 5895 Metern aus der Tropenlandschaft herausragte?
Im November 1938 kam ich in Aachen zur Welt. Meine Eltern, Erika und Ludwig Lenzen, gaben mir den Namen Majella, der oft als ungewöhnlich angesehen wurde. Das lag daran, dass ich eine Ordensfrau als Taufpatin hatte. Sie hieß Majellina, was ihr nicht sonderlich gefiel, und sie wünschte sich für mich die kürzere Form: Majella, nach dem heiligen Bruder Gerhard Majella.
Als meine Mutter guter Hoffnung war, pflanzte mein Vater zwei kleine Apfelbäume in unserem Garten, die unterschiedliche Sorten tragen sollten, aber für ihn auch mit einer jeweiligen Bedeutung versehen waren: Boskop stand für einen Jungen und Goldrenette für ein Mädchen. Er pflegte beide hingebungsvoll, ohne eines vorzuziehen, als erwarte er ein Zeichen, aber keines der Bäumchen verriet, welches Geschlecht das erste Kind haben würde. Als ich dann auf die Welt kam, war es eine Überraschung – und ich wurde genauso freudig empfangen, als sei ich ein Junge.
Manchmal dachte ich später, dass die fürsorgliche Pflege beider Bäumchen doch eine Auswirkung auf mein weiteres Leben haben sollte, denn ich zeigte keine besonderen Vorlieben, die mich als Mädchen ausgezeichnet hätten. Im Gegenteil: Ich kletterte gern auf Bäume und spielte nicht schlecht Fußball. Dass im selben November die »Reichskristallnacht« – und schon bald ein sinnloser Weltkrieg – viele Menschen das Leben kostete und uns bis ins Mark erschütterte, gehört auch zum Beginn meines Lebens. Ich lernte früh, schwer zu Verstehendes erst einmal zu akzeptieren.
Als ich drei war, kam mein Bruder Lothar zur Welt. Mit seinen hellblauen Augen und dem blonden Lockenkopf gewann er die Herzen der Menschen. Die Eltern waren stolz auf uns beide und hofften, dass wir gemeinsam die Grausamkeit des Krieges heil überstehen würden.
Mein Vater war der Jüngste von sechzehn Kindern. Sein Vater starb, als er erst sieben Jahre alt war. Die Mutter klammerte sich an ihn, als sei er ein Ersatz ihres so früh verstorbenen Mannes. Sie bat ihn später, als mein Vater bereits eine Klosterschule besuchte, weil er gern Missionar werden wollte, seinen Lebenswunsch hintanzustellen, um im elterlichen Betrieb – eine Bäckerei und Konditorei – zu arbeiten und so die Familie vor dem Ruin zu bewahren. Es war die Zeit der großen Wirtschaftskrise, Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Seine Mitarbeit im Familienbetrieb setzte er sogar fort, als er bereits als Redakteur beim Politischen Tageblatt in Aachen arbeitete. Deutsch und Literatur waren schon früh das bevorzugte Interessengebiet meines Vaters. Bereits im Konvikt, im Klosterstift, schrieb er Dramen, nun konnte er als Journalist sein Talent verwirklichen. Als Volontär hatte er über Sportereignisse zu berichten. Er schrieb anschaulich, spannend und traf den Ton der »Zuschauer«. Sie liebten diese Lebendigkeit, und die Zeitung erfuhr durch ihn eine gewaltige Auflagensteigerung. Das sicherte ihm den Arbeitsplatz, und später konnte er das Feuilletonressort übernehmen.
1945 rollten die russischen Panzer über die Elbe. In mondheller Nacht stolperten wir über einen Kornacker.
Ich war fast sieben, und wir lebten damals im Erzgebirge, weil mein Vater als bekennender und parteiloser Katholik bei einem politischen Blatt, noch dazu in leitender Stellung, in Gefahr war. Es war für ihn nicht mehr möglich, in Aachen zu bleiben, und so war er in der Endphase des Krieges mit uns in ein kleines Erzgebirgsdorf gezogen, wo uns der heimische Pfarrer eine Unterkunft besorgte. Mein Vater arbeitete in Chemnitz, um bei der dortigen, politisch weniger bedeutungsvollen Zeitung unverfängliche Artikel zu schreiben – etwa Geschichten über Tiere und Landschaften. An freien Wochenenden kam er uns besuchen, wenn möglich.
Am Ende des Krieges kamen die Russen und die Sicherheit, in der wir uns bislang gewähnt hatten, war vorbei. Zu Tausenden wurden deutsche Gefangene über einen Feldweg abtransportiert. Ihr dumpfes Singen sowie die Peitschenhiebe der Russen, die die deutschen Soldaten vorwärts trieben, und die schrillen Pfiffe prägten sich mir tief ein. Aus diesem Grund hatte mein Vater beschlossen, in den amerikanischen Sektor zu fliehen, der nicht weit entfernt war. Es war geplant, dass er uns bei Nacht über die Sektorengrenze führen sollte. Meine Mutter hielt uns Kinder fest an der Hand, während mein Vater seine Schreibmaschine und etwas Wäsche trug. Aber wir wurden entdeckt und mit vorgehaltenen Karabinern untersucht. Mein Vater konnte nur stümperhaft Russisch, weshalb er die Soldaten nicht von seiner Arbeit als Journalist überzeugen konnte. Im Gegenteil, er wurde sogar für einen orthodoxen Priester gehalten, der mit seiner Familie fliehen wollte. Das vergoldete Kruzifix, das er immer bei sich trug, schien das zu belegen. Man schickte uns also in den Wald zurück, aus dem wir gerade gekommen waren. Wir glaubten uns dem Freischuss ausgeliefert. Aber wir erreichten das schützende Dunkel der Bäume, ohne dass uns etwas passierte. Wir lebten!
Die ganze Nacht wanderten wir weiter, immer auf der Suche nach der Grenze zwischen russischem und amerikanischem Besatzungsgebiet, immer darauf bedacht, die elektrisch geladenen Warnleitungen zu umgehen. Der dreijährige Lothar wimmerte vor Müdigkeit auf Vaters Schultern, während ich wiederholt stolperte und vor Erschöpfung erbrechen musste. »Angst dürfen wir nicht aufkommen lassen«, sagte mein Vater wieder und wieder, »sonst schaffen wir es nicht.«
Beim ersten Morgengrauen versuchten wir erneut den Durchbruch. Vater versteckte uns hinter Sträuchern und ging mutig auf die vermeintlichen Wachen zu, die sich beim Nähertreten als dunkle Wacholderbäume entpuppten. Deshalb antworteten sie auch nicht auf seine vorsichtigen Fragen. Aber Arbeiter, die auf ihren Fahrrädern näher kamen, zeigten den sicheren Weg über die Straße. Auf der anderen Seite hatten wir die Grenze bereits überschritten – und waren frei.
In dem nächstgelegenen Ort suchten wir das Pfarrhaus auf, das als Sammelstelle für einen Transport in die Lüneburger Heide diente. Als Flüchtlinge und Ausgebombte – unsere Wohnung in Aachen war zerstört – wurden wir nach Tagen in einem Dorf mit acht Bauernhöfen in der Nähe von Lüneburg einquartiert. Der kleine Ort lag idyllisch zwischen weiten Feldern, einem klaren Bach und bewaldeten Hängen. Ein Paradies für Kinder. Dennoch gab es auch hier Hürden zu nehmen, denn wir galten als Fremde, noch dazu als Katholiken (das Dorf war evangelisch), und wurden nur widerwillig aufgenommen.
Anfangs brachte man uns in einem Raum unter, in dem schon andere Flüchtlinge gelebt hatten, die an Typhus erkrankt waren. Dass nur Vater sich ansteckte, war erstaunlich. Denn wir besaßen damals nur eine einzige Waschschüssel für uns alle. Er kam ins Krankenhaus, aber es blieb für ihn nicht nur bei diesem einen Aufenthalt. Die Typhusbazillen setzten sich in der Gallenblase fest und sorgten für Entzündungen und Koliken. In der Folge musste er mehrmals operiert werden.
Somit waren die Jahre in der Heide auch eine harte Prüfung. Wenn wir Kinder zum Spielen gingen, mussten wir in Rufweite bleiben, damit die Eltern immer mit unserer Unterstützung rechnen konnten. Zum Beispiel half ich meiner Mutter bei Einläufen, wenn sie es selbst nicht schaffte, oder kochte für meinen Vater wässrigen Brei und dünnen Kamillentee. Durch unseren »Bereitschaftsdienst« wurden Lothar und ich zu Außenseitern, weil die anderen Kinder nicht begreifen konnten, dass es uns nicht erlaubt war, mit ihnen durch die Wiesen und Wälder zu toben.
Die Volksschule besuchten wir in Kolkhagen – wegen meines Alters wurde ich sofort in die zweite Klasse eingestuft –, später gingen wir beide auf das Gymnasium in Lüneburg. Ich erinnere mich noch, dass mein Klassenlehrer in der Volksschule oft heftige Schläge austeilte und uns ängstigte; geprügelte Schüler flohen sogar durchs Fenster. Als Vater gesünder wurde, übernahm er den Religionsunterricht an der Volksschule und führte mildere Methoden ein. Aber der Religionsunterricht machte nur eine Stunde im wöchentlichen Schulalltag aus, und so hieß es in meinen Zeugnissen aus dieser Zeit, dass ich mich nicht genug am Unterricht beteilige. War ich so verängstigt, dass ich mich nur meldete, wenn ich meiner Sache sicher war? Bestimmt.
Für die Erziehung von uns Kindern hatte mein Vater feste Regeln aufgestellt, etwa, dass wir bei Tisch oft nur »ein Kolloquium mit gutem Deutsch« führen durften, eine schnoddrige Sprache war tabu. Sonst hieß es »Stillschweigen«, wie im Kloster. Das kannte Vater ja. Dieses Redeverbot führte manchmal dazu, dass Lothar und ich so laut lachten, bis uns die Tränen kamen. Dann war an ein Stillschweigen nicht mehr zu denken. Gott sei Dank war Mutter immer auf unserer Seite. Sie erlaubte auch, dass wir uns unter dem Tisch eine Art Zeltlager bauten und an kalten Regentagen dort spielen durften. Aber wir mussten immer leise sein, um Vater nicht zu stören. Diese ständige Rücksichtnahme wurde mir zur zweiten Natur – sie führte auch dazu, dass ich während meines Klosterlebens erst sehr spät kritisch wurde. War er nicht krank, schrieb er. Das gleichmäßig klappernde Geräusch seiner Schreibmaschine habe ich so verinnerlicht, dass ich in späteren Jahren, in Afrika, auch in der Nacht noch wichtige Reporte tippen wollte. Verständlicherweise waren die Mitschwestern nicht erbaut von der Störung.
Eine weitere Regel betraf die Pünktlichkeit. Vater drohte mit Strafen bei Nichteinhaltung einer verabredeten Uhrzeit, wenngleich erst nach zweimaliger Warnung. Ich schaffte es trotzdem, ihn so herauszufordern, dass ich noch mit zehn Jahren eine heftige Tracht Prügel bekam. Vor Schreck darüber gab meine Blase nach, und ich stand auf einmal in einer Lache. Ich fühlte mich gekränkt und unverstanden, denn die Zeiteinteilung meiner Eltern war rigoros. Aber feige war ich nicht. Im Gegenteil. Zum Beispiel stellte ich mich einer Gruppe von Jungen, die meinen Bruder verdreschen wollten. Ich verprügelte deren Anführer so gründlich, dass sich alle verzogen. Und auch bei den vielen schweren Gewittern in der Heide blieb ich erstaunlich ruhig. Meine Angst besiegte ich mit Stoßgebeten.
Zu den vielfachen Erinnerungen meiner Jugend gehören die langen Gespräche im Familienkreis, bei denen Vater uns ein lebendiges Bild von Gott ausmalte. Dabei glühten seine Augen vor Eifer, er wurde in diesen Momenten gewissermaßen zum Missionar, der seine innere Überzeugung von der Liebe Gottes an seine Zuhörer weitergeben wollte.
Aber bei diesen Erzählungen ging es nicht nur um Gott. So berichtete er uns zum Beispiel von einer abenteuerlichen Reise als Korrespondent, die ihn auf einem Fischkutter nach Lappland brachte. Da sich diese Möglichkeit unerwartet bot, hatte er kaum mehr als Unterwäsche im Gepäck. Aber es blieb noch Zeit, einen wunderbaren Strauß Sonnenblumen in einem Floristengeschäft für meine Mutter zu bestellen, als Symbol seiner Liebe. Mit leicht geröteten Wangen konnte er auch von seinem Flug mit der berühmten deutschen Pilotin Hanna Reitsch sprechen. Sie, über die er einen Artikel verfassen sollte, hatte 1931 den Weltrekord im Dauer-Segelflug für Frauen errungen. Sie fand es toll, dass mein Vater sich zu ihr in die Maschine setzte – und ich träumte zeitlebens vom Fliegen. Ob auch das vererbt wurde?
Wir lernten früh, mit eigenen Worten frei zu Gott zu sprechen, und meine Vorbereitung zur Ersten Heiligen Kommunion fand in einem von Nonnen geleiteten Heim in Lüneburg statt. Für die Beichte, unsere Premiere, sollten wir unsere Sünden auf einen Zettel schreiben. Dass ich mich weigerte, macht mich heute noch stolz. Ich wusste, was ich zu sagen hatte. Etwas Schriftliches konnte auch von anderen eingesehen werden, und das wollte ich vermeiden. Nach der Feier brachten die Eltern mich in einer Kutsche nach Hause. Das war etwas ganz Besonderes. Das Festtagskleid war ausgeliehen, und für die groben Schuhe schämte ich mich. Aber das innere Erlebnis dieses Tages hat alles Äußere weit übertroffen. In mir prägte sich das Bewusstsein, dass Christus, dessen Leib ich empfing, auch tatsächlich von mir Besitz ergriffen hatte. Mich berührte das so tief, dass mein Gesicht vor Freude leuchtete. Dem Pfarrer war das aufgefallen, und er hatte meine Eltern zu dieser Freude beglückwünscht. Vielleicht ahnte er, dass mir bei dieser Feier bewusst wurde, dass ich ab jetzt ganz Jesus gehören würde. Und dass Er deshalb alles von mir fordern konnte, auch Schweres. Aber ebenso wusste ich, dass Jesus nun immer bei mir war. Das klingt für eine Siebenjährige gewagt. Doch bei solch familiärer Beeinflussung wird es weniger verwundern.
Als die Eltern Jahre später vorschlugen, mich in das Missionsinternat im nordrhein-westfälischen Neuenbeken zu schicken, stimmte ich begeistert zu. Obgleich noch nicht fünfzehnjährig, fühlte ich mich – dank des Erlebnisses der Ersten Heiligen Kommunion – dafür bereit. Damit war ein weiterer Schritt getan, der Vision entgegen, die mein Vater einmal für sich erhofft hatte und zu der meine Tante, jenseits des Äquators, mich rief. Und – was noch wichtiger war – zu der ich mich innerlich gedrängt fühlte.
Vom Kostbaren Blut
Wenn man heute die Bahnlinie Paderborn – Altenbeken fährt, kann man auf der Hälfte der Strecke auf der linken Seite einen größeren Gebäudekomplex sehen. Das ist unser Missionshaus in Neuenbeken, das zum Orden der Missionsschwestern vom Kostbaren Blut gehört. Hier verbrachte ich meine Klosterjugend, nachdem meine Mutter mich im April 1953 dort »abgeliefert« hatte. Später fuhr ich die Bahnstrecke allein, aber auf der ersten Fahrt fühlte ich mich an ihrer Seite sicherer. Durch ein Missverständnis wurde sie so herzlich empfangen, als wolle sie eintreten – ich stand verlegen im Hintergrund.
Zum besagten Komplex gehörte das eigentliche Kloster, mit Sitz der Provinzleitung, und eine eindrucksvolle Kapelle, die von einer Mitschwester mit großen Mosaikbildern ausgeschmückt worden war. Diese Kapelle gehörte nicht zur Klausur, und deshalb hatten auch Gläubige aus dem Dorf oder Besucher Zutritt zu ihr. Weiter unterhielt der Orden eine Paramentenstickerei, eine Hostienbäckerei, eine Haushaltungs- und Pflegevorschule sowie unser Internat. Etwas Landwirtschaft wurde ebenfalls betrieben; das half, die große Anzahl besonders junger Menschen günstig zu ernähren. Wir hatten den Krieg und seine Not kennengelernt, somit war es leicht, uns mit der manchmal etwas bescheidenen Klosterkost zufriedenzustellen. Auch halfen wir bereitwillig im Gemüsegarten und bei der Obsternte mit, jedenfalls so gut wir es konnten.
Unsere Ausbildung in der Missionsschule, die als einziges Zentrum dieser Art in Deutschland der Universität in Oxford angegliedert war, dauerte vier Jahre. Alles wurde uns in englischer Sprache beigebracht, und die Themen waren den Anforderungen des dortigen Examens angepasst: englische Geschichte, Geografie der britischen Inseln, englische Literatur. Dabei lag der Schwerpunkt auf begrenzten Zeitabschnitten, ohne größere Einbindung in das Weltgeschehen – ganz zu schweigen von einer Aufarbeitung der Kolonialgeschichte jener Länder, in denen wir später als Missionsschwestern tätig sein sollten.
Unserer Klasse fiel es zu, King Richard II. von Shakespeare auswendig zu lernen und auf der Bühne aufzuführen. Ich wurde für die Rolle des Bischofs ausgewählt, die ich auch steif absolvierte. Unsere Lehrerinnen waren ebenfalls Ordensfrauen, die in London eine Zusatzausbildung gemacht hatten, um uns unterrichten zu können. Jede besaß ihre Qualitäten, und dafür liebten wir sie. Eine von ihnen erzählte anschaulich von ihren Kriegserlebnissen als Nonne, sodass wir Schlüsse für unser eigenes Leben ziehen konnten. Sie schulte uns auch als Pfadfinderinnen und unternahm interessante Waldwanderungen mit uns. Eine andere brachte mir den Aufbau unserer Bibliothek und das Buchbinden bei und machte mich zu »ihrer rechten Hand«. Der Umgang mit Büchern war mir vertraut, mein Vater besaß viele, und dadurch wurde meine Wissbegierde befriedigt.
Den Zeichenunterricht übernahm meine spätere Generaloberin, Schwester Manuela, die als Postulantin selbst noch in der Probezeit und nur fünf Jahre älter war als ich. Wir Schülerinnen galten als Aspirantinnen, als Ordensanwärterinnen. Nach dieser schulischen Ausbildung und der damit verbundenen Aufnahme in den Orden wurden die meisten von uns in Missionsländern eingesetzt, um im pädagogischen, sozial-karitativen, im pastoralen oder im Haushaltsbereich tätig zu sein, nachdem wir eine berufliche Ausbildung erhalten hatten. Deshalb war das Internat auch ganz dem Schwesternalltag angepasst, und täglich nahmen wir an der Heiligen Messe teil.
Damals, nur wenige Jahre nach dem Krieg, war die Blütezeit der Neuberufungen, denn viele junge Menschen entschlossen sich zum Ordensberuf. Für jene, die aus kinderreichen Familien kamen, bot der Orden Aufstiegschancen. Und gerade als Frau war das eine interessante Perspektive. Unser Jahrgang bestand, zusammen mit den Haushaltsschülerinnen, aus vierzig jungen Frauen. Wir waren die größte Nachwuchsgruppe, die der Orden verzeichnen konnte, denn anschließend verbreitete sich allmählich der Zeitgeist der Säkularisierung. Neben meinem Missionsorden gab es noch weitere, etwa die Benediktinerinnen, die Dominikanerinnen, den Loreto-Orden, in dem Mutter Teresa war, und den von ihr später selbst gegründeten Orden der Missionarinnen der Nächstenliebe sowie den nordamerikanischen Mary-Knoll-Orden, die ich aber damals alle nicht kannte.
Unser Orden der Missionsschwestern vom Kostbaren Blut wurde im südafrikanischen Mariannhill vom Trappistenabt Franz Pfanner 1885 gegründet, einem gebürtigen Vorarlberger aus Langen bei Bregenz. Als Pfarrer arbeitete er in seiner Heimat und in Kroatien, bevor er bei den Trappisten, einem Büßerorden, eintrat, und zwar in Mariawald. Sieben Jahre später, nachdem er in der Eifel wohl bemerkenswerte Arbeit geleistet hatte, wurde er nach Rom gerufen. Dort renovierte er die Ruine des Trappistenklosters Tre Fontane. Anschließend wurde er mit einer Neugründung in der Türkei beauftragt. Später folgte er der Bitte eines Bischofs nach Südafrika, was – nach vielen Mühen – den Anlass zur Gründung unserer Kongregation in Mariannhill gab.
Als ich nach meinem Ordensaustritt einmal mit der Bahn durch Vorarlberg fuhr und zu den hohen, schneebedeckten Bergen hinaufblickte, glaubte ich zu verstehen, warum unser Stifter zu einem »Abenteurer Gottes« wurde. Seine hagere, bärtige Gestalt, wie sie auf Fotos in jedem Konvent zu sehen war, passte in diese karge Bergwelt. Disziplin ist gefordert, wenn hier etwas erreicht werden soll. Er selbst hat sie ein Leben lang praktiziert. Und er verlangte sie auch von seinen Schwestern.
Am 8. September 1885, dem Fest Mariä Geburt, stellte Abt Franz die ersten fünf Missionarinnen der Christengemeinde in Mariannhill in der Nähe von Durban vor. Er hatte sie als Missionshelferinnen in der Heimat geworben. Für einen Trappisten ist es entscheidend, ein beschauliches Leben zu führen, in Zurückgezogenheit und im Gebet. In der Mission war jedoch soziale Arbeit gefragt. Dafür wurden Missionarinnen nötig, die durch ihre Tätigkeit und mit Unterstützung der Priester den Geist der »Frohen Botschaft« dorthin tragen konnten, wo Menschen noch nichts vom Christentum gehört hatten.
Dieser 8. September wurde unser Gründungstag. Es hieß, dass die ersten Schwestern einen langen roten Rock trugen. In Anlehnung an die »bunte Welt« der Afrikaner sollte das Ordenskleid farbenprächtig sein. Das Rot war ein Symbol, äußeres Zeichen für die Verehrung des Kostbaren Blutes Jesu Christi – so eben auch der Name unserer Kongregation. Das Blut Christi, vergossen durch seinen Opfertod, war Sinnbild unserer Erlösung. Dieses Bewusstsein und Vertrauen in unsere Erlösung sollte die Triebfeder für unseren Missionsauftrag sein. Der rote Rock hielt sich nicht lange, denn in der Praxis war er zu unbequem. Vom symbolhaften Rot blieb jedoch die rote Kordel, an der unser bronzenes Brustkreuz angebracht ist. Dieser schlichte Schmuck hält die Erinnerung an die tiefere Bedeutung unseres Ordensnamens wach. Deshalb wird das Kreuz bei jedem Anlegen dankbar geküsst.
Die Zahl der Schwestern in Mariannhill nahm rapide zu, trotz der Strapazen des ungewohnten Klimas, der fremden Kultur und der vielfältigen Entbehrungen. Das sprach für den Eifer des Gründers genauso wie für die Opferbereitschaft seiner ersten Helferinnen. Da jede bereits eine abgeschlossene Berufsausbildung mitbrachte, brauchten sie nur die Landessprache zu erlernen, um einsatzbereit zu sein. Über den Ordensgeist, die Spiritualität und das Gemeinschaftsleben erfuhren und lernten sie in intensiver Praxis und mit bereitem Herzen. Der Missionserfolg blieb nicht aus. Das Mutterkloster in Mariannhill entwickelte sich schnell und wurde zu einem der größten Missionszentren auf dem afrikanischen Kontinent. Nach benediktinischem Vorbild wurden Schulen, Krankenhäuser, Schustereien, Tischlereien, Bäckereien und Kunstwerkstätten als eigenständige Betriebe angelegt und geführt, die später eine größere Bedeutung gewinnen sollten.
Das war eine traditionsreiche Vorgeschichte, zumal auch in Österreich, in Holland, in den USA und in Kanada Zweigstellen unseres Ordens eröffnet wurden. Entsprechend wichtig war es, unsere Tauglichkeit für das Klosterdasein zu prüfen, weshalb wir in der Vorbereitungszeit, also im Postulat und im Noviziat, durch gezielte Maßnahmen auf das Leben in Klausur und Zurückgezogenheit vorbereitet wurden. So mussten wir Zeiten des Stillschweigens halten, etwa abends im Schlafsaal oder auf den Fluren. Die äußere Stille sollte uns übrigens helfen, unser inneres Gleichgewicht besser zu finden und durch die Stimme unseres Herzens mit Gott im Gespräch zu bleiben! Dazu diente auch das »Stundengebet«, welches in der Noviziatszeit stündlich gemeinsam laut gebetet wurde.
Einmal wurden meine Mitschülerin Gisela und ich mit einem kleinen Gepäckwagen nach Altenbeken geschickt, um den Schwestern die Post zu bringen. Natürlich stillschweigend, wenn nicht gar rosenkranzbetend. Der Weg war jedoch lang, und da kam mir der retten-de Einfall, uns rezitativ beziehungsweise singend zu unterhalten. Dadurch hatten wir im buchstäblichen Sinn die Regel nicht gebrochen und konnten uns zudem noch amüsieren. In einer anderen Situation wurde es schwieriger. Franzis, eine weitere Mitschülerin, die aus schwierigen familiären Verhältnissen stammte, hatte mich ausgesucht, um sich bei mir auszusprechen, bevor sie Weiteres unternehmen wollte. Das war aber strikt verboten. Wenn unser nächtliches Versteck im Kleiderschrank auf dem Flur aufgeflogen wäre – und die wachhabende Schwester kam ganz in unsere Nähe –, hätte uns die Entlassung gedroht.
Weiterhin durften wir keine »Partikular-Freundschaften« untereinander pflegen, denn »unser Herz soll einmal ganz und ungeteilt unserem göttlichen Bräutigam gehören«. Wahrscheinlich wurde damit jedoch in letzter Instanz vor lesbischer Liebe gewarnt. Ebenso unterlagen wir der Briefzensur, was bedeutete, dass unsere Schulleiterin, Schwester Luzia, die bis dahin unser Missionskolleg in Mariannhill geleitet hatte, sämtliche Briefe, die wir schrieben, prüfen konnte, bevor sie frankiert und zur Post gebracht wurden. Es war ihr auch erlaubt, alles zu lesen, was »von draußen« kam. Damit sollte verhindert werden, dass wir unter falschen Einfluss gerieten. Einmal war ich empört, als Schwester Luzia mich rief und zu mir sagte: »Was hast du denn da geschrieben? Es wird nichts herausgetragen, was hier im Internat geschieht. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kommst du zu mir. Deine Eltern haben dich uns anvertraut, und sie sind nicht hier.« Warum musste ich mich rechtfertigen für das, was ich meinen Eltern berichtet hatte? Durfte ich ihnen gegenüber nicht mehr offen sein? Ich war wütend darüber, kontrolliert zu werden, nicht frei entscheiden zu können, wem ich was anvertraute. Und genau das wollte ich auch jetzt meinen Eltern schreiben – und erlebte zu meinem Erstaunen, dass meine Knie dabei unter meiner Schulbank vor innerer Empörung zitterten. So ging es auch nicht; deshalb gab ich dieses Mal auf. Die Kontrolle empfand ich dennoch als unwürdig. Und das Wissen darum führte zu einem Vertrauensverlust. So behielt ich oft für mich, was falsch beurteilt werden konnte – und entwickelte einen »unfreien« Stil. In den kommenden vierzig Jahren würde ich mich noch mehr als einmal unterordnen …
Um sich diese Regeltreue besser vorstellen zu können, zitiere ich noch ein paar Beispiele aus dem Direktorium:
»Wo die Schwestern pflichtmäßig mit männlichen Personen verkehren müssen, sollen sie folgende Vorschriften beobachten: Es ist den Schwestern ohne spezielle Erlaubnis der Obern nicht gestattet, sich mit männlichen Personen, wer es auch immer sein mag, allein in irgendeinem geschlossenen Raum aufzuhalten … In der Regel soll eine zweite Schwester oder eine andere Begleiterin anwesend sein.« (Nr. 60)
»Bei der Bewirtung der Fremden richte sich die Pförtnerin nach den Anweisungen der Oberin. Ihre Haltung, ihre Sprache, ihr Benehmen den Gästen gegenüber trage das Gepräge einer gottgeweihten Seele. Sie lasse sich daher nicht in unnötige Redereien und unpassende scherzhafte Unterhaltungen ein, sondern rede nur, was Notwendigkeit, Liebe und Anstand verlangen … Über alles, was an der Pforte vorgeht, setze sie die Oberin in Kenntnis …« (Nr. 372/373)
Und jene bereits angesprochene Regel: »Untereinander müssen sich die Schwestern vor besonderen (Partikular-) Freundschaften ernsthaft hüten. Ihr Herz und ihre Liebe muss ganz und ungeteilt dem göttlichen Bräutigam gehören. Darum darf keine zu natürliche, noch weniger eine sinnliche Zuneigung zu irgendeinem Geschöpf ihr Herz und ihr Gemüt von Gott entfernen.« (Nr. 62)
»Als Glieder einer Genossenschaft haben die Schwestern in ihr eine gemeinsame Mutter auf Erden, wie sie einen gemeinsamen Vater im Himmel haben … Beim Begegnen grüßen sich die Schwestern untereinander freundlich mit einer leichten Verneigung.« (Nr. 147/150)
Diese Beispiele zeigen viele kleine oder größere Vorschriften, die im Grunde Anstandsregeln sind oder, moderner ausgedrückt, im Job-Management als Selbstverständlichkeit angesehen würden. Damit uns die Notwendigkeit der Regeln klar würde, sollten wir, so wurde es uns erklärt, den Straßenverkehr beobachten. Ohne Vorschriften entstünde ein Chaos auf den Straßen, ähnlich verhalte es sich beim Ablauf des Gemeinschaftslebens. Das schien irgendwie plausibel. Dazu zählte wohl auch das öffentliche Schuldkapitel, bei dem wir Professschwestern uns einmal im Monat während einer Unterweisung der Oberin vor den Mitschwestern anzuklagen hatten. Dabei ging es um äußere Verstöße, wenn man beispielsweise Türen leichtfertig zugeknallt oder unachtsam auf den Fluren gesprochen hatte. Zur Wiedergutmachung erhielten wir damals eine Buße, die darin bestand, dass »Suppe im Speisesaal von den Vorgesetzten erbettelt werden musste oder Scherben kniend vorgezeigt wurden, wenn die Schar der Mitschwestern an den Büßenden vorbei ins Refektorium zog«.
Diese Zeiten sind vorbei, und das Ordensleben der Zukunft – wenn es Bestand haben soll – kann sich mit den vielen kleinlichen Äußerlichkeiten nicht mehr aufhalten. Aber wir wurden damals, 1957 bis 1959, noch an diesen Paradigmen gemessen. Auch wenn der »Innere Geist« den Vorrang hatte, so litten wir dennoch an dem Zwang, diese äußeren Maßstäbe und Normen einzuhalten. Zudem erlebten wir, dass nicht wenige Mitschwestern ihn als Richtschnur verinnerlichten.
Da aber viele dieser Regeln mit dem Arbeitsalltag nur schwer in Einklang zu bringen waren, ja oft gar nicht eingehalten werden konnten, schmerzten mich die Zurechtweisungen. Begriff ich vielleicht die »inneren Werte« nicht hinreichend? Wie auch immer, diese Diskrepanz war nicht zu lösen. Das merkte ich im Laufe der Jahre immer stärker. Und wenn ich dann meine Schwierigkeiten gegenüber Vorgesetzten äußerte, wurde ich stets auf weitere Paragrafen hingewiesen. Welche Regeln zum Ordensleben dazugehörten, erfuhren wir übrigens noch nicht in der Missionsschule.
Ein weiteres Zeichen unserer Zugehörigkeit zur Ordensschule war die Uniform: eine Art schwarzer Matrosenanzug mit breiter Mütze und Streifen, die wir auch in den Ferien sowie an Sonn- und Feiertagen anziehen mussten. Das war manchmal peinlich, denn wir fielen in diesem Aufzug überall auf.
Im Sommer 1957 schrieb unsere Gruppe das Oxford-Examen »O-Level«, ungefähr unsere Mittlere Reife. Nach bestandenem Abschluss durften wir ein letztes Mal nach Hause fahren. Danach stand der entscheidende Schritt in die Klausur des Klosters an. Die Ferien nutzte ich, den Führerschein zu machen, denn mit einer Fahrerlaubnis war ich, so sagte meine Patentante, besser für die Mission gerüstet. Reiten und Schießen versuchte ich auch. Aber alles war nicht gleichzeitig zu meistern, auch wenn ich recht gut zielen konnte. Von zehn Schuss schaffte ich sicher neun Treffer, und zur Abwehr von Affen auf Maisfeldern hätte es bestimmt gereicht. Meine Patentante hatte nämlich erzählt, dass die Affen zur Plage geworden waren und die Missionare »auslachten«. Vielleicht hatten wir Frauen mehr Glück, sie zu täuschen und von den Erträgen der Felder fernzuhalten? Dass ich sie tatsächlich umgelegt hätte, bezweifle ich. Nachdem jedoch Jahre später eine Bande von gewalttätigen Räubern unser Hospital in Turiani überfallen wollte, beantragte ich einen offiziellen Waffenschein. Das wurde beinahe zum Skandal, weil Nonnen nicht mit Waffen in Verbindung gebracht werden durften. Doch zur Abschreckung und eventuellen Verteidigung meiner Mitschwestern hielt ich diese Maßnahme für gerechtfertigt. Bevor wir als wehrlose Frauen in Gefahr waren, wollte ich zur Verteidigung wenigstens Warnschüsse abfeuern können. Als das Gewehr dann schließlich eintraf, war ich bereits versetzt.
Kreidebleich im Ordensgewand
Nach den Ferien übersiedelten wir von den Internatsräumen in den gegenüberliegenden Schwesterntrakt. Die Schule war abgeschlossen, die klosterinterne Ausbildung und Probezeit konnte anfangen. Sie begann mit dem Postulat, in dem wir offiziell um unsere Aufnahme in die Gemeinschaft baten. Für uns als ehemalige Internatsschülerinnen, denen das Klosterleben nicht fremd war – und weil die Mission »rief« –, betrugen Postulat und Noviziatszeit gerade die vorgeschriebenen zwei Jahre. Die letzte Hürde, die am Ende dieser Zeit genommen werden musste, war eine Abstimmung der Schwesterngemeinschaft über jede Einzelne von uns. Fiel das Jawort, stand unserer Aufnahme nichts mehr entgegen.