Die Schnelligkeit der Schnecke - Marco Malvaldi - E-Book

Die Schnelligkeit der Schnecke E-Book

Marco Malvaldi

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Beschreibung

Die vier Alten aus Massimos Bar sind wieder da! Immer noch haben sie nichts Besseres zu tun, als Karten zu spielen, Sambuca zu trinken und dem armen Massimo mit ihren Kommentaren auf die Nerven zu fallen. Dabei hat der junge Barista neben der Verköstigung seines Seniorenclubs noch eine weit schwierigere Aufgabe zu lösen: Wer hat den Professor auf dem Gewissen, der bei einem Kongress in Pineta auf mysteriöse Weise ums Leben kam?

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Für Vittorio,der, als er ins Licht ging,uns ein bisschen tiefer im Dunkeln gelassen hat.

Übersetzung aus dem Italienischen von Sigrun Zühlke

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95478-5

© 2008 Marco Malvaldi

Titel der italienischen Originalausgabe:

»Il gioco delle tre carte«, Sellerio editore, Palermo

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2012

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

Umschlagmotiv: Hauptmann und Kompanie (Hintergrund und Echse), plainpicture (Lampe), Getty Images (Auto)

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

»Wer meinen Beutel stiehlt, nimmt Tand; ’s ist etwas

Und nichts; mein war es, ward das Seine nun,

Und ist der Sklav’ von Tausenden gewesen,

Doch wer den guten Namen mir entwendet,

Der raubt mir das, was ihn nicht reicher macht,

Mich aber bettelarm.«

William Shakespeare, Othello, 3. Aufzug, 3. Szene

Prolog

Wenn das Chaos sein sollte, dann musste Italien das schönste Land der Welt sein. Dies dachte Koichi Kawaguchi, kaum dass er von Bord des Flugs JL3476 gegangen war, welcher ihn am Flughafen Narita aufgenommen und, unverständlicherweise unter Applaus der im Flugzeug anwesenden Italiener, auf einer der Landebahnen von Rom Fiumicino wieder abgesetzt hatte.

Koichi Kawaguchi war sehr besorgt gewesen, da er Japan zum ersten Mal verließ, und das nicht nur, weil er an einem Kongress teilnehmen sollte, sondern ganz generell. Außerdem hatte man ihm gesagt, dass Italien zwar ein wunderschönes Land sei, aber extrem chaotisch und desorganisiert. Obendrein war Koichi auch noch ein Mensch von geradezu pathologischer Furchtsamkeit. Folglich hatte ihm die Vorstellung, sich allein auf einem fremden Flughafen zu befinden, in einem Land, dessen Sprache er nicht beherrschte, und einen Inlandsflug nehmen zu müssen, der nur zwei Stunden nach der Landung aus Tokyo abgehen sollte, etwa einen Monat lang schlaflose Nächte bereitet.

Doch es war alles sehr viel besser gelaufen als befürchtet.

So hatte er schon beim Abflug in Narita einige Passagiere identifiziert, die ebenfalls zum Kongress wollten. Auch wenn er sie nicht persönlich kannte, hatte Koichi ein paar junge Leute gesehen, die neben ihrem Gepäck auch eine Plastikrolle zur Aufbewahrung von Plakaten über der Schulter trugen, was sie für ihn sofort als Personen kenntlich machte, die zu einem wissenschaftlichen Kongress unterwegs waren.

Junge Leute haben nämlich bei einem Kongress selten einen Vortrag oder eine kleine Rede zu halten. Normalerweise wird für sie eine sogenannte »Postersession« organisiert, das heißt, es wird eine bestimmte Zeitspanne reserviert, in der jeder junge sogenannte Wissenschaftler persönlich jedem Kongressteilnehmer, der vor seinem Poster stehen bleibt, in sehr informeller Art und Weise erklärt, mit welchem Forschungsgebiet er sich beschäftigt hat. Das besagte Poster wird normalerweise von seinem Besitzer sorgsam zusammengerollt in jenen Kunststoff-Plakatrollen aufbewahrt, von denen oben bereits die Rede war und die normalerweise nicht unbemerkt an einem vorübergehen. Ein Umstand, der, nebenbei gesagt, nicht etwa ihrem eleganten Design geschuldet ist, sondern eher ihrer abartigen Funktionalität: Diese Utensilien sind nämlich extra so konstruiert, dass sie sich unversehens in jeden sich ihnen bietenden Zwischenraum schieben, einschließlich der Beine ihrer milchgesichtigen Eigentümer und deren unmittelbarer Nachbarn. Die unvorhersehbare Dynamik dieses Objekts geht folglich oft mit einem Korollar aus Stolperern, Beinahestürzen und ungewollten Gepäckverlusten einher, die in sehenswerter Weise die Monotonie eines Flughafenterminals durchbrechen.

Über ihre lästigen Auswirkungen auf mechanischer Ebene hinaus hatten die Plakatrollen es Koichi also ermöglicht, potenzielle Kongressteilnehmer zu identifizieren und den im Flugzeug aufgeschnappten Gesprächsfetzen zu entnehmen, dass sie zu genau demselben Kongress reisten wie er.

Daher hatte er sich in einer typisch japanischen Mischung aus Furchtsamkeit und Entschlossenheit vorgenommen, die Gruppe seiner Landsleute nicht aus den Augen zu verlieren und ihnen diskret zu folgen, ohne sich jedoch schon vorzustellen. Es war schließlich seine erste Auslandsreise, und er wollte sie so weit wie möglich für sich alleine genießen. Nichtsdestotrotz war er fest entschlossen, seinen Landsleuten nicht auf den Fersen zu folgen, sondern sie als Leithund zu benutzen, ganz besonders bei der Ankunft in Fiumicino wo, so war er überzeugt, er sich einem dantesken Chaos gegenübersehen würde.

Stattdessen hatte er den römischen Flughafen überraschend ruhig gefunden. Keine Spur zu sehen von jener strömenden Schar lärmender Menschen, durchsetzt mit Horden von auf fernöstliche Geldbörsen lauernden Taschendieben, die seit einigen Wochen seine albtraumhaften Phantasien heimsuchten. Kein Schrei, kein Lärmen und sogar eine ansehnliche Zahl von überraschend kleinen Menschen. Im Verhältnis zu dem Gedränge, in das er jeden Morgen in der U-Bahn-Station Shinjuku in Tokio eintauchte, verhielt sich dies hier wie die Anzahl der Fußballer auf einem Spielfeld zur Menge der Zuschauer in der Fankurve.

Der erste Eindruck des Flughafens war ziemlich enttäuschend, ja, sogar beinahe etwas provinziell. Ein paar wenige, hässliche Geschäfte, die den ersten Stock belegten, kein bisschen einladend die Restaurant-Pizzeria-Cafeteria und die beiden Bars, die sich gegenseitig das Recht streitig machten, den Hunger des soeben gelandeten Wandersmanns zu stillen.

Und dennoch gefiel ihm der Ort überraschenderweise.

Ihm gefiel die unübersehbare Gelassenheit, mit der die Italiener ihren Geschäften nachgingen, das Lächeln, mit dem der Polizeibeamte seinen Pass kontrolliert hatte und ihm, seiner Tätigkeit am Flughafen zum Trotz, in ziemlich holprigem Englisch einen angenehmen Aufenthalt gewünscht hatte. Die unerklärliche, aber doch unübersehbare Genugtuung des Barista, bei dem er einen Kaffee bestellt hatte, als sei es genau das Richtige für einen Mann von Welt, um diese Zeit in dieser Bar einen Kaffee zu bestellen. Und der Kaffee, schwarz und stark, serviert in einer winzigen, bereits vorgewärmten Tasse, war hervorragend.

Andere Dinge gefielen ihm weniger, etwa die Toiletten. Er hatte sagen hören, die Italiener seien das sauberste Volk Europas. Folglich hatte er sich bei dem Gedanken ertappt, dass die Toiletten im Flughafen wohl für Deutsche gedacht sein mussten. Weiträumig, ohne Zweifel, aber mit einem unglaublich nassen und schmuddeligen Boden und einem Wasserhahn, der kein Maß kannte – wenn er weniger als halb aufgedreht war, gab er nur hier und da alle zwei oder drei Sekunden ein armseliges Tröpfchen frei, weiter aufgedreht hingegen vermittelte er den Eindruck, man habe eine Staumauer geöffnet. Und dann die Toilette mit der unbeheizten Klobrille. In Tokio verfügten alle öffentlichen Toiletten über beheizte Klobrillen. Offensichtlich herrschten in Italien und Japan unterschiedliche Auffassungen darüber, bei welchen Behältnissen das Vorwärmen angebracht war.

Nachdem er sich in den Check-in-Bereich begeben hatte, sah Koichi, dass das Flugzeug, welches er nur zwei Stunden nach der Landung des Fluges aus Tokio hätte besteigen sollen, mit zwei Stunden komfortabler Verspätung angekündigt war.

Dies heiterte ihn nun endgültig auf. Es beruhigte ihn sogar dermaßen, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt beschloss, vollkommen im Einklang mit dem italienischen Geist, zur Bar zurückzukehren und noch einen Kaffee zu trinken.

»Einen Kaffee bitte. Und was nehmt ihr?«

»Für mich auch einen Kaffee.«

»Für mich einen Orangensaft. Wenn ich jetzt noch einen Kaffee trinke, krieg ich das Zittern.«

Heute Morgen, als der Barista am Flughafen Galilei in Pisa sie zum ersten Mal erblickt hatte, hatten die drei jungen Männer entschieden besser ausgesehen.

Jetzt, um fünf Uhr nachmittags, nach sieben Stunden Warterei vor dem einzigen Terminal des Flughafens, wirkten sie ziemlich mitgenommen. Die Hemden bauschten sich trotz ständigen Zurückstopfens immer wieder in resignierten, asymmetrischen Beulen aus den Hosenbünden, und einer der drei wies zwei ausgedehnte Schweißflecken unter den Achseln auf. Die Gesichter sahen erschöpft aus, und das Gespräch bewegte sich stockend zwischen Grunzen und unbestimmtem Jammern.

»Das ist jedenfalls das letzte Mal, dass ich mich so verarschen lasse.«

»Ja klar. Letztes Jahr hast du das Gleiche gesagt. Abgesehen davon ist es sowieso das letzte Mal, dass wir uns so verarschen lassen. Ich weiß ja nicht, wie’s bei euch aussieht, aber mein Stipendium wird bestimmt nicht wieder verlängert.«

Der so sprach, war der Älteste – so unpassend dieser Begriff auch für Dreißigjährige erscheinen mag – der drei jungen Männer, ein außergewöhnlich hochgewachsener Kerl mit breiten Schultern, einem scharf geschnittenen Gesicht und diversen Ringen im rechten Ohrläppchen. Das Stipendium, auf das er sich bezog, war nichts anderes als die monatlichen 1238,50 Euro, die ihm im Vorjahr der Fachbereich für Chemie und Industriechemie der Universität Pisa großzügigerweise für ein Jahr zugesprochen hatte, nachdem er den Doktortitel erworben hatte und nun darauf wartete, dass – wie sein Professor zu ihm gesagt hatte – »bessere Zeiten heranreiften, um zu sehen, ob man nicht etwas ein bisschen Längerfristiges für dich finden kann«, oder anders gesagt – wie er es selbst ausdrückte –, »dass irgendeiner von den alten Säcken, die nur so tun, als würden sie sich für uns interessieren, mitkriegt, dass er inzwischen hundertdreißig Jahre alt ist und sich aufs Land zurückzieht, um Rüben anzubauen, und einen Platz freimacht, verdammte Hacke.«

Die anderen beiden Kameraden hingegen waren noch Doktoranden, und die Position aller drei brachte es mit sich, dass sie, wie alle Lehrbeauftragten an Universitäten, ungeschriebenen Verpflichtungen nachzukommen hatten, denen sie sich unmöglich entziehen konnten; dazu gehörte zum Beispiel, dass man, wenn der Fachbereich einen Kongress veranstaltet, inoffiziell, aber zwingend Teil des Organisationskomitees war. Was in die Praxis übertragen bedeutete, dass man sich um die Ankunft und die Bedürfnisse der ausländischen Teilnehmer des Kongresses zu kümmern hatte.

Daher waren die drei im Rahmen des »XII. International Workshop on Macromolecular and Biomacromolecular Chemistry« von der verantwortlichen Verwaltung des Fachbereichs Chemie dazu verpflichtet worden, die verschiedenen Gruppen ausländischer Professoren und Studenten am Flughafen in Empfang zu nehmen und zum Hotel zu begleiten. Nachdem sie ernsthafte skandinavische Professoren eingesammelt, die Koffer älterer amerikanischer Wissenschaftlerinnen geschultert, Gepäck und Kinder hysterischer spanischer Forscherinnen wiedergefunden und rudelweise japanische Experten zum geräumigen Autobus geführt hatten, der sie ins Hotel bringen würde, waren die drei jetzt beinahe am Ende ihrer Mission angelangt. Es fehlte nur noch eine einzige Person, die mit dem letzten Flug ankommen sollte, dann konnten sie endlich nach Hause gehen. Wie es häufig geschieht, wenn das Ende einer undankbaren Aufgabe näher rückt, waren sie vollkommen erledigt.

»Na ja, hoffen wir mal, dass der Typ aus Holland bald kommt«, sagte einer der anderen beiden in dem Versuch, das Gespräch vom Stipendium abzulenken, das mit Sicherheit auf die wenig angenehmen Konsequenzen für sie alle drei gekommen wäre. Im Lauf des Tages hatten sich ihre Gespräche immer wieder um ihre Situation als wissenschaftliche Angestellte an der Universität gedreht. Im Grunde waren sie zu dem Schluss gekommen, dass die Zeitarbeiter des Wissenschaftsbetriebes für Universität und Ministerium mehr oder weniger so etwas wie die Bakterienflora für den Darm waren: anders gesagt, Parasiten. Gute Parasiten natürlich; notwendig für das reibungslose Funktionieren des Organismus (insofern als es die Zeitarbeiter sind, die wirklich im Labor stehen), aber doch nur mit den letzten Resten der zugeführten Ressourcen am Leben gehalten und letztlich objektiv gesehen in einer Scheißsituation.

»Kennt irgendeiner von euch diesen Snijders?«, fragte der Dritte. »Nicht, dass wir ihm dann durch den ganzen Flughafen nachjagen müssen wie dem Ungarn vorhin, oder?«

»Nein, nein«, sagte der Große. »Ich kenne ihn, ich hab ihn schon auf ein paar Kongressen gesehen. Den kann man unmöglich verwechseln.«

»Wie meinst du das?«

»Wirst es gleich sehen.«

»Jetzt gleich, guck mal«, sagte der Dritte lächelnd. »Sie sind angekommen. Da tut sich was.«

»Prima! Na los, schnappen wir uns den Deutschen, und dann ab nach Hause.«

»Der ist Holländer.«

»Holländer, Schwede, Hauptsache er ist der Letzte.«

Als sie am Terminal angekommen waren, hob der Große ein Schild hoch, auf dem stand (handschriftlich, angesichts der beschränkten Mittel) »XII. International Workshop on Macromolecular and Biomacromolecular Chemistry«. Beinahe sofort löste sich aus der Gruppe der Fluggäste, die aus dem Terminal kamen, ein eher kleiner Kerl, nur knapp eins siebzig, Mitte vierzig, in einer militärgrünen K-Way-Regenjacke, die sich ganz besonders vom orangefarbenen T-Shirt darunter abhob, das überaus nachlässig in ein Paar ausgesprochen abgetragene, gürtellose Jeans gestopft war, die mindestens zehn Zentimeter über den Knöcheln endeten, welche ihrerseits aus einem Paar hochtechnologischer Trekkingsandalen ragten. Der Typ, der, abgesehen von einem kleinen Rucksack, ohne Gepäck angereist zu sein schien, kam auf die jungen Männer zu und begrüßte sie, indem er kurz die Hand hob.

»Guten Tag, Professor Snijders. Hatten Sie eine angenehme Reise?«, fragte der Große auf Italienisch.

»Ja, ja. Gute Reise, wirklich«, antwortete der Typ ebenfalls auf Italienisch, allerdings mit einer seltsam harten Aussprache.

Antonius Celsius Jacopus Snijders (für seine Freunde, also eine große Anzahl von Menschen, einfach nur Anton) sah eindeutig nicht so aus, wie jemand, der als Universitätsprofessor arbeitete. Um die Wahrheit zu sagen, sah er nicht einmal aus wie jemand, der überhaupt irgendeiner Arbeit nachging oder auch nur eine Minute seines Lebens jemals gearbeitet hatte. Dennoch war Anton Snijders, so seltsam seine äußere Erscheinung auch anmuten mochte, ein exzellenter Dozent und guter Forscher, in der Lage, eine Gruppe von etwa zehn Wissenschaftlern zu leiten, die in ehrenvoller und eigenständiger Weise Forschung betrieben.

»Sie sprechen Italienisch?«, erkundigte sich einer der beiden Doktoranden, und stellte damit aus lauter Höflichkeit eine Frage, die offensichtlich überflüssig war.

»Meine Frau ist Italienerin«, antwortete Snijders routiniert auf das, was eigentlich die korrekte Frage gewesen wäre, also: »Wie kommt es, dass Sie Italienisch sprechen?« Dass sie nur höchst selten direkte Fragen stellten, war etwas, das ihm an den Italienern immer wieder auffiel. Der junge Mann fand es ungewöhnlich, dass ein Niederländer Italienisch sprach, hätte es aber ungehörig gefunden, ihn direkt zu fragen: »Warum sprechen Sie Italienisch?« Er selbst hätte sich darüber keine Gedanken gemacht – in der Tat machte sich Snijders nur äußerst selten Gedanken darüber, was sich gehörte oder nicht –, die Italiener dagegen schon. Seltsam. Er konzentrierte sich auf einen der beiden jungen Männer, der gerade dabei war, ihn über logistische Einzelheiten aufzuklären.

»Das Hotel ist mit dem Taxi eine Viertelstunde von hier entfernt. Wir rufen Ihnen sofort eines.«

»Nein, danke. Ihr braucht mir keins zu rufen.«

»Wartet schon jemand auf Sie?«, fragte einer der drei.

»Nein, ich wollte zu Fuß zum Hotel gehen.«

Die drei sahen sich an. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, war klar, dass sie glaubten, sich verhört zu haben.

»Sehen Sie, Herr Professor«, sagte einer der drei mit Betonung auf »Professor«, vielleicht um ihn daran zu erinnern, dass man normalerweise von einem Intellektuellen eine eher mangelhafte körperliche Form erwartete, »bis zum Hotel sind es zehn Kilometer.«

»Ich weiß«, sagte Snijders, immer noch lächelnd. »Ich habe jetzt drei Stunden gesessen. Ich habe Lust, mir ein bisschen die Beine zu vertreten.«

»Sind Sie sicher? Das sind zehn Kilometer. Da brauchen Sie zwei Stunden.«

»Ich hab’s nicht besonders eilig.«

Anfang

Die Szene hätte an einen religiösen Ritus denken lassen können. Was seltsam war, weil sie sich im Freien zwischen den Tischen einer Bar abspielte. Der Offiziant war ein Typ in den Dreißigern, groß, mit einer ausgeprägten Hakennase und einem leicht arabisch aussehenden Gesicht. Mit feierlicher Ruhe bewegte er sich systematisch und gemessenen Schrittes zwischen Tamarisken und Tischchen hindurch. Im Arm trug er wie ein Kind einen kleinen Laptop, dessen Bildschirm er nicht aus den Augen ließ. Dabei hellte sich sein Gesichtsausdruck abwechselnd auf und verfinsterte sich, während er den Irrgarten aus Stühlen und Sonnenschirmen durchkämmte. Er musste mit dem Ort vertraut sein, denn er bewegte sich, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen den verschiedenen Einrichtungsgegenständen hindurch. Manchmal, an Stellen, die in der Liturgie möglicherweise von besonderer Bedeutung waren, vollzog er mit dem Computer seltsame, fast kreuzförmige Bewegungen, während seine Lippen sich im leisen Gebet bewegten. Von Weitem drangen nur wenige, unzusammenhängende Fragmente seiner Rede ans Ohr, so was wie: »Ach, verdammter Mist, ist denn das die Möglichkeit, bis vor einer Sekunde war hier doch noch Empfang.«

Anstelle der Beginen, die üblicherweise die Kultstätten bevölkerten, war eine rothaarige Schönheit bei ihm, die ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift Il BarLume trug. Den Rest der Kleidung nahm man nicht wirklich wahr, aber das T-Shirt blieb in Erinnerung. Na gut, eigentlich nicht das  T-Shirt. Die junge Frau beobachtete den mutmaßlichen Priester skeptisch und mit großer Besorgnis und machte dabei Kreuzchen auf ein Blatt Papier, auf dem der Außenbereich der Bar schematisch aufgezeichnet war.

Unweit des Offizianten verfolgten vier seltsame Messdiener mit ruhigen und gelassenen Mienen dessen Bemühungen. Seltsam aufgrund ihres Alters, weil Messdiener ja normalerweise zwischen zehn und vierzehn Jahren alt sind, während die fraglichen Herrschaften alle so um die siebzig gewesen sein dürften. Und seltsam aufgrund der Sprache: Auch wenn es normal ist, dass Messdiener während der Messe tuscheln, so hätte doch das Vokabular des alten Herrn mit der Baskenmütze und dem Pullover sie auf Lebenszeit vom Messdienst ausgeschlossen. Manchmal drehte sich der Priester zu ihnen um und bedachte sie mit einem bitterbösen Blick, doch ganz wie echte Messdiener beachteten sie ihn nicht einmal und redeten ungerührt weiter.

»Was hat er gesagt, wie sich dieser neumodische Scheiß nennt?«

»Uaierless.«

»Wie?«

»Uaierless. Das ist Englisch, Ampelio. Es heißt ›drahtlos‹. Das ist eine Art, sich mit dem telematischen Netz zu verbinden.«

Der da gesprochen hatte, war Aldo, ein gut aussehender Witwer in den Siebzigern. Aldo war der einzige Angehörige des Quartetts aus gereiften Jünglingen, der noch nicht den Annehmlichkeiten der Pension erlegen war: Seit einigen Jahren besaß und führte er ein kleines Lokal, das sich Boccaccio nannte. Das Boccaccio verfügte über einen flotten, aber höflichen Service, einen endlosen Weinkeller, der von Frankreich bis nach Neuseeland reichte, und einen außergewöhnlichen Koch, Otello Brondi, aufgrund der Ausmaße seiner Hände liebevoll Tavolone, großer Tisch, genannt.

Als Liebhaber barocker Musik, klassischer Literatur und Frauen aus Fleisch und Blut war Aldo einer der drei oder vier lebenden Menschen auf der Welt, die noch in der Lage waren, sich in einem grammatikalisch korrekten und außerordentlich gewählten Italienisch auszudrücken, das frei von jeglichen Anglizismen war.

Eine Kunst, derer sein direkter Gesprächspartner nicht mächtig war, und das mit Stolz. Er nannte sich Ampelio, war dreiundachtzig Jahre alt und Großvater des Barista. Er hatte eine glückliche Vergangenheit als Bahnhofsvorsteher, Gewerkschafter und Amateurradsportler hinter sich und verbrachte jetzt eine heitere Gegenwart aus Nachmittagen und Abenden in Gesellschaft seiner bejahrten Freunde in der Bar seines Enkels. Der derjenige war, welcher mit dem Computer im Arm zwischen den Tischen umherstreifte.

»Aha, und was soll das sein, so was wie Internet?«

»Das ist Internet. Aber ohne Kabel. Wenn du einen tragbaren Rechner hast, kommst du in die Bar und verbindest dich direkt, ohne dass du irgendwelche Kabel brauchst.«

»Ist ja gut, ich hab’s verstanden. Du kommst in die Bar, und statt mit Ugo und Gino zu reden, verbindest du dich mit dem Internet und guckst, was in Australien so los ist. Und während du dir Australien anguckst, reden zwei Meter von dir entfernt Ugo und Gino darüber, wie gut deine Freundin im Bett ist. Ich bitte dich ...«

»Ampelio, fang jetzt nicht so an. Das Internet ist ein Medium. Es kommt darauf an, wie du es nutzt. Du hast Zugang zu Milliarden von Informationen. Du erfährst alles über alle, Wahres und Falsches. Und all das in einem Höllentempo und ohne auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.«

»Aldo hat recht«, mischte sich Del Tacca ein. »Du erfährst alles, kaum dass es passiert ist, und auch, wenn überhaupt nix passiert, erfährst du’s. Und das, ohne dass du einen Fuß vor die Tür setzt. Das ist wie deine Frau, Ampelio, nur dass du es ausschalten kannst.«

Der dritte Mann, der jetzt gesprochen hatte, war unter den Einwohnern Pinetas einfach als »der Del Tacca von der Gemeinde« bekannt; und zwar, um ihn zu unterscheiden vom »Del Tacca aus Foce Nòva«, der in der Nähe des ehemals neuen Viertels an der Flussmündung wohnte, vom »Del Tacca von der Straßenbahn«, der als Schaffner gearbeitet hatte, und vom »Del Tacca von der Agip am Viale«, dessen berufliche Aktivitäten man lieber nicht genauer benennt, sagen wir einfach nur, dass er nicht als Tankstellenpächter arbeitete. Der Del Tacca von der Gemeinde war ein dicker kleiner Mann, beinahe breiter als hoch, der auf den ersten Blick etwas anmaßend erscheinen mochte, von Nahem betrachtet aber einfach nur unsympathisch war wie breit getretene Hundekacke. Eine Wirkung, die er, zusammen mit dem hohen Anteil an Fettgewebe, in langen Jahren sogenannter Arbeit in der Gemeindeverwaltung von Pineta entwickelt hatte: Jahre voller ausgedehnter Frühstückspausen, verloren gegangener Akten und semiklandestiner Kartenspiele, während sich vor dem Schalter und dem Schild »Bin gleich zurück« lange Schlangen gebildet hatten.

In der Zwischenzeit hatte der Priester des Kultes den Laptop zusammengeklappt und sich an den Tisch zu der aufreizenden Schönheit gesetzt. Sie hieß Tiziana und arbeitete seit zwei oder drei Jahren als Mädchen für alles in der BarLume. Diese BarLume wiederum gehörte Massimo, der in Personalunion den Priester des Kultes und Ampelios Enkel in sich vereinte. Also, der Typ, der sich gerade hingesetzt hatte, hieß Massimo und war der Barista.

Massimo zündete sich eine Zigarette an, schaute auf das Blatt, das Tiziana ihm hinhielt, und runzelte die Stirn.

»Das ist alles.« Es war keine Frage, sondern eine Aussage. Wenn auch ein bisschen verzweifelt.

»Ja. Alles«, antwortete Tiziana, ohne etwas hinzuzufügen. Sie hätte wohl Lust gehabt, noch etwas zu sagen, weil sie eine fröhliche junge Frau mit einem sonnigen Gemüt war, aber andererseits war sie auch ein kluger Mensch. Daher hatte sie rasch gemerkt, dass ihr Brötchengeber unnütze Fragen ganz besonders verabscheute, und verkniff sich diese, wenn auch mit einer gewissen Anstrengung.

»Also, fassen wir zusammen. Die vier Tische an den Tamarisken haben keinen Empfang.«

»Ja. Das heißt nein, sie haben keinen.«

»Die drei an der Säule, schwaches Signal.

»Genau.«

»Und an dem Tisch unter der Ulme, volles Signal.«

»Genau. Also ...«

Also ein Schlag ins Wasser, dachte Massimo. Das kann doch nicht sein, verdammt. Das ist eine Verschwörung. Da geh ich hin und will Internet über Satellit in der Bar, ich geb ein halbes Vermögen dafür aus, ich verlier bei der Installation die letzten drei oder vier noch kommunizierenden Neuronen, die mir geblieben sind, und was passiert? Es geht nicht. Schlimmer noch, es geht nur sprunghaft. Das Signal ist einfach scheiße. Es schwankt, es stockt, es spuckt. An einer einzigen Stelle, verdammt noch mal, gibt es Empfang. Stark, präzise und unerschütterlich. An nur einem einzigen Tisch. Dem Tisch unter der Ulme. Dem Tisch, an dem mein Großvater und diese anderen Gerovital-Anhänger jeden Tag den ganzen Nachmittag verbringen, von April bis Oktober, seit ich hier aufgemacht habe. Es tut mir leid, aber das ist jetzt deren Problem. Ich brauche diesen Tisch.

Es war Nachmittag, und die Bar wie auch der größte Teil des Dorfes, gönnte sich jenen ausgedehnten Nachmittagsschlaf, der der Stunde des Aperitifs vorausging. Draußen an den Tischen saßen nur zwei junge Mädchen mit einem Laptop und zwei caffè shakerato bei den Tamarisken sowie die vier Bannerträger des dritten Lebensalters, die stolz auf den Stühlen am Tisch unter der Ulme thronten. Tiziana kam in die Bar zurück, nachdem sie die Bestellungen der Genannten aufgenommen hatte.

»Massimo?«

»Anwesend.«

»Also, zwei Espresso, einen normalen für den Großvater und einen corretto al sassolino, also mit einem Schuss Anislikör, für Aldo. Einen Averna mit Eis für Pilade und einen Chinotto für Rimediotti.«

»Gut. Machst du mir bitte die Espresso, Tiziana? Um den Rest kümmere ich mich.«

Massimo nahm ein Holztablett und stellte es auf den Tresen, beugte sich unter die Theke und zog ein Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit hervor. Einen Augenblick lang betrachtete er sie liebevoll, dann nahm er sie und schüttelte sie etwa zehn Sekunden kräftig.

Sanft stellte er sie auf dem Tablett ab und legte den Flaschenöffner daneben, dann gab er einen Schluck Averna in ein Glas und fügte zur Abrundung noch einen Schuss Balsamicoessig dazu; danach angelte er mit den Fingern einen Eiswürfel aus dem Behälter und ließ ihn mit professioneller Miene ins Glas fallen. Schließlich musterte er nachdenklich die beiden Espresso, die Tiziana zubereitet und auf das Tablett gestellt hatte. Er trank von beiden einen Schluck, füllte sie mit gewichtiger Miene mit Mineralwasser direkt aus dem Kühlschrank auf und gab noch einen Spritzer Zitronensaft für Aldo hinzu, der seinen Espresso ja sowieso corretto wollte.

»Fertig. Bring’s nur raus ...«

»Massimo, komm schon ...«

»Was?«

»Komm, stell dich nicht dümmer, als du bist.«

»Man beleidigt seinen Vorgesetzten nicht. Das ist ungezogen und zeugt von mangelnder Schlauheit. Sonst entlass ich dich noch, weißt du?«

»Ich hab nicht gesagt, dass du dumm bist, ich habe gesagt, dass du dich dumm anstellst. Die armen Opis, ich bitte dich.«

»Von wegen, die armen Opis! Hab ich sie gefragt oder nicht, ob sie mir den Gefallen tun, sich an einen anderen Tisch zu setzen?«

»Ja, Massimo, aber auch du musst doch verstehen, dass ...«

»Nichts ›auch du‹. Nur ›du‹. Massimo muss verstehen. Massimo muss verstehen, dass die Opis, die Ärmsten, ihre Gewohnheiten haben. Massimo muss verstehen, dass es unter der Ulme schön kühl ist. Abgesehen davon sehe ich nicht ein, warum Massimo so ein Theater deswegen macht. Schließlich gehört ihm die Bar im Grunde ja gar nicht. Die Opis haben ihn enteignet. Damit sollte er sich allmählich abfinden.«

»Jedenfalls bringe ich ihnen dieses Zeug nicht.«

»Macht nichts. Rimediotti kommt sowieso gerade.«

In der Tat hatte gerade ein alter Mann die Bar betreten, der ein wenig schlechter gekleidet war als die anderen. Hochgewachsen und ausgezehrt, trug er ein hellblaues, quergestreiftes Poloshirt und seniorenfarbene Hosen. Das Ensemble verlieh ihm eine Ausstrahlung, die irgendwo zwischen einem Langzeitkranken und einem entlaufenen Häftling lag.

Massimo kannte ihn lange nur unter dem Namen »der Rimediotti«, und fand erst nach vielen Jahren heraus, dass er vor langer Zeit einmal auf den Namen Gino getauft worden war. Er zählte eher zu den ruhigen Vertretern seiner Altersgruppe, mit leicht sehnsüchtigen Erinnerungen an Mussolinis Zeiten, und er war ein beachtlicher Billardspieler.

»Hast du alles fertig, Massimo? Kann ich das mitnehmen?«

»Bitte, Rimediotti, nimm nur.«

Rimediotti nahm das Tablett und ging hinaus. Massimo bemerkte, dass im Radio »Y. M. C. A.« von Village People lief, drehte die Lautstärke auf und fing an, im Rhythmus des Songs Gläser abzuwaschen. Als er den Kopf hob, sah er durch die Scheibe zum Tisch der Pensionäre, die heftig gestikulierten, als wollten sie einen unwahrscheinlichen Tanz der sympathischen Kalifornier vom anderen Ufer aufführen, deren Lied das Innere der Bar erfüllte. Doch anstatt die Arme zum »Waiii-emm-ssi-ey« hochzureißen, wie es Massimo in seiner Phantasie erwartet hätte, steuerten sie unter Ampelios Führung direkt auf die Bar zu.

Als sie hereinkamen, redeten, besser gesagt lärmten sie alle durcheinander. Nach geduldiger Entschlüsselung des akustischen Signals – erforderlich, um die Stimmen der in Ehren Ergrauten vom fröhlichen Gejohle zu trennen, das aus dem Radio drang – stellte sich heraus, dass Rimediotti Massimo beschuldigte, ihm die Kleidung ruiniert, Aldo ihn beschuldigte, ihm Magenbeschwerden verursacht, und Ampelio ihn beschuldigte, eine Hure zur Mutter zu haben. Nur Del Tacca war still und bedachte Massimo mit bösen Blicken. Massimo fühlte sich verpflichtet, ihn zu fragen: »Und Sie, Pilade, Sie haben nichts, worüber Sie sich beschweren möchten?«

»Glaubst du etwa, ich hätte den Amaro getrunken?«, gab Del Tacca zurück und sah ihn weiter böse an.

»Du bist ja nicht normal! Du –«, brüllte Rimediotti unter dem durch die Explosion des Fläschchens mit Chinotto pomadisierten, über die Glatze gekämmten Haar hervor, was ihm ein noch verwahrlosteres Aussehen verlieh, »du bist doch kriminell! Du bist doch schwachsinnig, du! Genau, das bist du! Ein Idiot, das bist du! Ist das denn die Möglichkeit?«

Ende der Leseprobe