Ein königliches Theater - Marco Malvaldi - E-Book

Ein königliches Theater E-Book

Marco Malvaldi

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Pisa, 1901: Zu Ehren von König Vittorio Emanuele III. soll Puccinis »Tosca« uraufgeführt werden. Doch die neue Oper enthält einigen politischen Sprengstoff, und ausgerechnet Ruggero Balestrieri, ein berüchtigter Anarchist, soll den Cavaradossi singen. Als dieser in der Premiere nicht nur zum Schein, sondern tatsächlich mit einem Gewehr exekutiert wird, droht eine Revolte. Ein Mord in der Gegenwart des Königs! Es gibt nur einen Mann, der Licht in das Dunkel der Ermittlungsarbeiten bringen kann: Ernesto Ragazzoni, seines Zeichens Dichter, Übersetzer und Journalist aus Rom, dessen Humor sich selbst bei der Aufklärung einer so ernsten Sache wie Mord als durchaus hilfreich erweist ...

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Lucia Stanescu

Übersetzung aus dem Italienischen von Luis Ruby

ISBN 978-3-492-97611-4

Mai 2017

© Sellerio Editore, Palermo 2015

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Getty Images und Shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Ich lebte nicht. Stumm auf den stummen Seiten

Beschrieb ich ihn, erstaunte mich zuzeiten.

Ich lebe nicht. Allein, eisig, daneben,

Sehe ich mich lächelnd selber leben.

Guido Gozzano

EIN KÖNIGLICHES THEATER

Lustspiel in drei Akten

Figuren in der Reihenfolge ihres Auftretens:

RUGGERO BALESTRIERI: Tenor und zudem militanter Anarchist. Überzeugter Vertreter der Idee, dass alle Menschen gleich sind, er ausgenommen.

BARTOLOMEO CANTALAMESSA: Impresario und Alleinverantwortlicher der renommierten Kompanie »Nomadisches Arkadien«, dessen wichtigste Aufgabe darin besteht, Streit zwischen den dort beschäftigten Sängern zu verhindern. Womit er ganz schön zu tun hat.

ALFREDO FRASSATI: Herausgeber der Tageszeitung La Stampa. Hat einen Sohn, der einst seliggesprochen werden wird.

ERNESTO RAGAZZONI: Journalist bei La Stampa, Dichter und Musik- und Kunstkenner. Liebt die Farbe Rot, ob auf Fahnen oder im Weinglas. Läuft keinerlei Gefahr, kanonisiert zu werden.

TERSILIO BENTROVATI: Intendant des Neuen Theaters in Pisa. Ein guterMann, der versucht, sein Bestes zu geben. Was wie so häufig nicht ausreicht.

GIANFILIPPO PELLEREY: Carabiniere, Leutnant beim Korps der Königlichen Wache. Von hohem Wuchs und hohen Werten.

RENATO MARIA MALPASSI: Dirigent. Brutal gegenüber den Wehrlosen, unterwürfig gegenüber den Vierschrötigen, zartfühlend zu den Tenören und hysterisch zu den Sopranen.

CLETO STRAMBINI: Aufseher und Faktotum am Neuen Theater in Pisa. Tritt nur ein einziges Mal auf und ist nicht der Mörder, machen wir also keine weiteren Worte um ihn.

ULRICO DALMASSO: Hauptmann beim Korps der Königlichen Wache. Unmittelbarer Vorgesetzter von Leutnant Pellerey und ein ganzer Kerl. Wobei man sich fragt, ganz was?

BARTOLO AMIDEI, genannt CHARON: Steinmetz aus Carrara und daher Anarchist. Hat den Auftrag, den heiligen Kaspar in Stein zu meißeln.

ARTEMIO CATTONI, genannt BARABBAS: siehe oben.

RENATO BRANDINI, genannt TAMBURIN: siehe oben, nur dass er an einer Statue des heiligen Vitalis arbeitet.

ROSILDO CASTRIOTA, genannt TARALLO: siehe oben, aber auf etwas höherem Niveau in puncto Bildung und ihm zuerkannter Autorität.

GIUSTINA TEDESCO: Sopranistin mit schöner Stimme, schönem Äußeren und schönen Aussichten. Einzige Frau der Kompanie – schließlich gibt es in Tosca ja nur eine weibliche Rolle.

PIERLUIGI CORRADINI: Waffenmeister der Kompanie. Adrettund elegant, aber auch ehemaliger Soldat und stets bereit, zur Verteidigung seiner Ehre die Waffe zu ziehen.

TESEO PARENTI: Bass und auch körperlich eher in tiefen Lagen unterwegs. Wenn er den Raum betritt, klopfen die anderen zu ihrer Verteidigung auf Holz.

ANTONIO PROIETTI: Statist, also Randfigur, wobei er durchaus eine gute Figur macht, weil groß, gut aussehend und intelligent. Wenn auch weniger, als er sich einbildet.

ROMOLO BONAZZI & REMO POMPONAZZI: Bühnentechniker. So genial wie anarchistisch, und sie sind wirklich Anarchisten. Stets zusammen, im Leben wie auf dem Theater. Zu Gesicht bekommt man sie nie, doch ohne sie wäre dieses Buch nicht denkbar. Wie bei jedem Schauspiel, das auf sich hält.

OUVERTÜRE

oder Tosca aus Sicht eines Toskaners

Nichts kann so schnell wie eine Oper in kürzester Zeit vom Bewegenden zum Lächerlichen wechseln, wenn das Schicksal es so will.

Tatsächlich ist ja schon die Oper an sich eine künstliche und nur durch ein Wunder haltbare Situation, die uns Belcanto-Fans einen geradezu maßlosen Abstraktionswillen abverlangt. Es fällt nicht leicht, gerührt zu sein, wenn ein Bariton, dem ein Messer in den Leib gerammt wurde, aus voller Kehle eine Romanze intoniert, anstatt auf offener Bühne zusammenzubrechen, wie es von einem halbwegs wohlerzogenen Menschen zu erwarten wäre, dem gerade die Niere durchbohrt wurde. Und es bedarf einer gewaltigen Konzentration auf die Musik, um nicht laut loszulachen, wenn ein siebzigjähriger Tenor in der Rolle des verliebten Jünglings die Schönheit einer Mezzosopranistin preist, die so viel Raum einnimmt wie zwei Kontrabässe.

Die Oper steht kraft ihrer eigenen Natur außerhalb der Wirklichkeit. Und der Melomane, der einzig wahre Opernliebhaber, der stets neuen Interpretationen immer gleicher – und gleich unglaublicher – Arien lauscht, sucht genau dies.

Leider vergisst die Wirklichkeit zuweilen ihre gute Kinderstube und stürmt hinaus auf die Bühne, und das mit einem Enthusiasmus, der jenem des obsessiven Opernfreunds in nichts nachsteht. Und wenn sie sich dazu entschließt, einen Sänger umzugrätschen, dann fast immer bei einer Inszenierung von Tosca.

Von den tausend und mehr Anekdoten über barocke Verwicklungen, die sich ergeben können, wenn eine Oper auf die Bühne gebracht wird, dreht sich mehr als die Hälfte um die Sopranistin, die sich in den Maler Cavaradossi verliebt. Und fast alle ereignen sich wie einem Naturgesetz folgend am Schluss der Aufführung.

Bekanntlich muss Tosca am Ende der Oper erkennen, dass ihr geliebter Maler von echten Gewehrkugeln durchsiebt wurde und nicht von Platzpatronen. Das Erschießungskommando auf den Fersen, beschließt sie, sich das Leben zu nehmen, indem sie sich von den Basteien der Engelsburg stürzt. In dieser bei Regisseuren so beliebten wie beim Rest der Kompanie gefürchteten Szene muss sich eine Sängerin aus nicht unbeträchtlicher Höhe fallen lassen. Die wenigsten Bühnenkünstler sind in körperlicher Hochform, von den Tänzern einmal abgesehen. Weshalb bei einer der ersten Aufführungen in Übersee die Techniker der New Yorker Metropolitan Opera, um der Sopranistin den Kontakt von Zahnfleisch und Bühne zu ersparen, unterhalb der Kulissen, also der Festung, einen elastischen Teppich aufspannten. Dieser Teppich war auf das Gewicht der Titular-Tosca ausgerichtet, die um die fünfzig Kilo wog, nicht jedoch auf das ihrer Stellvertreterin, die auf die hundert zuging.

Bedauerlicherweise sang am vierten Abend die Stellvertreterin.

Und stürzte sich so schwer wie glaubhaft in die Tiefe, wo sie dann auf dem Teppich auf- und abprallte, bald hinter den Bastionen aus Pappmaché auftauchend, bald wieder darunter verschwindend, während das Orchester diese olympiareife Leistung in Unkenntnis des Dramas mit wehmütigen Akkorden unterlegte.

In diesem Fall war der Dung am Dampfen, weil der Regisseur ein Übermaß an professionellem Einsatz verlangt hatte. In anderen Fällen gründet das Malheur darauf, dass es gerade hieran fehlt. So wie an der Opervon Pittsburgh, wo man mangels Statisten Schüler von der örtlichen Highschool für das Erschießungskommando einteilte. Und neben den Einschränkungen beim Personal litt die Produktion auch an zeitlicher Enge. So kam es, dass die Generalprobe nur unvollständig stattfand und die Schüler das Stück nicht bis zum Ende miterlebten. Vor der Premiere erkundigten sich die Mitglieder des bartlosen Pelotons beim Regisseur, was sie zu tun hätten, und der Regisseur antwortete: »Erst erschießt ihr den Mann, dann folgt ihr der Frau.« Und daran hielten sie sich: Nachdem Cavaradossi erschossen worden war, folgten die Grenadiere der Tosca bis hinauf auf die Basteien, wo sich die Sopranistin voller Verzweiflung in die Tiefe stürzte. Voller Verzweiflung und mit dem gesamten Erschießungskommando hinterdrein, dessen Mitglieder ins Leere sprangen wie ihren Weisungen getreue Marines.

Nicht immer freilich ereignet sich das Unerwartete auf der Bühne. Manchmal tragen auch die Zuschauer ihr Scherflein bei, so wie am Teatro di San Carlo in Neapel, wo die Rolle des Cavaradossi an einen derart ungeeigneten und beschränkten Tenor fiel, dass nach seiner Erschießung das gesamte Publikum, vom Parkett bis in die letzte Reihe, seine grauenhafte Darbietung mit einem spontanen Beifallssturm quittierte, zur Feier des Pelotons, der ihn gerade füsiliert hatte.

Das alles sind gewiss peinliche Situationen; doch wenn man objektiv sein möchte statt meloman, so kann man im Grunde mit einem herzlichen Lachen darüber hinweggehen. Ganz anders lägen die Dinge, würde am Ende der Oper tatsächlich jemand auf der Bühne erschossen.

Und genau das geschah am 1. Juni des Jahres 1901 am Neuen Theater in Pisa, vor den Augen Seiner Exzellenz Viktor Emanuel III., der damals bereits Fürst von Neapel war und noch nicht Kaiser von Äthiopien, durchaus aber König von Italien, wenn auch erst seit weniger als einem Jahr.

Erster Akt

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»Tosca?«

»Tosca.«

»Kenne ich nicht.«

Gemütlich in einem Sessel fläzend, die Füße auf einem Hocker übereinandergelegt, den massigen Leib in einer mit schrillen Arabesken verzierten Robe, unterstrich der Tenor Ruggero Balestrieri seine Aussage, indem er den Kern einer soeben verzehrten Kirsche in den Spucknapf spie, einen halben Meter vom Sessel entfernt.

»Sie kennen die letzte Oper Puccinis nicht?«, fragte der Impresario Cantalamessa.

»Ich bitte Sie, natürlich kenne ich die. Ich weiß, dass es sie gibt. Ich habe sie nur nicht öffentlich aufgeführt.«

Und daher auch nicht privat gelesen oder auch nur in Erwägung gezogen.

Eines ist misslich, wenn man erwachsen wird, dachte Bartolomeo Cantalamessa, während er den im Sessel lümmelnden Balestrieri musterte: Man verliert seine Einzigartigkeit.

In unserer Kindheit ist jede noch sobanale Handlung eine Errungenschaft, ob real oder eingebildet; wir sind von Menschen umgeben, die uns zujubeln, wenn wir die ersten Schritte tun, die in Ekstase geraten, wenn wir etwas aufessen, und die selbst für Ausscheidungen noch Begeisterung aufbringen. Dann aber wird man fatalerweisegroß, und der besagte Enthusiasmus löst sich allmählich in Luft auf. Es gibt Menschen, denen es gelingt, das hinzunehmen, das ist die Mehrheit. Und es gibt Menschen, denen das nicht gelingt, das sind die Opernsänger.

In den Augen Ruggero Balestrieris zerfiel die Welt in zwei klar abgegrenzte Teile. Auf der einen Seite der Tenor Ruggero Balestrieri, auf der anderen die übrigen Bewohner des Planeten. Beide Teile dienten einem eindeutigen Zweck: Beim Tenor Ruggero Balestrieri war das die Sangeskunst. Beim Rest der Welt war es die Anbetung des Tenors Ruggero Balestrieri.

»Wie ist die Oper? Aus wie vielen Szenen besteht sie?«

»Es handelt sich um einen Dreiakter. Etwa zwei Stunden Musik. Neun Personen und eine Struktur, die man wohl als ungewöhnlich bezeichnen darf. Zahlreiche gespielte Szenen und wenige Arien.«

»Wenige Arien?«

Also wenige Gelegenheiten für mich, auf der Bühne in Beifall zu baden?

Der Tenor Ruggero Balestrieri nahm eine kleine Frucht aus der Schale, und seine Miene kündete von grenzenloser Missbilligung.

Da ließ Cantalamessa die Bombe platzen.

»Ja, es sind schon wenige. Zwei Romanzen für den Tenor und eine für den Sopran.«

Bartolomeo Cantalamessa war nicht nur irgendwie Impresario, Bartolomeo Cantalamessa war Impresario mit Leib und Seele. Alles, was er darüber hinaus erlebt hatte, war Grund oder Folge dessen, was er für den schönsten Beruf der Welt hielt. Zu den Gründen zählten zwei Eltern, die Musik liebten, und eine Ausbildung als Pianist, zu den Folgen Geliebte, eine Menge Geld und ein Leben, in dem das Wort »Langeweile« ein abstrakter Begriff blieb.

»Und die übrigen Darsteller?«

»Die haben keine.«

Anders gesagt, liebes Dickerchen, hast du doppelt so viele Romanzen wie die Sopranistin. Und unendlich viel mehr Aufmerksamkeit als der Rest der Kompanie. Wen scheren die anderen, getragen wird die Oper von Cavaradossi. Und Cavaradossi könntest du sein.

»Der Anlass ist äußerst prestigeträchtig und erfordert Darsteller, die dem gerecht werden.«

»Na, dann will ich hoffen, dass die übrigen Sänger auf der Höhe sind. Wen hatten Sie da im Sinn?«

»Für den Sopran dachte ich an Giustina Tedesco.«

Balestrieri nickte gewichtig, um seine Zustimmung zu bekunden.

»Hervorragend. Jung, doch überaus begabt, wie ich allseits höre.«

Und außerdem wird allseits kolportiert, dass Cantalamessa sie regelmäßig flachlegt, in letzter Zeit soll er sie zu offiziellem Rang erhoben haben. Der Tenor Ruggero Balestrieri hatte sie noch nie singen hören, und soweit es ihn anging, konnte sie so hässlich sein wie eine gebratene Kröte und eine Stimme haben wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzen. Umso besser, denn dann käme er nur noch mehr zur Geltung. Ruggero Balestrieri mag eitel sein, aber er ist nicht blöd.

»Wieso eigentlich prestigeträchtig?«, fuhr der Tenor fort, der sich bereits ausmalte, wie der Beifall von allen Rängen rauschte, wie sich die kleinen Schneiderinnen vor der Garderobe drängten, und später würde er dann zum Hengst, wie es jeder Bühnenkünstler als den gerechten Lohn Seiner Mühen ersehnt.

»Weil die Oper in Anwesenheit des Königs gesungen wird.«

»Ach.«

Das konnte ein Problem werden, und Cantalamessa wusste es.

Über Balestrieri waren Cantalamessa drei Dinge mit Sicherheit bekannt. Erstens galt er als außerordentlicher Tenor mit einem beachtlichen Stimmumfang, der Fähigkeit, auch in höchsten Höhen ein Pianissimo zu intonieren, und einem filato, von dem man Gänsehaut bekam.

Zweitens war er ein Holzkopf und Querulant, stets bereit, sich über seine Kollegen zu beschweren, über die Orchestermusiker, die Chorsänger, die Honorare, die atmosphärischen Bedingungen und so gut wie alles, was nicht nach seinem Wunsch verlief; erstaunlich, dass er bei der Erwähnung Giustinas keine Einwände erhoben hatte. Na, umso besser.

Drittens war Balestrieri in Carrara geboren und aufgewachsen und als Sohn einer Steinmetzfamilie überzeugter und militanter Anarchist. Einer, der ohne Weiteres antworten mochte, solange der König im Theater sitze, bleibe er draußen.

»Das lässt Sie kalt?«

»Nein, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Mir ging durch den Sinn, dass der Anlass, wenn Seine Majestät zugegen ist, in der Tat prestigeträchtig genannt werden darf. Wie sehen Sie das?«

Mir ist schon klar, worauf du hinauswillst.

»Ganz genauso. Die vorgesehene Gage beträgt übrigenszweitausend Lire.«

Zweitausend Lire. Fast vierhundert Dollar. Für diejenigen, die das wirtschaftshistorisch nicht einzuordnen vermögen: Wir sprechen hier von einer Summe mit einer Kaufkraft von circa zwanzigtausend Euro. Gleichgültig, in welche Ware Balestrieri schon innerlich investierte – es war ihm deutlich anzusehen –, ob in dieses neumodische Teufelswerk namens Automobil oder in die althergebrachte, aber noch immer gültige Kombination Wein & Weib, der Vorschlag war offenbar zu ihm durchgedrungen.

»Das ist akzeptabel«, antwortete der Tenor Ruggero Balestrieri nach ein paar theatralischen Momenten des Schweigens, schwenkte die Beine vom Sitzkissen und erhob sich zum Zeichen, dass die Verhandlungen abgeschlossen seien und der Impresario sich nun bitte schleichen möge, ich habe hier nämlich Wichtigeres zu tun, was genau, weiß ich noch nicht, aber irgendwas werde ich schon finden.

Cantalamessa hob mit einem Lächeln das Glas Wermut.

»Schön. Also auf Tosca.«

»Tosca?«

»Tosca.«

Der Mann mit dem Bart hob den Blick über den Schreibtisch und musterte sein Gegenüber. Einen Mann, der anstelle des Backenbartes über einen Schnauzer verfügte, und auch wenn das bereits ausreichen würde, um die beiden voneinander zu unterscheiden, schadet es wohl nicht, die zwei Bärte näher zu beschreiben.

Der Schnauzer des Mannes, der hinter dem Schreibtisch saß, war dünn und kastanienbraun, akkurat getrimmt und seinem Alter zum Trotz mit der einen oder anderen weißen Strähne durchzogen, ein Gesichtsschmuck, deraufmerksam über das Antlitz seines Eigentümers wachte, stete Erinnerung daran, dass von einem Mann, der einen solchen Schnauzbart trägt, keine Überraschungen zu erwarten sind. Sooft er den Mund öffnete, unterstrich sein Schnauzer die Bedeutung und Stichhaltigkeit eines jeden Wortes und verharrte dabei fest auf seiner Position, als wollte er sagen: Hiervon wird nicht abgewichen, unter keinen Umständen.

Die Gesichtsbehaarung des Mannes, der vor dem Schreibtisch stand, war hingegen tiefschwarz, ein Zeichen der Jugendlichkeit; dem Zustand nach aber hatte sie schon weitaus mehr erlebt als ihr Widerpart, und es war unverkennbar, dass diese Haare nicht viel Seife gesehen hatten und noch weniger Wasser. Um etwaigeInfektionen brauchte man sich jedoch nicht zu sorgen: Die erhebliche Konzentration von Ethylalkohol, welcher derBart von seinem Eigentümer täglich ausgesetzt wurde, mit großzügigen Anwendungen nachmittags und vor allem abends, schützte ihn aufs Hervorragendste vor dem Risiko einer Sepsis. Kontaminiert ja, aber keimfrei.

»Sie sind unser Korrespondent für Musik, Kunst und Gesellschaftsthemen«, sagte der Schnauzbärtige in väterlichem, doch strengem Ton. »Nun, hier trifft das alles zusammen. Wir haben die Aufführung einer Oper von Maestro Puccini, die in der Heimat wie auch im Ausland so viele Lorbeeren einheimst, angesetzt in einer der bedeutendsten Kunststädte Italiens, und das in Anwesenheit Seiner Majestät des Königs. Welcher Einsatzort könnte besser zu Ihnen passen?«

»Da kämen mir Tausende in den Sinn«, antwortete Bart Nr. 2, und es klang gezwungen fröhlich, als kostete es ihn Mühe, zu einem friedlichen Einvernehmen zu gelangen. Angesichts der Tatsache, dass sich nur zwei Menschen im Zimmer befanden, ist unschwer zu erraten, mit wem.

Wenn die werte Leserschaft allerdings auch wissen möchte, warum, so wird die Aussage genügen, dass der seriöse Schnauzer hinter dem Schreibtisch fest mit dem Herausgeber der Zeitung La Stampa, Dr. Alfredo Frassati, verwachsen ist, während der ungenießbareBart seinen Zustand der Tatsache verdankt, dass er jahrelang die Fress- und vor allem die Sauforgien Ernesto Ragazzonis mitgemacht hat, eines aus Orta am gleichnamigen See stammenden Dichters, Philosophen und Schriftstellers, aber doch auch noch eines menschlichen Wesens und somit genötigt, sich gewöhnlichen Dingen wie dem Essen und Schlafen zu widmen. Was er durch seine Tätigkeit als Journalist und Angestellter der genannten Tageszeitung gewährleistet.

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Turin, anstatt in eine Provinzstadt zu reisen und der Aufführung einer Oper beizuwohnen, die schon seit über einem Jahr gespielt wird und die ich übrigens auch in unserer Stadt schon gesehen habe.«

Dr. Frassati schüttelte den Kopf.

»Was das Provinzielle betrifft, Ragazzoni, so haben Sie bereits bewiesen, dass Sie in der Lage sind, selbst noch in Novara für Gezeter zu sorgen«, antwortete er gelassen. »Das muss man erst einmal schaffen, nach einem Monat an der Spitze einer Zeitung gefeuert zu werden. Falls Ihr Gedächtnis Sie im Stich lassen sollte, darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass ich Sie aus ebendiesem Grund wieder bei unserem Blatt willkommen heißen konnte. Und um ehrlich zu sein, war ich überzeugt davon, der Fehlschlag habe Sie etwas darüber gelehrt, wie man in der Weltzurechtkommt.«

Ragazzoni, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, nickte wie ein Schuljunge und neigte dann den Kopf zur Seite.

»Ich geb’s ja zu, da habe ich einen Fehler begangen. Ich hätte die Leitungeines bekannt konservativen und bigotten Blattes wie der Gazzetta di Novara niemals annehmen sollen. Das hier ist etwas ganz anderes.«

»Bei der Zeitung, ja. Wie Sie wissen, Ragazzoni, sind Sie hier frei zu schreiben, was Sie wollen. Aber Freiheit ist eines, sich Freiheiten herausnehmen etwas anderes.«

Ragazzoni atmete tief durch und sah dann zum Fenster.

»Entschuldigen Sie, Herr Direktor, soll ich gerade für etwas bestraft werden?«

»Sagen wir’s so, Ragazzoni. Gestern Nachmittag standen im Philologischen Zirkel Dante und die toskanische Tradition der Stegreifdichtung auf dem Programm.«

»Gewiss. Verzeihen Sie, Herr Direktor, aber ich war einer der Vortragenden. Sie haben mich selbst hingeschickt.«

»Das weiß und bedauere ich. Trifft es zu, dass Sie zu Ihrem Vortrag verspätet eintrafen, in Pantoffeln und offensichtlich betrunken?«

»Das kann ich nicht leugnen.«

»Trifft es zu, dass Sie, als der Leiter des Zirkels, Professor Perrone, Sie auf Ihre ungebührliche Verspätung hinwies, geantwortet haben: ›Ich rate Ihnen, Uhren zu misstrauen, Herr Professor. Irgendwer bezahlt die, damit sie alle dasselbe behaupten‹?«

»Ja«, antwortete Ragazzoni in neutralem Ton, »aber ich verstehe nicht, weshalb Sie über diesen Spruch lachen, wenn ich ihn hier in der Zeitung vorbringe, und dann empört reagieren, wenn Sie ihn von Dritten zugetragen bekommen, insbesondere von einem Bischofsbruder.«

»Trifft es zu, dass Sie auf das Ersuchen, Ihre eigenen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Stegreifdichtung vorzuführen, zum Beispiel zum Thema ›Wissen‹, die folgenden fragwürdigen Verse von sich gaben: ›O Herr, wenn ich nur wüsste / wohin mit dem Gelüste. / Sooft ich Lippen küsste‹ ... den Rest übergehe ich mal anstandshalber?«

Ragazzoni nickte mit einem tiefen Seufzer. Tatsächlich war er auf sein kleines Spontangedicht noch immer stolz.

»Sehen Sie, ich habe das als etwas herabsetzend empfunden. Ein paar Verse zum Thema Wissen schmieden ist zu leicht, das kann doch der letzte Trottel. Da hätte ich mir von den Mitgliedern des Philologischen Zirkels schon andere Herausforderungen erwartet. Wäre ich zum Beispiel aufgefordert worden, auf das Wort ›kurz‹ zu reimen, hätte ich es schwerer gehabt. Da bieten sich ja nicht allzu viele wohlriechende Wörter an.«

Dr. Frassati musterte Ragazzoni von oben bis unten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie davon Abstand nähmen, hier solcherlei Duftnoten zu verbreiten, sagten seine Augen. Entschuldigen Sie bitte, antwortete der Blick des Reporters, worauf der Herausgeber weitersprach:

»Des Weiteren sollen Sie, nachdem Sie Ihre Verslein rezitiert ...«

»Improvisiert.«

»... nachdem Sie Ihren unpassenden und schlüpfrigen Vierzeiler improvisiert hatten, die tadelnden Worte Seiner Eminenz Erzbischof Perrone, der Sie darauf hinwies, dass sich auch Ordensschwestern im Saal befänden, wortwörtlich beantwortet haben, ich zitiere: ›Keine Sorge, Eminenz, ich bin da nicht wählerisch.‹«

»Ja, das war vielleicht nicht ganz ...«

»Das sehe ich auch so.«

Einige Augenblicke drückender Stille folgten, was in Ragazzonis Anwesenheit, wie die geneigte Leserschaft begriffen haben dürfte, sonst eher selten vorkam.

»Schauen Sie, Ragazzoni, Sie sind ein guter Journalist. Sie sind ein ausgezeichneter Journalist. Sie haben keine Angst, zu schreiben, was Sie sehen, Sie sehen hin, wo Sie hinsehen, und hören zu, wo Sie hinhören sollen.«

»Aha. Und deshalb werde ich an einen Ort geschickt, um Dinge zu hören, die ich bereits gehört habe, und Dinge zu sehen, für die man ein Opernglas brauchen dürfte. Unser König ist ja von so kleiner Statur, dass er Gefahr läuft zu wachsen, sobald er in Erregung gerät.«

Ein weiterer Moment der genannten Art trat ein. Der Stille, versteht sich. Dann sagte der Zeitungsherausgeber in einem Ton, der keine Widerrede zuließ:

»Ragazzoni, Sie finden im Sekretariat eine Zugfahrkarte nach Pisa, einfache Fahrt.«

Und wenn Sie wollen, dass ich Ihnen auch eine für die Rückfahrt zukommen lasse, fuhr der Blick des Herausgebers fort, dann machen Sie sich klar, dass Sie soeben ein hervorragendes Beispiel für das gegeben haben, was Sie sich nie wieder erlauben sollten.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise«, schloss Dr. Frassati, nahm ein Kuvert von dem Stapel mit Korrespondenz und hielt es ihm hin. »Und viel Vergnügen bei Tosca.«

»Tosca?«

»Tosca.«

Tersilio Bentrovati, Intendant des Neuen Theaters in Pisa, setzte ein breites und überzeugtes Lächeln auf, das Lächeln eines Mannes, der weiß, dass er saubere Arbeit geleistet hat und dafür Lob verdient.

Vor ihm stand martialisch, aber nicht steif, Leutnant Pellerey von der Königlichen Wache und schwieg.

»Das ist nicht alles«, fuhr Bentrovati fort, der als guter Bürokrat das Schweigen für Zustimmung nahm, »wir hatten das Glück, eine ausgezeichnete Truppe engagieren zu können, die renommierte Kompanie ›Nomadisches Arkadien‹ von Maestro Cantalamessa. Das bedeutet Namen von allererstem Rang: Maestro Malpassi als Dirigenten und den Tenor Ruggero Balestrieri in der Hauptrolle.«

Leutnant Pellerey musterte den Intendanten aus der ganzen Höhe seiner ein Meter neunzig und mit hochoffizieller Miene. Dann sagte er mit der einzigartigen Formvollendung dessen, der im Piemont geboren ist, in Turin erzogen wurde und jahrelang gedient hat:

»In dem Fall bin ich nicht sicher, für die Anwesenheit Seiner Majestät einstehen zu können.«

»Sie müssen entschuldigen, Herr Leutnant, aber ich verstehe nicht.«

»Mir will scheinen, Herr Intendant, die ausgewählte Komposition eignet sich nicht zur Aufführung in königlicher Anwesenheit.«

»Ich bitte nochmals um Entschuldigung, Herr Leutnant, aber ich kann Ihnen nicht folgen.«

Der Intendant stützte sich mit den Händen auf den Schreibtisch, die Rechte seitlich abgewinkelt.

»Als vor sechs Monaten bekannt wurde, dass Seine Majestät Viktor Emanuel III. den gesamten Sommer auf dem königlichen Gut San Rossore verbringen würde, ersuchten wir beim Ministerium um die Ehre, Seiner Majestät Ankunft in unserer Stadt durch die Aufführung einer Oper feiern zu dürfen. Wir erkundigten uns auf informellem Wege nach den musikalischen Vorlieben Seiner Majestät und erhielten zur Antwort, der Geschmack des Königs sei so weit gespannt, dass wir völlig freie Hand hätten.«

Oder, wie der Offiziersbursche dem Intendanten wörtlich hinterbracht hatte, für Seine Majestät gebe es nur zwei Arten von Musik: Königlicher Marsch und Nicht-Königlicher-Marsch. Ein Umstand, der dochsicherlich auch Leutnant Pellerey bekannt sein musste.

»Wir haben also unser Möglichstes getan, um dem König das Beste an musikalischer Unterhaltung zu bieten, wozu wir in der Lage sind. Wir können uns nicht mit der Scala messen oder mit dem Königlichen Theater in Parma, aber es ist uns doch gelungen, uns die Dienste einer der bedeutendsten Kompanien Europas zu sichern. Zurzeit wird ja allenthalben das neueste Werk des Komponisten inszeniert, der nach Maestro Verdi als erfolgreichster italienischer Musiker gelten darf. Mir erschließt sich nicht, was daran unangebracht sein sollte.«

Wenn es etwas gab, das Leutnant Pellerey nicht ertragen konnte, so waren es Leute, die sich dumm stellten.

Viktor Emanuel III. hatte vor weniger als einem Jahr den Thron bestiegen, als Nachfolger seines Vaters Umberto I., der mit nur sechsundfünfzig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte und eines nicht eben natürlichen Todes gestorben war. Dass sich die Krönung seines Sohnes um eine Kleinigkeit beschleunigt hatte, lag am beherzten Auftreten eines gewissen Gaetano Bresci, eines militanten Anarchisten, der doch tatsächlich so böse gewesen war, den guten König mit einem Pistolenschuss zu töten, als er aus einer Sporthalle in Monza kam. Dort hatte er einer Turnvorführung des Vereins »Forti e Liberi« beigewohnt – der Starken und Freien.

Was allgemein bekannt ist.

So wie allgemein bekannt ist, dass die Heldin in Tosca den Vertreter der herrschenden Ordnung umbringt, um anschließend zu erfahren, dass dieser Nichtsnutzbefohlen hat, ihren Geliebten vor ihren Augen tatsächlich zu erschießen und nicht nur – wie vereinbart – zum Schein. Es handelt sich also um eine Oper, in der Gute und Böse klar voneinander abgegrenzt sind, und die herrschende Ordnung scheint meistenteilsnicht auf der Seite der Guten zu stehen. So war es bei den wenigen bisher erfolgten Aufführungen zu intellektuellen wie auch zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen (sprich Prügeleien).