Die Einsamkeit des Barista - Marco Malvaldi - E-Book

Die Einsamkeit des Barista E-Book

Marco Malvaldi

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Beschreibung

Hauptsache reden - das ist die Maxime der vier nicht mehr ganz taufrischen Senioren, die in Massimos Bar einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Und damit nicht nur dem jungen Barista gehörig auf die Nerven fallen. Nicht einmal vor dem Kommissar ihres toskanischen Städtchens machen sie halt, wenn sie sich mal wieder über irgendetwas mächtig aufregen. Kaum haben sie das Gerücht verbreitet, ein gerade in Pineta zur Wahl stehender Lokalpolitiker habe öffentlich gelogen, stirbt eine seiner engsten Mitarbeiterinnen. Angeblich an einem Autounfall. Natürlich wissen es die mehr oder weniger rüstigen Rentner besser, oder glauben es zumindest. Wer wird am Ende Recht behalten? Die Gerüchteküche? Oder Massimos messerscharfer Verstand?

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Für Samantha und Leonardo-do:

Endlich mal ein bisschen Leben ...

Übersetzung aus dem Italienischen

von Sigrun Zühlke

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96090-8

© 2010 Marco Malvaldi

Titel der amerikanischen Originalausgabe :

»Il re dei giochi«, Sellerio editore, Palermo 2010

Deutschsprachige Ausgabe:

© 2013 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von Getty Images/photo by dasar

(Stühle)

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Als ich jung war,

waren meine Flügel stark und unermüdlich,

aber ich kannte die Berge nicht.

Als ich alt war, kannte ich die Berge,

aber meine Flügel waren schwach und konnten

mich nicht mehr emportragen –

Genialität, das ist Weisheit und Jugend.

EDGAR LEE MASTERS

Spoon River Anthology

Null

Der Billardtisch ist sehr schön.

Seine Füße sind stark, sie stehen fest auf der Erde und verleihen ihm etwas Unverrückbares, als sei er immer schon da gewesen, von Anbeginn der Zeiten an oder sogar noch früher. An den Wänden befinden sich zwei Halter mit jeweils zehn absolut gleich aussehenden Billardstöcken, was bedeutet, dass das Billard neu ist und noch kein Ersatz gekauft werden musste für kaputtgegangene oder gestohlene Stöcke. Über dem Billardtisch sind drei Hängelampen zu sehen, grün aus Tradition, auf deren Lampenschirm wie eine magische Zauberformel steht: Mari Billards.

Doch all das bemerkt man nur, wenn diese Lampen aus sind.

Werden sie hingegen eingeschaltet, ändert sich alles. Wenn jemand sie einschaltet, so hieß es, materialisiert sich plötzlich ein Rechteck aus hypnotisierendem Grün, welches das Zimmer mit einem ganz eigenen Licht erhellt. Dann scheint der Billardtisch nicht mehr schwer auf dem Boden zu lasten, sondern sich förmlich emporzuheben.

Auf dem grünen Rechteck kreisen glänzende Kugeln, die sich erhaben bewegen. Sie rollen perfekt gerade, klacken mit beruhigendem Ton aneinander und stoßen sich von den Banden ab, als gehorchten sie, losgelöst vom lärmenden und vibrierenden Rest der Welt, idealen, geometrischen und perfekten Gesetzen.

Der Billardtisch kann nur über würdige, weise Mittelsmänner mit der Außenwelt kommunizieren, Spieler genannt, die sich gemessenen Schrittes in wohl einstudierten Formationen um das Rechteck bewegen. Jene Kundigen teilen ihre Entscheidungen dem Billard über Zepter mit, die sie auf rätselhafte Weise bewegen, indem sie das eine Ende kraftvoll schwenken, während sie das andere leicht wie eine Feder führen. Kraft und Präzision aufs Engste vereint. Dem zufälligen Beobachter, der angesichts der unnatürlichen Perfektion des Spiels fasziniert stehen bleibt, kann es vorkommen, als werde er Zeuge von etwas Übernatürlichem.

So, könnte er denken, muss Platon sich die unwandelbaren Formen vorgestellt haben, von denen wir nur die Schatten an den Höhlenwänden sehen.

So könnte, vielleicht, die Welt der Ideen aussehen.

Es scheint, als hätte hier, in der Mitte des Tisches, die Realität keine Macht und müsse der Perfektion Platz machen.

Ein Jammer nur, dass einer der Weisen, den man Ampelio nennt, häufig anfängt, den Namen der Madonna lästerlich im Munde zu führen; dann bekommt die ganze Atmosphäre einen Knacks, die Realität befreit sich mit einem beherzten Tritt vors Schienbein von der Vollkommenheit, und aus der fernen Poesie Attikas gerissen, findet man sich plötzlich in Pineta wieder.

»Geh über die Ecke.«

»Nein, immer mit der Ruhe, ich seh sie doch.«

»Ich hab gesagt, geh über die Ecke.«

»Und ich sage dir, dass ich sie sehe.«

»Aber was willst du denn sehen, aber was …«

»Wenn du vielleicht mal ganz kurz still sein würdest, ich versuche, einen Stoß zu machen. Danke.«

»Ich würde über die Ecke gehen.«

»Ampelio, das letzte Mal, dass ich auf dich gehört habe, da hatten wir noch den König. Und dann war’s auch noch ein Fehler. Also lass mich stoßen.«

»Mach nur, mach nur«, brummelt Ampelio. »Aber dann richte dich nicht noch mal auf, sondern bleib so vornübergebeugt. Wenn du dich schon zum Affen machen musst, dann wenigstens schnell.«

Aldo beugt sich vor, visiert die Kugel an und lässt den Stock sanft vor und zurück gleiten. Immer noch sanft versetzt er der weißen Kugel einen Stoß, die direkt auf die gelbe Kugel zurollt. Noch viel sanfter streift die weiße Kugel, bevor sie auf die gelbe trifft, einen weißen Kegel, der ins Schwanken gerät und umfällt. Alles andere als einfühlsam teilt Ampelio Aldo mit, dass er von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. Aldo breitet die Arme aus, Rimediotti kichert schadenfroh, und Pilade notiert das Ergebnis.

»Aldo verschenkt zwei. Wir einundfünfzig, die neununddreißig. Das Spiel geht an uns. Für mich einen Averna.«

»Für mich einen corretto al sassolino«, sagt Rimediotti, während er den Stock in den Halter zurückstellt.

»Ich nehme eine Limonade. Und du, Ampelio, was willst du?«

»Einen neuen Mitspieler, das will ich.«

»Und nichts zu trinken?«

»Nein, nichts. Weißt du was? Ich hätte Lust auf ein Eis …«

Gesagt, getan. Aldo nimmt die kleine grüne Schürze ab, die er sich umgebunden hat, um seine Hosen nicht zu beschmutzen, wenn er sich gegen den Tisch lehnt, und wiederholt die Bestellungen automatisch mit leiser Stimme, wie er es in seinem Restaurant tun würde. Aber ja, dem Boccaccio! Genau dem, wo man wirklich gut isst, dem mit den unglaublich phantasievollen Vorspeisen. Sehr gut, das mit diesem riesigen Koch, der, falls man es einmal wagt, ein kritisches Wort über das Essen fallen zu lassen, und der Ton stimmt nicht ganz, innerhalb von zehn Sekunden neben einem steht und einen anglotzt, als würde er einem liebend gerne eine Portion Ohrfeigen servieren, wenn da leider nicht die anderen Gäste wären.

»Averna, corretto sassolino, ein neuer Mitspieler. Falls die Mitspieler aus sind, ein Eis. Was für ein Eis?«

»Joghurt und Schokolade. In der Waffel, nicht im Becher.«

»In der Waffel, in der Waffel.«

Aldo geht vom Billardraum durch einen kurzen Flur in den Hauptraum der Bar. Hinter dem Tresen stehen zwei Personen. Eine hübsche junge Frau mit rotem Haar, was einem jedoch erst als Zweites auffällt. Die zweite Person ist um die fünfunddreißig, hat schwarze, gelockte Haare, das Profil eines sarazenischen Piraten mit einer langen Adlernase und einen halb aufmerksamen, halb mürrischen Gesichtsausdruck. Wenn ihr die Bar kennt, dann wisst ihr ganz genau, dass die junge Frau Tiziana heißt und dass das Erste, was einem an ihr auffällt, ein paar wunderschöne Brüste sind. Des Weiteren wisst ihr, dass der Typ mit dem Piratengesicht Massimo heißt und ihm die Bar gehört und dass er aus irgendeinem seltsamen Grund fest davon überzeugt ist, der Gast wisse nicht immer von alleine, was er bestellen sollte. In diesem Augenblick ist Massimo gerade dabei, einen Behälter mit einer Wolke aus glattem, weichem und kompaktem weißem Eis, das gerade aus der Eismaschine kommt, in die Eistheke zu stellen. Der Behälter passt nicht gleich in den Zwischenraum, und Massimo, der so viele gute Eigenschaften hat, dem es jedoch an handwerklicher Geschicklichkeit mangelt, versucht, ihn an seinen Platz zu schieben, indem er ihn systematisch vor und zurück bewegt. In Wirklichkeit würde er ihn am liebsten hineinprügeln, aber er reißt sich zusammen.

Aldo fängt schon an zu sprechen, als er den Tresen noch nicht erreicht hat, gerade so, wie er es im Restaurant macht, wenn er in die Küche kommt, nachdem er die Bestellungen aufgenommen hat.

»Massimo, mach mir bitte eine Limonade, einen Averna, einen corretto al sassolino. Und ein Eis in der Waffel, Joghurt und Schokolade. Danke.«

»Limonade, Averna, corretto al sassolino«, antwortet Massimo in neutralem Ton, ohne den Blick von der Eistheke zu nehmen.

»Und ein Eis in der Waffel, Joghurt und Schokolade.«

»Da bin ich mir nicht sicher. Wie lange spielt ihr noch?«

»Keine Ahnung, ein oder zwei Partien.«

»Ein oder zwei Partien. Also kein Eis in der Waffel.«

»Komm schon, stell dich nicht so kindisch an, bitte. Wenn du rein möchtest, wir sind in einer halben Stunde fertig.«

»Es geht nicht darum, dass ich spielen möchte. Es geht darum, dass ihr spielt.«

»Na gut. Und was hat das, bitte schön, miteinander zu tun?«

»Wer hat vor einer Woche den Tisch verschmutzt, indem er einen Riesenkübel Nusseis darüber ausgekippt hat?«, fragt Massimo, während er weiterhin, allerdings immer gewaltsamer, versucht, den Eisbehälter davon zu überzeugen, an seinen Platz zu passen.

»Ah, deshalb. Ja, zugegeben, das war Ampelio. Aber jetzt …«

»Und wer hat das Tuch dann mit so viel Liebe und Geduld wieder sauber gemacht?«, insistiert Massimo, der inzwischen doch angefangen hat, auf den Eisbehälter einzuschlagen.

»Massimo?«, rät Aldo, längst unfreiwillig der Mäeutik des Barista auf den Leim gegangen.

»Genau. Bestanden. Zur Belohnung schulde ich dir eine Erklärung. Da mein Großvater immer gestikuliert wie ein Börsenhändler, auch wenn er isst, gebe ich ihm kein Eis in der Waffel, solange er sich in einem Umkreis kleiner als sechs Meter um den Billardtisch aufhält.«

»Und jetzt? Du würdest es ihm wohl auch nicht im Becher geben, oder?«

Ein Wunder. Der Eisbehälter ist an seinen Platz gerutscht, und Massimo beäugt ihn misstrauisch, als wollte er sagen, wenn du gleich gewollt hättest, hättest du’s leichter haben können. Dann blickt er Aldo an.

»Nichts. Weder Waffel noch Becher. Hinterher, wenn ihr fertig seid, gebe ich ihm sogar zwei in der Waffel.«

Aldo breitet die Arme aus. In der Zwischenzeit hat Tiziana unbemerkt den ganzen Rest der Bestellung auf ein Tablett gestellt, das sie Aldo nun über den Tresen hinweg reicht. Aldo, ganz Gentleman und Mann von Welt, lächelt sie an, sieht ihr in die Augen, bedankt sich, nimmt das Tablett und geht. Massimo ordnet in der Zwischenzeit die übrigen Behälter neu, die nicht alle perfekt parallel zueinander stehen, was ihn ärgert. Tiziana hört auf zu lächeln und sieht ihn böse an.

»Du bist schrecklich.«

»Nein, ich bin objektiv. Wenn ich meinem Großvater ein Schokoladeneis in die Hand gebe, dann sieht innerhalb von zwei Minuten der Billardtisch genauso aus wie das Eis.«

»Dann eben verlogen. Letztes Mal habe ich den Billardtisch sauber gemacht.«

»Stimmt. Willst du einen Euro mehr, oder gibst du dich mit der Auszeichnung als Angestellte des Monats zufrieden?«

»Es reicht mir, wenn du mir zwei Wochen Urlaub gibst. Im September.«

»Im September. In Ordnung. Kein Problem.«

»Vom zweiten bis zum achtzehnten.«

»Kein Problem. Du kannst es ja mit Überstunden ausgleichen. Lass mal sehen, als Erstes müsste das Auto gewaschen werden. Dann hab ich zu Hause noch einen ganzen Berg Bügelwäsche. Leichte Sachen, keine Sorge, keine Hemden; die geb ich meiner Mutter. Dann …«

»Massimo, komm …«

»Mach dir keine Sorgen. Vom zweiten bis zum achtzehnten September. Hör mal, in einer halben Stunde geh ich ein bisschen Billard spielen. Wenn du mich brauchst, ruf mich.«

»Gut. Danke.« Jetzt reicht Tizianas Lächeln von einem Ohr zum anderen.

»Keine Ursache, wär ja noch schöner. Außerdem, im September …«, er unterbricht sich, als er Ampelio kommen sieht, »… sind ja sowieso nur noch die Alten hier. Was gibt’s, Großvater?«

»Muss ich dir das wirklich sagen?«, grummelt Ampelio.

»Nein, vielleicht ist es besser, wenn ich versuche zu raten. Du willst mir was befehlen, stimmt’s?«

»Befehlen? Mein Feldwebel, der hat befohlen! Capecchi hieß er, kam aus Reggio Emilia. Der hat befohlen, und wir mussten alle machen, was er gesagt hat. Und da hat man wirklich seine Haut riskiert, da gab’s keine Widerworte. Als ich jung war, wenn da einer was befohlen hat, dann wurde das gemacht. Heute bin ich alt und schon gar nicht beim Militär, maremma cingiale, aber nicht mal an der Bar krieg ich, was ich will. Sag du mir, ob das normal ist!«

»Zu allererst, schrei nicht so herum. Ich bin nicht Oma Tilde, und ich höre, auch wenn du nicht herumbrüllst wie ein Muezzin. Zweitens, mit dem armen Feldwebel Capecchi quälst du mich schon ein Leben lang, also lassen wir ihn in Frieden ruhen. Drittens, dass ich dir kein Eis gebe, hängt einzig und allein mit meinem Wunsch zusammen, der Billardtisch möge sauber bleiben. Da ein Eis für dich und ein sauberer Billardtisch nachweislich zwei einander widersprechende Angelegenheiten sind, gebe ich dir kein Eis. In einer halben Stunde, wenn ihr fertig seid, gebe ich dir so viel Eis, wie du willst.«

»Hm! So viel ich will. Schön wär’s«, knurrt Ampelio.

»Hast recht«, stimmt Massimo zu. »Sagen wir, ich gebe dir eins.«

»Mach mir einen Kaffee, ja.«

»Trinkst du ihn hier?«, fragt Tiziana, während sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht.

»Nein, ich nehm ihn mit nach hinten zum Billard und schütte ihn da aus. Zumindest kostet der nicht so viel wie das Eis.«

Da mischt sich Pilade, der seinerseits aus dem Billardzimmer hereingekommen ist, mit seinem nur allzu vertrauten Ton lästiger Autorität ein.

»Als ob du hier bezahlen würdest, also wirklich …«

Da ist nichts zu machen: Es gibt einfach Menschen auf der Welt, denen von Natur aus unbestreitbare Talente in die Wiege gelegt werden, welche sich bereits extrem früh bemerkbar machen. In der überaus gelehrten Biografie Aberts über Mozart steht, dass dieser sein erstes Menuett bereits mit vier Jahren komponierte, als er noch kaum an die Tasten reichte. Ganz ähnlich gibt es Schwarz-Weiß-Fotografien, die Diego Armando Maradona mit acht Jahren beim Fußballspielen zeigen, auf denen er den Ball mit einer Sicherheit in der Luft hält, wie sie sogar bei einem Erwachsenen zutiefst beeindruckend wäre.

Genauso war Pilade Del Tacca wahrscheinlich schon als kleines Kind, also lange bevor er Kommunalbeamter wurde, in der Lage, sich über jedes erträgliche Maß hinaus lästig und nervtötend zu verhalten; vergleichbare Meisterschaft ist ohne natürliche Begabung einfach nicht zu erreichen. Es war nicht zu übersehen, wie der gute Pilade das Menschengeschlecht reizte und auch noch Spaß dabei hatte. Er war stets heiter, aufgeräumt und unerschütterlich. Die gute Laune eines Menschen, der sich weder Gedanken macht noch jemals welche gemacht hat; die gute Laune eines Menschen, für den das Leben wie ein langer, ruhiger Fluss ist, der Frühstück, Mittagessen, Abendessen und Nachmittage in der Bar mit sich bringt. Die gute Laune also eines Menschen, der in seinem ganzen Leben noch keinen Handschlag getan hat und auch noch stolz darauf ist.

Gegenüber diesem Menschen empfand Massimo jetzt gerade widerstreitende Gefühle; weil er ein Problem für ihn gelöst und gleichzeitig ein neues geschaffen hatte. Im Grunde, wenn auch mit Massimos Billigung, stammte die Idee mit dem Billard nämlich von ihm.

Die Räumlichkeiten, in denen sich Massimos Bar befand, waren sehr groß. Massimo hatte sie vor Jahren erstanden, als er dank einer einmaligen Fügung des Schicksals im Fußballtoto dreizehn Richtige bekam und daraufhin, kurz nach der Universität, beschlossen hatte, da seine Berufung nicht in der Mathematik lag, eine Bar aufzumachen. Oder besser: Er würde als barista, wie er sich zu nennen und von sich zu denken pflegte, arbeiten.

Ein Teil dieser Räumlichkeiten, ein fensterloses, großes, dunkles Zimmer mit nur einer einzigen Öffnung nach draußen, war beinahe ungenutzt geblieben; Massimo verwendete es zunächst als Lager für unverderbliche Waren, auch weil schon ein schöner Batzen Geld verbraucht war, nachdem er die Räume gekauft und eingerichtet hatte. Daher hatte er beschlossen, es erst einzurichten, wenn die Bar liefe.

Aber dann, nach und nach, fing die Bar an zu laufen. Und wie. Nach der Anfangszeit, als die Einwohner Pinetas hauptsächlich aus Neugier angezogen wurden, wurde die BarLume im wahrsten Sinne des Wortes »Massimos Bar«.

Vorübergehend war Massimo aufgrund seiner nur wenig ausgeprägten Neigung, den Gästen das Recht auf eigene Entscheidungen zuzugestehen, die Hauptattraktion. Da offensichtlich einer gewissen Anzahl von Personen diese außergewöhnliche Behandlung gefiel, oder weil man ordentlich damit angeben konnte, seine Freunde dorthin mitzunehmen, »wo dieser Barista arbeitet, der einen zum Teufel jagt«, war die BarLume immer ziemlich gut besucht.

Nachdem Massimo auf eine Weise, die mehr als entscheidend gewesen war, dazu beigetragen hatte, den Schuldigen an dem Verbrechen in Pineta zu finden, war das Geschäft für eine gewisse Zeit förmlich durchgestartet. Dann war der Sommer zu Ende, die Leute vergaßen, und Massimo musste aufhören, sich wie Micky Maus aufzuführen. Von ganzem Herzen hatte er sich wieder seiner Lebensaufgabe als Barista gewidmet.

Das erste zu lösende Problem war, das Hinterzimmer einzurichten. Trotz des enormen kulturellen – sowohl wissenschaftlichen als auch humanistischen – Gepäcks, das er mit sich herumtrug, verfügte Massimo über keinerlei ästhetisches Empfinden und war ernstlich davon überzeugt, dass jeder, der auch nur das geringste Interesse für Design und Architektur hegte, halb schwachsinnig sein müsse. Immerhin erkannte er, dass dies eine persönliche Schwäche war, und hatte folglich beschlossen, einen Innenarchitekten zurate zu ziehen.

Innenarchitekt Nummer eins war ein junger Mann aus Riccione, um die fünfundzwanzig, lang und dünn wie eine Bohnenstange, der in überheblichem Tonfall unentwegt damit angab, welche Persönlichkeiten aus der Welt der Mode und des Theaters er kannte; Persönlichkeiten, die Massimo sämtlich nicht bekannt waren oder bei denen er sich hütete, sie kennenzulernen. Unter den Augen der neu ins Leben gerufenen Prüfkommission (Massimo einziges offizielles Mitglied, Tiziana als Frau mit Affinität zum Thema und die vier Vieljährigen, weil, nun ja, versuch halt mal, die irgendwo wegzuschicken) war der Innenarchitekt in das Zimmer geführt und aufgefordert worden, ein erstes Urteil abzugeben.

Der Experte hatte sich mit etwas gequälter Miene umgesehen.

»Hier?«

»Hier.«

»Ah.« – Seufzer. – »Ein bisschen begrenzt vom Platz her, sozusagen. Aber das ist kein Problem, wir werden den Raum bestens nutzen. Also, woran hattet ihr gedacht? Was wolltet ihr machen? Was soll der Output dieses Zimmers sein?«

»Wie?«

»Was du vorhast. Ballsaal, zum Beispiel, Salon für Weindegustationen, Ausstellungsraum für Vernissagen …«

»Nein, nein«, hatte sich Ampelio eingemischt, »wir dachten eher an einen Zirkus. Wissen Sie, mit Elefanten und so. Das Problem ist nur: Wo bringen wir die Trapezkünstler unter?«

»Großvater, halt den Mund, bitte. Nein, ich dachte an etwas Schlichtes, ein einfaches Zimmer, wo man was trinken kann, mit einer Stereoanlage, einem Heimkino für die Spiele …«

Der Typ schien verstanden zu haben und war Massimo strahlend ins Wort gefallen.

»Ah, mehr brauchst du gar nicht zu sagen. Fabio hat alles verstanden. Hör zu, wir machen’s so: ein schöner großer runder Diwan in der Mitte des Zimmers, ja? Wie ein riesiger Turban, auf dem man sitzen kann, ich hab da einen ganz fabelhaften aus einem leeren Lkw-Reifen, und in der Mitte über die Lehne kommt ein kleines rundes Tischchen hin, auf dem man die Gläser abstellen kann. An die Wände kommt eine umlaufende Konsole in etwa der Höhe.« Er zeigte mit der Hand eine Linie von etwa eineinhalb Metern Höhe vom Boden aus gemessen. »Ein paar Hocker hier und da, so an die zehn Stück, dazu die richtige Beleuchtung, und das Zimmer hier wird ein echtes Schmuckstückchen. Was hältst du davon?«

Ich weiß ja nicht, schien Tizianas Blick zu sagen.

Schöner Mist, sagten die Mienen der Alten in Dolby Surround.

Jetzt war Massimo an der Reihe damit, gequält zu blicken.

»Vielleicht war ich nicht deutlich genug. Ich habe gesagt, dass ich einen Raum möchte, in dem man was trinken kann, keinen Harem. Ich würde gern Lautsprecherboxen aufstellen oder ein Heimkinosystem. Zum Fußballgucken oder so was in der Art.«

»Ich verstehe, ich verstehe. Etwas, wo alle zusammen Fußball gucken oder ein Bierchen trinken können, und dann noch eine schöne Stereoanlage, was? Schließlich sind wir hier in der Provinz, nicht wahr?«

Schweigen senkte sich auf das Zimmer. Dann ergriff Pilade mit gewohntem Taktgefühl das Wort.

»Hör mal, Fabio, kannst du mir mal was erklä-ren?«

»Aber dafür bin ich doch hier! Nur zu.«

»So dumm, wie du bist, wie hast du das geschafft, von Riccione hierher zu finden, ohne dich zu verfahren?«

Innenarchitekt Nummer zwei tauchte zwei Tage später auf, solariumgebräunt, in einen druckverbandengen Pulli mit seitlichen Knöpfen gezwängt und einem gewagten Paar Hosen, die so tief hingen, dass sie den Gummibandsaum der Unterhose vollkommen ungeschützt ließen, auf dem »Dolce & Gabbana« zu lesen stand. Als Erster ins Zimmer getreten, nach Massimos Aufforderung, schob er die Sonnenbrille hoch und musterte aufmerksam unter gezupften Brauen die Umgebung. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Gut, gut, gut. Was hattest du hier vor? Ich darf dich doch duzen, oder?«, fragte Architekt Nummer zwei tuntig.

»Also, ich dachte an einen ruhigen Raum, wo man was trinken kann. Vielleicht mit einer Stereoanlage oder einem großen Bildschirm, um …«

»Ja, was für eine großartige Idee! Aber sicher, sicher. Doch zuallererst brauchen wir ein bisschen Licht.«

»Licht?«, fragte Massimo.

»Ja sicher, mein Lieber … entschuldige, wie heißt du noch?«

»Massimo«, antwortete selbiger, während er bemerkte, wie die Alten den Innenarchitekten feixend ansahen und sich gegenseitig in die Rippen boxten. Auf der anderen Seite des Zimmers bemühte sich Tiziana angestrengt, einen Lachanfall zu unterdrücken.

»Was für ein schöner Name. Kraftvoll. Ich sagte, lieber Massimo, dass es hier nicht mal ein Fenster gibt. Also, wenn du ein Zimmer beleben möchtest, dann brauchst du als Erstes Licht. Meinst du nicht?«

»Sicher«, sagte Massimo, während ihm allmählich der kalte Schweiß ausbrach, weil Gino und Ampelio sich mit eingebildeten Fächern Luft zufächelten.

»Also, fangen wir an. Hier ist etwas Diskretes gefragt, damit die müden Augen sich vom grellen Licht der Mittagssonne erholen können. Etwas Indirektes, das das ganze Zimmer umarmt und die Gäste wie Flachreliefs herausragen lässt, an so etwas dachte ich. Hier …«, erklärte der Innenarchitekt und drehte sich um, während Pilade und Aldo, die hinter ihm standen, zu Stein erstarrten und die affektierten Küsschen, die sie sich auf den Handflächen zupusteten, mehr schlecht als recht in Zeigegesten umwandelten, »hier würde ich ein paar Spots anbringen, am besten traubenförmig angeordnet.«

»Eh …«, machte Massimo, während er das abscheuliche Pärchen mit einem bitterbösen Blick bedachte.

»Hier hingegen …«, fuhr der Innenarchitekt, nach Norden gewandt, fort, »wäre eine Stehlampe ideal. Und dazu eine große Kugel, von der Decke hängend. Was hattest du dir für die Mauer vorgestellt?«

»Da würde ich was weiß ich dran machen«, sagte Massimo, während er ohnmächtig Aldo und Pilade beobachtete, die, nachdem sie sich treuherzig angeblickt hatten, einen unmöglichen Tango aufs Parkett legten – unter Tizianas Augen, die vor unterdrücktem Lachen beinahe schon blau anlief.

»Wie bitte, entschuldige?«, fragte der Innenarchitekt, drehte sich um und sah Tiziana kurz vorm Platzen. »Alles in Ordnung, mein Augenstern?«

»Augenstern« war einfach zu viel. Tiziana sah den Innenarchitekten an und explodierte, konnte sich kaum halten vor Lachen, das sie nur unterbrach, um mühsam keuchend Luft zu holen.

Der arme Innenarchitekt blickte Massimo an. Dann Aldo, der seinen Blick erwiderte, resigniert die Arme ausbreitete und sagte: »Was wollen Sie, wir sind hier in der Provinz. Einfach gestrickt.«

»Eher ungehobelt, meinen Sie wohl.« Er musterte Massimo von oben bis unten. »Entschuldigt, dass ich eure Zeit verschwendet habe. Auf Wiedersehen brauche ich wohl nicht zu sagen.«

Und damit flatterte er hinaus, wie er hereingekommen war. Ihm dicht auf den Fersen folgten die Alten, zwei und zwei, untergehakt. Massimo schaute ihnen mit unterdrücktem Hass nach.

Innenarchitekt Nummer drei hielt exakt zehn Minuten durch, also die Zeit, die man braucht, um einzutreten, sich vorzustellen, das Zimmer in Augenschein zu nehmen und himbeerfarbene Wände vorzuschlagen. Danach, allein im Zimmer zurückgeblieben, hatte Massimo entmutigt die Wände betrachtet. Das hier überstieg seine Kräfte. Während er sich um sich selbst drehte und sich fragte, ob es angebracht sei, einen weiteren Innenarchitekten zurate zu ziehen oder vielleicht doch das Zimmer als Lager zu benutzen, hatte Pilade begonnen, die Wände mit langen Schritten abzumessen. Relativ lang, weil Pilade knapp einen Meter sechzig klein und ebenso breit war und eher an eine Tomate mit Hosenträgern erinnerte als an einen Mann. Die anderen Alten beobachteten ihn nickend, und Rimediotti sagte: »Ja, ja. Es würde passen. Es würde alles reinpassen.«

»Was würde reinpassen?«, fragte Massimo.

»Ein Billardtisch würde reinpassen. Einer von diesen wahren Tischen, um all’italiana zu spielen, nicht diese Drecksdinger mit den Löchern, wie die Amerikaner sie haben. Ein schönes Billard, wie ich es meine.«

Stille. Und Verblüffung. Scheiße, was für eine Idee. Wundervoll. Wun-der-voll. Ein schönes Stück, mit Stil. Und bei passender Gelegenheit eine Tischplatte darüber, und schon hast du eine Abstellfläche.

Der Rest des Zimmers bleibt leer, und das Licht muss auch dazu passen, es muss von oben kommen. Keine Stuss erzählenden Innenarchitekten mehr. Und der Billardtisch immer hier, zu meiner freien Verfügung. Eine kleine Partie, wenn die Bar leer ist, das kann mir keiner verwehren.

»Sehr gut, Pilade. Ein Billard. Großartige Idee.«

Eins

»Wir kommen gleich noch einmal auf dieses schreckliche Verbrechen zurück. Aber nun ein anderes Thema. Für das in Kabul stationierte italienische Kontingent ist heute ein besonderer Tag. Um zu sehen, warum, schalten wir für einen Augenblick nach Afghanistan.«

»Da würd ich dich zu gern auch hinschicken, nach Afghanistan«, sagte Ampelio zum Fernsehmoderator. »Und zwar in Frauenkleidern, so würde ich dich da hinschicken.«

In der BarLume läuft der Fernseher nicht ständig, um die Leere zu füllen, auch wenn niemand hinsieht: Der große 40-Zoll-Bildschirm, der normalerweise als Mittler zwischen Dummheit und Welt fungiert, wird nur eingeschaltet, wenn etwas übertragen wird, das es wert ist, angesehen zu werden, und das auch nur, wenn diese Sendung gleichzeitig Massimos Billigung und die des Achtzigerrates erhält (auf das Alter bezogen, nicht auf die Anzahl der Mitglieder). Folglich wird der Fernseher in der BarLume kaum einmal eingeschal-tet.

Die seltenen Gelegenheiten, bei denen das geschieht, lassen sich fast immer zwei großen Kategorien zuordnen: Sport und Wahlen. »Sport« umfasst ausschließlich Fußball und Radrennen. Alle anderen Sportarten werden ausnahmslos durch das betagte Quartett Weitsichtiger als »schwul« abgestempelt, mit Ausnahme von Rugby. Jenes Spiel nämlich wird als »englisch« eingeordnet, womit man in dieser Gegend etwas bezeichnet, wozu sich menschliche Wesen nicht herablassen sollten.

Allerdings hat auch der Radsport einen Großteil seiner Faszination eingebüßt; ein wenig wegen der ständigen Dopinggeschichten, die Champions, Mitläufer und Versager gleichermaßen betreffen, vor allem aber, weil Pantani nicht mehr dabei ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Ampelio sich weigert, die großen, klassischen Mehrtagesrennen anzusehen, seit der letzte Held, der so groß war, dass er Ampelios Phantasie das Wasser reichen konnte, von der Bildfläche verschwunden ist. Und Radrennen gucken macht ohne Ampelio nun einmal nur halb so viel Spaß.

»Schalten wir nun nach Turin, wo ein dornenreicher Erbschaftsstreit weiterhin die Familie Agnelli spaltet. Hier unser Bericht.«

»Immer noch sind die sich seit Jahren hinziehenden Erbstreitigkeiten der Agnellis nicht abgeschlossen.Zu Beginn des Sommers hatte ein Schlichter die beiden Konfliktparteien zusammengerufen, um zu klären: Hat eine der beiden überhaupt das Recht …«

»Ob eine der beiden überhaupt das Recht hat, verflixt noch mal«, sagte Aldo und übertönte mit Leichtigkeit den Ton des Fernsehers mit seinem schönen Bariton. »Ein indirekter Fragesatz.«

»Ja, die Grammatik …«, gesellte sich ihm Rimediotti bei. »Ist einfach nicht mehr modern. Wirkt altbacken. Heute redet man lieber wie der letzte Dreck, nur um jung zu wirken.«

»Ich weiß, aber das sind Journalisten. Man sollte doch meinen, die wären zur Schule gegangen. Wenigstens die Grundschule sollten die doch abgeschlossen haben.«

»Ach, zu meiner Zeit, in der Grundschule«, mischte sich Ampelio ein, »da haben die einem noch Lesen und Schreiben beigebracht. Heute lernst du erst mal Computer und Englisch. Da kannst du noch nicht mal richtig Italienisch, und die bringen dir schon Englisch bei. Ich bitte dich …«

Was hingegen das Thema Wahlen angeht, wird alles diskutiert: Verwaltungsgremien, Politik, Europa – jedes Mal, wenn »das Volk« aufgerufen wird, zu entscheiden, von wem es sich ausrauben lässt, ist die gesamte offizielle Belegschaft der Bar zur Stelle.

Die Pensionäre verfolgen die Wechselfälle der politischen Schlachten, gleichmäßig aufgeteilt auf eine Partei pro Kopf, wie es sich für Italiener gehört, mit der Leidenschaft derjenigen, die schon vor dem Aufkommen der sogenannten Bipolarität angefangen haben, die Politik zu verfolgen.

Ende der Leseprobe