Das Montagskind - Peter Clös - E-Book

Das Montagskind E-Book

Peter Clös

4,9

Beschreibung

Er wird an einem Montag geboren. Es ist der schwerste Tag der Woche und erscheint ihm wie eine Ankündigung für das, was ihn auf dieser Welt noch erwartet. Auch, wenn er einen Geburtsfehler hat, tritt der kleine Junge seinen Lebensweg ebenso arglos an, wie jeder von uns es getan hat. Seine Eltern, einfache und redliche Leute, bereiten ihm und den drei Brüdern ein geordnetes Heim. Die von ihm intensiv empfundenen Alltagsprobleme werden durch ein Klima tiefer, lustfeindlicher Frömmigkeit im Zaum gehalten. Schnell nimmt dieser Mechanismus für ihn eine quälende Normalität an. Es wäre bei dieser Normalität geblieben, würde nicht eines Tages, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Krankheit ausbrechen. Sie rüttelt an den Grundfesten seiner bisherigen Überzeugungen, auf die er nun, wie er einsehen muss, nicht mehr bauen kann. Wir begegnen einem kranken Menschen, den wir auf der Straße nicht als solchen erkennen würden. Der Autor berichtet von seiner ganz persönlichen Bürde mit eben jenem Humor, der es ihm von Kindesbeinen an ermöglicht hat, sein Schicksal zu tragen. Wenn das Leben besondere Prüfungen für ihn bereithält, so liegt das daran: Er ist ein Montagskind.

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Peter Clös, Schauspieler, geboren 1956, erhielt seine Ausbildung

am renommierten Max-Reinhardt-Seminar in Wien.

Er arbeitet für Bühne, Film und Fernsehen.

„Das Montagskind“ entstand in den Jahren 1980 bis 2004.

Um die Personen der Handlung zu schützen,

wurden alle Namen geändert.

Inhalt

Interview mit Herrn C.

Herzlich willkommen!

Familienaufstellung

Kinderleben

Versuchungen

Schule

Pass auf, kleines Auge, was Du siehst!

Wunsch und Wirklichkeit

Marburg

Ausbruch

Die Königin der Nacht

Cella

Hirnbrennen

Der Häuserkampf

Söhnlein Brillant

Du bist frei

Glücksucher

Was heißt hier Liebe?

Abgründe

Reise mit Hindernissen

Das Lied der käuflichen Liebe

Oliver und Babette

Sologamie

Rabengott

Psychiatrische Diagnose

Etwas war in mir,

und ich wusste nicht, was.

Vielleicht war ich noch zu klein dafür.

Aber es blieb in mir drin.

Da dachte ich,

es muss so sein.

Interview mit Herrn C.

Wann traten die ersten Symptome der Krankheit auf?

Kurz, nachdem ich mein Elternhaus verlassen hatte. Als ich mein Leben in die eigene Hand nehmen sollte – und es nicht konnte.

Was waren das für Symptome?

Von einer Sekunde zur andern überfielen mich irreale Vorstellungen, Einbildungen, Phantasien, die sich an die Stelle bisheriger Wirklichkeit setzen wollten. Ich konnte mir meine Gedanken plötzlich nicht mehr aussuchen.

Gibt es ein Grundschema im Aufbau der Bilder? Ein Prinzip, das allen gemeinsam ist?

Ja. Sie ziehen alle am selben Strang. Ihr Charakter ist: Zersetzung. Sie wollen mich zerstören. Sprechen mir Glück und Erfolg ab, weisen mir Schuld zu. Klagen mich an. Und besorgen sehr gewissenhaft die Indizien, die zu meiner Verurteilung führen müssen.

Wie viele Phantasien haben sich mittlerweile in Ihrem Kopf angesammelt?

Hunderte, Tausende. Aber ich leide ja nicht unter allen gleichzeitig. Es ist immer nur eine Phantasie, die meinen Kopf aktuell beherrscht. Und sie bleibt solange dominant , bis sie von einem neuen Bild, das auch ein altes sein kann, abgelöst wird. Alle anderen Phantasien, die im Augenblick keine Wirksamkeit haben, sind im Hinterkopf rezessiv gespeichert. Sie können jederzeit wieder hervorbrechen. Das Leben vergisst nichts. Wenn sich ein altes Bild aus der Vergangenheit zurückmeldet, tut es das mit genau der Stärke, die die Gesamterkrankung inzwischen erreicht hat. Es hat also im Windschatten nicht nur überlebt, sondern ist mitgewachsen.

Sie haben sehr große, eindringliche Augen. Woran liegt das?

Ich hab zu viel gesehen.

Stimmt es, dass Sie mit einer Hasenscharte geboren wurden?

Ja, ich war von Anfang an eine gespaltene Persönlichkeit.

Ist Ihre Krankheit medizinisch bekannt? Hat sie einen Namen?

Ja. Sie ist den „Zwangserkrankungen“ zuzuordnen, Unterabteilung „Gedanken“-Zwänge. Aber das habe ich erst am Ende meiner Aufzeichnungen erfahren.

Möchten Sie zum Abschluss noch etwas sagen?

Blättern Sie um!

Herzlich willkommen!

Ich kam zur Unzeit. Niemand war auf mich vorbereitet, am allerwenigsten meine Mutter. Rosmarinus Oligoplex zur Wiedererlangung der Monatsregel, eine Empfehlung meiner Großmutter, war ohne Erfolg geblieben. Also wusste meine Mutter, dass sie schwanger war und sagte: „Das ist doch nicht möglich.“

Erst fünf Monate zuvor war sie Mutter eines gesunden Jungen geworden und noch sehr geschwächt von der ganzen Prozedur. Aber nicht mein Vater. Er sagte sich: „Einmal ist nicht genug“ und beanspruchte die Wiederholung seines Erstlings-Erfolges, einen neuerlichen Nachweis seiner Potenz und Fruchtbarkeit. Meine Mutter gab klein bei und fand sich damit ab, nicht gefragt zu werden. Mehr frustriert als lustvoll half sie die Ideen meines Vaters zu verwirklichen. Bald verwies ein unsachgemäß durchgeführter Coitus Interruptus nicht nur meine Mutter, sondern auch Rosmarinus Oligoplex in die Schranken.

Eines Tages kam ein Mädchen aus der Nachbarschaft und fragte, ob es meinen Bruder spazieren fahren dürfe. Meine Mutter hatte nichts dagegen, und das Mädchen schob den Kinderwagen eine Zeitlang vor unserem Haus die Straße rauf und runter. Nach ein paar Minuten – meine Mutter kam gerade nach draußen, weil sie fürchtete, es könne etwas passiert sein – da passierte es: Der Kinderwagen kippte um, und mein Bruder – erst wenige Monate alt – schlug mit dem Gesicht aufs Straßenpflaster. Meine Mutter sah es und blieb stehen, wo sie gerade war. Sie ging keinen Schritt vor, keinen Schritt zurück, sie gab keinen Laut von sich. Ein Krampf bis zum körperlichen Schmerz hatte jeglichen Reflex gelöscht. Sie war im sechsten Monat. Der erste Gedanke, den sie wieder denken konnte, war: Hoffentlich ist meinem Kind nichts passiert. Sie meinte damit auch das ungeborene.

Ich kam an einem Montag zur Welt. Dem schwersten Tag der Woche. Jenem Tag, an dem die Menschen besonders davon überzeugt sind, dass das Aufstehn ein Schöpfungsfehler sein muss. Ich wäre so gern ein Sonntagskind geworden, doch meine Mutter war dagegen: Ich kam sowieso schon sechs Wochen zu früh. Auf meine Frage, ob ich ein Wunschkind gewesen sei, hat mir meine Mutter einmal geantwortet: „Natürlich warst Du erwünscht, nur der Zeitpunkt war der falsche.“ Von da an wusste ich, dass ich kein Wunschkind war, denn ein Wunschkind kommt immer zum richtigen Zeitpunkt. Aber meine Mutter gab sich alle Mühe, mich nachträglich zu wünschen.

Ich kam in geordnete Verhältnisse. Mein Vater war Postbeamter im mittleren Dienst, meine Mutter Schneiderin, und das neue, eigene Häuschen im Grünen wartete auf den Einzug.

Als ich das Licht der Welt erblickt hatte, trat eine gespannte, nicht enden wollende Stille ein, die nur durch meinen ersten Lebensschrei unterbrochen wurde. Die Hebamme fragte: „Sollen wir’s ihr zeigen?“ – und sie zeigten es ihr. Danach wollte meine Mutter nur noch sterben. Die kleine, platte, seitlich wegklaffende Nase, der Schnitt von der Oberlippe bis zum linken Nasenflügel, der Haut und Zahnfleisch spaltete, die nicht sichtbare Gaumenspalte und der so genannte „Wolfsrachen“: Das alles war zuviel für sie und sah in ungenähtem Zustand nicht gerade appetitlich aus.

Siebzehn Jahre später – ich befand mich zur Nasenkorrektur im Krankenhaus – bat ich die Stationsschwester, mir Babys in ebendiesem Zustand zu zeigen. Sie führte mich in ein Zimmer am Ende des Ganges, und was meine Mutter einst so erschreckt hatte, erschreckte mich gar nicht. Ich sah mir die Kleinen lange an, ruhig und mit einer tiefen Verbundenheit im Herzen. Eine Schwester versuchte gerade erfolglos, sie zu füttern: Was in den Mund hineinging, kam durch die Nase wieder heraus. Was schließlich doch im Rachen landete, wurde mit einem Gurgellaut gierig verschluckt. Mir war, als wüssten diese kleinen Menschen schon jetzt, was ich mit ihnen gemeinsam hatte, und als seien sie schon jetzt fest entschlossen, den Kampf mit ihren Schnitten (und später ihren Narben) aufzunehmen.

Es war nicht sicher, ob ich überleben würde, und so setzte der Brutkasten die Funktion meiner Mutter fort: Er ließ mein ursprüngliches Gewicht von nur viereinhalb Pfund langsam ansteigen und stabilisierte allmählich die Funktion meiner Organe. Nach sechs Wochen war ich so lebensfähig wie andere Babys am Tag ihrer Geburt und durfte endlich nach Hause.

Der Verwandtschaft, die mich bestaunen kam, fiel es schwer, sich mit mir anzufreunden. Sie unterließ übliche Bemerkungen wie: „Mein Gott, ist der süß!“ und fragte stattdessen: „Reagiert er denn?“ Durch den optischen Eindruck verwirrt, zweifelte sie auch an meiner geistigen Beschaffenheit, und die Besuche zum freudigen Ereignis kamen eher Kondolenzbesuchen gleich. Meiner Mutter war inzwischen alles recht. Der Schock hatte sie bescheiden gemacht, wunschlos. Ihre Demut hatte fast resignativen Charakter. Sie erbat nur eines für sich und ihr Kind: Dass es sich geistig normal entwickeln, und dass ihm die „Hilfsschule“ erspart bleiben möge. Da ich noch nicht beten konnte, tat sie es für mich.

Mein Gastspiel zu Hause war nur kurz. Da die Hasenscharte immer noch nicht vernäht war, kam ich bald wieder ins Krankenhaus; diesmal in die Privatklinik des Hals-, Nasen- und Ohrenspezialisten Prof. Dr. Lütgenhorst in Marburg. Dass ich in die Hände dieses Arztes geriet, war ein wirklicher Glücksfall, und viel später, als ich begann, mich mit anderen „Hasenscharten“ etwa gleichen Alters optisch zu vergleichen, konnte ich feststellen, dass er seine Sache sehr gut gemacht hatte. (Die Gaumenspalte operierte er damals noch nicht, die konnte erst fünfzehn Jahre später geschlossen werden, als der Oberkiefer ausgewachsen war. Diesem Umstand verdanke ich den Sprachfehler meiner Kinderjahre: Jene nasale Klangfärbung mit Artikulationsschwierigkeiten, die Hasenscharten-Kindern eigen ist.)

Kurze Zeit nach der Operation wurde ich in einem Privatraum der Lütgenhorst-Klinik getauft. Es soll sogar richtig feierlich gewesen sein. Ich bin später noch dreimal in diese Klinik zurückgekehrt: zur Mandeloperation, zur Gaumenspaltenoperation und zur Nasenkorrektur. Jedes Mal haben mich die Schwestern wiedererkannt, und jedes Mal habe ich an die Taufe gedacht, seit ich von ihr wusste.

Die Marburger Universitäts-Kinderklinik wurde meine nächste Bleibe; warum, weiß ich nicht mehr. Die Ernährung muss dort sehr einseitig gewesen sein: Ich erkrankte an Rachhitis, und nicht einmal die Milch meiner Mutter, die mir täglich per (Flaschen-) Post ins Krankenhaus geschickt wurde, konnte dies verhindern. Ich verließ das Krankenhaus mit einer „Trichterbrust“ als bleibendes Andenken. Als ich zum zweiten Mal – diesmal für länger – nach Hause durfte, war das erste halbe Jahr meines Lebens vorbei.

Familienaufstellung

Mein Vater kam aus der ärmsten Familie des Dorfes. Das Familienoberhaupt, mein Großvater, war ein nervenkranker Epileptiker, der mit fünfundzwanzig Jahren Invalide geworden war. Für den Lebensunterhalt sorgte meine Großmutter, die schon ein „spätes Mädchen“ war, als mein Großvater sie kennenlernte. Sie hätte jeden genommen, um nicht sitzenzubleiben. Das Kind, das sie bereits erwartete, erwies sich als geeignetes Druckmittel. Sämtliche Warnungen ihrer Verwandtschaft schlug sie in den Wind und setzte – wie später noch häufig – ihren Willen durch.

Meine Großmutter war eine gesunde, fleißige, ehrbare Frau, und mein Großvater musste notgedrungen in ihrem Schatten leben. Wenn amtliche Bekanntmachungen zu verkünden waren, ging er mit einer Schelle durch die Straßen und trug mit lauter Stimme die Neuigkeiten ins Dorf. Viel mehr gab es für ihn nicht zu tun.

Der erste Sohn – er hieß Erwin – wurde einen Monat nach der Hochzeit geboren und schien nicht dazu angetan, das Selbstwertgefühl seines Vaters zu heben. Er war immer ein bisschen „zurück“, und je älter er wurde, desto mehr blieb er es. Die Eltern übersahen unwissend die frühkindlichen Anzeichen einer Fehlentwicklung oder schätzten sie falsch ein. Eine Erziehung nach dem Motto „Kinderwillen ist Dreck wert!“ half ihnen obendrein in ihrer Ignoranz.

Aber selbst die größte Armut und die schlimmste Erbkrankheit hätte meine Großeltern nicht davon abbringen können, weiterhin auf ein gesundes Kind zu hoffen, auf ein Kind, das nicht durch einen Makel gezeichnet, sondern aus den besten Teilen der elterlichen Erbmasse zusammengesetzt war.

Mein Vater wurde geboren. Vorname: Kurt. Er war körperlich und geistig gesund, war kräftig, sportlich und ehrgeizig und wurde die langersehnte Stütze seiner arbeitsamen Mutter. Er erkannte früh seine Bedeutung innerhalb der verschobenen Kraftfelder seiner Familie. Die Mutter fragte bald nicht mehr den Vater, wenn es Entscheidungen zu treffen galt. Der Sohn wurde zum Partner, und er nutzte die Gelegenheit, seinem Vater nicht nur körperlich über den Kopf zu wachsen.

Es kam der Zweite Weltkrieg und mit ihm der Glaube an die reine arische Rasse. Alles Kranke, Schwache, Niedere – das, was diesen Glauben hätte beeinträchtigen oder widerlegen können –, musste ausgerottet werden.

Mein Großvater wurde zwangssterilisiert. Jetzt war er auch biologisch entmachtet. Er wurde zum egozentrischen, verbitterten Tyrannen, der sich vom eigenen Sohn in seiner Existenz bedroht fühlte. Je mehr er seine Autorität, seine Funktion als Vater schwinden sah, desto mehr demonstrierte er sie. Doch er hatte nur eine laute Stimme und nichts sonst, worauf ein Sohn hätte stolz sein können. Sein Imponiergehabe war so nachhaltig, wie es aussichtslos war. Der Sohn war jetzt der Mann im Haus. Früh mit Verantwortung und wichtigen Aufgaben betraut, lernte er, das Leben anzupacken. Was er nicht konnte, schaute er sich ab, bis er es konnte. Er wurde ein großer Praktiker, ein großer Handwerker und Organisator und ein kräftiger junger Mann, der auf sportlichen Veranstaltungen sein Heimatdorf würdig vertrat; die sportlichen Erfolge waren das einzige Mittel, seiner benachteiligten Familie und vor allem sich selbst einen Hauch von Beachtung zu sichern.

Er glaubte an seine Fähigkeiten und rückte sie des öfteren selbst ins rechte Licht. Er stellte der Schwäche und Krankheit im Elternhaus demonstrativ die eigene Stärke und Gesundheit entgegen. Er war groß – später auch für mich –, aber er war es immer. Er war kein Mensch, er war ein Denkmal.

Ich war ein ängstliches und unsicheres Kind, das nur beschränkt auf seine Mitwelt reagierte. Meine Eltern warteten sehnlichst auf das erste Wort von mir – wenigstens Mama oder Papa –, aber auch hier enttäuschte ich sie. Erst, als ich eine Treppe runterfiel, die ich übersehen hatte, kamen sie auf den Gedanken, dass es an den Augen liegen könnte. Ein Arzt stellte fest, dass ich schielte, und ich bekam eine Brille. Ich war zwei Jahre alt, als ich zum ersten Mal so ein Ding auf der Nase hatte.

Von da an war ich nicht mehr zu bremsen. Endlich sah ich, wer oder was mich umgab und konnte „richtig“ reagieren. Jetzt waren sie geweckt, meine Lebensgeister, mein Temperament und – meine Sprache. Ich machte den Mund gar nicht mehr zu, als ich ihn erst einmal aufgemacht hatte. Ich brachte Fröhlichkeit und Lachen ins Haus. Ich war wie die Sonne, von der man sagt, dass sie vom Himmel lacht, und die doch immer nur dasselbe tut – an klaren wie an trüben Tagen – : sie brennt. Dass ich anders sprach als meine Eltern und mein Bruder, wusste ich nicht; noch war ich eingebettet in unsere Familie, die es vermied, mich darauf hinzuweisen.

Mit vier Jahren kam ich in den Kindergarten. Tante Inge, die Leiterin, hatte ihr Leben ausschließlich und bedingungslos ihrem Beruf gewidmet, und so übte sie ihn auch aus. Sie forderte alles von sich und ihren Mitarbeitern. Nie hatte sie eine Familie gegründet und nie gelernt, mit Menschen zusammenzuleben. Deshalb musste sie ihnen vorstehen. Sie war eine unantastbare Institution für mich, die ich achtete und zugleich fürchtete. Ihre „Regierungszeit“ schien lebenslänglich, und nie hätte ich mir eine andere Person an ihrer Stelle denken können. Tante Inge las uns jeden Morgen eine Geschichte von Jesus vor, denn sie war eine gläubige Frau. Da ich durch meine Mutter mit Jesus bestens vertraut war, fasste ich auch Vertrauen zu Tante Inge, wenn sie von ihm erzählte.

Aber in der Bastelstunde wurde sie mein Feind. Basteln war – neben Jesus – ihr zweites Steckenpferd. Wenn irgendwann einmal eine Liebe dafür in mir vorhanden gewesen ist, so hat Tante Inge sie zerstört. Besonders in der Vorweihnachtszeit intensivierte sie ihr Bastelpensum; dann war mir gar nicht weihnachtlich zumute. Jedes Mal wollte ich es allein schaffen, doch nie schaffte ich es ohne ihre Hilfe. Allzu oft stand sie in ihrer diakonissenhaft-spartanischen Strenge hinter mir, und jedes Mal fiel ihr Schatten überlebensgroß auf meine Finger, und sie erstarben. Der Schatten war nicht schrecklich, aber er war so groß und ich so klein. Sein Tadel war gerecht, aber traf mitten ins Herz.

Jeden Morgen wurden wir Kinder von zu Hause abgeholt. Eine Kindergärtnerin sammelte uns gewissenhaft ein. Pünktlich um sieben Uhr vierzig kam sie an unserem Haus vorbei. Sie war hässlich wie die Nacht, und ihre schiefen, vorstehenden Zähne jagten mir Angst ein. Eines Tages frisst sie mich, dachte ich, oder tut mir sonst etwas an. Diesem Gebiss zu entkommen, war mir jedes Mittel recht. Aber meine Mutter erstickte all’ meine Schmerzen und Übelkeiten im vorgetäuschten Keim. Sie lieferte mich sogar jeden Morgen höchstpersönlich dem Ungeheuer in die Arme. Nur, wenn meine Angst so groß war, dass mir wirklich übel wurde, durfte ich zu Hause bleiben.

Mein Bruder und ich schliefen im selben Zimmer. Es kostete unsere Mutter jeden Abend die größte Anstrengung, uns in die Schlafanzüge zu bekommen. War das erstmal geschafft, begann der gemütliche Teil. Dann las uns Mutter aus der Kinderbibel vor oder erzählte uns daraus: Von Kain, der seinen Bruder erschlug und auf die Frage „Wo ist Dein Bruder Abel?“ zur Antwort gab: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Oder von Joseph, der der Lieblingssohn seines Vaters war und seinen Brüdern solch ein Dorn im Auge, dass sie ihn an eine vorbeiziehende Karawane verkauften. Die Kinderbibel war in grünes Halbleinen gebunden, und viele Bilder waren darin. Eines habe ich bis heute nicht vergessen: Das Entsetzen und die Angst im Blick des Absalom, als das Maultier unter ihm durchgeht, und er sich im Labyrinth einer dichtverzweigten Eiche verfängt. Die halbe Bibel hat Mutter uns nahegebracht: auf der Bettkante sitzend, das Buch auf dem Schoß und wir, zwei naive Kinderseelen mit offenem Blick, an ihrer Seite hingekuschelt.

Schon als junges Mädchen war unsere Mutter sehr albern, und einen großen Teil davon hat sie sich bis heute bewahrt. Immer, wenn dieses Naturell durchbrach, blieb die Bibel zugeschlagen. Zu unserer besonderen Freude, denn was lieben Kinder mehr als eine übermütige, aufgedrehte Mutter? In ihrer Albernheit, ihrer Fröhlichkeit und in ihrem tiefen Ernst war sie uns nah. Ihre Welt – das war plötzlich unsere. Kurze, glückliche Augenblicke lang spürten wir, dass es nicht mehr zwei verschiedene Welten gab – die der Erwachsenen und die der Kinder, sondern nur noch eine große. Unsere Mutter hatte keine Eile. Ihr Gute-Nacht-Kuss war nicht flüchtig. Und wenn sie das Licht ausgeknipst und das Zimmer längst verlassen hatte, war sie noch immer für uns da. Mein Bruder und ich lagen in der Dunkelheit, aber wir hatten keine Angst. Mutter hatte uns gut auf die Nacht vorbereitet und wie jeden Abend mit uns gebetet:

„Müde bin ich, geh’ zur Ruh’,

schließe beide Äuglein zu.

Vater, lass die Augen Dein

über meinem Bette sein.

Hab ich Unrecht heut getan,

sieh es, lieber Gott, nicht an!

Deine Gnad’ und Jesu Blut

macht ja allen Schaden gut.

Alle, die mir sind verwandt,

Gott, lass ruhn in Deiner Hand.

Alle Menschen, groß und klein,

sollen Dir befohlen sein.

Kranken Herzen sende Ruh’,

nasse Augen schließe zu.

Lass den Mond am Himmel stehn

und die stille Welt besehn.

Und schlaf ich jetzt selig ein,

so lass mich morgen wieder gesund,

glücklich und zufrieden sein.

Amen.“

Der 23. Februar 1930 war der Todestag Horst Wessels und – der Geburtstag meiner Mutter. Das kleine Mädchen war stolz darauf, an einem so bedeutenden Tag geboren zu sein, und immer, wenn das Lied des Mannes angestimmt wurde, mit dem sie ein Datum gemeinsam hatte, sang sie ein bisschen inbrünstiger als alle andern. Mit fünfzehn sah sie die Welt untergehen, und als das Feuer vom Himmel fiel, war nicht nur der Krieg, sondern auch ihre Kindheit zu Ende, die durch einen Geist geprägt wurde, der keiner war.

Die Eltern meiner Mutter waren zwei völlig verschiedene Naturen, die nur ihre Kinder gemeinsam hatten. Meine Großmutter verteilte Arbeiten, die sie unter ihrer Würde fand, sehr geschickt an Mann und Kinder. Dazu gehörten zum Beispiel Straßenfegen, Putzen, Staubwischen oder Einkaufen. Direkt neben der Küche war die Klempnerei meines Großvaters – später, nach dem Krieg, im selben Raum ein Porzellangeschäft. Meine Großmutter kümmerte sich viel lieber um die Kunden als um den Haushalt und verstand es meisterhaft, ihre Lieblingsbeschäftigung, das Schwätzen, mit ihren geschäftlichen Interessen zu verbinden. Sie war wach, offen und temperamentvoll. Aber sie hat ihre höheren Anlagen an ihre niederen verschwendet. Ich glaube, sie hat nie ein wirklich schwieriges Buch gelesen. Dazu war sie zu bequem.

Mein Großvater war nie bequem. Er musste immer etwas zu tun haben. Immer hatte er ein Ziel, und das Erreichte war ihm nie genug. Ständig wollte er etwas verändern und hoffte insgeheim, sein Leben werde irgendwann eine ganz unverhoffte Wendung nehmen. Er war ein realistischer und verantwortungsvoller Familienvater, und doch auch ein Phantast, ein freier Geist. Einmal hat er auch Theater gespielt, den Förster in einer Laienaufführung. Meine Mutter, die als Kind die Aufführung gesehen hat, bewundert ihn noch heute dafür.

Hitler war zuerst seine Hoffnung und rechtzeitig seine Enttäuschung. Als er erkannte, dass der Führer nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Juden von der Straße holte, legte er sein Ehrenamt als SA-Sturmführer nieder. Aber um sich nicht zu verraten, blieb er weiterhin dem Staate dienlich, in einer unterirdischen Rüstungsfabrik, nur wenige Kilometer entfernt. So konnte er wenigstens am Wochenende zu seiner Familie heimkehren.

Zuhause gab jetzt der Volksempfänger den Ton an und hämmerte jeden Tag die widersprüchlichsten Meldungen ins Mittagessen. Die Eltern kommentierten angekränkelt den Stoff, aus dem die Kriege sind, und die Kinder – sie hatten Redeverbot für die Zeit des Essens – verstanden nicht, warum den Eltern erlaubt war, was ihnen verboten. Fragten sie danach, so hieß es: „Bei uns ist das etwas ganz Anderes!“ Und so sehnten sie sich danach, erwachsen zu werden, um das Rätsel zu lösen.

Mein Großvater behauptete immer: Ein Handwerksmeister bringt seine Familie auch durch schwierigste Zeiten. Und als die schweren Nachkriegsjahre kamen, zeigte es sich, dass er rechthatte. In besseren Zeiten hatte er sich mit den Bauern angefreundet, und jetzt war es ihm ein Leichtes, einen Melkeimer gegen ein Kilo Speck oder Wurst einzutauschen. Immer bekam er irgendwo etwas Essbares her, und manchmal blieb sogar noch was übrig. Nie hat seine Familie Hunger und Not leiden müssen.

„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Diesem Luther-Satz gemäß überlegte mein Großvater an der Schwelle zum Rentenalter, welcher Baum für ihn der richtige sei. Und als er lange genug nachgedacht hatte, machte er eine Erfindung, ließ sie patentieren und legte in einer kleinen Werkstatt den Grundstein für ein Unternehmen, das bald 50 Arbeitnehmer zählte. Mit anderen Worten: Er wurde auf seine alten Tage noch Fabrikant.

Gerade, als der Baum zu blühen begann, starb mein Großvater. Er war der erste Tote, den ich sah: Weiß und kalt lag er aufgebahrt, mit gefalteten Händen, wie heiliger, kristallener Schmuck. Sein Mund stand weit offen, und ein Tuch, das den Unterkiefer wieder schließen sollte, war als Schleife über seinem Kopf zusammengebunden. Die Erwachsenen um mich herum bewegten sich wie in Zeitlupe und sprachen so leise, als würde sie jemand belauschen. Das Blut schoss mir in den Kopf, und meine Knie wurden weich. Angst und Ekel erfassten mich, aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich sah nicht weg oder unter mich, sondern immer wieder hin. Einige Jahre später träumte ich, mein Großvater sei wieder auferstanden: in einem langen, intensiven und ausschweifenden Traum, übervoll von Bildern und Symbolen.

Meinen Großvater – wie gerne hätte ich ihn noch behalten, und wie sehr vermisste ich die vielen Spaziergänge, Hand in Hand mit ihm. Er ging so gern auf den Friedhof, da war es so friedlich und still. Wir waren ein richtiges Paar. Einmal fragte ich ihn: „Wie alt bist Du eigentlich?“, und er sagte: „Siebzig Jahre.“ Ich war erstaunt, fast entsetzt und sagte: „Was, sooo alt?“ Mein Lieblingsmärchen, „Das Märchen von der Maus und dem Löwen“, erzählte mir jetzt niemand mehr, und niemand wippte mich auf den Knien dabei. Die Zither, auf der er so oft gespielt hatte, verstaubte jahrelang auf dem Dachboden, und eines Tages fand ich sie auch dort nicht mehr. Ich war sechs Jahre alt, und ich kannte ihn so wenig. Was ich mit ihm verloren habe, kann ich nur ahnen.

Kinderleben

Abends saß meine Mutter oft allein zu Hause und fragte sich: Ist das alles von der Ehe? Denn mein Vater, der an der Erzeugung seiner Kinder noch so interessiert gewesen war, war es nicht auch an ihrer Erziehung. Er renommierte außer Haus und betrieb die für taufrische Familienväter manchmal unerlässliche Öffentlichkeitsarbeit. Nicht der Familie wollte er dienen, sondern dem Herrn, und im CVJM fand er ein jahrelanges außereheliches Verhältnis. Jahre zuvor, als er mich, den kleinen Säugling, zum ersten Mal gesehen hatte, war er zum Glauben gekommen. Manchmal müssen Hasenscharten eben auch für Bekehrungseffekte herhalten.

Im CVJM hatten sie endlich den Dummen gefunden, der ihnen die Arbeit abnahm. Mein Vater war immer dabei, und die hauptamtlichen Mitarbeiter sahen es mit Freude. Sie liebten meinen Vater für seinen Fleiß. Während er, auf ihren betenden Händen getragen, vom Jungscharleiter zum stellvertretenden Kreisvorsitzenden aufstieg, heulte meine Mutter daheim die Kissen nass.

Für eine steile, ehrenamtliche Christenkarriere ließ mein Vater alles hinter sich – auch seinen Verstand. Herz und Portemonnaie öffnete er bereitwillig der guten christlichen Sache. Zu einer Zeit, da es noch nicht üblich war, Benzingeld zu erwarten, fuhr er im klapprigen VW-Käfer seine „Brüder“ und „Schwestern“ zu den frommen Veranstaltungen in der Umgebung. Nie hat mein Vater dafür einen Pfennig gesehen. „Ein Christ rechnet nicht“, sagte er; diejenigen seiner Geschwister, die hauptberuflich im CVJM tätig waren, setzten schon längst ihre Dienstkosten von der Steuer ab.

Mein Bruder und ich sahen unseren Vater – abgesehen von den Mahlzeiten – nur, wenn unsere Mutter mit uns beiden nicht mehr fertig wurde. „Kurt, komm mal schnell!“, rief sie immer dann, wenn ihr die Fäden zu entgleiten drohten, und unser Vater bewies, dass zumindest er sie in der Hand behielt. Väter, die so selten nach Hause kommen, dass sie gar keine richtigen Väter sein können, müssen, wenn sie zu Hause sind, Vater „spielen“.

Mein Vater war nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel, und wenn er uns bestrafte, benutzte er Arme und Beine dazu. Es war ihm egal, wohin er traf, und sein Jähzorn verlieh ihm die nötige Kraft. Deshalb fühlte ich mich besser, wenn er nicht zu Hause war, ich sah ihn lieber von hinten als von vorn. Das Schlimmste aber war, dass mein Vater das Recht hatte, so zu sein, weil alles richtig war, was er sagte und tat. Er war mein Vater, und ich wollte so werden wie er: soviel wissen, soviel können und so voller Kraft sein. Er versuchte, mich zu formen nach seinem Bilde, aber ich wurde nie wie er. Ich wurde ganz anders.

Einmal wollte ich „Maurer“ spielen und hackte mit dem Hammer von unserem Haus ein bisschen Putz herunter. Ich wusste nicht, dass das verboten war; mein Vater erwischte mich und – damit es mir eine Lehre sei –, bearbeitete er mich auf dieselbe Art wie ich vorher das Haus: nämlich mit dem Hammer. Ein anderes Mal fiel ich auf einem dreckigen, nicht ausgebauten Weg bäuchlings in eine Schlammpfütze. Von oben bis unten verschmiert und laut schreiend lief ich nach Hause, der sicheren Strafe entgegen. Aber es kam ganz anders: Mein Vater lachte laut, als er mich sah und holte meine Mutter. Die lachte ebenfalls. Sie lachten mich aus, wie mir schien. Mein Vater zückte den Fotoapparat, ich schrie, so laut ich konnte, aber es half nichts. Gnadenlos verewigte er meinen Jammer, es war der blanke Hohn. Jede Strafe wäre mir lieber gewesen als diese.

„Jungen weinen nicht“, sagte mein Vater. Aber wenn er mir wehtat, weinte ich trotzdem. Das machte ihn rasend, und er strafte mich immer gleich zweimal – einmal für das, was ich angestellt hatte und dann noch fürs Weinen. Wenn ich ihm rechtzeitig entwischen konnte, weinte ich mich bei meiner Mutter aus; da durfte ich’s, sie weinte ja selber so viel.

Vater und Kinder waren zwei oft zerstrittene Parteien, und unsere Mutter war die Vorsitzende beider Fraktionen. Doch egal, welcher Partei sie das Wort redete, die andere fühlte sich immer betrogen. Mein Vater sagte dann zu ihr: „Du fällst mir in den Rücken!“, und mein Bruder und ich sagten gar nichts; wir verstummten vor soviel Ungerechtigkeit der Welt.

Meiner Mutter schlug es auf den Magen. Sie hatte Angst vor jeder Auseinandersetzung, Harmonie und Friede bedeuteten ihr alles; gern hielt sie dafür ihre Meinung zurück. Doch tief in ihr drinnen war der Kampf längst entbrannt und tat ihr Körper seine Meinung kund: Es stieß ihm auf. Laut rülpste sie durchs ganze Haus, und es kam von ganz tief unten.

Wenn es ihr schlecht ging, ging es auch mir nicht gut – und das war sehr oft. Ohne sie war ich ein Nichts und fühlte mich meiner eigenen Seele beraubt. Ich lebte nur durch sie und nur mit ihr und habe all’ ihre Krämpfe gesehen: ihre Schlaflosigkeit, ihre Gereiztheit, ihre Magenbeschwerden, ihre Einsamkeit und immer wieder ihre Tränen. Ich war der unfreiwillige Zeuge ihrer Leiden, und ihre Schwäche begleitete mich durch meine Kindheit.

Wenn ich allein war, fand ich alles langweilig. Ich konnte überhaupt nichts mit mir anfangen. Ich hatte keine Lust, irgendetwas zu spielen, und mir fiel auch gar nichts ein: Ich hatte keinen Funken Phantasie. Nur, wenn mir jemand den Weg zeigte, den ich gehen sollte und mich an die Hand nahm, blühte ich auf. Mir fehlte das Gefühl für die eigene Haut. Aber die Familie war mein Zuhause. Manchmal, wenn wir einträchtig und guter Laune gemeinsam etwas unternahmen oder einfach nur beisammen waren, fühlte ich mich geborgen und sicher und spürte die Kraft, die eine Harmonie geben kann, in der Eltern keine Eltern mehr sind und Kinder keine Kinder, sondern alle zusammen eine Familie. Auf unseren zahlreichen Tageswanderungen störte mich auch mein Vater nicht mehr. Er ging sowieso immer zehn Meter voraus.

Vor der Schule hatte ich schreckliche Angst. Für meine Mutter war das ein Zeichen von Unreife, und sie führte mich einem Facharzt zum „Reifetest“ vor. Der Onkel Doktor stand lächelnd vor mir, um kindgerechte Nettigkeit bemüht, und schaute ständig zwischen mir und meiner Mutter hin und her; die hatte, Schlimmes ahnend, hinter mir Stellung bezogen. Wie gern hätte sie alles Reife aus mir herausgepresst, um zu beweisen: Mein Kind ist nicht so blöd, wie es aussieht.

Die Fragen, die ich beantworten sollte, waren sehr einfältig, und gerade das machte die Antwort so schwierig. Es ist ja so schwer, einen Sachverhalt zu erkennen, der einfacher ist als man selber. Die Frage „Wie viele Geschwister hast Du denn?“ weckte zu allem Unglück meine etymologische Ader. Ich dachte nämlich, „Geschwister“ kommt von „Schwester“, und eine Schwester hatte ich ja nicht. Standhaft überhörte ich die störenden Souflier-Versuche meiner Mutter, so sicher war ich meiner Sache. Trotzdem sagte der Doktor: „Also, der Junge ist wirklich noch nicht reif“ und sorgte dafür, dass ich ein weiteres Jahr Tante Inges Bastelkünsten ausgeliefert blieb. Seitdem weiß ich, dass auch Brüder Geschwister sein können und werde es nie mehr vergessen.

Oberstdorf war für meine Mutter mehr als eine Kur: Es war eine Liebe. Zum ersten Mal ließ sie Kinder, Küche, Kirche hinter sich und gewann neue Einsichten und neues Leben. Oberstdorf heilte sie endlich von ihren Schlafstörungen. Trautes Heim war nicht mehr Glück allein. Niemals zuvor war sie Frau unter Frauen gewesen; jetzt genoss sie es, und es war ein Teil ihrer Genesung. In Oberstdorf hat meine Mutter zum ersten Mal ihr Ich entdeckt, und im Kleinwalsertal ist sie damit spazieren gegangen.

Zuhause war jetzt mein Vater die Mutter. Ich hatte solche Angst davor gehabt, aber es war gar nicht so schlimm. Er war gutgelaunt, gar nicht streng, und auch am Küchenherd verließ ihn nicht der Mut. Es gab tatsächlich jeden Mittag etwas Anderes, und dass es uns schmeckte, war sein kleiner täglicher Triumph, den er sich reichlich bestätigen ließ. In Wirklichkeit beherrschte er nur drei oder vier Gerichte, die er entweder gut zu mischen verstand oder mit Resten der jeweils vorangegangenen Mahlzeiten garnierte. Nur dem geübten Auge fiel es auf, dass die Kochkunst meines Vaters Grenzen hatte.

Es war der Winter 1962, und seit zwei Jahren war ich nicht mehr der Kleinste. Das Schwesterchen, das sich meine Eltern gewünscht hatten, war wieder ein Brüderchen geworden, und seine knallroten Haare brachten eine völlig neue Farbe in unsere Familie.

Der Schnee ersparte meinem Vater jede Phantasie. Drei kleine Kinder am Hals, sah er nur eine Möglichkeit, uns zu beschäftigen: den unseligen Wintersport. Jeden Nachmittag zerrte er uns auf die Piste und gab uns Unterricht im Abfahrtslauf. Mein kleiner Bruder, der Rotschopf, durfte auf dem Schlitten sitzen bleiben – wie sehr beneidete ich ihn darum! Vollendet jagte mein Vater den Abhang hinunter und mein älterer Bruder ihm nach. Unten angekommen, schauten sie nach oben und erwarteten Gleiches von mir. Doch ich war geübt im Minutenschinden. Keine Showeinlage war mir zu billig, keine Grimasse zu blöd, um den Start hinauszuzögern. Ich gab nicht eher Ruhe, bis alle andern Wintersportler belustigt zu mir rüberschauten, in ihr Gelächter verpackte ich die Angst. Ich fuhr los und begann zu singen – so, wie man nachts, allein im dunklen Wald, gegen die Angst zu pfeifen beginnt. Je steiler der Hang und je höher die Geschwindigkeit, desto lauter wurden meine Lieder. „Gott ist die Liebe“ sang ich in den Schnee und „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Onkel Heinz hatte sie mir in der Sonntagsschule beigebracht. Als ich endlich unten ankam, war ich unverletzt und sehnte die Heimkehr der Mutter herbei.

Es ist Sonntagmorgen. Ich liege im Bett. Neben mir mein Großvater – der mir noch verbliebene. Großmutter ist schon auf den Beinen. Die Zeit, die sie braucht, um das Frühstück zu bereiten, ist unsere Stunde, unsere Zeit. Großvater erzählt mir Geschichten vom Krieg, und sein Arm, den ich hart im Nacken spüre, schützt mich vor Bomben, Luftschutzkellern und abenteuerlichen Fluchten. Wir liegen ganz nah beieinander, mit seinem Atem streift mich die Vergangenheit.

Nach dem Frühstück unterzieht er sich der „Sonntagswäsche“. Sie ist gründlicher und dauert länger als die Wäsche an Werktagen. Er beugt den nackten Oberkörper, weiß und ausgezehrt, übers Waschbecken. Seine Haut ist ranzig und alt, und wie Drähte zeichnen sich die Sehnen seiner Arme ab. Wild und fahrig reibt er sein Gesicht, die Arme und die Brust und verbraucht so viel Wasser, dass es durch die ganze Stube spritzt. Das Wasser perlt an seiner Haut herab wie an trockenem Leder. Wenig später, wenn die Bartstoppeln der letzten zwei Tage unter weißem Rasierschaum verschwinden, leuchten seine Augen wie die vom Nikolaus. Er schaut in den Spiegel: den Rücken gebeugt, das Kinn verkrampft emporgereckt und atmet schwer ins eigene Gesicht, das unter warmem Hauch verblassen möchte. Langsam, mit geübten Strichen, trägt er den Schaum vom Kinn wieder ab: klein, vorsichtig, ruhig, sicher und hellwach. Ich spüre, die Rasierklinge kann tödlich sein und jede Bewegung die letzte. Aber ich spüre auch, dass Großvater mit ihr umzugehen weiß, und dass er überleben wird, wie immer. Trotzdem bin ich froh, wenn es vorüber ist, und sein Kinn wieder leuchtet, rot und neugeboren, wie der nackte Po eines Babys.

Für die „Sonntagswäsche“ bleibt ihm genau eine Stunde: solange, wie Großmutter in der Kirche ist. Zwanzig Pfennig gibt sie in den Klingelbeutel, seit der Krieg zu Ende ging, nicht mehr, nicht weniger. Für sie gibt es keine Geldentwertung. Wenn sie zurückkommt, sitzt Großvater auf dem Sofa und löst sein Kreuzworträtsel. Nichts verrät mehr die Liebe und Sorgfalt, mit der er eben noch seinen Körper gepflegt hat. Die Lust an sich selbst ist erloschen unter ihren Augen.

Nach dem Mittagessen wird das Radio eingeschaltet, und wir hören die Sendung „Aus Stadt und Land“: Heiner, Philip und Babette sind wie immer überrascht, sich zu sehen und nutzen die Zeit, die ihnen der Hessische Rundfunk gewährt, zu einem Schwätzchen über Hausarbeit, Gartenbau und Landwirtschaft. Milch ist etwas sehr Gesundes, erkennen sie, und der Borkenkäfer eine Plage; die Kartoffel ist nicht mehr das, was sie mal war, und der niedliche Hund von Babette hat die Staupe. Sie sprechen die Sprache der Kleinen, die auch die meiner Großeltern ist: Sie „babbeln“, und erst dadurch werden sie lebendig, liebenswert und wie von nebenan. Wenn sie jetzt gleich, im nächsten Augenblick, mit vorgebundener Schürze zur Tür hereinkämen – es würde mich nicht wundern, und ich hätte nichts dagegen. Nach zehn Minuten beenden Heiner, Philip und Babette ihre Betrachtungen, und einer von ihnen findet letzte Worte; sie sind schöner, breiter und wichtiger als alle anderen vorher. Nur eine winzige, heilige Kunstpause noch, dann setzt sich Marschmusik auf die Idylle, schwer und wuchtig, wie die Henne auf das Ei. Aber ich lasse sie nicht! Im selben Moment springe ich auf, zerre Großvater vom Stuhl und, er der Not gehorchend, ich dem Triebe, tanzen wir zusammen durch die Stube und drehen uns im Kreis, immer schneller, immer mehr. Großvater kann nicht mehr so schnell, aber er versucht es, mir zuliebe. Ich halt ihn ganz fest an den Händen, damit er nicht umfällt; ich will doch nächsten Sonntag wieder mit ihm tanzen.

Um Bauer zu werden, muss man gesund sein und stark; deshalb wurde mein Großvater keiner. Er wurde aber auch nichts anderes, denn gesund und stark sein muss man leider überall. Seine Klassenkameraden, damals, waren’s auch, und er hat sie beneidet darum. Später, als der Krieg kam, durfte er nicht mit, und sie sind ohne ihn ins Feld gezogen. Dort sind die meisten, weil’s so schön war, auch geblieben. Nur wenige kehrten zurück und kamen manchmal unerwartet; dann fragte das kleine Kind, das seinen Vater nie gesehen hatte: „Mami, was will der fremde Onkel hier?“ Einer, der’s geschafft hat, wohnt gleich nebenan. Früher hat er mit Großvater die Schulbank gedrückt, jetzt drücken sie sich gemeinsam durchs Alter. Ich darf „Onkel Christian“ zu ihm sagen, und ich tu es gern, denn er hat einen riesigen Stall mit Kühen, Schweinen und Hühnern. Großvater hilft ihm oft, wenn ihm die Abende zu lange dauern, und ich darf mit hinüber. Helfen darf ich ihnen nicht, dazu bin ich noch zu klein, nur zuschauen darf ich und sie ab und zu durch Kindermund zum Lachen bringen. Ich bin nicht stark genug zum Füttern, Melken und Ausmisten. Wenn die Ferkel Hunger haben, quieken sie so laut, wie ich’s nie darf; deshalb mag ich sie so. Die Schwalben schwirren um mich her, und in den Ecken such ich ihre Nester. Meine Lieblingskuh, die Lisa, kaut gelangweilt vor sich hin. Ich frag sie, wie’s ihr geht und rede ihr gut zu, aber unbeeindruckt kaut sie weiter. Einmal hat mich Lisa mit ihrem Horn am Arm erwischt, aber trotzdem ist sie meine Lieblingskuh geblieben.

Großvater hat entdeckt, dass ich eine schöne Stimme habe, und jetzt muss ich immerzu singen. Aber nicht in der Badewanne, sondern öffentlich: Vor Verwandten und Bekannten und neulich sogar im Wartezimmer eines Krankenhauses; die Patienten und Besucher waren so gerührt, dass Großvater seinen Hut herumgehn ließ. Es war wie in der Kirche, und am Ende war’n vier Mark darin. Nicht wenig für „So nimm denn meine Hände“ und „Sah ein Knab’ ein Röslein stehn“. Ich wurde ein Meister der hohen Töne, denn ich spürte, dass ich wichtig war und wichtiger wurde, je höher ich sang. Also sang ich nur noch hoch, und auch in schwindeligen Lagen blieb mein Kindersopran hell und klar.

Großvater ist ganz aufgeregt und freut sich wie ein Kind. Solange ich singe, ist auch er der Bedeutungslosigkeit enthoben; ich nehme ihn mit auf den Schwingen meiner Melodie, und hoch und weit lässt er sich tragen. Großvater ist mir ein lieber Förderer geblieben – bis zum Stimmbruch. Der muss eine große Enttäuschung für ihn gewesen sein. Mit elf Jahren war alles vorbei. Neidlos überließen wir Heintje das Feld, und der machte die Karriere, von der mein Großvater insgeheim glaubte, dass sie nur meiner Stimme würdig sei.

„Guten Morgen im Neuen Jahr!“, begrüßt Großvater jeden, der an seinem weit geöffneten Fenster vorbeikommt. Am ersten Tag des Neuen Jahres ist er so freundlich wie im ganzen Jahr nie wieder. Aber Großmutter ist nicht für Leutseligkeit. Sie mag die Fenster am liebsten verschlossen und die Gardinen zugezogen. „Konrad, hör auf!“, sagt sie kräftig, und Konrad hört wirklich auf. Er schließt das Fenster, zieht die Gardinen zu und weiß, dass auch im Neuen Jahr nichts anders werden wird.

Großmutters Art zu lieben ist die treue Fürsorge, die den Widerspruch nur ungern duldet; so, wie die Henne, die ihre Küken ständig um sich sammelt und gar nicht fragt, ob die Küken das auch wollen. Im kleinen Radius von Familie und Verwandtschaft erfüllt sich ihr Leben und erschöpft sich gleichzeitig darin. Die Camembert-Brote, die sie ihren Enkeln zubereitet, sind dicker belegt als die Brote, die sie selber isst, und ihre Saucen am Mittag haben mehr Geschmack und Würze als jedes ihrer Worte. In der Schule, sagt sie selbst, hat es nur zum Mittelmaß gereicht, und schon immer hat die Blutsverwandtschaft ihr jede andere ersetzt. Später hab ich sie zu Hause sitzen sehen, allein mit ihrem Gluckensinn und nur am Wochenende blühend, wenn wir zu Besuch gekommen sind. Die ganze Zeit hat sie gewartet auf Besuch von Leuten, die nie kamen. Und wenn sie kamen, blieben sie nicht lang.

Etwas war in mir, und ich wusste nicht, was. Vielleicht war ich noch zu klein dafür. Aber es blieb in mir drin. Da dachte ich, es muss so sein. Ich hatte keinen Spaß am Kinderleben. Nur nach außen war ich froh. Es war so schwierig, „gut“ zu sein und den Erwachsenen zu imponieren, und am nächsten Tag hatten sie’s schon wieder vergessen. Ich war nur ein Kind, und das fanden sie zu wenig; aber ich fand Erwachsensein zuviel. Meine Eltern hatten mich geboren, nun wollten sie ihre Freude an mir haben. Ihre Gunst war mein Atem, und ihre Rüge roch nach Tod. Ich erstickte an meiner Ohnmacht. Wenn mein Vater „Stoffel!“ zu mir sagte, wär’ ich lieber tot gewesen. „Stoffel“ war für mich das schlimmste Wort der Welt; ein Bild für all’ mein Unvermögen, meine Fehler, meine ganze Schlechtigkeit und Schuld. Ich fühlte mich vom Pech verfolgt und glaubte, alles falsch zu machen. Vor allem mein Vater bestärkte mich in diesem Glauben. Alle waren gegen mich und lachten. Das Leben hing an meinen Gliedern, traurig, müde und schwer.

Manchmal schwebte der Sinn über mir. So, wie ein Luftballon, der immer größer wird. Dann ahnte ich die Aufgabe, die das Leben für mich bereithielt, alles erhellend und groß, aber ich sah sie nicht. Der Luftballon war nur die äußere Hülle davon. Und ich war sicher, sie würde zu schwer für mich sein.

Mit acht schrieb ich einen Brief an den lieben Gott: „Lass mich bitte, bitte ein ehrlicher Junge werden! Wenn’s geht, 24 Stunden am Tag.“ Und war verzweifelt darüber, dass er mich nicht erhörte.

Ich tat mir so leid. „Immer ich“, sagte ich, wenn meine Eltern mich belagerten: „Immer ich.“ Es wurde bald ein geflügeltes Wort. Ich hatte nur mich, und mich verneinte ich. Deshalb wurde ich süchtig nach mir, wie jemand süchtig wird nach einer Droge, weil ihm die „richtige“ Nahrung fehlt. Ich drehte mich um mich selbst in der Hoffnung , mich auf diese Weise lieben zu lernen.

Andere Kinder waren so kindisch, so dumm. Und ich nahm’s für meine Qualität, dass ich mich so von ihnen unterschied. In Wirklichkeit hatte ich Sehnsucht nach ihnen und wäre am liebsten gewesen wie sie. Aber sie blieben mir fremd. Wenn mich mal ein Kind besuchte, kam ich mir vor wie eine alte, überreife Pflaume, die mit einer fremden Knospe spielt.

Stefan hieß mein erster Freund und lange Zeit mein einziger. Auch er kam aus einem pietistischen Elternhaus, und wir liefen uns schon sehr früh bei irgendwelchen kirchlichen Veranstaltungen und CVJM-Würstchenbratfesten über den Weg. Aber erst nach unserer Einschulung, als wir gemeinsam in derselben Klasse saßen, begann unsere Freundschaft.

Stefan gehörte zur größten Familie des Ortes, und mit ihm wuchs auch die Zahl seiner Geschwister in schöner Regelmäßigkeit. Meist kam er zu mir, denn bei mir war mehr Platz. Er kam fast täglich nach den Hausaufgaben, zu einem Zeitpunkt, den wir am Morgen in der Schule vereinbart hatten. Und ich freute mich auf ihn, stand schon eine Stunde vorher am Fenster und war todunglücklich, wenn er sich verspätete oder nicht kam.

Als wir neun oder zehn waren, übten wir auf meinem Harmonium „Am Brunnen vor dem Tore“. Stefan war wesentlich kleiner als ich, so dass er auf meinem Schoß sitzen musste, um die Tasten erreichen zu können. Oder wir saßen nebeneinander im Fernsehsessel und freuten uns riesig, dass das möglich war. Einige Jahre später probierten wir das Gleiche noch einmal, aber da hatte nur noch einer von uns im Sessel Platz.

Es sollte ihm bei mir an nichts fehlen. Ich hatte furchtbare Angst, er würde eines Tages nicht mehr wiederkommen, und so erfüllte ich ihm jede Bitte, bevor er sie aussprechen konnte. Ich bot ihm zu essen und zu trinken an und schmierte ihm sogar die Butterbrote. Ich spendierte ihm ein Eis, eine Curry-Wurst oder lud ihn ins Kino ein – auch, wenn der Film mich gar nicht interessierte. Zu Hause stellte ich die Heizung höher, damit er nicht fror und reichte ihm ein Kissen, damit er’s bequemer hatte.

Im Sommer gingen wir fast täglich ins Freibad, und auf der Liegewiese hatten wir schon längst unseren Stammplatz. Einmal forderte Stefan mich auf, ein Mädchen vom Beckenrand ins Wasser zu stoßen. Das „Opfer“ hatte er bereits ausgesucht. Ich tat, was er sagte und erhielt Badeverbot für den Rest der Saison. Ich packte meine Sachen, zog mich an und ging zum Ausgang. Ich hoffte, Stefan würde mir folgen, als guter Freund. Dass er es nicht tat, war die eigentliche Strafe.

Versuchungen

Die „ewigen“ Ferien waren vorbei; nur am Wochenende konnte ich jetzt noch zu meinen Großeltern. Aber als ich zehn oder zwölf war, durfte ich ganz allein mit dem Fahrrad hin. 36 Kilometer hatte ich zu überwinden, und wenn ich heil ankam in Vaters Heimatdorf, war ich selbst am meisten überrascht darüber.

Von außen duckte ich mich unters Küchenfenster. Meine Finger schnellten an die Fensterscheibe und ebenso wieder zurück. Und wenn Großmutter das Fenster öffnete – meist war es Großmutter –, sah sie geradeaus und rundherum und erst ganz zuletzt nach unten. Jedes Mal fiel sie wieder drauf herein.

Auf der Strecke gab es eine lange, kurvenreiche Steigung, an der ich absteigen und das Fahrrad schieben musste. Wenn ich unten zu schieben anfing, wollte ich schon gar nicht mehr hinauf und stellte die Schöpfung infrage, die, mir zur Strafe, sinnlose Hürden erfand. Es war so eintönig, immer nur bergauf.

An jenem Tag, ich weiß es noch, bin ich ganz weit links gegangen, oder ich nahm es mir vor. Aber ich muss geträumt haben, denn als das Auto kam, war ich in meinen Gedanken weit weg: Es raste aus der Kurve, über die linke Fahrspur, streifte an der Außenseite einen Baum und kam, von dort zurückgeschleudert, diagonal auf mich zu. Aufgeschreckt sprang ich in den Straßengraben, das Fahrrad mit mir, und hinter mir streifte das Auto den Baum, den ich eben noch ersetzen sollte. Einsam rollte ein Reifen vorüber und kullerte sich aus auf dem Asphalt. Noch einmal überquerte das Auto die Straße, stürzte links eine Böschung hinab, überschlug sich zweimal und blieb kopfüber in einer Wiese liegen. Dann war es endlich still.

„Muss ich warten, bis die Polizei kommt?“, hörte ich mich fragen. Ich war doch der einzige Augenzeuge. Nur zögernd wagte ich mich näher. Männer kamen gelaufen und halfen dem Fahrer ins Freie. Sie drehten ihn auf den Rücken und legten ihm eine Decke in den Nacken. Ich traute mich lange nicht, in sein Gesicht zu sehen, dann tat ich’s doch und sah, dass es ein Junge war, achtzehn vielleicht oder zwanzig. Sein Nasenbein war eingedrückt, und Blut tropfte in seinen Hemdkragen, den sie ihm geöffnet hatten. Sonst war ihm nichts passiert.