Das Nest der Nachtigall - Marco Malvaldi - E-Book

Das Nest der Nachtigall E-Book

Marco Malvaldi

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Beschreibung

Pellegrino Artusi, ebenso berühmter wie beleibter Feinschmecker, ist zu Gast auf einem idyllisch gelegenen Schloss in der Toskana. Der Autor der im ganzen Lande beliebten Gourmet-Bibel »Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens« soll Baron Bonaiuti und seiner exzentrischen Familie ein paar Tage Gesellschaft leisten. Doch sein Ruf als Kulinariker hilft ihm hier nicht viel, denn schon bald sind seine kriminalistischen Fähigkeiten gefragt: Man findet den Haushofmeister tot in der Küche auf – vergiftet! Als kurze Zeit später auch noch der Baron selbst von einem Jagdgewehr an der Schulter getroffen wird, ist Artusis ganzer Spürsinn gefragt, um das junge Zimmermädchen Agatina zu entlasten. Denn die wird vorschnell von allen für die Mörderin gehalten …

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Für Maurizio, der mit dem Schicksal gespielt und ihm zehn Punkte Vorsprung gelassen hat; und der es, ohne jemals sein Lächeln zu verlieren, in die Verlängerung zwang.

        Aus dem Italienischen von Luis Ruby

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95609-3

© Sellerio 2011 Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »O dore di chiuso« bei Sellerio editore, Palermo.   Deutschsprachige Ausgabe: © Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2012

Schluss mit dem Zeitvertreib, kommen wir zum kulturellen Teil.

GIUSEPPE BERTOLUCCI,Berlinguer ti voglio bene (Berlinguer, ich liebe dich)

Anfang

Welchen Anblick der Hügel von San Carlo dem Betrachter bietet, hängt in erster Linie von der Tageszeit ab.

Morgens geht die Sonne auf der anderen Seite des Hügels auf, und da das Schloss ein Stück unterhalb des Kamms erbaut ist, fallen keine direkten Strahlen durch die Fenster der Gemächer, in denen der siebte Baron von Roccapendente, seine Verwandtschaft und seine (meist zahlreichen) Gäste ruhen, die somit ungestört ausschlafen können.

Am frühen Nachmittag brennen die Sonnenstrahlen erbarmungslos auf das Schloss, die Gärten und das umliegende Gut nieder, und wer sich im Freien aufhält ist einer mörderischen Hitze ausgesetzt, verschärft noch durch die Feuchtigkeit, die von den nahen Sümpfen aufsteigt. Um diese Stunde jedoch befinden sich der Baron und seine Familie für gewöhnlich im Inneren des Schlosses, dessen großzügige Räume mit ihren Deckengewölben eine angenehme und tröstliche Frische bieten, welche der geistigen Sammlung zuträglich ist, sei es beim Kartenspiel, bei der Lektüre oder beim Stricken von Intarsien. Draußen in der stechenden Sonne bleiben nur die Tagelöhner, der Gutsverwalter und die Stallknechte und Gärtner, aber die sind die Hitze ja gewöhnt.

Die Herrschaften verlassen das Schloss im Allgemeinen erst gegen sechs Uhr abends, wenn die Erde von all den Sonnenstrahlen erschöpft ist und begonnen hat, dem Zentralgestirn den Rücken zuzukehren. Auch an diesem Abend, um Punkt sechs Uhr, haben sich der Baron und die übrigen Schlossbewohner im Garten eingefunden, um die Ankunft des zweiten der Gäste zu erwarten, die eingeladen wurden, um die wochenendliche Jagdpartie abwechslungsreicher zu gestalten. Der erste Gast, Herr Ciceri, laut seiner Visitenkarte »Daguerreotypist-Landschaftsfotograph«, ist bereits am Nachmittag eingetroffen und mit höflicher Gleichgültigkeit empfangen worden.

Der zweite Besucher hingegen ist eine namhafte Persönlichkeit und genießt ein gewisses Prestige, weshalb man mit fiebrigem Interesse seiner Ankunft harrt. Vergessen wir nicht, dass die Bewohner – wiewohl ein Haufen von Drückebergern, die zeit ihres Lebens noch keine Minute lang einer ehrlichen Arbeit nachgegangen sind – an diesem Tag durch die unmenschliche Hitze dazu verdammt wurden, fast regungslos in der Frische ihrer Gemächer auszuharren, sodass ihnen jetzt noch langweiliger ist als sonst und sie sich ihre Zeit vertreiben müssen. Die Ankunft des zweiten Gastes ist daher das Highlight des Tages, und die Schlossbewohner spazieren in Zweier- und Dreiergrüppchen durch den Garten und tauschen Mutmaßungen über seine Person aus, die Ohren gespitzt, um nur ja nicht das Geräusch von Kutschenrädern und Pferdehufen zu verpassen.

Tatsächlich ist über den Mann, dessen Ankunft erwartet wird, nicht viel bekannt, und die Untersuchungsteams, die jetzt über die Wiese schlendern, haben sich die offenen Fragen gerecht aufgeteilt. Sein Charakter. Seine Kleidung. Vor allem aber sein Aussehen. Wir befinden uns hier im ausgehenden 19. Jahrhundert, und einen Namen macht man sich in erster Linie durch das, was man tut und sagt, nicht durch ein äußeres Auftreten, das in den meisten Fällen keiner kennt. Das waren noch Zeiten.

»Er ist bestimmt dick.«

»Meinen Sie?«

»Alles andere würde mich überraschen. Haben Sie etwa jemals einen mageren Koch gesehen?«

»Das nicht. Aber unser Gast ist doch nicht von Beruf Koch, oder? Dem Vernehmen nach ist er Stoffhändler.«

»Sieht so aus, ja. Das ist allerdings nicht sein einziges Gewerbe. Ich möchte zwar nur ungern …«

Während Lapo Bonaiuti di Roccapendente noch überlegte, was er denn ungern tun würde, fing er den leeren, bangen Blick von Fräulein Barbarici auf, der Pflegerin und Gesellschaftsdame seiner Großmutter Speranza. Und zum tausendsten Mal ging ihm die Frage durch den Kopf, welcher Schwachkopf wohl je auf den Gedanken käme, eine derartige Vogelscheuche flachzulegen.

»Was möchten Sie nicht …?«

»Ach, nichts. Ich war in Gedanken. Aber wie dem auch sei, genau das meine ich doch. Ein Kaufmann, besessen vom Gedanken an die gute Küche. Das ist ein Mensch, der anhäuft. Geld auf der Bank und Speck um die Hüften. Sie werden schon sehen. Man wird uns noch holen müssen, damit wir ihn aus der Badewanne hieven, falls er überhaupt weiß, was das ist.«

»Sagen Sie doch nicht so was, Signorino Lapo.«

»Och, das wäre doch nicht verwunderlich. Schließlich stammt er aus der Romagna. Ungehobeltes Pack«, versetzte er, während er das gerade abgebissene Ende seiner Zigarre auf den Boden spie, »nichts im Sinn als Essen, Arbeit und das Anhäufen von Besitz.«

Ganz im Unterschied zu mir, schrie Herrn Lapos Gang der Welt entgegen. Gemächlich und distanziert, die Daumen in den Hosentaschen, während er den Blick umherschweifen ließ, im nagelneuen Anzug und englischen Spazierstiefeletten. Lapos Ansichten zu der Frage, wie man sich anderen Menschen gegenüber zu verhalten habe, waren schlicht und zielgerichtet: Handelte es sich um eine Frau und sie war schön, so legte man sie flach. Handelte es sich um eine Frau und sie war hässlich, so legte man eine andere flach. Handelte es sich um einen Mann, so nahm man ihn mit ins Bordell. Was man sonst im Leben so trieb – essen, sich unterhalten, reiten, gelegentlich eine kleine Jagdpartie –, das waren die moralischen Verpflichtungen eines wahren Weltmannes, der mit allen Umgang pflegte, selbst mit minderen Wesen wie Fräulein Barbarici: eine Art Intermezzo, das einem, falls angenehm, das Warten erleichterte, und, falls unangenehm, dem großen Augenblick zusätzliche Würze und Reiz verlieh.

Fräulein Barbarici antwortete nicht. Das wurde von ihr jedoch gar nicht erwartet.

Auch ihr Verhältnis zur Welt war klar definiert: Fräulein Barbarici hatte Angst. Und zwar vor allem und jedem.

Vor Unwettern zum Beispiel. Vor Briganten, die ins Haus eindrangen, Goldschmuck und bestickte Tischtücher stahlen und den Damen schreckliche Dinge zufügten. Vor Bienen, die überall hineinkrochen, und wenn sie einen gestochen hatten, dümmlich an ihrem Ziel haften blieben, von dem man sie dann auch noch entfernen musste. Vor dem Vater, der ständig herumbrüllte. Vor der Mutter, die vom Vater Schläge bekam und sie an sie weiterreichte. Vor Männern. Vor Frauen. Davor, allein zu sein.

Und so hatte sich Fräulein Barbarici (die vor Jahrzehnten auf den Namen Annamaria getauft worden war; vergebliche Liebesmüh, denn niemand nannte sie jemals bei ihrem Vornamen) zum Zwecke des Überlebens in eine Art Zustimmungsmaschine verwandelt: Allein dank dieser Fähigkeit war sie in der Lage, Tag für Tag die Boshaftigkeiten von Baronin Speranza ohne schlimme Folgen zu ertragen. Die übrigens soeben zum ersten Mal an diesem Tag von ihr abgelassen hat und sich in einem sonnigen Winkel mit ihrer Enkeltochter unterhält.

»Er wird doch wohl nicht selbst kochen, oder?«

»Keine Ahnung, Großmutter.«

»Ich jedenfalls esse nichts, was von jemand anderem als Parisina zubereitet wurde. Geschweige denn von einem Mann. Seit wann stellen sich denn Männer in die Küche?«

»In der Geschichte hat es viele große Köche gegeben, Großmutter. Vatel zum Beispiel. Brillat-Savarin.«

»Von denen habe ich noch nie was gehört. Und du kennst sie auch nur aus Büchern. Als ob du von diesem Brijasaveng schon mal was gegessen hättest. Du isst doch auch immer nur, was es bei Parisina gibt. Und selbst die hat in letzter Zeit … Aber lassen wir das besser. Ich bin vielleicht alt, aber sicher nicht blöd. Fleisch scheint es kaum noch zu geben. Fisch sieht man gerade mal freitags, von Sardellen abgesehen. Dafür tischt sie uns Grünzeug auf, als würde es das vom Himmel regnen. Man kommt sich ja vor wie eine Ziege.«

Alt ist sie allerdings. Und Gründe, sich zu beschweren, hat sie ebenfalls: Seit Jahren sitzt sie im Rollstuhl und kann sich nicht bewegen. Vielleicht unterlag sie auch zuvor schon gewissen Einschränkungen, wenn man bedenkt, dass sie einen guten Doppelzentner wiegt, der sich vom Hals abwärts mehr schlecht als recht über den nutzlosen Körper verteilt. Aber ihr Gesicht ist schmal, und ihr Kiefer funktioniert noch bestens, vor allem als Ausfahrt.

»Es ist Sommer, Großmutter. Bei der Hitze empfiehlt sich leichte Kost.«

»Was schert mich der Sommer? Aber euch ist das ja alles egal. Je weniger ihr mir zu essen gebt, desto früher sterbe ich, und ihr habt eine Sorge weniger. Ha, die Alte sind wir los. Ja, der Sarg wird teuer, fett, wie sie ist, aber danach haben wir ein bisschen mehr Freiraum.«

»Großmutter, da kommen Leute.«

Das ist die einzige Methode, sie zum Schweigen zu bringen: Den Schein zu wahren geht über alles. Und Cecilia weiß das. Auch deshalb fühlt sie sich auf dem Schloss nicht sonderlich wohl.

Cecilia ist klein, sie trägt das Haar zu einem Zopf gewunden und hat pummelige Hände. Was ihre Figur angeht, muss man ein wenig die Phantasie bemühen, sie steckt nämlich in einem Kleidungsstück auf halbem Weg zwischen einer Kutte und einem Silo. Das macht aber nichts, denn das Beste an der jungen Frau sind ohnehin die Augen. Ein gradliniger, offener und heiterer Blick; zwei große, dunkle, grün gesprenkelte Augen, die ganz genau wissen, dass Sie heute Morgen keine frische Unterwäsche angezogen haben, aber auch erkennen lassen, dass das letztlich Ihre Sache ist.

Fernab der diversen Gespräche harrt der Herr Baron im oberen Teil des Gartens einer Geste von Teodoro, dem kostbaren Majordomus. Während er darauf wartet, dass ihm dieser durch bloße Veränderung seiner Körperhaltung das Eintreffen des Gastes anzeigt, fragt sich der Herr Baron, was er in diesen Zeiten ohne Teodoro tun würde.

Der wiederum weiß davon nichts, er steht einfach nur da und behält in eleganter Pose die Kurve hinter dem Kastanienbaum im Auge. Er trägt Handschuhe, Livree und Fliege und ist dem Anschein nach vollständig bekleidet. In Wirklichkeit aber befindet sich unter der äußeren Schicht nur eine gestärkte Hemdbrust ohne Ärmel, am Rücken auf Höhe der Rippen abgeschnitten, gerade so, dass die Jacke keine Schweißflecken abbekommt. Auf die Strümpfe, das Unterhemd und die lange Unterhose hat Teodoro verzichtet, und er kostet diese sommerliche List mit stillem Vergnügen aus.

»… und es war köstlich, wirklich köstlich! Und gut verdaulich, ja, dabei war Muskatnuss drin, und die vertrage ich nun überhaupt nicht, davon bekomme ich Sodbrennen, und er schreibt in seinem Buch schließlich nicht umsonst, dass man Gewürze zurückhaltend verwenden sollte, weil sie den Damen unter Umständen nicht bekämen, aber in dem Fall …«

Hätte jemand die beiden Frauen zu beschreiben, die an dem schmiedeeisernen Tischchen sitzen, er müsste bei den Knöpfen beginnen.

Die erste trägt ein weißes Baumwollkleid, am Rücken mit einer dichten Reihe runder Knöpfe geschlossen, deren letzter einen Millimeter unterhalb des dritten Halswirbels festgezurrt ist wie eine Würgschraube aus Perlmutt; weitere derartige Reihen schnüren den Arm vom Ellbogen bis zum Handgelenk und die Stiefel von den Knöcheln bis zu den Knien (wenn man diese denn sehen könnte). Dem Redefluss der Dame und ihrer Kleidung nach zu urteilen, zählt Atmen nicht zu ihren wesentlichen Bedürfnissen.

»… nach dem Rezept hat übrigens auch die arme Bastiana immer Tauben zubereitet, nur ließ sie sie zu lange kochen, und am Ende waren sie zäh wie ein Stück Holz, und der arme Ettore musste das dann essen und so tun, als schmeckte es ihm, denn sonst, Gott bewahre, drehte sie durch, so ganz normal war sie ja nicht, unsere Bastiana, nicht wahr, erinnerst du dich an sie? Tja, die Ärmste, was für ein schlimmes Ende …«

Das andere Fräulein trägt ein dünnes geblümtes Kleid, vom Hals bis zum Schienbein mit einem Dutzend goldener Schnürverschlüsse versehen. Sie schützt damit einen ansehnlichen Buckel vor der Sonne, über dem ein mageres Köpfchen gleichförmig zu allem nickt. Wobei sie auch gar keine Chance hat, sich ins Gespräch einzuschalten – es sei denn, sie wollte ihrer Begleiterin mit dem Eisenstuhl eins überbraten –, und so beschränkt sich ihre Teilnahme am Dialog auf das eine oder andere sporadische Quieken.

Die beiden sind offensichtlich Schwestern und ebenso offensichtlich unverheiratet: ein langsames, unabwendbares und bitteres Los, das nicht nur in der Lebensweise und im Kleidungsstil Spuren hinterlassen, sondern auch ihre Namen mit Feuer gezeichnet hat. Im Melderegister sind die beiden Damen als Cosima und Ugolina Bonaiuti Ferro verzeichnet, Cousinen ersten Grades des Herrn Baron; für den Rest der Welt aber, einschließlich des Gesindes, sind sie schlicht »die Fräulein«.

Sie leben ein Parallelleben, in dem gestickt und vorgelesen wird. Darüber hinaus verschwenden sie Zärtlichkeiten an Briciola, den reizbaren kleinen Yorkshireterrier, der dem Herrn Baron als Jagdhund angedreht und von den beiden Schwestern adoptiert wurde, nachdem ihn der Schlossherr nach einem ersten Augenschein per Fußtritt entfernt hatte. Mit einem solchen Hund könne man allenfalls auf Mäusejagd gehen, hatte er dabei in sich hineingebrummt.

Ein Kochbuch. Armes Italien.

Mit langsamen Schritten und in deutlichem Sicherheitsabstand zu den beiden Fräulein und ihrem Geschwätz, die Füße auf der Wiese, den Geist noch halb auf dem Parnass, dachte Herr Gaddo wider Willen an die angeblichen Verdienste des Gastes, der gleich eintreffen sollte. Na, bei der Stimmung hier hätte es ohnehin keinen Sinn gehabt, von Poesie zu sprechen.

Da wirst du wohl für einmal zufrieden sein, hatte der Vater gesagt. Zur Wildschweinjagd kommt ein Literat allerersten Ranges, da hast du endlich einmal jemanden auf deinem Niveau, hoffentlich lässt du dich dazu herab, ein wenig Konversation zu treiben.

Gaddo hatte die Nachricht mit scheinbarer Süffisanz aufgenommen, aber innerlich war er in Wallung geraten.

Schon vor einiger Zeit hatte er seine besten Verse zusammengestellt, sie mit einem roten Band umwickelt und in einen eleganten Pappzylinder gesteckt. Er hatte sich auf einige wenige beschränkt, das Genie erkennt man schließlich am Detail, am einzelnen Satz und nicht am Gesamtgewicht; der Funke entfacht das Feuer, nicht der Brennklotz. Gewiss, die Auswahl war ihm nicht leichtgefallen, sie hatte ihn einigen Schweiß gekostet. Besonders hart war es ihn angekommen, ein paar seiner Lieblingsgedichte aus der nicht ganz dünnen Rolle auszuschließen, etwa den Gesang Core impetuoso – »Ungestümes Herz«; noch immer quälte ihn der Gedanke, dass dies ein Irrtum gewesen sein könnte, und er fragte sich, ob er nicht vielleicht zu drastisch vorgegangen war. Aber gleichwohl: Die Wahl war getroffen, das Päckchen verschnürt und frankiert und alles mitsamt der feinsten Visitenkarte an den Dichter verschickt, den seine Maremma hervorgebracht hatte und um den sie das übrige Italien nur beneiden konnte.

Giosuè Carducci.

Anschließend hatte er fieberhaft gewartet, welches Ergebnis sein Elan zeitigen würde; auch hatte er sich mehrfach ausgemalt, in welcher Form die Botschaft wohl eintreffen mochte – als Billett, als Brief oder gleich als Einladung, sich nach Bolgheri zu begeben, zum Haus des Großen Dichters –, dank derer seine Kunst endlich Anerkennung finden und ihre Schwingen ausbreiten würde.

Aber nicht einmal mit etlichen Gläsern Wermut intus hatte er gewagt, auf einen persönlichen Besuch zu hoffen.

Und doch, bei jener Ankündigung des Vaters begann sein Herz zu rasen, wie es einem sensiblen Geist ja durchaus ansteht. Und sein Verstand flüsterte ihm zu, dass der große Augenblick gekommen sei.

Ein Literat zu Besuch auf Roccapendente. Gaddo hatte sich nicht einmal nach dem Namen erkundigt, so sicher war er sich gewesen. Wer sonst hätte es denn sein können, wenn nicht der Eine und Einzige?

Im Laufe des Abends hatte er sich mehrmals an der Vorstellung ergötzt – der Dichter saß an seinem, Gaddos, Schreibtisch, einem Tisch aus Kastanienholz (alle Dichter, die diese Bezeichnung verdienen, haben einen Schreibtisch aus Kastanienholz), und las in einem seiner lyrischen Ergüsse, dabei wog er zustimmend das Haupt, glücklich, endlich einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben.

Jetzt aber stellte sich heraus, dass sein Verstand sich gewaltig getäuscht hatte.

Der so berühmte und gebildete Schriftsteller, der das Schloss besuchen sollte, war nicht Giosuè Carducci.

Dabei handelte es sich noch nicht einmal um einen Dichter.

Dann wohl ein Romancier, hatte er gedacht.

Aber es war noch schlimmer gekommen, als er vermutet hatte.

Der Literat, der im Begriff stand, auf Roccapendente Schatten und Mahl zu schnorren, hatte ein Kochbuch verfasst.

Es war zum Haareausraufen.

Auf einmal sieht der Baron, wie Teodoro sich zu voller Größe aufrichtet, den Blick nach Westen gewandt. Und nicht aus Jux und Tollerei, denn hinter der Kurve beim Kastanienbaum erscheint eine Staubwolke, die immer weiter voranwirbelt. Kurz darauf taucht aus dem Staub eine Kalesche auf, gelenkt von einem barhäuptigen Mann und gezogen von einem Pferd, das aus dem letzten Loch pfeift. Nicht von ungefähr heißt dieser Ort Roccapendente – Steilenfels.

Hinten sitzt ein Passagier mit einem gewaltigen Schnurrbart und sieht sich um. Mehr lässt sich aus dieser Entfernung unmöglich sagen, da einzig dies an ihm erkennbar ist, ein prächtiger weißer Schnauzbart, der trotz des Staubs von Weitem erstrahlt.

Während die Kalesche näher kommt, versammeln sich die Bewohner auf dem Vorplatz vor der Veranda und machen sich zum Empfang des Neuankömmlings bereit; und der Herr Baron sieht aus der Ferne zu, wie Teodoro zu der Stelle geht, an der die Kalesche halten wird, um dort das Gepäck des Gastes entgegenzunehmen.

Und da steht die Kalesche schon.

Der Kutscher steigt ab, richtet seine Jacke und öffnet etwas unbeholfen den Schlag. Auf der Stufe erscheint ein schwerer, kräftiger Fuß – der des nun endlich eingetroffenen Gastes.

In der einen Hand hält er ein Buch, auf dessen Umschlag ein englischer Titel zu lesen ist. In der anderen trägt er einen Weidenkorb mit den zwei fettesten Katzen, die je gesehen wurden. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder, am Leib einen Gehrock. Unter dem Schnauzbart schließlich ist ein Lächeln erkennbar, ein rundgesichtiges Lächeln, das Gutmütigkeit ausstrahlt.

Kaum setzt der Gast seinen Fuß auf den Boden, räuspert sich Teodoro und rezitiert feierlich seinen Willkommensgruß:

»Herr Pellegrino Artusi, willkommen auf Roccapendente.«

Freitag, sieben Uhr abends

Im Schloss ist Abendessenszeit. Und wie immer, wenn Gäste im Haus sind, wird an diesem Abend im »Salon des Olymp« gespeist.

Wollten der Herr Baron und seine Tischgenossen ihren Blick zur Decke heben, so könnten sie die wundervollen Fresken von Jacopuccio da Campiglia bewundern, einem Maler, der seiner Nachwelt just dafür bekannt ist, dass er das gesamte Schloss von Roccapendente ausgeschmückt hat. Seine Zeitgenossen kannten ihn eher dafür, dass er bei Wirten und Weinhändlern im Val di Cornia exorbitante Schulden anzusammeln wusste. Doch insbesondere bei diesem Deckengewölbe, wo sich die olympischen Götter in einem ewigen, reglosen Kreislauf begegnen, hat Jacopuccio sein Bestes gegeben. Und während Herakles den Löwen erlegt, Orpheus die Felsen zu Tränen rührt und Zeus Aphrodite verführt (eine malerische Freiheit, wobei der gute Jacopuccio des Lesens kaum mächtig war), wachen sie alle zusammen mit nimmermüdem Blick über den Herrn von Roccapendente und die Seinen. Die allerdings sitzen mit gesenkten Köpfen vor einer Pastete von kolossalen Ausmaßen und kauen mit kampfesfrohen Backen, ohne sich um all die Schönheit zu bekümmern.

Langsam isst der Herr Baron, der das Deckengemälde schon tausendmal bewundert hat und dessen bis heute nicht überdrüssig wird, aber wenn gegessen wird, wird gegessen.

Lustlos isst Gaddo, dessen Geist zwar die Sensibilität hätte, das Schöne zu erfassen, der aber damit beschäftigt ist, aus dem Augenwinkel diesem blöden Hund von Möchtegern-Literaten zuzusehen, wie er sich mit Pastete vollstopft, während die bis an die Koteletten reichenden Hälften seines weißen Schnauzbarts auf und ab wippen, den mahlenden Rhythmus des Kiefers unterstreichend.

Beherzt und geräuschvoll isst Lapo, der Schönes vor allem dann schätzt, wenn es aus Fleisch und Blut ist und nicht aus Farbe und Mauerwerk, und der jetzt seine Schwester betrachtet und denkt, wenn sie sich nicht wie eine Büßerin kleidete, könnte man sie fast für eine Frau halten, und dann könnte man auch mal darangehen, ihr einen Ehemann zu suchen, da wäre man sie endlich los mit ihrer ständigen Nörgelei. Diese Weiber wissen ja immer alles besser!

In kleinen Häppchen isst Cecilia, während sie neugierig den Gast mit dem Schnauzbart beobachtet, mittlerweile völlig immun gegen Lapos Glotzen und seine nur allzu durchsichtigen Gedanken (wenn man sie denn so nennen will). Die Männer verstehen ja nicht, dass die Frauen an ihrer Haltung, ihrem Blick, der Art zu sitzen und so weiter genau ablesen können, woran sie gerade denken. Wie ist das dann erst bei Lapo, der über die Intelligenz einer Obstschale verfügt? Herr Artusi hingegen sitzt da, isst konzentriert und still und genießt sichtlich jeden einzelnen Bissen. Er wirkt wie ein Mensch, der an das denkt, was er gerade tut, und Cecilia gefällt das.

Auch Großmutter Speranza würde Parisinas so überaus leckere Pastete essen, hätten ihr nicht Alter und Krankheit den Appetit geraubt und diese Familie von Nichtsnutzen die gute Laune, von der sie bereits als junges Mädchen …, aber lassen wir das. Außer Pferden, Frauen und Gedichten hatten sie nichts im Kopf. Die Einzige mit einem Funken Verstand hatte das Unglück, als Frau geboren zu sein. So wie ja auch sie selbst in einem Körper steckte, den sie sich nicht ausgesucht hatte, Teil einer Familie, die sie von sich aus niemals gewählt hätte.

Sorglos isst Herr Ciceri, dessen breite Kiefer langsam vor sich hin mahlen, ohne dass er deshalb aufhören würde zu lächeln. Fabrizio Ciceri verliert sein Lächeln allerdings höchst selten, und den Appetit verliert er nie.

Genüsslich schließlich isst der Gast mit dem Schnauzbart, zeitweise mit geschlossenen Augen. Teils, um diese himmlische Pastete auszukosten, und teils, um nicht die Blicke seiner Tischgenossen auf sich zu spüren und sich, wie so oft, von der Befangenheit überwältigen zu lassen, die ihn im Hause Unbekannter leicht überkommt, auch wenn man das nicht vermuten würde angesichts des strengen Haarschnitts alla Umberto I. und dieses Schnauzbarts, der einem Heerführer zur Ehre gereichen würde.

»Na, Dottor Artusi, was halten Sie nun von meiner Küche?«

Am Kopfende der Tafel saß der Herr Baron und war sichtlich zufrieden. Anfangs hatte er gesehen, wie Artusi sich zögerlich bedienen ließ und langsam aß, in kleinen Bissen, auf denen er gewissenhaft herumkaute, obwohl Pastete doch an sich leicht zu schlucken war: das typische Verhalten eines Menschen, der die Mahlzeit aus bloßem Pflichtgefühl zu sich nahm.

Aber als die dritte Portion auf dem Teller des Gastes lag, hatte der Baron seine Einschätzung geändert. Offenbar war Artusi kein Sprinter, sondern ein Langstreckenfahrer – langsam, methodisch, zuverlässig und unermüdlich. Als Teodoro zum dritten Mal gefragt hatte: ›Darf ich, mein Herr?‹, da hatte er sich mit dem Tablett kaum auf den Gast zubewegt. Man nimmt vom selben Gang schließlich nicht zweimal nach. Was wären das für Sitten? Das würde ja so aussehen, als wäre man nur zum Essen da. Aber das Glitzern im Blick des Schnauzbärtigen hatte den Majordomus eines anderen belehrt – er würde doch noch einmal zum Vorlegebesteck greifen müssen.

Nun lag auf Artusis Gesicht die Gelassenheit eines Mannes, der sich den hungrigen Magen gefüllt hat, und die Genugtuung dessen, der auch wirklich gut gegessen hat. Die Frage des Barons konnte er beantworten, ohne sich hinter diplomatischen Floskeln zu verstecken.

»Ausgezeichnet, Herr Baron. Ausgezeichnet. Ich bin eigentlich kein großer Freund von Pasteten«, sagte Artusi, während Teodoro den Teller abtrug, »aber diese hier würde ich, wenn Sie gestatten, vortrefflich nennen. Und sie war auch äußerst ansprechend präsentiert. Daher möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.«

»Ich ahne schon, worauf Sie hinauswollen, aber das müssen Sie natürlich nicht mich fragen. Wenn Sie wünschen, lasse ich die Köchin unverzüglich rufen.«

»Verbindlichsten Dank. Noch dankbarer wäre ich Ihnen allerdings, wenn ich sie direkt in der Küche aufsuchen dürfte.«

Der Herr Baron schaute für einen Augenblick verblüfft. Artusi wurde rot und fügte rasch hinzu:

»Wissen Sie, das Gericht, das wir gerade verkostet haben, ist von überaus komplexer Natur. Wie Sie sich bereits denken können, wäre es mir ein Bedürfnis, das Rezept in meinen kleinen Traktat über die Kunst des Genießens aufzunehmen. Um diese Köstlichkeit angemessen reproduzieren zu können und meine Handvoll Leser in den Stand zu setzen, eine ebenso köstliche Pastete zuzubereiten, müsste ich mir den Vorgang wohl bis in die kleinste Einzelheit erklären lassen.«

»Heißt das, Sie sagen Ihrem Koch persönlich, was er zu tun hat?«, erkundigte sich Lapo.

»Nicht ganz«, versetzte Artusi. »Wenn ich ein Gericht zum ersten Mal erprobe, übernehme ich die Zubereitung selbst. Bin ich mir dann der richtigen Mengenverhältnisse und aller nötigen Schritte sicher, so überlasse ich die Arbeit meinem Koch.«

»Mit anderen Worten, Ihre Frau kocht überhaupt nicht.«

»Ich bin leider nicht im Stand der Ehe, Signor Lapo.«

Am Tischende, wo die Fräulein saßen, erklang ein atemloses Kichern.

»Wie gesagt, ich müsste mir alles genau erklären lassen, was für die Tischrunde, wie ich fürchte, kein allzu unterhaltsames Gesprächsthema wäre.«

Darauf kannst du deinen Schnauzer verwetten, sagte Lapos Gesichtsausdruck. Der Herr Baron hingegen lächelte.

»Ich danke Ihnen für Ihre Rücksichtnahme. Wenn Sie uns noch zu Nachtisch und Kaffee Gesellschaft leisten möchten … Teodoro wird Sie dann in die Küche begleiten.«

»Ich danke Ihnen.«

»Ich würde mich allerdings freuen, wenn Sie dort nicht allzu lange verweilten. Anschließend wollen wir nämlich im Billardzimmer auf unser aller Wohl anstoßen. Bücher mögen ja eine nützliche Sache sein, aber Essen und Trinken sind schlichtweg eine Notwendigkeit, nicht wahr?«

»Apropos Bücher«, sagte Großmutter Speranza, »ich sah, dass Sie da ein recht seltsames mitgebracht haben.«

Inzwischen waren das Dessert und der Espresso serviert worden. Mit dem Nachtisch, einer Torte aus frischem Ricotta auf einem Boden aus zerbröselten Butterkeksen, garniert mit Heidelbeeren und Himbeeren, hatten die Tischgenossen kurzen Prozess gemacht. Und da war ein Kaffee jetzt wirklich nötig. Probleme bereitete nur die Mokkatasse.

Wenn man einen zehn Zentimeter langen, dichten, auf jeder Seite weit herabhängenden Schnauzbart besitzt, so ist der Gebrauch gewisser Trinkgefäße mit Schwierigkeiten verbunden. Die Mokkatasse zum Beispiel, die Artusi vor sich hatte, stellte ihn vor das Problem, wie er den Espresso zu sich nehmen sollte, ohne seinen kostbaren Schnauzer in die stärkende Flüssigkeit zu tauchen. Während er die Lage analysierte, antwortete er:

»Ach, das ist Ihnen aufgefallen?«

»Es war schwer zu übersehen«, bemerkte Gaddo in einem Tonfall, mit dem er ein Dreivierteljahrhundert später auch bei der Stasi bella figura gemacht hätte. »Der Umschlag ist von ausgesucht schlechtem Geschmack.«

»Man beurteilt ein Buch nicht nach dem Umschlag, Gadduccio«, sagte Cecilia freundlich.

»Und man redet auch nicht, ohne gefragt worden zu sein, meine liebe Cecilia«, mischte sich Lapo ein, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Du bist nun eine junge Dame, da solltest du bestimmte Dinge einfach wissen. Ich glaube …«

»Wenn es um Bücher geht, solltest du dich lieber zurückhalten, Lapo«, unterbrach ihn Cecilia. »Das Thema liegt dir nicht. Sollte das Gespräch sich darauf verlagern, wie man sein Vermögen verschleudert, geben wir dir gerne Bescheid.«

Ende der Leseprobe