Das Nachtkasterl - Daisy Swan - E-Book

Das Nachtkasterl E-Book

Daisy Swan

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Beschreibung

"Vergiss mich. Meine Verehrer haben eine erstaunlich hohe Todesrate."

Wien, 1898. Das Kaiserreich ist erschüttert vom tragischen Mord an der geliebten Kaiserin Elisabeth, doch in Wien wird immer noch Walzer getanzt.

Mine Straubinger kennt Trauer und Verzweiflung, doch auch sie muss sich den Zwängen der Gesellschaft fügen.
Ferdinand Schauersberg will eigentlich nur beruflich vorankommen, bis er in Mines dunkle Welt gerät, ihr schreckliches Geheimnis entdeckt – und sie dennoch liebt.
Doch gibt es in der Welt der Reichen und Schönen einen Platz für die beiden?
Kann die Liebe alles besiegen – selbst gesellschaftlichen Druck und teuflische Dämonen?
Daisy Swan, die einst ihre Bachelorarbeit über den Tod der Kaiserin schrieb, erzählt eine romantisch-schauerliche Geschichte aus dem Fin de Siècle – ein Tanz am Abgrund, zwischen k.u.k.-Prunk und drohendem Untergang, am Vorabend eines neuen Jahrhunderts.
 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Daisy Swan

Das Nachtkasterl

UUID: b1597fb5-c712-47df-8da9-f15c25b106ed
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Orientierungspunkte

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

Das Nachtkasterl

Das schauerliche Geheimnis

der Wilhelmine Straubinger

Daisy Swan

Das Nachtkasterl

Das schauerliche Geheimnis der Wilhelmine Straubinger

Gothic Romantasy

Impressum

Texte: © 2025 Copyright by Daisy Swan

Umschlag: © 2025 Copyright by Daisy Swan

Verantwortlich

für den Inhalt: Daisy Swan

Nordmanngasse 27

1210 Wien

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Kapitel 1

Mine sah mit leeren, glasigen Augen hinaus in den grauen Himmel. Sie stellte sich vor, wie frisch und kalt die Luft draußen war, während ihr mit jeder Bewegung weniger Luft gelassen wurde. Es gefiel ihm so, sie gefiel ihm so. Kaum eine Frau trug ihr Korsett so eng – jedenfalls seit September keine Frau in Wien mehr, denn die Kaiserin Elisabeth war vor wenigen Wochen gestorben.

Mine erinnerte sich an den Gottesdienst und wie sie sich gefragt hatte, ob Es auch die Kaiserin besucht hatte. In der Nacht – und immer wenn sie ihr Nachtkasterl öffnete. Und dann war sie eifersüchtig geworden, auf eine Tote, eine viel ältere Frau, mit der sie wirklich niemals hätte tauschen wollen.

Sie atmete ein, doch das Korsett verbot es ihrem Brustkorb, sich aufzublähen. Und noch enger.

Sie hielt sich am Fenstersims fest, ihre Augen immer noch leer in den Himmel gerichtet. Normales Herbstwetter in Wien. Ihr Vater hatte ihr immer gesagt, dort oben sei die Mutter und schaue auf sie herab – und der Herrgott auch. Und als Kind hatte sie immer gedacht: Wenn die Donau wieder Hochnebel brachte, dann konnte man sie nicht sehen.

Und jetzt, Vati? Siehst du, was aus mir geworden ist? Oder bist du froh über die Wolkendecke?

Mine räusperte sich, um ihm zu signalisieren, dass es langsam genug war. Doch ihr Korsett wurde enger, und langsam verlor sie die Geduld und räusperte sich energischer. Dann spürte sie das familiäre Kribbeln, das die kleinen Ärmchen verursachten, wenn sie sich nach innen drehten, sodass sie wie normale Bänder aussahen – und all die winzigen Saugnäpfe küssten nun ihren nackten Rücken. Ihr lief ein Schauer die Wirbelsäule herab, und dann breitete sich ein ihr bekanntes Gefühl in ihrem ganzen Körper aus: Sie fühlte sich stark, schön und unbesiegbar. Als es neu gewesen war, da wusste sie nicht in Worte zu fassen, was ihr wiederfuhr, aber nun war sie sich sicher: Es war das Beste und das Schlechteste, was ihr jemals passiert war.

Andere, große und starke Arme waberten aus ihrem Kleiderschrank und halfen ihr in ihr Kleid. Es hatte sich für das in einem hellen Rosa entschieden. Mine hob müde einen Mundwinkel, als wüsste es, dass sie heute einen lieben und netten Eindruck machen musste.

Wobei sie darauf keine so richtige Lust hatte. Natürlich kam der Vertreter des Immobilienmaklers Knochenhauer mit einer Absicht – und Mine war vielleicht eine junge Frau, aber sicher nicht dumm. Nachdem es ihre Verwandtschaft schon nicht geschafft hatte, ihr die Pacht und alles, was sie besaß, abzuluchsen, kamen jetzt Fremde und wollten sie dazu drängen, ihr Land zu verkaufen. Das kam nicht in Frage – es war der fruchtbare Boden, auf dem der Reichtum der Straubingers wuchs. Ihr war schnell klar geworden: Es war keine Frage von Fürsorge, nein, sondern von Neid.

„Aber du bist doch ein junges Mädchen und solltest dich nicht mit solchen Dingen quälen, lass das doch deinen Onkel machen. Und wenn wir schon dabei sind: Komm doch zu uns aufs Land und lebe bei uns, wir finden dir einen guten Ehemann und du musst dich nie um etwas sorgen.“

Ihren Schmuck legte Mine selbst an – alles, was recht war. Die Halskette voller Brillanten war ein Geschenk eines Mannes, der gern ein guter Ehemann sein möchte. Mine wusste, Es würde niemals zulassen, dass sie heiratete. Jedenfalls glaubte sie das zu wissen – noch nie hatte sie einen Mann allein in diesem Haus empfangen, also konnte sie es nicht wissen, aber es war so eine Ahnung, weil nichts, was ihr missfiel, lange blieb. Es hatte so die Angewohnheit, ihr alles zu ihrem Gefallen zu richten. Und das war das Beste, aber auch das Schlimmste überhaupt, denn das bedeutete, dass doch alles ihre Schuld war. Aber dann erinnerte sie sich wieder an das gute Gefühl, das Es ihr gab, und sie sah in ihren Spiegel. Die Brillanten um ihren Hals funkelten mit ihren Augen um die Wette. Natürlich wollte jeder sie heiraten, aber nicht, weil sie hübsch war – das war nur ein netter Beigeschmack –, allen ging es um ihr Geld, ihren Familiennamen und den Stand in der Wiener Gesellschaft, der damit einherging. Sie wäre dumm, das alles aufzugeben und zu ihrer entfernten Verwandtschaft aufs Land zu ziehen – aber dann half ihr eben niemand, einen guten Ehemann zu finden, und sie würde sich eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft entscheiden müssen für einen ihrer Verehrer, die sie allesamt langweilten oder gar anwiderten. Sie hörte immer wieder, dass es nicht leicht sei, eine Frau zu sein, aber dann schickten diese Stimmen auch immer nach: „Und trotzdem solltest du froh sein, dass du ein Mädchen bist und kein Mann, weil die haben es viel schlimmer.“

Wenn sie sich ihre Auswahl von Verehrern ansah, zweifelte sie daran, dass diese jemals einen einzigen schlimmen Tag in ihrem Leben gehabt hatten. Das merkte man, wenn man ihnen nur eine Minute zuhörte. Sie redeten so weltvergessen nur über sich selbst und das taten sie nicht, um sie zu beeindrucken – nein, das taten sie, weil sie tatsächlich kein anderes Thema kannten – und all die Lobeshymnen auf ihr Tun, ihr Können, ihre Familie, ihre Stärken, ihre Persönlichkeit auch noch glaubten. Aus tiefster Überzeugung.

Natürlich fragte sie sich manchmal, ob sie zu wählerisch war, aber dann dachte sie auch: Sie war nicht so früh Waise geworden, um diese Freiheit nun wegzuwerfen, als bedeute es ihr nichts. Als sei ihr jetziges Leben schlechter als das Leben einer Ehefrau eines selbstverliebten Schnösels, der ihr wahrscheinlich nur Schmerzen zufügen würde beim Beischlaf, oder noch schlimmer: sie schlagen, wenn er schlechte Laune hatte. Sie hatte genug Freundinnen, die bereits verheiratet waren und die bei den Soirées der feinen Gesellschaft nach einem oder zwei Schälchen Sekt die Wahrheit hinter vorgehaltener Hand sagten: Keiner dieser Ehemänner behandelte sie gut. Und trotzdem seien sie ja so glücklich, in seine Familie eingeheiratet zu haben.

Mines Familie war ihr Glück. Hinter ihrem Namen konnte sie sich verstecken und sagen: „Es müsse erstmal der Verehrer kommen, der aus ähnlich gutem Hause kam. Erstens das – und zweitens: Was, ich soll jetzt schon heiraten, wo sich diese Tragödie, der unerwartete Tod meines Vaters, erst vor Kurzem ereignet hat? Ich kann jetzt noch nicht mein Herz für jemanden öffnen, es tut mir leid.“

Das tat es Mine nicht.

Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie gefühlskalt war. War Es zu ihr gekommen, weil sie so war? Oder war sie so, weil Es zu ihr gekommen war?

Sie hatte heute keine Zeit, darüber nachzudenken – sie musste alles für den Besuch der Firma Knochenhauer & Partner herrichten.

***

Ferdinand war ungefähr so aufgeregt wie an seinem ersten Arbeitstag. Und der war nun wirklich schon einige Jahre her. Herr Knochenhauer hatte ihm gesagt, er erwarte einen Erfolg – normalerweise machte er sich keinen Druck, er wusste, dass er ein guter Geschäftsmann war. Immerhin hatte er fleißig gelernt und sich von seinen Kollegen und Vorgesetzten viel abgeschaut. Er sagte immer, er habe von den Besten gelernt – und das meinte er nicht als Kompliment für seinen Chef, sondern aus Überzeugung.

Knochenhauer hatte auch gesagt, dass Ferdinand nun bereit sei. Nachdem er die Zinshausreihe im letzten Monat mit erheblichem Gewinn veräußert hatte, behandelten ihn alle in der Firma mit mehr Respekt. Er war nicht mehr der Grünschnabel, der kleine Junge. Er fühlte sich schon lange erwachsen, aber die Menschen in seinem Leben sahen in ihm immer noch ein Kind – seine Eltern, weil er ihr jüngster Sohn war, das Nesthäkchen; und im Beruf, weil er wirklich der jüngste Immobilienmakler Wiens war. In ein paar Monaten würde er seinen zweiundzwanzigsten Geburtstag feiern. Aber jetzt sahen sie ihn an wie ein Kind, das eine Zinshausreihe veräußert hatte – und im Grunde war er ja genau das.

Er wusste, wie man Leute zum Kauf oder Verkauf bewegte. Er fasste seinen Aktenkoffer etwas fester – er hatte der Dame viele schöne Alternativen zu einem Ringstraßenpalais mitgebracht. Und natürlich hatte er seine Hausaufgaben gemacht und ging diese noch einmal im Kopf durch, als er die Elisabethstraße hinauf in Richtung Ringstraße ging: Wilhelmine Straubinger, einzige Erbin von Erwin Straubinger, und damit auch Besitzerin des Familienwohnsitzes. Darüber hinaus verwaltete sie die Ländereien ihrer Familie, die sie landwirtschaftlich bestellen ließ; 21 Jahre alt, eine sehr fromme Wohltäterin. Sie war mit gerade 16 Jahren Vollwaisin geworden und veranstaltete gern Bälle und sonstige Ereignisse, um Geld für die Waisenhäuser Wiens zu sammeln.

Er konnte sich nicht so recht vorstellen, wie das Fräulein Straubinger wohl war, aber irgendwie dachte er, sie sei eine sehr brave Christin, die als einzige Erbin nicht ins Kloster gehen konnte, es aber vielleicht gern getan hätte. Denn so ganz konnte er sich nicht vorstellen, wie man fünf Jahre allein in einem riesigen Palais leben konnte – sie hatte außerdem aufgrund ihres Namens sicher mehr als genug Auswahl an Verehrern. Also, warum war sie immer noch allein?

Nun, er würde es ja gleich sehen, wenn er sie persönlich traf. Gespannt war er schon – es war eine Herausforderung, eben weil er sie noch nicht einschätzen konnte. Aber er freute sich darauf, denn er zweifelte nicht daran, dass er sie würde überzeugen können, ihren Familienwohnsitz zu veräußern.

Er beschleunigte seine Schritte, denn das Wetter wurde immer unwirtlicher. Er hielt sich seine Aktentasche über den Kopf, denn natürlich hatte er sowohl Schirm als auch Hut zu Hause liegen lassen.

Er erreichte das Palais Straubinger, als der Himmel von hellgrau zu dunkelgrau wechselte und es in der Ferne schon bedrohlich grollte. Ein Gewitter – auch das noch. Als kleiner Junge hatte er sich gefürchtet – die Mama hatte sich dann mit ihm unter einer Bettdecke versteckt, damit er keine Angst hatte. Nun war es seine arme Mutter, die verwirrt war und sich immer erschreckte, wenn es donnerte. Er hoffte, dass die Pflegerin gut auf sie achtgab, jetzt, wo er nicht zu Hause sein konnte.

Er klingelte. Die Tür schwang sofort auf, doch niemand stand dahinter. Er trat, ohne weiter nachzudenken, hastig ein – immerhin wurde er draußen immer nasser.

Er befand sich in einem wirklich prunkvollen Wohnhaus: Der Flur war mit rotem Teppich ausgelegt, und vor ihm wand sich eine dunkle Holztreppe, ebenfalls mit Teppich, in den oberen Stock. Über seinem Kopf hing ein schwerer Luster, und an den Wänden flackerten elegante Gaslampen. Er befeuchtete seine Lippen und sah sich um – dann hörte er Schritte. Auf dem oberen Treppenabsatz erschien Wilhelmine Straubinger und lächelte ihn an.

„Herr Schauersberg? Kommen Sie doch ins Mezzanin“, begrüßte sie ihn mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. Er sah wahrscheinlich aus, als wäre er aus der Donau gefischt worden.

Er war überrascht, wie hübsch sie war – er hatte mit einer grauen Maus gerechnet. Doch sie trug ein elegantes, der aktuellen Mode entsprechendes Kleid und dekadenten Schmuck aus schillernden Brillanten. Sie war schlank – ihre Taille machte der der verstorbenen Kaiserin Konkurrenz. Und wie sie ihn offen ansah, wirkte sie kein bisschen schüchtern oder unsicher, sondern wie eine aufgeweckte, intelligente Frau.

„Grüß Gott“, sagte er hastig, ging auf die Treppe zu und wollte zu ihr hinaufsteigen – doch sein Fuß blieb an einer Stufe hängen, und er fiel ihr direkt vor die Füße, auf die Knie. Sein Gesicht landete in ihrem Rock. Der Stoff fühlte sich wie eine Sünde an – und er widerstand dem Drang, ihn mit den Händen zu fassen und seinen ganzen Kopf darin zu vergraben. Nein, es lag nicht an Fräulein Straubinger – jede Frau hätte dieses Kleid tragen können, und er hätte den Stoff auf seiner Haut spüren und jede Faser einatmen wollen.

Er kniete nun vor ihr, seine Beine schmerzten vom Aufprall, und er sah zu ihr hinauf. Sie wirkte auf einmal viel größer als er. Sie sah ihn fragend an, dann streckte sie ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Er schluckte – eigentlich sollte er sie nicht nehmen und allein wieder aufstehen, aber es war ein Reflex. Er griff danach und stand auf.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte sie.

Er nickte hastig und ließ ihre Hand wieder los. Ihre Haut war so glatt und kühl, wie sie nur die Haut einer hochwohlgeborenen Frau sein konnte, die noch nie in ihrem Leben gearbeitet hatte. Und nun stellte er sich ihre Hand an seinem Gesicht vor…

„Ja, tut mir leid, ich bin nur ungeschickt“, sagte er, und sofort hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wie konnte er seine Schwächen zugeben? Er war hier, um ein Geschäft zu machen – und so, wie sie aussah, würde sie ihm das sicher nicht leicht machen.

„Na dann, kommen Sie doch mit, ich habe uns Tee gemacht“, sagte sie und lächelte, drehte sich um und schritt die Treppe weiter hinauf.

Ferdinand hielt sich vorsichtshalber am dunklen Holzgeländer fest. Er bestaunte die Bilder, die die Wände des Stiegenhauses säumten. Es waren hauptsächlich Landschaftsmalereien, und er fragte sich, ob es diese satten grünen Wiesen wirklich gab – und ob das Wilhelmines Ländereien waren.

Im Mezzanin führte Wilhelmine ihn in einen Salon. Ein hübsch verzierter, weißer Ofen stand in der Ecke, die Möbel waren mit blauem Damast bespannt, und an der breiten Wand hing ein großes Familienporträt – er erkannte sofort Wilhelmine, die darauf noch als junges Mädchen gemalt worden war. Doch der trotzige Blick war derselbe wie heute. Er fürchtete, sie würde es ihm nun wirklich nicht leicht machen.

„Sie haben ein wirklich schönes Zuhause, Frau Straubinger“, sagte er, als sie sich an den Tisch setzten.

„Danke. Ich kümmere mich zu großen Teilen allein um das Haus“, erwiderte sie und beobachtete ihn. Sie schenkte Tee ein und schob ihm einen Porzellanbehälter voller Zucker hin. „Bitte.“

„D–danke“, machte er und begann, Zucker mit dem Löffel in seine Tasse zu schaufeln.

„Sie leben doch nicht allein hier?“, fragte er dann.

Sie sah ihn offen an. „Doch. Ich habe keine Bediensteten.“

Er hob beide Brauen. „Entschuldigen Sie, das habe ich wirklich nicht erwartet. Wie schaffen Sie das alles, wenn Sie auch noch Ihre Wohltätigkeiten haben?“

Sie lächelte. „Die sind Freizeit – nach meiner Landwirtschaft und dem Palais. Erst dann kann ich mich um andere kümmern. Sagen Sie, ist Ihre Firma nicht auch sozial engagiert?“

Er holte Luft – anscheinend hatte nicht nur er seine Hausaufgaben gemacht. „Es ist nicht meine Firma, ich bin … ich bin nur ein Mitarbeiter. Aber ja, Herr Knochenhauer betreibt zwei Armenhäuser.“

Wilhelmine lächelte, doch da lag ein Funkeln in ihren Augen, das ihm verriet, dass sie das gar nicht so wohltätig fand, wie es klang. Er würde das nicht vor ihr zugeben, aber die Armenhäuser wurden großzügig von der Kaiserkrone unterstützt – so sehr, dass der Betrieb Knochenhauer mehr Geld einbrachte, als er kostete, und obendrein noch einen guten Ruf. Wahrscheinlich wusste Wilhelmine das, wenn sie selbst so tief in die Tasche griff für die Waisen.

„Aber deswegen sind Sie nicht hier, Herr Schauersberg, oder? Interessanter Name übrigens – ich war früher mit meinem Vater in Maria Schauersberg auf Wallfahrt. Kommen Sie von dort?“

Er befeuchtete seine Lippen. „Ich habe Verwandtschaft in Oberösterreich, aber nein, ich komme aus Wien. Und Sie haben recht – ich bin wegen …“ Ferdinand hasste es, dass er so um Worte bemüht war. Er räusperte sich. „Gnädiges Fräulein, bitte verstehen Sie das nicht falsch – es war mir nicht bewusst, dass Sie sich ganz allein um dieses Haus kümmern.“

Er hatte in seinem Vorschlag, den er ihr unterbreiten wollte, nämlich herausgearbeitet, dass die Dienerschaft, die sie sicher hatte, unglaublich viel Geld kostete – und daher ein kleiner Wohnsitz am Land bequemer sei. Und jetzt hatte sie nicht einmal einen Koch?

„Es ist mein ganzer Stolz“, sagte sie und lächelte auf eine Art, die keine Widerworte hören wollte.

„Das sieht man“, entfuhr es ihm. Seine Familie wohnte weit bescheidener, und ohne die Pflegerin und Haushälterin, die zweimal in der Woche kam, wären sie komplett verloren. Und trotzdem sah Wilhelmine nicht aus wie eine Frau, die selbst Wäsche machte oder Teppiche ausklopfte.

„Danke“, sagte sie wieder, als ob sie Widerworte einfach nicht zuließe.

„Aber das stelle ich mir auch furchtbar anstrengend vor … und einsam“, fügte er tapfer an.

Sie hörte auf zu lächeln und trank einen Schluck Tee.

„Herr Schauersberg, ich bin mir sicher, dass Sie kein schlechter Mensch sind. Aber ich bitte Sie: heucheln Sie kein Mitgefühl, wenn Sie keines verspüren.“

Er stotterte, ehe er herausbrachte: „Ich möchte Sie nicht beleidigen, nur … Sie sind doch ganz allein hier.“

„Nicht ganz“, sagte sie und lächelte schelmisch. „Ich habe eine Katze.“

Ferdinand war von dieser Antwort so überrascht, dass er erst einmal gar nichts sagte.

„Und ich mag meine Ruhe. Verstehen Sie, eine Frau meines Standes ist immer unter Menschen. Ich empfinde es als sehr wohltuend, wenn ich nach einem langen Tag in der Gesellschaft nach Hause komme und niemand etwas von mir will. Nur ich, eine Tasse Tee und ein gutes Buch.“

Ferdinand begann zu lächeln. „Was lesen Sie denn?“

„Im Moment habe ich mich ganz in Lou Andreas-Salomé verliebt. Ist sie Ihnen bekannt?“

Ferdinand schüttelte den Kopf. „Nein. Wie heißt eines ihrer Werke?“

„Im Kampf um Gott. Sie befasst sich sehr mit der Frage der Schuld.“ Ein Schatten huschte über Wilhelmines Gesicht. „Lesen Sie auch gern?“

Ferdinand strahlte. „In der Tat. Im Moment lese ich Effi Briest, das kennen Sie sicher.“

Wilhelmine nickte. „Dann sollten Sie danach Ruth von Andreas-Salomé lesen.“

Er nickte. „Abgemacht.“ Sie lächelten sich an.

Doch dann fiel Ferdinand ein, dass er nicht hier war, um Literaturtipps mit Wilhelmine auszutauschen – nein, er wollte immer noch, dass sie ihm ihr Haus verkaufte. Und inzwischen tat es ihm leid – sie hatte es so schön, und sie schätzte ihr Leben hier.

„Fräulein Straubinger, erlauben Sie mir … Sie sagten, Sie schätzen Ihre Ruhe sehr“, setzte er an.

Sie nickte.

„Würden Sie sich dann nicht etwas ab vom Schuss wohler fühlen?“

Sie zog den Atem scharf ein. „Herr Schauersberg, ist Ihnen eigentlich bewusst, dass ich nicht wirklich eine Wahl habe – ob der Gesellschaft, in der wir leben?“

„W-wie meinen Sie das?“, fragte er.

„Sehen Sie, es sind Kreise, mit denen Sie gerne Geschäfte machen, aber ich glaube kaum, dass Sie in diese Kreise hineingeboren wurden – sonst wären Sie nicht ein braver Angestellter. Verzeihen Sie mir, wenn ich so frei spreche.“

Er schluckte, denn es war, als sähe sie durch seine Kleidung hindurch. Und er fand es aufregend, wenn sie frei sprach. Wenn sie alle Konventionen fallen ließ – das war ihm lieber, auch wenn sie ihm jetzt mitteilte, dass sie nicht viel von ihm hielt:

„Sagen wir, ich verlasse Wien – das wäre, als würden Sie aufs Marchfeld hinausziehen. Was machten Sie dann dort? Jeden Tag mit dem Pferd nach Wien in Ihr Maklerbüro reiten? Und ich würde mich selbst von den Menschen abschotten, die mich nach dem Tod meines Vaters trotzdem mit offenen Armen empfangen haben. Man würde sagen, ich sei undankbar. Jeden Dezember veranstalte ich einen Weihnachtsball zu Ehren der Waisenhäuser. Glauben Sie, irgendjemand würde noch kommen und Geld für die armen elternlosen Kinder spenden? Sie können sich sicher sein, dass die meisten dieser Leute die Existenz dieser Kinder vergessen, in dem Moment, in dem ich sie nicht daran erinnere.“

Ferdinands Mund wurde trocken, und er nahm einen Schluck Tee – seine Hand zitterte.

„Ich wollte Sie nicht beleidigen, gnädige Frau.“ Es erschien ihm unpassend, sie nach dieser Rede ein Fräulein zu nennen.

„Das haben Sie nicht, Herr Schauersberg. Noch nicht“, sagte sie leise, aber in ihrer Stimme wehte eine Drohung mit. „Sie möchten mir jetzt sicher Ihre Mappe zeigen, also bringen wir es hinter uns.“

Ferdinand widerstand dem Drang, einfach aufzuspringen und hinaus ins Gewitter zu rennen. Es war ihm klar, dass Wilhelmine keine hohe Meinung von ihm hatte, doch er kam nicht umhin, sie zu bewundern. Und es kam ihm vor wie ein Theaterstück, das die beiden spielten; es war absolut klar, dass Wilhelmine keine Lust hatte, ihr Palais zu verkaufen – also warum bat sie ihn nun, die Mappe zu sehen?

„Möchten Sie vielleicht eine Sommerresidenz in Erwägung ziehen?“, fragte er daher – weil er schon sah, wie enttäuscht Herr Knochenhauer mit ihm sein würde. Und er könnte dann zum Trost sagen, er habe ihr wenigstens diesen Landwohnsitz verkauft.

Sie sah ihn an. „Warum nicht? Überzeugen Sie mich, Herr Schauersberg.“

Er räusperte sich, legte den Aktenkoffer auf die Knie, öffnete ihn und nahm eine Mappe heraus. Er breitete den Inhalt vor ihnen auf dem Tisch aus: Es waren Profile einiger Häuser, mit einer Bleistiftskizze oder einer Fotografie sowie Angaben über Größe, Lage und Ausstattung.

„Ich habe gehört, dass Sie einige Ländereien im Marchfeld besitzen und dort eine Landwirtschaft betreiben“, fuhr er fort.

„Betreiben ist ein sehr hochtrabender Begriff. Ich verpachte lediglich die Grundstücke, die mein Vater mir hinterlassen hat“, sagte Wilhelmine, und ihm fiel auf, dass sie nicht nur klug, sondern auch bescheiden war. Sie wusste, was die Landwirte für Arbeit leisteten – und dass sie nur einen geringen Beitrag dazu leistete.

„Nun, im Sommer ist es sehr schön dort. Warm, aber nicht so heiß wie in Wien. Ich denke, diese Villa hier wäre ein netter Sommerwohnsitz. Außerdem wären Sie nur eine kurze Kutschfahrt von Ihren Grundstücken entfernt und könnten nach dem Rechten sehen.“

Sie zog eine Schnute und betrachtete die Fotografie der Villa. Er fügte hinzu:

„Das Haus verfügt über Warmwasser, nur Strom müsste noch verlegt werden. Aber vielleicht genießen Sie Ihre Sommerabende ja auch gern bei Kerzenschein.“

Er bekam einen verträumten Tonfall, als stelle er sich vor, mit ihr bei Kerzenschein ein Glas Wein zu trinken und über die Bücher zu reden, die sie beide gerade lasen …

„Und für Gesellschaft wäre ebenfalls gesorgt – nach Schloss Hof ist es auch nicht weit.“

Sie nickte. „Das ist für mich allein zu groß und zu viel Arbeit, Herr Schauersberg. Haben Sie nichts Kleineres?“

Sein Mund wurde trocken, aber er nickte. Warum wurde er das Gefühl nicht los, dass sie ihn testete?

„Vielleicht sehnen Sie sich ja nach der perfekten Verbindung von Stadt und Land? Dann kann ich Ihnen Floridsdorf empfehlen!“, sagte er enthusiastisch – verstummte aber, als er Mines wenig begeistertes Gesicht sah.

„Floridsdorf?“, fragte sie zögernd.

Er wollte nach dem Papier greifen, auf dem ein verträumtes Haus in einer Kellergasse abgebildet war – natürlich war es nicht wirklich standesgemäß, aber wenn Mine tatsächlich niemanden beschäftigen wollte, dann wäre es gerade genug Arbeit.

Als er das Papier fand, musste er blinzeln. Ihm war, als schwebe eine schwarze Wolke vor seinen Augen vorbei; seine Hand und der Tisch verschwammen. Er atmete durch die Nase ein, doch er roch keinen Rauch.

Er sah Wilhelmine an, die ihn aufmerksam, aber immer noch skeptisch musterte.

Sie schien den Nebel nicht zu bemerken, doch er sah ihn deutlich – vor allem vor ihrem hellen Kleid als Hintergrund.

„Verzeihen Sie, Frau Straubinger … kochen Sie etwas?“, fragte er, und sah mit Entsetzen, dass sie die Stirn runzelte und sogar ein bisschen verärgert aussah.

„Nein, ich habe lediglich etwas Tee gekocht, aber in der Küche steht nichts am Herd“, sagte sie. „Floridsdorf also?“

Er blinzelte noch einmal. Der Nebel, die Wolke, der Rauch – was auch immer es war – war immer noch da. Aber sollte er sie einfach darauf ansprechen? Sie würde doch sicher denken, er wolle einen unpassenden Scherz machen oder habe seinen Verstand verloren.

„Ja, Floridsdorf. Sehen Sie hier – das Donaufeld ist wirklich noch ein Feld. Es gibt nur ein paar kleine Gassen mit sehr bescheidenen, aber, wenn Sie mich fragen, ganz charmanten Häuschen.“

Sie legte den Kopf schief und nahm ihm das Papier ab. „Und was, Herr Schauersberg, lässt Sie glauben, ich würde auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken spielen, den Komfort eines Innenstadtpalais aufzugeben um nach Floridsdorf zu ziehen?!“ Sie sprach den Ortsnamen aus, als handle es sich um ein ekelhaftes Tier.

Er räusperte sich. „Sie haben natürlich recht, aber sagten Sie gerade nicht selbst, dass ich Sie von einem Sommerhaus überzeugen könnte, das wenig Arbeit macht?“

Sie sah ihn streng an. „Herr Schauersberg, Sie sind ein Mann. Männer hören immer das, was sie hören wollen – und nicht, was gesagt wurde. Ich sagte nicht, dass Sie mich überzeugen könnten. Ich forderte Sie lediglich auf, es zu versuchen.“

Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er setzte sich aufrechter hin und sah sie einfach nur mit großen Augen an. Ja, sie hatte recht, er hatte sie falsch wiedergegeben – und nun schämte er sich. Und trotzdem konnte er nichts anderes, als diese Frau zu bewundern.

Je länger er in ihrer Gegenwart war, desto mehr fiel ihm auf, dass sie wirklich sehr hübsch war. Aber anders als so viele Damen aus der Wiener oberen Schicht war das nicht das Einzige, was sie auszeichnete. Sie war klug und selbstbewusst – nicht so brav und unterwürfig, wie andere ihre Töchter zu kleinen, leisen, willigen Mäuschen erzogen.

Entweder es war das frühe Ableben ihres Vaters – oder er hatte sie mit voller Absicht nicht so behandelt.

Oder aber – und dieser Gedanke fühlte sich fast schon skandalös an – Mine war von selbst so geworden. Nicht durch oder wegen eines Mannes, sondern weil sie selbst ein vollendeter Mensch war.

Ja – ein so vollkommener Mensch, der niemanden brauchte. Keine Bediensteten, keine Hausverwalter – und augenscheinlich auch keinen Ehemann.

Sie stand auf, hoheitsvoll, als sei diese stille Eleganz die einzige Art, wie sie sich bewegen konnte. Und in dieser einfachen Bewegung lag eine strenge Aufforderung: dass er ebenfalls aufstehen sollte – und so schnell wie möglich ihren Frieden nicht weiter stören.

Sein Mund wurde abermals trocken, doch er ließ den Tee stehen, sammelte die Papiere hastig ein – Ordnung konnte er später an seinem Schreibtisch hineinbringen.

So sehr er es genoss, mit Mine zu sprechen – sie genoss seine Gesellschaft in keinster Weise. Also: fort hier.

Sie brachte ihn bis zur Haustür, und als er hinaus in die kalte Herbstluft trat, sah er sich noch einmal nach ihr um. Sie hielt sich am Türrahmen fest und reckte das Kinn leicht in die Höhe.

„Ich hoffe, Sie werden Ihre Beförderung erhalten, Herr Schauersberg. Ansonsten wäre Floridsdorf vielleicht froh, so einen von diesem Ort begeisterten Einwohner zu haben. Alles Gute.“

Er war zu perplex, um zu antworten. Was hatte sie nur gegen Floridsdorf? Offensichtlich hatte er einen wunden Punkt getroffen.

Kapitel 2

Das Gewitter war längst vorbei, und nun stand Ferdinand auf der Wiener Ringstraße und wunderte sich über das, was er gerade erlebt hatte. Er schluckte einen Kloß in seinem Hals herunter und machte sich gesenkten Hauptes zurück in Richtung der Kanzlei.

Sein Chef, Herr Knochenhauer, war ein Mann, der einst von stattlicher Gestalt gewesen war, inzwischen aber etwas gealtert. Das breite Kreuz hatte nun den Ansatz eines Buckels, seine Haare waren schneeweiß geworden und lichteten sich auf der Krone seines Hauptes. Und trotzdem baute er sich vor Ferdinand auf, als sei er größer und könne auf ihn herabschauen. Das Gegenteil war der Fall: Ferdinand war sicher einen halben Kopf größer und konnte im Gegensatz zu seinem Chef aufrecht stehen, doch jetzt fehlte ihm der Mut, seinem Vorgesetzten die Stirn zu bieten.

„Was hat sie gesagt?“, fragte er.

„Dass sie Floridsdorf nicht mag“, nuschelte Ferdinand, immer noch verwirrt – mehr als alles andere. Was in aller Welt war denn das Problem mit Floridsdorf?

Knochenhauer lachte. „Und das wundert dich, mein Sohn?“

Ferdinand seufzte. Eigentlich siezten sie sich – zumindest er siezte Herrn Knochenhauer immer noch, und dieser siezte Ferdinand seit einiger Zeit zurück, als nähme er ihn endlich ernst. Aber jetzt zeigte er ihm, wie lächerlich er ihn fand.

„Na ja, sie möchte ihr Haus jedenfalls nicht verkaufen“, sagte er einfach, als sei das alles, was es dazu zu sagen gäbe. Knochenhauer schnippte mit den Fingern, und die Empfangsdame Bettie brachte eine Kanne Kaffee und zwei Häferl. Die beiden Männer gingen in Knochenhauers Büro. Ferdinand fiel auf, dass er früher Herzklopfen bekam, wenn er hier hineinging. Inzwischen war es nur ein weiterer Raum in der Firma – und wenn er es nicht komplett vergeigt hätte, wäre das bald sein Büro gewesen. Er sah sich niedergeschlagen um. Er hatte schon geplant, welche neuen Möbel er haben wollte. Knochenhauer liebte den verstaubten Charme des 19. Jahrhunderts, doch Ferdinand war bewusst, dass in zwei Jahren ein neues Zeitalter anbrechen würde. Und er würde sich wünschen, dass diese Firma mit der Zeit ging. Natürlich war Inneneinrichtung nur ein schönes Symbol, doch er fragte sich, was die Jahrhundertwende bringen würde – ein neues Verständnis von Wohlstand, von Arbeit, von Wohnen? Aber heute erschien ihm die Vorstellung, dass er vielleicht eines Tages der Chef dieses Hauses sein würde, lächerlich. So wie Mine ihn gefunden hatte… Er hatte gar kein Recht, ihr einen Kosenamen zu geben, aber wenn er sie besser kennen dürfte, würde er sie Mine nennen – oder „mein Minchen“.

Er nippte an seinem Kaffee und wurde mit jedem Moment, in dem Knochenhauer nichts sagte, sicherer, dass er nicht nur seine Karriere verspielt hatte – sondern dass er gleich gekündigt werden würde!

„Na, wer würde schon so blöd sein und dieses Schmuckstück am Opernring hergeben?“, sagte Knochenhauer und kicherte.

„Und, wie sah es innen aus? Heruntergewirtschaftet?“

Er runzelte die Stirn. „Warum glauben Sie das? Es war sehr fein, sehr einladend.“ Ferdinand war sich nicht sicher, was Knochenhauers Fragen bezwecken sollten.

„Na ja, Sie kennen ja die tragische Familiengeschichte. Sie können mir doch nicht sagen, dass so ein junges, verwöhntes Ding, das in der Öffentlichkeit immer noch um ihren Vater trauert, einen Haushalt bewältigen kann.“

Ferdinand hob leicht die Schultern. „Sie behauptete sogar, sie habe keine Bediensteten.“

„Ja, das erzählt man sich. Und bald wird sie auch keine jungen Männer haben, die sich um sie scharen, weil – wie alt war sie?“

Ferdinand wurde es unangenehm, wie Knochenhauer über Mine sprach. Und das lag nicht daran, dass sie ihn so faszinierte; nein, er fände diese Art zu reden für fast jede Frau unpassend.

„Sie ist einundzwanzig“, sagte Ferdinand, als Knochenhauer ihn ansah.

„Genau das meine ich, mein Lieber! Das wirst du auch noch merken. Oder hast du… nein, du hast nie etwas erwähnt, du bist ja noch ledig, oder?“

Ferdinand schüttelte den Kopf. „Ich habe wirklich noch ein bisschen Zeit, mich zu binden, und ich möchte meiner Zukünftigen ja auch etwas bieten…“ Er verstand wirklich nicht, was dieses Gespräch mit ihm und seinem Familienstand zu tun hatte.

„Ja, bei einem Burschen wie dir ist das ja nicht weiter schlimm, aber ein Madl wie die Straubinger? Unsere Kaiserin – Gott hab sie selig – war in ihrem Alter schon mehrfache Mutter! Können Frauen über zwanzig überhaupt noch gesunde Kinder gebären?“

Ferdinand dachte nur: ‚Ja, weil sonst säße ich nicht hier.‘ Er war der Jüngste seiner Geschwister, und seine Mutter war schon weit über dreißig gewesen. Er sagte lieber nichts. Knochenhauer hatte offensichtlich den heutigen Tag gewählt, um ihm einen väterlichen Rat geben zu wollen.

„Also, nur noch eine kurze Weile, bis niemand sie mehr will“, sagte Knochenhauer und warf sich einen Würfelzucker in seinen Kaffee.

„Ich weiß nicht, was uns das zu interessieren hat“, sagte Ferdinand und hoffte, er könne das Gespräch so in eine andere Richtung lenken.

„Langzeitplanung, mein Lieber, Langzeit! Gebäude sind für Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte gebaut, und deshalb sollten wir, die sie verwalten, auch den Faktor Zeit im Auge behalten.“

Ferdinand runzelte die Stirn. Nach allem, was heute passiert war, dachte er nicht mehr aktiv mit und wunderte sich nur noch.

„Wenn diese Frau ohne Mann bleibt, dann wird sie auch keine Nachfahren bekommen. Das heißt in vierzig, vielleicht fünfzig Jahren, wenn der liebe Gott ihr gnädig ist, steht das Haus leer.“

Ferdinand nahm noch einen Schluck Kaffee, ehe er antwortete: „Sie hat ja eine weitreichende Familie, da werden sicher irgendwelche Cousins und Cousinen erben.“ Er hielt nichts davon, auf den Tod eines Menschen zu spekulieren – und dann fühlte er sich schuldig, weil… tat er das nicht auch?

„Oder eben nicht, weil sie bis dahin mit ihrem Eigenbrötlertum ihre ganze Verwandtschaft verjagt hat. Und dann müssen wir – oder du, oder dein Nachfolger – zuschlagen.“

Ferdinand nickte. Das war ihm zu dumm. „Oder wir wünschen der Frau alles Gute, vielleicht heiratet sie ja bald und zieht in ein noch größeres Palais, oder ihr Ehemann ist aus München, Budapest oder Venedig. Dann können wir immer noch ein Angebot machen. Und das könnten Sie sogar noch miterleben.“

Knochenhauer lachte. „Da sieht man, dass wir unterschiedliche Leute sind, mein Guter. Na gut, dann wollen wir mal weiter an die Arbeit gehen, du hast ja sicher auch noch andere Kunden, die du betreuen musst.“

Ferdinand war sich nicht sicher, was hier passierte. „Ich… Sie… Ich bekomme keinen Ärger?“, fragte er ratlos.

Knochenhauer lachte so laut und riss dabei den Mund so weit auf, dass man seine Goldbackenzähne sah.

„Aber nein, mein Junge. Jeder von uns wird einmal zu einem Kunden geschickt, bei dem man sich die Zähne ausbeißt. Ich wollte sehen, wie du auf so ein Gespräch reagierst.“

Jetzt wich die Scham über die Niederlage bei Mine einer anderen Peinlichkeit: Er hatte seine Unsicherheit vor Knochenhauer gezeigt – aber wie sonst hätte er reagieren sollen? Knochenhauers Worte, bevor er zu Mine aufgebrochen war, waren mehr als deutlich gewesen: Beweise, was du kannst. Hatte Knochenhauer ihn dorthin geschickt, wohl wissend, dass es aussichtslos war, die einzige Straubinger-Erbin zu einer Veräußerung zu überreden? Ferdinand fühlte Wut in sich aufkochen – was glaubte dieser alte Kerl bitte?

„Sie haben recht, Herr Knochenhauer, ich habe in der Tat noch andere Kunden und werde mich jetzt lieber um diese kümmern. Danke für den Kaffee. Ich empfehle mich!“

Er stand auf und verließ das Büro. Sein Büro, pah, gerade hatte er eher Lust, den ganzen Laden anzuzünden! Was erlaubte Knochenhauer sich!

Kapitel 3

Mine hatte wieder einem absolut langweiligen Abendessen beiwohnen müssen und nun war sie matt. Nicht müde, aber einfach nur am Ende mit ihrem Lächeln. Sie betrachtete sich im Spiegel, der im Eingangsbereich hing, und stellte fest: Sie war blass, und die Haut unter ihren Augen schimmerte grau. Die Schminke, die sie so sorgfältig auftrug und nachbesserte, war längst verblasst, verschmiert – eine Farce dessen, was von ihr übrig war.

Hungrig war sie außerdem. In diesem Korsett konnte sie nicht so viel essen; Es mochte, wenn sie fragil blieb. Sie seufzte und erklomm die Stiege ins Mezzanin. Dort oben lag ihre schwarze Katze Mitzi und putzte sich. Als sie Mine sah, schnurrte sie, bewegte sich aber nicht vom Fleck – sie signalisierte lediglich, dass sie gestreichelt werden wollte.

„Ja, wo warst du denn den ganzen Tag, meine Feine?“, fragte Mine mit der Puppenstimme, die nur für ihre Katze reserviert war. Vielleicht würde sie so einmal mit ihren Kindern sprechen – so lieblich, so süß – aber dafür müsste sie erst einmal diese Stimme für einen Mann auspacken. Und bisher war ihr keiner begegnet, der es wert gewesen wäre. Sie seufzte und richtete sich wieder auf. Immerhin konnte sie sich in den maßgefertigten Korsetts bewegen, aber langsam bereitete ihr ihre Kleidung keine Freude mehr. Weg damit. Morgen war ein neuer Tag, doch jetzt wollte sie nur ihr weites Nachtgewand anziehen, das nur ab und an ihre nackte Haut küsste und sonst fröhlich um sie herumflatterte.

Mitzi war empört, als sie sah, wie ihr Frauchen nicht in die Küche, sondern in ihr Schlafzimmer ging. Sie sprang auf und folgte ihr.

Mit großen gelben Augen stand sie, wie schon so oft, im Türspalt und sah ihrer Besitzerin dabei zu, wie sie das Nachtkasterl öffnete. Sofort begann ein tösendes Rauschen, als sprächen viele Zungen gleichzeitig irgendein Kauderwelsch, und dann begannen Blitze zu zucken – so ganz hatte Mitzi nie verstanden, woher die kamen. Wenn sie draußen am Himmel blitzten, saß sie auf dem Fenstersims und sah zu, wie der Himmel und die Straße immer dunkler wurden. Aber wenn es hier drinnen passierte, dann wunderte sie sich schon. Angst? Aber bitte, Mitzi war eine Katze, die sich vor nichts fürchtete – außer vielleicht davor, dass die Menschen vergessen könnten, sie zu füttern.

Als die Fangarme aus dem Nachtkasterl kletterten und sich um Mine wickelten wie Schlingpflanzen, gähnte Mitzi. Schon wieder. Sie gab ein niedergeschlagenes „Mrrr“ von sich und trottete in die Küche, um dort zu warten.

Mine hatte nichts davon mitbekommen. Sie hatte die Augen geschlossen und genoss die Berührungen – und am allermeisten gefiel ihr, wie sich die Schnüre ihres Gewands lösten. Als sie komplett nackt vor ihrem Nachtkasterl stand, hielt sie kurz den Atem an, in freudiger Erwartung, was nun passieren würde – doch nichts geschah. Sie blinzelte und sah, wie sich die Fangarme zurück ins Nachtkasterl zogen. Sie sah sich um: Auf ihrem Bett lag fein ausgebreitet ihr Nachthemd.

„Wie, das war’s schon?“, fragte sie ungläubig, dann hörte sie das jammernde Miauen von Mitzi aus der Küche. „Ah, die Katze. Du Feigling“, flüsterte sie dem Möbelstück zu, zog sich ihr Nachthemd über den Kopf und ging, ihre kaiserlich und königliche Vierbeinerin suchen.

Die Katze lag unter dem Küchentisch, sah sie fragend an und gab einen Laut von sich, der fast wie ein fragendes „Wie?“ klang.

Mine fühlte sich schuldig. Normalerweise ließ sie Mitzi bei sich im Bett schlafen, aber heute Nacht… heute Nacht überkam Mine eine unbeschreibliche Lust, ein so tiefes, brodelndes Verlangen nach dem Bösen…

Sie bereitete ihrer Katze das Abendmahl und dann schlich sie zurück…

Sie betrat ihr Schlafzimmer, in dem es dunkel war, nur ein fahler Lichtschein von den Straßenlaternen der Ringstraße warf lange Schatten an die Decke. Ihre nackten Füße versanken im dicken, blutroten Teppich. Sie schloss die Tür behutsam hinter sich und drehte sogar den Schlüssel ab, obwohl sie allein in diesem Haus war, wie immer.

Allein. Nur sie, die Katze und…

Als hätte Es sie kommen gehört, begann die obere Schublade des Nachtkasterls zu zittern, zu klappern, bis das ganze Kästchen bedrohlich schwankte. Sie strich sich ihr Nachthemd von den Schultern, und es fiel in einer weißen, weichen Wolke zu Boden. Sie machte einen Schritt darüber hinweg und wollte sich in die Haare greifen, um ihre Frisur zu lösen, da schossen die ersten Fangarme aus der Schublade und umfingen sie – Mine hatte aufgehört, sie zu zählen oder verstehen zu wollen, welcher Arm sie gerade wo berührte; sie spürte tausende winzige Münder auf ihrem Körper. Eine wohlige Gänsehaut lief über sie, und sie schloss die Augen, spürte, wie ihre Haare ihr auf die Schultern fielen und das strenge Gefühl auf ihrer Kopfhaut verging. Sie seufzte – ergeben, aber auch erleichtert, als ein dünner Fangarm zwischen ihre Schenkel glitt – auch dieser Arm war mit kleinen Mündern oder Saugknöpfen übersät und sie taten genau das, wofür sie erschaffen worden waren: sie saugten.

Ein weiterer Laut aus Mines Kehle – doch dieser war kein braves Seufzen einer lieben Christin nach einem langen Tag, nein, das war das Stöhnen einer Sünderin, das hatte sie inzwischen verstanden. Ihre Knie gaben nach, so süß und überwältigend war das Gefühl, das sich zwischen ihren Schenkeln ausbreitete; sie spürte die Arme, die sie auffingen, und es fühlte sich an wie Schweben, als sie behutsam auf das Bett gelegt wurde. Aber sie erlaubten ihr nicht, sich nun zu bewegen, nein, sie gehörte jetzt ganz dem Bösen – Mine wusste das, Mine spürte das – und sie wollte es.

Die Arme wandten sich um ihre Knöchel, ihre Knie, ihre Schenkel und zwangen sie auseinander. Mine fiel mit dem Rücken in die Kissen und ließ Es tun, was Es wollte, und sie wusste, dass es falsch war – es fühlte sich aber so gut an. Die Fangarme hielten auch ihre Hände fest und schlängelten über ihren ganzen Körper, berührten sie überall.

Der Arm, der zwischen ihre Beine glitt, machte inzwischen schmatzende Geräusche. Mine fühlte, wie ihr Körper begann zu zittern, sie rang nach Atem und für die nächsten Augenblicke vergaß sie, wer sie war, wie sie hieß, woher sie kam. All das war nicht wichtig, es gab nur noch sie und das süße Gefühl in ihrem Körper. Ein Schrei brach aus ihr heraus, doch Es ließ Mine nicht weiter schreien; die Spitze eines Fangarms schob sich in ihren Mund und dämpfte alles ab. Sie riss die Augen auf, und das Gefühl zwischen ihren Beinen wurde sogar noch stärker. Ihr Körper wollte sich noch mehr wehren, doch dann brach der Höhepunkt über sie herein, so wie das Gewitter heute Mittag, und Mine wollte nicht mehr zappeln, sie wollte nicht mehr schreien.

Sie reagierte auf den Fangarm in ihrem Mund, als wollte sie Liebkosungen zurückgeben. Ihr Körper fühlte sich schwer und träge an, doch die Arme ließen sie nicht los. Der Arm, der in ihrem Mund gewesen war, schlängelte sich in die Luft; sie sah ihm atemringend nach, dann schoss er nach unten, zwischen ihre Beine. Er war viel dicker als der, der sie gerade eben noch berührt hatte, und sie wusste instinktiv, was Es wollte…

Es tat immer ein kleines bisschen weh, wenn Es eindrang, aber Mine begrüßte diesen Schmerz wie einen alten Gefährten, der ihr sagte, dass dies hier richtig war, dass sie all das fühlte, weil sie am Leben war. Als ihr Mund wieder frei war, wurde aus ihrem angestrengten Atmen ein Stöhnen. Sie schloss die Augen wieder; das letzte, was sie sah, waren die Schatten von Fangarmen an ihren Wänden.