Im Schatten der Pineta - Marco Malvaldi - E-Book

Im Schatten der Pineta E-Book

Marco Malvaldi

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Beschreibung

Welch eine Hitze! Die sommerlichen Temperaturen in Pineta, dem toskanischen Städtchen an der ligurischen Küste, sind eigentlich nur an einem Ort zu ertragen – in Massimos Café BarLume. Und hier sitzen sie dann auch, die vier alten Männer, und vertreiben sich die Zeit. Mit Espresso, Sambuca, Kartenspiel – und Dorfklatsch. Und was haben sie nicht alles zu besprechen! Als ganz in der Nähe der Bar ein junges Mädchen ermordet aufgefunden wird, sind selbst die alten Männer sprachlos. Aber nur ganz kurz …

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www.piper.de

Für meinen Großvater und meine Großmutter      

Übersetzung aus dem Italienischen von Monika Köpfer

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Mai 2011

ISBN 978-3-492-95217-0

© 2007 Sellerio Editore, Palermo

Titel der italienischen Originalausgabe:

»La briscola in cinque«

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2011

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich (Hintergrund, Olivenzweig und Crodino-Korken), unter Verwendung eines Fotos von Paul Edmondson / Getty Images (Vespa)

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Caminante, son tus huellas

el camino, y nada más;

caminante, no hay camino,

se hace camino al andar.

Wanderer, deine Spuren

sind der Weg und sonst nichts;

Wanderer, es gibt keinen Weg,

ein Weg entsteht, wenn man geht.

Antonio Machado

Prolog

Wenn man sich kaum mehr auf den Beinen halten kann und sich noch eine Zigarette anzündet, damit weitere fünf Minuten vergehen, obwohl einem die Kehle schon brennt und der Mund vom vielen Rauchen so pelzig ist, dass es sich anfühlt, als hätte man einen Reifen verschluckt, dann stecken sich die anderen auch noch eine an, und man bleibt noch ein bisschen – kurz und gut, wenn es so läuft, ist es wirklich höchste Zeit, ins Bett zu gehen.

Es war frühmorgens, zehn nach vier, mitten im August, und drei junge Männer standen neben einem grünen Micra. Sie hatten alle deutlich mehr als nötig getrunken, der Besitzer des Micra noch mehr als die beiden anderen, von denen einer gerade versuchte, ihn davon zu überzeugen, sich besser nicht mehr hinters Steuer zu setzen.

»Ich bring dich nach Hause, komm schon«, sagte der Kleinste, dessen Schädel bis auf ein Haarbüschel auf dem höchsten Punkt des Scheitels kahl rasiert war, was ihm das Aussehen einer Palme verlieh. »Lass den Wagen hier, ich fahr dich.«

Der Angesprochene sträubte sich. Er war gerade aus der Disco gekommen, und abgesehen von einem Alkoholspiegel, der einem russischen Arbeitslosen alle Ehre gemacht hätte, war er noch dermaßen mit halluzinogenen Stoffen zugedröhnt, dass es ihm schwerfiel, klar zu denken. Was ihn nicht daran hinderte, seine Argumente vorzubringen: »Hör mal, wenn mein Alter sieht, dass ich die Karre hab stehen lassen und mit dir gefahren bin, sagt er, ich wär stockbesoffen heimgekommen, und macht mich aber so was von zur Sau. Mein Alter ist schließlich nich auf’n Kopf gefallen.«

»Aber wenn er sieht, dass du in diesem Zustand nach Hause kommst«, beharrte Palmschädel, »macht er dich zur Sau, weil du gefahren bist, und mich, weil ich dich erstens nicht begleitet hab. Und zweitens …«

»Nein, nein, ich fahr allein nach Hause. Kein Problem, ich komm schon an.«

»Warum sagst’n du nichts?«, fragte Palmschädel besorgt den Dritten im Bunde, der am Abend zuvor beim Friseur gewesen war und verlangt hatte, ihm das Haar maisgelb mit einem kecken Muster aus violetten Flecken zu färben – mit einer gewissen Bestimmtheit vermutlich, denn seinem Ansinnen war stattgegeben worden, und er hatte den Salon mit einem aparten Punk-Leopardenmuster verlassen. Zwei lebhafte Kuhaugen und der halb offen stehende Mund komplettierten seine Erscheinung.

»Wenn er meint, er kann noch fahren – is’ doch seine Sache …«, war sein einziger Kommentar.

»Mann, du Depp! Der ist doch so hacke, dass er spätestens nach zehn Metern einen Baum umarmt!«

»Hör zu, ich mach mich auf die Socken. Wenn ich nich klarkomm, klingel ich auf dem Handy durch, dann kannst du mich immer noch abholen.«

Palmschädel sah den anderen mit einer Miene an, als wollte er sagen: »Also wenn das nicht mal ein Dickschädel ist«, und erhielt zur Antwort einen Blick, der noch ausdrucksloser war und ungefähr bedeutete: »Ist mir scheißegal, in zwei Minuten lieg ich in der Kiste.«

»Dann fahr halt, wir bleiben noch zehn Minuten hier und warten. Wenn …«

»Keine Sorge, wenn ich’s nich schaff, ruf ich an.«

Der Junge hatte im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht, klar und deutlich zu sprechen, um den Eindruck zu erwecken, es ginge ihm schon etwas besser, doch in Wirklichkeit war ihm so schwindlig, dass er bei jeder noch so kleinen Kopfbewegung das Gefühl hatte, die Umgebung folge mit einer gewissen Verzögerung.

Er atmete tief ein, tastete nach dem Schlüssel in der Hosentasche und nahm es als gutes Zeichen, dass er ihn auf Anhieb fand. Einen Augenblick lang sah er ihn an, quittierte das Fundstück mit einem zufriedenen, wenngleich unsicheren Nicken und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen.

Er zog die Fahrertür zu, drehte den Zündschlüssel um und fuhr alles in allem ohne große Schwierigkeiten davon.

Doch nach etwa einem Kilometer musste er anhalten und bog auf den Parkplatz des Pinienwäldchens ab. Beim Fahren hatte er das Gefühl gehabt, als sei das Auto aus Gummi und ziehe bedenklich immer in dieselbe Richtung – nie in die andere: Es war wie in einer Waschmaschine zu stecken, während das Bullauge um einen herumwirbelt – wusch, wusch, wusch.

Er öffnete die Fahrertür, nicht ganz ohne Schwierigkeiten diesmal, und stieg mit Mühe aus.

»Ein bisschen frische Luft tut mir bestimmt gut«, sagte er.

Obwohl er allein war, bemühte er sich weiterhin, deutlich zu sprechen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es ihm gut ging, einigermaßen jedenfalls. Und auch um wach zu bleiben, was nicht ganz einfach war.

»Jetzt muss ich auch noch pissen. Was soll denn das? Ausgerechnet jetzt. Na ja. Muss wohl sein.«

Während er dieses Selbstgespräch führte, ging er auf einen der Müllcontainer zu.

In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und der Boden des Parkplatzes war trotz der Hitze noch schlammig. Er bemühte sich, den Pfützen auszuweichen, und nachdem er einigermaßen unversehrt beim Container angekommen war, wählte er ihn in einem kurzen mentalen Zwiegespräch als Pissoir aus.

Als es ihm nach einer gefühlten Ewigkeit endlich gelungen war, den Reißverschluss wieder hochzuziehen, bemerkte er, dass in dem Container ein Mädchen lag. Ein hübsches noch dazu. Ungefähr im selben Moment sagte ihm irgendetwas, dass sie tot sein musste. Und das erstaunte ihn zunächst nicht weiter. Im Gegenteil, in einer hartnäckigen Trägheit befangen, die ihn immer nur in Verbindung mit Alkohol befiel, begann er laut nachzudenken. Die Entdeckung hatte ihn keineswegs, wie Krimis einen immer glauben machen wollen, mit einem Schlag nüchtern gemacht.

»Kenn ich die? Ne, glaub nich. Muss die Bullen verständigen. Ich geh mal zum Wagen zurück und hol’s Handy.«

Das tat er, nur um zu bemerken, dass der Akku leer war.

»Heilige Kuhscheiße, muss das jetzt sein? Unn was jetz?«

Der Junge blickte sich um, als suchte er nach jemandem, der ihm die Antwort liefern könnte.

»Wart mal! Auf’m Weg hab ich doch ’ne Bar gesehen, die war offen. Tief durchatmen, dann geht’s schon wieder. Muss mich konzentrieren, damit dieses Drehen endlich aufhört, sonst komm ich da nie an.«

Bevor er sich in den Wagen setzte, streckte er die geöffneten Hände vor sich aus und konzentrierte sich weitere zwei, drei Minuten. Komischerweise fühlte er sich jetzt leichter: Er hatte eine Heidenangst gehabt, zu dieser Uhrzeit und in diesem Zustand nach Hause zu kommen, doch die Entdeckung der Leiche würde sowohl seine Verspätung als auch seinen Alkoholpegel erklären, schließlich hat man, wenn man eine Tote findet, das Recht auf eine Stärkung, oder etwa nicht? Ergo, wenigstens die Angst war verflogen.

»Siehste, geht doch. Und jetzt ganz ruhig einfach der gestrichelten weißen Linie nachfahren, dann kann gar nichts mehr schiefgehen.«

Nach einer weiteren Angstminute erreichte er tatsächlich sein Ziel. Er schälte sich aus dem Wagen und ging auf die Bar zu. Reiß dich zusammen, forderte er sich im Geiste auf. Er drückte die Klinke der Glastür herunter und trat ein. Hinter dem Tresen trocknete der Barista Gläser ab und räumte sie weg. Er sah ihn neugierig an. Der junge Mann bemühte sich lächelnd um Haltung, was seinen Zustand noch unterstrich, und fragte, immer noch lächelnd: »Tschuldigung, gibt’s hier ’n Telefon?«

»Da drüben, hinter der Eistheke.«

Der Junge machte ein paar Schritte, doch dann ließ eine innere Stimme ihn innehalten. Er hob den Zeigefinger und sagte: »Ich muss doch wohl nichts bestellen, oder?«

»Nicht nötig, das Telefon funktioniert auch so«, sagte der Barista.

Der Junge trat an den Apparat, wählte und sagte: »Hallo, ist da die 113? Hören Sie, ich wollte Ihnen Bescheid sagen, dass ich eine Leiche gefunden hab, eine tote junge Frau, in einem Müllcontainer; die ist wirklich tot, da bin ich mir sicher.«

Kurze Pause.

»Aber ja, auf dem Parkplatz des Pinienwäldchens, wo die Deutschen immer Picknick machen, aber das Mädchen ist Italienerin, jedenfalls hat sie dunkle Haut.« – »Ja, in einem Müllcontainer. Dem grauen neben dem Camperparkplatz, wo immer die Deutschen stehen.« – »Ja, um Picknick zu machen.« – »Weiß ich selbst, dass ich betrunken bin, aber glauben Sie mir, es stimmt! Also wirk… entschuldigen Sie, aber Sie sind vielleicht schwer von Begriff! Wie gesagt …«

Stille.

Der Junge schwieg und starrte einen Augenblick lang den Hörer an.

»Der hat einfach aufgelegt«, verkündete er ungläubig und ein wenig gekränkt.

Unterdessen war der Barista hinter dem Tresen hervorgekommen und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Ernst.

»Und da liegt tatsächlich eine Leiche?«

»Herrgott noch mal, ja. Sie ist auf dem Parkplatz des Pinienwäldchens, da wo …«

»Ja, ja, ich weiß. Komm, lass uns hinfahren. Du zeigst mir, wo du sie gesehen hast, und ich rufe die Polizei an.«

Der Barista nahm die Zigarettenpackung vom Tresen, steckte sich eine an und blickte auf die Uhr, dann verließ er, gefolgt von dem Jungen, die Bar.

»Gib mir den Schlüssel, ich fahre.«

Anfang

An einem Tag mitten im August, um zwei Uhr nachmittags, um genau zu sein, wenn man das Gefühl hat, dickflüssige Luft einzuatmen, und versucht, nicht daran zu denken, dass es bis zum Abendessen noch sechs oder sieben Stunden sind, rettet einen nur noch eines: mit ein paar Freunden zusammen in die Bar zu gehen, um etwas zu trinken.

Man setzt sich an eines der Tischchen im Freien, zupft die im Schritt klitschnasse Hose zurecht, dampft zehn Sekunden lang aus, und schon ist man, o Wunder, wieder halbwegs ein Mensch; derjenige aus der Runde, der noch am rüstigsten ist, geht hinein, um zu bestellen, da der Barista einen beim Kommen nur finster angesehen und einen ansonsten keines Blickes mehr gewürdigt hat, sondern geflissentlich Gläser spült (das heißt: ein Glas – dasselbe, das er schon seit fünf Minuten spült), was heißt, wenn dann niemand hineingeht, um sich der Getränke anzunehmen, wartet man bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Das Wichtigste jedoch ist, dass ein Lüftchen weht.

Ein Windhauch, gerade stark genug, um das Hemd von der Haut zu lösen, einem Wirbel für Wirbel den Rücken hinabzustreichen und die Zwischenräume zwischen den Zehen zu erfrischen, die in den Plastikbadeschlappen schier ersticken, aber nicht so stark, um einem die sorgfältig über die Glatze drapierten Haarsträhnen zu zerzausen. Außerdem macht die jodhaltige Meeresbrise die Nase frei und lässt einen tief durchatmen, und bis dann der Held, der inzwischen in die Rolle des Kellners geschlüpft ist, mit den Getränken und der Speisekarte zurückkommt, ist die gute Laune ebenfalls zurückgekehrt und der Nachmittag, im Vergleich zu vorher, schon erheblich kürzer geworden.

Diese Dinge sind mit zwanzig angenehm, mit achtzig sind sie das Salz des Lebens.

Das Grüppchen vor der BarLume, die sich im Zentrum des Örtchens Pineta befindet, besteht aus vier rüstigen alten Männern – einem Typus, der in der Gegend weit verbreitet ist. Die anderen beiden Parteien, die mit Ersterer konkurrieren – zum einen die vereinzelten alten Männer mit Gehstock nebst Enkelkind und zum anderen die alten Frauen, die vor ihrer Haustür hocken und stricken –, sind im Vergleich dazu in der Minderzahl, und man sieht sie immer seltener.

An der nur allzu oft gepriesenen Schwelle zum zweiten Jahrtausend hat sich Pineta zu einem angesagten Badeort entwickelt, mit allen Konsequenzen, und die Tourismusförderung wird nicht müde, die gewachsene Architektur des Dorfes zusehends zu verschandeln: Wo früher die Bar mit der Bocciabahn war, hat man einen Freiluft-Discopub errichtet, anstelle des Spielplatzes ist im Pinienwäldchen ein Bodybuildingstudio unter freiem Himmel aus dem Boden gestampft worden, und eine Parkbank sucht man vergeblich, dafür findet man neuerdings ausreichend Parkgestelle für Mopeds.

Danach zu urteilen, wie sie sich streiten, kann es sich bei den vier Männern nur um gute Freunde handeln: Drei von ihnen sitzen würdevoll auf ihren Plastikstühlen, während der vierte neben ihnen steht und ein Tablett in den Händen hält, auf dem sich ein Kartenspiel, ein Glas Fernet, ein Bier und ein Glas Sambuca mit der obligatorischen Kaffeebohne darin befinden.

Einer der Sitzenden wedelt mit den Armen.

Offensichtlich fehlt etwas.

»Und der caffè?«

»Hat er mir nicht gemacht.«

»Wie – hat er dir nicht gemacht? Und warum nicht?«

»Er sagt, es wäre zu heiß dafür.«

»Das geht ihn einen feuchten Kehricht an, ob es zu heiß für einen caffè ist oder nicht. Mir reicht schon dieser Plagegeist von einer Tochter, die jede Zigarette zählt, die ich mir genehmige, muss sich jetzt auch noch der Barista um meine Gesundheit sorgen? Der kriegt jetzt was zu hören!«

Ampelio Viviani, zweiundachtzig, pensionierter Eisenbahner, ehemaliger leidlich guter Amateurradrennfahrer und unbestrittener Sieger des Fluchwettbewerbs, der (offiziell) 1956 bei der Festa dell’Unità von Navacchio eingeführt und anschließend sechsundzwanzig Jahre lang ohne Unterbrechung abgehalten wurde, erhebt sich stolz mit Hilfe seines Stockes und betritt unerschrocken wie Garibaldi die Bar.

»Schaut ihn euch an, wie der jetzt losstürmt. Man könnte meinen, er ist Ronaldo!«

»Du meinst, so wie er den Stock beherrscht?«

Beim Tresen angekommen, richtet Ampelio mit erhobener Stockspitze das Wort an den Barista: »Massimo, mach mir einen caffè.«

Massimo steht mit gebeugtem Kopf am Spülbecken, wo er Zitronen zerteilt, eine Aufgabe, die ihn so vollkommen in Anspruch zu nehmen scheint wie einen Buddhisten die Meditation. Und in der gleichen seelenruhigen Art antwortet er: »Es gibt keinen caffè. Zu heiß heute. Später. Vielleicht.«

»Jetzt hör mir verdammt noch mal gut zu. Ich hab den Krieg in Abessinien mitgemacht, und da meinst du, es wär hier zu heiß, um einen caffè zu trinken?«

Den Kopf noch immer über den Ausguss gebeugt, erwidert Massimo: »Es ist nicht zu heiß, um einen zu trinken. Es ist zu heiß, um einen zu machen. Würdest du tatsächlich von mir verlangen, mich vor dieses türkische Dampfbad zu stellen und wie ein Schwein zu schwitzen? Für einen erbärmlichen, mickrigen caffè, der mir nicht einmal besonders gut gelingen würde, bei dieser Luftfeuchtigkeit? Trink lieber einen schönen Eistee, ich lad dich ein.«

»Einen Eistee, ja? Wenn ich gewollt hätte, dass mir schlecht wird, hätte ich auch zu Hause bleiben und mir mit deiner Großmutter diesen Michele Cucuzza in der Glotze anschauen können! In diese Bar setze ich nie wieder einen Fuß!«

Schließlich hebt Massimo doch den Kopf.

Er ist um die dreißig, hat lockiges Haar, Bart; sein leicht arabischer Einschlag wird noch unterstrichen durch das lange Piratenhemd, das ihm bis zu den Knien reicht und auf wundersame Weise unempfindlich gegen Schweißflecken zu sein scheint. Er hat einen Silberblick, ein wenig verdrießlich, den er jetzt kurz zur Decke wendet, aber nicht theatralisch. Dann, den Blick wieder auf die Zitronen gesenkt, sagt er: »Schau, Großvater, das hier ist die einzige Bar in ganz Pineta, wo man dich duldet, und zwar nur deshalb, weil sie mir gehört. Also, wenn du unbedingt einen caffè willst, warte zwei, drei Stunden, schließlich musst du ja nicht zur Arbeit.«

»Dann gib mir halt einen Grappa, und der Schlag soll sie treffen, meine Tochter!«

Ampelio ist wieder an den Tisch zurückgekehrt; Aldo, der Besitzer des Restaurants Boccaccio, mischt die Karten. Er fragt: »Scopa, Briscola oder Tressette?«

Die anderen zwei Gäste am Tisch heben die Köpfe; Gino Rimediotti, dem man jedes seiner fünfundsiebzig Jahre ansieht, antwortet wie immer: »Mir ist jedes Spiel recht, solange ich nicht mit dem da zusammenspielen muss.«

»Schlaumeier. Als ob das immer meine Schuld wär …«

»Und ob das deine Schuld ist! Du kannst dir nie merken, welche Karten schon abgelegt worden sind, nicht mal unter Androhung der Todesstrafe.«

»Gino, ich mag dich wirklich, aber jetzt hör mir mal zu: Jemand, der so auffällig zwinkert, als hätte er Sand in den Augen, sollte lieber den Mund halten. Wenn du die Drei hast, muss man Angst haben, dass du gleich ’n Herzinfarkt kriegst. Da merken sogar die Leute drinnen in der Bar, welche Trümpfe du auf der Hand hast.«

Der vierte Mann heißt Pilade Del Tacca; er schaut auf vierundsiebzig ruhige Lenze zurück und schleppt zufrieden ein paar überzählige Pfunde mit sich herum. Die Jahre harter Arbeit bei der Gemeinde von Pineta, wo man nichts gilt, wenn man nicht mindestens viermal an einem Morgen frühstückt, haben ihn sowohl physisch als auch charakterlich geformt: Nicht nur sein Benehmen lässt zu wünschen übrig, er ist auch eine ziemliche Nervensäge.

Aldo beendet das Kartenmischen; ein kritischer Moment. Mit neutraler Stimme erklärt er, es gehe nicht an, dass jedes Mal er oder Ampelio entscheiden müssten, nur damit sich Del Tacca anschließend beschweren könne, »dass immer wir entscheiden. Entweder ihr entscheidet, oder wir machen was anderes.«

Ampelio meldet sich zu Wort. »Mir macht’s nichts aus, zu entscheiden, und wenn’s nicht passt, ändern wir halt die Paare.«

Del Tacca fragt: »Wenn’s wem nicht passt?«

Gino schlägt vor: »Der Schlampe von deiner Mutter – wem sonst? Uns allen, oder was?«

Die Luft ist zum Schneiden dick, von der frischen Brise ist nichts mehr zu spüren.

Mitten in das Schweigen tritt jetzt Massimo, der aus der Bar kommt und sich einen Stuhl heranzieht, um sich zu dem Grüppchen zu setzen.

Er zündet sich eine Zigarette an, nimmt den Kartenstapel und sagt: »Tiziana kann sich ’ne Weile allein um die Bar kümmern, um die Zeit kommt sowieso niemand. Wie wär’s mit einer Fünfer-Briscola?«

Es müssen nicht mal mehr Blicke gewechselt werden; die Augen werden wieder lebhaft, die Gläser geleert, Ellbogen auf den Tisch gestemmt, und los geht’s.

Briscola zu fünft ist immer gut.

Ungefähr sechs Monate zuvor übertönte Ampelios Stimme wie üblich den Lärm in der Bar. Geschickt lotste der Pensionär sie um die gewundenen intellektuellen Kehren seiner Rede, während er keine Gelegenheit ausließ, urbi et orbi seine Meinung über Gott und die Welt kundzutun.

»Ich versteh ums Verrecken nicht, was die jungen Leute bloß daran finden! Da wird man in einen Raum mit ohrenbetäubender Musik gesperrt, zusammengequetscht wie die Ölsardinen; statt zu tanzen, muss man sich aufführen, als hätte man Juckpulver in der Unterhose, und am Ende kommt man vollkommen verblödet aus dem Schuppen wieder raus. Und für diese Behandlung lassen sie einen auch noch bezahlen! Sag du mir, ob es richtig ist, dass …«

»Großvater, sprich erstens leiser, und zweitens hör auf, so einen Radau zu veranstalten. Danke. Im Übrigen, was kümmert es dich, wie sich die Leute vergnügen? Soll doch jeder machen, was er will, solange er keinem wehtut.«

Ampelio stellte das Glas ab und brummte in seinen Bart: »Pah, solange man keinem wehtut! Sich selbst tut man weh, sich selbst. Herrgott, wer unbedingt will, dass ihm der Schädel dröhnt, dem kann ich gern eins mit dem Stock überbraten, und zwar gratis …«

Aldo stand auf, um den Klappaschenbecher aus seiner Manteltasche zu holen. Das Boccaccio hatte Ruhetag, und wie immer war er – ein sorgenfreier Witwer, der gern in Gesellschaft war – abends in die Bar gegangen, wo er sich sicher sein konnte, ebendiese zu finden.

Inhalt

Cover & Impressum

Einführung

Prolog

Anfang

Zwei

Drei

Vier

Wurzel aus fünfundzwanzig

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Neuneinhalb

Zehn

Elf

Epilog

Schluss