Die Einsamkeit des Barista / Schlechte Karten für den Barista - Marco Malvaldi - E-Book

Die Einsamkeit des Barista / Schlechte Karten für den Barista E-Book

Marco Malvaldi

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Doppeltes Lesevergnügen für alle Fans von Marco Malvaldi: In »Die Einsamkeit des Barista« fällt den vier Alten ein ungeklärter Todesfall vor die senilen Füße – angeblich ein tragischer Autounfall. Doch nicht nur dieser lässt sie skeptisch werden. In »Schlechte Karten für den Barista« sorgt ein zweiter Tod für reichlich Spekulationen unter den Senioren aus der BarLume …

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www.piper.de

© dieser Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung und -abbildung Bundle:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Die Einsamkeit des Barista

Für Samantha und Leonardo-do:

Endlich mal ein bisschen Leben ...

Aus dem Italienischen von Sigrun Zühlke

Für die Zitate aus dem Buch Prediger wurde die Luther-Übersetzung 1984 herangezogen (www.bibel.de); das abweichende Zitat auf Seite 172 stammt aus der Luther-Übersetzung von 1912.

Die Passagen aus Lukrez: Über die Natur der Dinge folgen der Übersetzung von Karl Ludwig von Knebel, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1960.

© 2010 Marco Malvaldi

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Il re dei giochi«, Sellerio editore, Palermo 2010

Deutschsprachige Ausgabe: © 2013 Piper Verlag GmbH, München

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Getty Images/photo by dasar (Stühle)

Schlechte Karten für den Barista

Für Piergiorgio, Virgilio, Mimmo, Rino, Daniele und für jene Art von Freundschaft,

die wie von selbst entsteht, indem man einander als seinesgleichen erkennt.

Aus dem Italienischen von Luis Ruby

© 2012 Sellerio Editore, Palermo

Titel der italienischen Originalausgabe: »La carta più alta«, Sellerio Editore, Palermo, 2012

Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2014

2014 Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Als ich jung war,

waren meine Flügel stark und unermüdlich,

aber ich kannte die Berge nicht.

Als ich alt war, kannte ich die Berge,

aber meine Flügel waren schwach und konnten

mich nicht mehr emportragen –

Genialität, das ist Weisheit und Jugend.

EDGAR LEE MASTERS

Spoon River Anthology

Null

Der Billardtisch ist sehr schön.

Seine Füße sind stark, sie stehen fest auf der Erde und verleihen ihm etwas Unverrückbares, als sei er immer schon da gewesen, von Anbeginn der Zeiten an oder sogar noch früher. An den Wänden befinden sich zwei Halter mit jeweils zehn absolut gleich aussehenden Billardstöcken, was bedeutet, dass das Billard neu ist und noch kein Ersatz gekauft werden musste für kaputtgegangene oder gestohlene Stöcke. Über dem Billardtisch sind drei Hängelampen zu sehen, grün aus Tradition, auf deren Lampenschirm wie eine magische Zauberformel steht: Mari Billards.

Doch all das bemerkt man nur, wenn diese Lampen aus sind.

Werden sie hingegen eingeschaltet, ändert sich alles. Wenn jemand sie einschaltet, so hieß es, materialisiert sich plötzlich ein Rechteck aus hypnotisierendem Grün, welches das Zimmer mit einem ganz eigenen Licht erhellt. Dann scheint der Billardtisch nicht mehr schwer auf dem Boden zu lasten, sondern sich förmlich emporzuheben.

Auf dem grünen Rechteck kreisen glänzende Kugeln, die sich erhaben bewegen. Sie rollen perfekt gerade, klacken mit beruhigendem Ton aneinander und stoßen sich von den Banden ab, als gehorchten sie, losgelöst vom lärmenden und vibrierenden Rest der Welt, idealen, geometrischen und perfekten Gesetzen.

Der Billardtisch kann nur über würdige, weise Mittelsmänner mit der Außenwelt kommunizieren, Spieler genannt, die sich gemessenen Schrittes in wohl einstudierten Formationen um das Rechteck bewegen. Jene Kundigen teilen ihre Entscheidungen dem Billard über Zepter mit, die sie auf rätselhafte Weise bewegen, indem sie das eine Ende kraftvoll schwenken, während sie das andere leicht wie eine Feder führen. Kraft und Präzision aufs Engste vereint. Dem zufälligen Beobachter, der angesichts der unnatürlichen Perfektion des Spiels fasziniert stehen bleibt, kann es vorkommen, als werde er Zeuge von etwas Übernatürlichem.

So, könnte er denken, muss Platon sich die unwandelbaren Formen vorgestellt haben, von denen wir nur die Schatten an den Höhlenwänden sehen.

So könnte, vielleicht, die Welt der Ideen aussehen.

Es scheint, als hätte hier, in der Mitte des Tisches, die Realität keine Macht und müsse der Perfektion Platz machen.

Ein Jammer nur, dass einer der Weisen, den man Ampelio nennt, häufig anfängt, den Namen der Madonna lästerlich im Munde zu führen; dann bekommt die ganze Atmosphäre einen Knacks, die Realität befreit sich mit einem beherzten Tritt vors Schienbein von der Vollkommenheit, und aus der fernen Poesie Attikas gerissen, findet man sich plötzlich in Pineta wieder.

»Geh über die Ecke.«

»Nein, immer mit der Ruhe, ich seh sie doch.«

»Ich hab gesagt, geh über die Ecke.«

»Und ich sage dir, dass ich sie sehe.«

»Aber was willst du denn sehen, aber was …«

»Wenn du vielleicht mal ganz kurz still sein würdest, ich versuche, einen Stoß zu machen. Danke.«

»Ich würde über die Ecke gehen.«

»Ampelio, das letzte Mal, dass ich auf dich gehört habe, da hatten wir noch den König. Und dann war’s auch noch ein Fehler. Also lass mich stoßen.«

»Mach nur, mach nur«, brummelt Ampelio. »Aber dann richte dich nicht noch mal auf, sondern bleib so vornübergebeugt. Wenn du dich schon zum Affen machen musst, dann wenigstens schnell.«

Aldo beugt sich vor, visiert die Kugel an und lässt den Stock sanft vor und zurück gleiten. Immer noch sanft versetzt er der weißen Kugel einen Stoß, die direkt auf die gelbe Kugel zurollt. Noch viel sanfter streift die weiße Kugel, bevor sie auf die gelbe trifft, einen weißen Kegel, der ins Schwanken gerät und umfällt. Alles andere als einfühlsam teilt Ampelio Aldo mit, dass er von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. Aldo breitet die Arme aus, Rimediotti kichert schadenfroh, und Pilade notiert das Ergebnis.

»Aldo verschenkt zwei. Wir einundfünfzig, die neununddreißig. Das Spiel geht an uns. Für mich einen Averna.«

»Für mich einen corretto al sassolino«, sagt Rimediotti, während er den Stock in den Halter zurückstellt.

»Ich nehme eine Limonade. Und du, Ampelio, was willst du?«

»Einen neuen Mitspieler, das will ich.«

»Und nichts zu trinken?«

»Nein, nichts. Weißt du was? Ich hätte Lust auf ein Eis …«

Gesagt, getan. Aldo nimmt die kleine grüne Schürze ab, die er sich umgebunden hat, um seine Hosen nicht zu beschmutzen, wenn er sich gegen den Tisch lehnt, und wiederholt die Bestellungen automatisch mit leiser Stimme, wie er es in seinem Restaurant tun würde. Aber ja, dem Boccaccio! Genau dem, wo man wirklich gut isst, dem mit den unglaublich phantasievollen Vorspeisen. Sehr gut, das mit diesem riesigen Koch, der, falls man es einmal wagt, ein kritisches Wort über das Essen fallen zu lassen, und der Ton stimmt nicht ganz, innerhalb von zehn Sekunden neben einem steht und einen anglotzt, als würde er einem liebend gerne eine Portion Ohrfeigen servieren, wenn da leider nicht die anderen Gäste wären.

»Averna, corretto sassolino, ein neuer Mitspieler. Falls die Mitspieler aus sind, ein Eis. Was für ein Eis?«

»Joghurt und Schokolade. In der Waffel, nicht im Becher.«

»In der Waffel, in der Waffel.«

Aldo geht vom Billardraum durch einen kurzen Flur in den Hauptraum der Bar. Hinter dem Tresen stehen zwei Personen. Eine hübsche junge Frau mit rotem Haar, was einem jedoch erst als Zweites auffällt. Die zweite Person ist um die fünfunddreißig, hat schwarze, gelockte Haare, das Profil eines sarazenischen Piraten mit einer langen Adlernase und einen halb aufmerksamen, halb mürrischen Gesichtsausdruck. Wenn ihr die Bar kennt, dann wisst ihr ganz genau, dass die junge Frau Tiziana heißt und dass das Erste, was einem an ihr auffällt, ein paar wunderschöne Brüste sind. Des Weiteren wisst ihr, dass der Typ mit dem Piratengesicht Massimo heißt und ihm die Bar gehört und dass er aus irgendeinem seltsamen Grund fest davon überzeugt ist, der Gast wisse nicht immer von alleine, was er bestellen sollte. In diesem Augenblick ist Massimo gerade dabei, einen Behälter mit einer Wolke aus glattem, weichem und kompaktem weißem Eis, das gerade aus der Eismaschine kommt, in die Eistheke zu stellen. Der Behälter passt nicht gleich in den Zwischenraum, und Massimo, der so viele gute Eigenschaften hat, dem es jedoch an handwerklicher Geschicklichkeit mangelt, versucht, ihn an seinen Platz zu schieben, indem er ihn systematisch vor und zurück bewegt. In Wirklichkeit würde er ihn am liebsten hineinprügeln, aber er reißt sich zusammen.

Aldo fängt schon an zu sprechen, als er den Tresen noch nicht erreicht hat, gerade so, wie er es im Restaurant macht, wenn er in die Küche kommt, nachdem er die Bestellungen aufgenommen hat.

»Massimo, mach mir bitte eine Limonade, einen Averna, einen corretto al sassolino. Und ein Eis in der Waffel, Joghurt und Schokolade. Danke.«

»Limonade, Averna, corretto al sassolino«, antwortet Massimo in neutralem Ton, ohne den Blick von der Eistheke zu nehmen.

»Und ein Eis in der Waffel, Joghurt und Schokolade.«

»Da bin ich mir nicht sicher. Wie lange spielt ihr noch?«

»Keine Ahnung, ein oder zwei Partien.«

»Ein oder zwei Partien. Also kein Eis in der Waffel.«

»Komm schon, stell dich nicht so kindisch an, bitte. Wenn du rein möchtest, wir sind in einer halben Stunde fertig.«

»Es geht nicht darum, dass ich spielen möchte. Es geht darum, dass ihr spielt.«

»Na gut. Und was hat das, bitte schön, miteinander zu tun?«

»Wer hat vor einer Woche den Tisch verschmutzt, indem er einen Riesenkübel Nusseis darüber ausgekippt hat?«, fragt Massimo, während er weiterhin, allerdings immer gewaltsamer, versucht, den Eisbehälter davon zu überzeugen, an seinen Platz zu passen.

»Ah, deshalb. Ja, zugegeben, das war Ampelio. Aber jetzt …«

»Und wer hat das Tuch dann mit so viel Liebe und Geduld wieder sauber gemacht?«, insistiert Massimo, der inzwischen doch angefangen hat, auf den Eisbehälter einzuschlagen.

»Massimo?«, rät Aldo, längst unfreiwillig der Mäeutik des Barista auf den Leim gegangen.

»Genau. Bestanden. Zur Belohnung schulde ich dir eine Erklärung. Da mein Großvater immer gestikuliert wie ein Börsenhändler, auch wenn er isst, gebe ich ihm kein Eis in der Waffel, solange er sich in einem Umkreis kleiner als sechs Meter um den Billardtisch aufhält.«

»Und jetzt? Du würdest es ihm wohl auch nicht im Becher geben, oder?«

Ein Wunder. Der Eisbehälter ist an seinen Platz gerutscht, und Massimo beäugt ihn misstrauisch, als wollte er sagen, wenn du gleich gewollt hättest, hättest du’s leichter haben können. Dann blickt er Aldo an.

»Nichts. Weder Waffel noch Becher. Hinterher, wenn ihr fertig seid, gebe ich ihm sogar zwei in der Waffel.«

Aldo breitet die Arme aus. In der Zwischenzeit hat Tiziana unbemerkt den ganzen Rest der Bestellung auf ein Tablett gestellt, das sie Aldo nun über den Tresen hinweg reicht. Aldo, ganz Gentleman und Mann von Welt, lächelt sie an, sieht ihr in die Augen, bedankt sich, nimmt das Tablett und geht. Massimo ordnet in der Zwischenzeit die übrigen Behälter neu, die nicht alle perfekt parallel zueinander stehen, was ihn ärgert. Tiziana hört auf zu lächeln und sieht ihn böse an.

»Du bist schrecklich.«

»Nein, ich bin objektiv. Wenn ich meinem Großvater ein Schokoladeneis in die Hand gebe, dann sieht innerhalb von zwei Minuten der Billardtisch genauso aus wie das Eis.«

»Dann eben verlogen. Letztes Mal habe ich den Billardtisch sauber gemacht.«

»Stimmt. Willst du einen Euro mehr, oder gibst du dich mit der Auszeichnung als Angestellte des Monats zufrieden?«

»Es reicht mir, wenn du mir zwei Wochen Urlaub gibst. Im September.«

»Im September. In Ordnung. Kein Problem.«

»Vom zweiten bis zum achtzehnten.«

»Kein Problem. Du kannst es ja mit Überstunden ausgleichen. Lass mal sehen, als Erstes müsste das Auto gewaschen werden. Dann hab ich zu Hause noch einen ganzen Berg Bügelwäsche. Leichte Sachen, keine Sorge, keine Hemden; die geb ich meiner Mutter. Dann …«

»Massimo, komm …«

»Mach dir keine Sorgen. Vom zweiten bis zum achtzehnten September. Hör mal, in einer halben Stunde geh ich ein bisschen Billard spielen. Wenn du mich brauchst, ruf mich.«

»Gut. Danke.« Jetzt reicht Tizianas Lächeln von einem Ohr zum anderen.

»Keine Ursache, wär ja noch schöner. Außerdem, im September …«, er unterbricht sich, als er Ampelio kommen sieht, »… sind ja sowieso nur noch die Alten hier. Was gibt’s, Großvater?«

»Muss ich dir das wirklich sagen?«, grummelt Ampelio.

»Nein, vielleicht ist es besser, wenn ich versuche zu raten. Du willst mir was befehlen, stimmt’s?«

»Befehlen? Mein Feldwebel, der hat befohlen! Capecchi hieß er, kam aus Reggio Emilia. Der hat befohlen, und wir mussten alle machen, was er gesagt hat. Und da hat man wirklich seine Haut riskiert, da gab’s keine Widerworte. Als ich jung war, wenn da einer was befohlen hat, dann wurde das gemacht. Heute bin ich alt und schon gar nicht beim Militär, maremma cingiale, aber nicht mal an der Bar krieg ich, was ich will. Sag du mir, ob das normal ist!«

»Zu allererst, schrei nicht so herum. Ich bin nicht Oma Tilde, und ich höre, auch wenn du nicht herumbrüllst wie ein Muezzin. Zweitens, mit dem armen Feldwebel Capecchi quälst du mich schon ein Leben lang, also lassen wir ihn in Frieden ruhen. Drittens, dass ich dir kein Eis gebe, hängt einzig und allein mit meinem Wunsch zusammen, der Billardtisch möge sauber bleiben. Da ein Eis für dich und ein sauberer Billardtisch nachweislich zwei einander widersprechende Angelegenheiten sind, gebe ich dir kein Eis. In einer halben Stunde, wenn ihr fertig seid, gebe ich dir so viel Eis, wie du willst.«

»Hm! So viel ich will. Schön wär’s«, knurrt Ampelio.

»Hast recht«, stimmt Massimo zu. »Sagen wir, ich gebe dir eins.«

»Mach mir einen Kaffee, ja.«

»Trinkst du ihn hier?«, fragt Tiziana, während sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht.

»Nein, ich nehm ihn mit nach hinten zum Billard und schütte ihn da aus. Zumindest kostet der nicht so viel wie das Eis.«

Da mischt sich Pilade, der seinerseits aus dem Billardzimmer hereingekommen ist, mit seinem nur allzu vertrauten Ton lästiger Autorität ein.

»Als ob du hier bezahlen würdest, also wirklich …«

Da ist nichts zu machen: Es gibt einfach Menschen auf der Welt, denen von Natur aus unbestreitbare Talente in die Wiege gelegt werden, welche sich bereits extrem früh bemerkbar machen. In der überaus gelehrten Biografie Aberts über Mozart steht, dass dieser sein erstes Menuett bereits mit vier Jahren komponierte, als er noch kaum an die Tasten reichte. Ganz ähnlich gibt es Schwarz-Weiß-Fotografien, die Diego Armando Maradona mit acht Jahren beim Fußballspielen zeigen, auf denen er den Ball mit einer Sicherheit in der Luft hält, wie sie sogar bei einem Erwachsenen zutiefst beeindruckend wäre.

Genauso war Pilade Del Tacca wahrscheinlich schon als kleines Kind, also lange bevor er Kommunalbeamter wurde, in der Lage, sich über jedes erträgliche Maß hinaus lästig und nervtötend zu verhalten; vergleichbare Meisterschaft ist ohne natürliche Begabung einfach nicht zu erreichen. Es war nicht zu übersehen, wie der gute Pilade das Menschengeschlecht reizte und auch noch Spaß dabei hatte. Er war stets heiter, aufgeräumt und unerschütterlich. Die gute Laune eines Menschen, der sich weder Gedanken macht noch jemals welche gemacht hat; die gute Laune eines Menschen, für den das Leben wie ein langer, ruhiger Fluss ist, der Frühstück, Mittagessen, Abendessen und Nachmittage in der Bar mit sich bringt. Die gute Laune also eines Menschen, der in seinem ganzen Leben noch keinen Handschlag getan hat und auch noch stolz darauf ist.

Gegenüber diesem Menschen empfand Massimo jetzt gerade widerstreitende Gefühle; weil er ein Problem für ihn gelöst und gleichzeitig ein neues geschaffen hatte. Im Grunde, wenn auch mit Massimos Billigung, stammte die Idee mit dem Billard nämlich von ihm.

Die Räumlichkeiten, in denen sich Massimos Bar befand, waren sehr groß. Massimo hatte sie vor Jahren erstanden, als er dank einer einmaligen Fügung des Schicksals im Fußballtoto dreizehn Richtige bekam und daraufhin, kurz nach der Universität, beschlossen hatte, da seine Berufung nicht in der Mathematik lag, eine Bar aufzumachen. Oder besser: Er würde als barista, wie er sich zu nennen und von sich zu denken pflegte, arbeiten.

Ein Teil dieser Räumlichkeiten, ein fensterloses, großes, dunkles Zimmer mit nur einer einzigen Öffnung nach draußen, war beinahe ungenutzt geblieben; Massimo verwendete es zunächst als Lager für unverderbliche Waren, auch weil schon ein schöner Batzen Geld verbraucht war, nachdem er die Räume gekauft und eingerichtet hatte. Daher hatte er beschlossen, es erst einzurichten, wenn die Bar liefe.

Aber dann, nach und nach, fing die Bar an zu laufen. Und wie. Nach der Anfangszeit, als die Einwohner Pinetas hauptsächlich aus Neugier angezogen wurden, wurde die BarLume im wahrsten Sinne des Wortes »Massimos Bar«.

Vorübergehend war Massimo aufgrund seiner nur wenig ausgeprägten Neigung, den Gästen das Recht auf eigene Entscheidungen zuzugestehen, die Hauptattraktion. Da offensichtlich einer gewissen Anzahl von Personen diese außergewöhnliche Behandlung gefiel, oder weil man ordentlich damit angeben konnte, seine Freunde dorthin mitzunehmen, »wo dieser Barista arbeitet, der einen zum Teufel jagt«, war die BarLume immer ziemlich gut besucht.

Nachdem Massimo auf eine Weise, die mehr als entscheidend gewesen war, dazu beigetragen hatte, den Schuldigen an dem Verbrechen in Pineta zu finden, war das Geschäft für eine gewisse Zeit förmlich durchgestartet. Dann war der Sommer zu Ende, die Leute vergaßen, und Massimo musste aufhören, sich wie Micky Maus aufzuführen. Von ganzem Herzen hatte er sich wieder seiner Lebensaufgabe als Barista gewidmet.

Das erste zu lösende Problem war, das Hinterzimmer einzurichten. Trotz des enormen kulturellen – sowohl wissenschaftlichen als auch humanistischen – Gepäcks, das er mit sich herumtrug, verfügte Massimo über keinerlei ästhetisches Empfinden und war ernstlich davon überzeugt, dass jeder, der auch nur das geringste Interesse für Design und Architektur hegte, halb schwachsinnig sein müsse. Immerhin erkannte er, dass dies eine persönliche Schwäche war, und hatte folglich beschlossen, einen Innenarchitekten zurate zu ziehen.

Innenarchitekt Nummer eins war ein junger Mann aus Riccione, um die fünfundzwanzig, lang und dünn wie eine Bohnenstange, der in überheblichem Tonfall unentwegt damit angab, welche Persönlichkeiten aus der Welt der Mode und des Theaters er kannte; Persönlichkeiten, die Massimo sämtlich nicht bekannt waren oder bei denen er sich hütete, sie kennenzulernen. Unter den Augen der neu ins Leben gerufenen Prüfkommission (Massimo einziges offizielles Mitglied, Tiziana als Frau mit Affinität zum Thema und die vier Vieljährigen, weil, nun ja, versuch halt mal, die irgendwo wegzuschicken) war der Innenarchitekt in das Zimmer geführt und aufgefordert worden, ein erstes Urteil abzugeben.

Der Experte hatte sich mit etwas gequälter Miene umgesehen.

»Hier?«

»Hier.«

»Ah.« – Seufzer. – »Ein bisschen begrenzt vom Platz her, sozusagen. Aber das ist kein Problem, wir werden den Raum bestens nutzen. Also, woran hattet ihr gedacht? Was wolltet ihr machen? Was soll der Output dieses Zimmers sein?«

»Wie?«

»Was du vorhast. Ballsaal, zum Beispiel, Salon für Weindegustationen, Ausstellungsraum für Vernissagen …«

»Nein, nein«, hatte sich Ampelio eingemischt, »wir dachten eher an einen Zirkus. Wissen Sie, mit Elefanten und so. Das Problem ist nur: Wo bringen wir die Trapezkünstler unter?«

»Großvater, halt den Mund, bitte. Nein, ich dachte an etwas Schlichtes, ein einfaches Zimmer, wo man was trinken kann, mit einer Stereoanlage, einem Heimkino für die Spiele …«

Der Typ schien verstanden zu haben und war Massimo strahlend ins Wort gefallen.

»Ah, mehr brauchst du gar nicht zu sagen. Fabio hat alles verstanden. Hör zu, wir machen’s so: ein schöner großer runder Diwan in der Mitte des Zimmers, ja? Wie ein riesiger Turban, auf dem man sitzen kann, ich hab da einen ganz fabelhaften aus einem leeren Lkw-Reifen, und in der Mitte über die Lehne kommt ein kleines rundes Tischchen hin, auf dem man die Gläser abstellen kann. An die Wände kommt eine umlaufende Konsole in etwa der Höhe.« Er zeigte mit der Hand eine Linie von etwa eineinhalb Metern Höhe vom Boden aus gemessen. »Ein paar Hocker hier und da, so an die zehn Stück, dazu die richtige Beleuchtung, und das Zimmer hier wird ein echtes Schmuckstückchen. Was hältst du davon?«

Ich weiß ja nicht, schien Tizianas Blick zu sagen.

Schöner Mist, sagten die Mienen der Alten in Dolby Surround.

Jetzt war Massimo an der Reihe damit, gequält zu blicken.

»Vielleicht war ich nicht deutlich genug. Ich habe gesagt, dass ich einen Raum möchte, in dem man was trinken kann, keinen Harem. Ich würde gern Lautsprecherboxen aufstellen oder ein Heimkinosystem. Zum Fußballgucken oder so was in der Art.«

»Ich verstehe, ich verstehe. Etwas, wo alle zusammen Fußball gucken oder ein Bierchen trinken können, und dann noch eine schöne Stereoanlage, was? Schließlich sind wir hier in der Provinz, nicht wahr?«

Schweigen senkte sich auf das Zimmer. Dann ergriff Pilade mit gewohntem Taktgefühl das Wort.

»Hör mal, Fabio, kannst du mir mal was erklä-ren?«

»Aber dafür bin ich doch hier! Nur zu.«

»So dumm, wie du bist, wie hast du das geschafft, von Riccione hierher zu finden, ohne dich zu verfahren?«

Innenarchitekt Nummer zwei tauchte zwei Tage später auf, solariumgebräunt, in einen druckverbandengen Pulli mit seitlichen Knöpfen gezwängt und einem gewagten Paar Hosen, die so tief hingen, dass sie den Gummibandsaum der Unterhose vollkommen ungeschützt ließen, auf dem »Dolce & Gabbana« zu lesen stand. Als Erster ins Zimmer getreten, nach Massimos Aufforderung, schob er die Sonnenbrille hoch und musterte aufmerksam unter gezupften Brauen die Umgebung. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Gut, gut, gut. Was hattest du hier vor? Ich darf dich doch duzen, oder?«, fragte Architekt Nummer zwei tuntig.

»Also, ich dachte an einen ruhigen Raum, wo man was trinken kann. Vielleicht mit einer Stereoanlage oder einem großen Bildschirm, um …«

»Ja, was für eine großartige Idee! Aber sicher, sicher. Doch zuallererst brauchen wir ein bisschen Licht.«

»Licht?«, fragte Massimo.

»Ja sicher, mein Lieber … entschuldige, wie heißt du noch?«

»Massimo«, antwortete selbiger, während er bemerkte, wie die Alten den Innenarchitekten feixend ansahen und sich gegenseitig in die Rippen boxten. Auf der anderen Seite des Zimmers bemühte sich Tiziana angestrengt, einen Lachanfall zu unterdrücken.

»Was für ein schöner Name. Kraftvoll. Ich sagte, lieber Massimo, dass es hier nicht mal ein Fenster gibt. Also, wenn du ein Zimmer beleben möchtest, dann brauchst du als Erstes Licht. Meinst du nicht?«

»Sicher«, sagte Massimo, während ihm allmählich der kalte Schweiß ausbrach, weil Gino und Ampelio sich mit eingebildeten Fächern Luft zufächelten.

»Also, fangen wir an. Hier ist etwas Diskretes gefragt, damit die müden Augen sich vom grellen Licht der Mittagssonne erholen können. Etwas Indirektes, das das ganze Zimmer umarmt und die Gäste wie Flachreliefs herausragen lässt, an so etwas dachte ich. Hier …«, erklärte der Innenarchitekt und drehte sich um, während Pilade und Aldo, die hinter ihm standen, zu Stein erstarrten und die affektierten Küsschen, die sie sich auf den Handflächen zupusteten, mehr schlecht als recht in Zeigegesten umwandelten, »hier würde ich ein paar Spots anbringen, am besten traubenförmig angeordnet.«

»Eh …«, machte Massimo, während er das abscheuliche Pärchen mit einem bitterbösen Blick bedachte.

»Hier hingegen …«, fuhr der Innenarchitekt, nach Norden gewandt, fort, »wäre eine Stehlampe ideal. Und dazu eine große Kugel, von der Decke hängend. Was hattest du dir für die Mauer vorgestellt?«

»Da würde ich was weiß ich dran machen«, sagte Massimo, während er ohnmächtig Aldo und Pilade beobachtete, die, nachdem sie sich treuherzig angeblickt hatten, einen unmöglichen Tango aufs Parkett legten – unter Tizianas Augen, die vor unterdrücktem Lachen beinahe schon blau anlief.

»Wie bitte, entschuldige?«, fragte der Innenarchitekt, drehte sich um und sah Tiziana kurz vorm Platzen. »Alles in Ordnung, mein Augenstern?«

»Augenstern« war einfach zu viel. Tiziana sah den Innenarchitekten an und explodierte, konnte sich kaum halten vor Lachen, das sie nur unterbrach, um mühsam keuchend Luft zu holen.

Der arme Innenarchitekt blickte Massimo an. Dann Aldo, der seinen Blick erwiderte, resigniert die Arme ausbreitete und sagte: »Was wollen Sie, wir sind hier in der Provinz. Einfach gestrickt.«

»Eher ungehobelt, meinen Sie wohl.« Er musterte Massimo von oben bis unten. »Entschuldigt, dass ich eure Zeit verschwendet habe. Auf Wiedersehen brauche ich wohl nicht zu sagen.«

Und damit flatterte er hinaus, wie er hereingekommen war. Ihm dicht auf den Fersen folgten die Alten, zwei und zwei, untergehakt. Massimo schaute ihnen mit unterdrücktem Hass nach.

Innenarchitekt Nummer drei hielt exakt zehn Minuten durch, also die Zeit, die man braucht, um einzutreten, sich vorzustellen, das Zimmer in Augenschein zu nehmen und himbeerfarbene Wände vorzuschlagen. Danach, allein im Zimmer zurückgeblieben, hatte Massimo entmutigt die Wände betrachtet. Das hier überstieg seine Kräfte. Während er sich um sich selbst drehte und sich fragte, ob es angebracht sei, einen weiteren Innenarchitekten zurate zu ziehen oder vielleicht doch das Zimmer als Lager zu benutzen, hatte Pilade begonnen, die Wände mit langen Schritten abzumessen. Relativ lang, weil Pilade knapp einen Meter sechzig klein und ebenso breit war und eher an eine Tomate mit Hosenträgern erinnerte als an einen Mann. Die anderen Alten beobachteten ihn nickend, und Rimediotti sagte: »Ja, ja. Es würde passen. Es würde alles reinpassen.«

»Was würde reinpassen?«, fragte Massimo.

»Ein Billardtisch würde reinpassen. Einer von diesen wahren Tischen, um all’italiana zu spielen, nicht diese Drecksdinger mit den Löchern, wie die Amerikaner sie haben. Ein schönes Billard, wie ich es meine.«

Stille. Und Verblüffung. Scheiße, was für eine Idee. Wundervoll. Wun-der-voll. Ein schönes Stück, mit Stil. Und bei passender Gelegenheit eine Tischplatte darüber, und schon hast du eine Abstellfläche.

Der Rest des Zimmers bleibt leer, und das Licht muss auch dazu passen, es muss von oben kommen. Keine Stuss erzählenden Innenarchitekten mehr. Und der Billardtisch immer hier, zu meiner freien Verfügung. Eine kleine Partie, wenn die Bar leer ist, das kann mir keiner verwehren.

»Sehr gut, Pilade. Ein Billard. Großartige Idee.«

Eins

»Wir kommen gleich noch einmal auf dieses schreckliche Verbrechen zurück. Aber nun ein anderes Thema. Für das in Kabul stationierte italienische Kontingent ist heute ein besonderer Tag. Um zu sehen, warum, schalten wir für einen Augenblick nach Afghanistan.«

»Da würd ich dich zu gern auch hinschicken, nach Afghanistan«, sagte Ampelio zum Fernsehmoderator. »Und zwar in Frauenkleidern, so würde ich dich da hinschicken.«

In der BarLume läuft der Fernseher nicht ständig, um die Leere zu füllen, auch wenn niemand hinsieht: Der große 40-Zoll-Bildschirm, der normalerweise als Mittler zwischen Dummheit und Welt fungiert, wird nur eingeschaltet, wenn etwas übertragen wird, das es wert ist, angesehen zu werden, und das auch nur, wenn diese Sendung gleichzeitig Massimos Billigung und die des Achtzigerrates erhält (auf das Alter bezogen, nicht auf die Anzahl der Mitglieder). Folglich wird der Fernseher in der BarLume kaum einmal eingeschal-tet.

Die seltenen Gelegenheiten, bei denen das geschieht, lassen sich fast immer zwei großen Kategorien zuordnen: Sport und Wahlen. »Sport« umfasst ausschließlich Fußball und Radrennen. Alle anderen Sportarten werden ausnahmslos durch das betagte Quartett Weitsichtiger als »schwul« abgestempelt, mit Ausnahme von Rugby. Jenes Spiel nämlich wird als »englisch« eingeordnet, womit man in dieser Gegend etwas bezeichnet, wozu sich menschliche Wesen nicht herablassen sollten.

Allerdings hat auch der Radsport einen Großteil seiner Faszination eingebüßt; ein wenig wegen der ständigen Dopinggeschichten, die Champions, Mitläufer und Versager gleichermaßen betreffen, vor allem aber, weil Pantani nicht mehr dabei ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Ampelio sich weigert, die großen, klassischen Mehrtagesrennen anzusehen, seit der letzte Held, der so groß war, dass er Ampelios Phantasie das Wasser reichen konnte, von der Bildfläche verschwunden ist. Und Radrennen gucken macht ohne Ampelio nun einmal nur halb so viel Spaß.

»Schalten wir nun nach Turin, wo ein dornenreicher Erbschaftsstreit weiterhin die Familie Agnelli spaltet. Hier unser Bericht.«

»Immer noch sind die sich seit Jahren hinziehenden Erbstreitigkeiten der Agnellis nicht abgeschlossen.Zu Beginn des Sommers hatte ein Schlichter die beiden Konfliktparteien zusammengerufen, um zu klären: Hat eine der beiden überhaupt das Recht …«

»Ob eine der beiden überhaupt das Recht hat, verflixt noch mal«, sagte Aldo und übertönte mit Leichtigkeit den Ton des Fernsehers mit seinem schönen Bariton. »Ein indirekter Fragesatz.«

»Ja, die Grammatik …«, gesellte sich ihm Rimediotti bei. »Ist einfach nicht mehr modern. Wirkt altbacken. Heute redet man lieber wie der letzte Dreck, nur um jung zu wirken.«

»Ich weiß, aber das sind Journalisten. Man sollte doch meinen, die wären zur Schule gegangen. Wenigstens die Grundschule sollten die doch abgeschlossen haben.«

»Ach, zu meiner Zeit, in der Grundschule«, mischte sich Ampelio ein, »da haben die einem noch Lesen und Schreiben beigebracht. Heute lernst du erst mal Computer und Englisch. Da kannst du noch nicht mal richtig Italienisch, und die bringen dir schon Englisch bei. Ich bitte dich …«

Was hingegen das Thema Wahlen angeht, wird alles diskutiert: Verwaltungsgremien, Politik, Europa – jedes Mal, wenn »das Volk« aufgerufen wird, zu entscheiden, von wem es sich ausrauben lässt, ist die gesamte offizielle Belegschaft der Bar zur Stelle.

Die Pensionäre verfolgen die Wechselfälle der politischen Schlachten, gleichmäßig aufgeteilt auf eine Partei pro Kopf, wie es sich für Italiener gehört, mit der Leidenschaft derjenigen, die schon vor dem Aufkommen der sogenannten Bipolarität angefangen haben, die Politik zu verfolgen.

Auf der Rechten sind da Rimediotti, von Natur aus misstrauisch und konservativ, der immer schon für die Partei mit der Fackel gestimmt hat, auch damals, als er bereits anfing, dem Glatzkopf und seinen brillanten Ideen zu misstrauen, und Aldo, Liberaler und Freidenker von Geburt, der jede Form von Totalitarismus hasst sowie Steuern und Leute, die überzeugt davon sind, per se im Recht zu sein, und der nichtsdestotrotz Berlusconi wählt; auf der Linken stehen Del Tacca, der es ohne Probleme hinbekommt, im Inneren seines voluminösen Körpers (dessen Umfang etwa das Doppelte eines normalgewichtigen Wählers beträgt) gleichzeitig Katholizismus und Kommunismus zu leben, und Ampelio, der als alter, desillusionierter Sozialist links wählt, auch wenn er dabei stets jeden verflucht, den er wählen muss, und ihn dennoch wählt, denn wen interessiert schon sein Geschwätz von gestern.

Heute jedoch ist alles anders.

»Während des heutigen Angelus hat Seine Heiligkeit der Papst daran erinnert, dass die Wissenschaft die Grenzen der christlichen Ethik nicht überschreiten dürfe und es keinen Zweifel daran geben könne, dass das menschliche Leben mit der Empfängnis beginnt.«

»Na, guck mal einer an, und ich hab eben noch gedacht, fehlt nur noch, dass sie jetzt auch noch den Papst aus dem Hut ziehen«, sagte Ampelio, auf seinen Stock gestützt. »Lachhaft. ›Keinen Zweifel‹, sagt er. Und wenn ich aber doch welche hab, Zweifel?«

»Ach«, schaltete sich Massimo ein, »das ist doch ganz einfach. Da der Papst unfehlbar ist, bedeutet es, dass es dich nicht gibt.«

In zwei Wochen wird in Pineta gewählt, eine außerordentliche Wahl, um einen Nachfolger für den Abgeordneten Francesco Fioramonti ins Parlament zu wählen, den Senator, der beim letzten Wahlgang für die Liste der Mitte-Links-Fraktion regulär den Wahlkreis Pineta gewonnen hatte und sich kürzlich einem besseren Leben zuwandte. Genauer gesagt: Nachdem ihm klar geworden war, dass die Schulden, die sein Fuhrunternehmen angehäuft hatte, so hoch waren, dass an einen Sanierungsversuch nicht mehr zu denken war, hatte sich besagter Fioramonti nach Santo Domingo abgesetzt. Bevor er sich absetzte, hatte er noch rechtzeitig die Kasse des Unternehmens um die liquiden Mittel erleichtert: zu wenig, um die Gläubiger zu entschädigen, das stimmte, aber immer noch mehr als genug für ein beschauliches Rentnerleben im Schatten der Palmen.

Deshalb musste ein neuer Senator gewählt werden.Nun war das Problem, welches Lager man wählen sollte. In dieser Gegend hatte bis vor einigen Jahren stets der Kandidat der moderaten Linken gewonnen, mit Ergebnissen, wie sie früher nur in Bulgarien möglich waren, unabhängig davon, um welches Amt es ging. Doch seit einiger Zeit änderten sich die Dinge. Nicht etwa, dass die Einwohner Pinetas scharenweise konservativ geworden wären, nein, Politik interessierte sie nur schlicht und einfach nicht mehr die Bohne. Die vorherrschende Meinung war, dass sowieso jeder, der nach Rom geschickt wird, tendenziell ein Schurke ist, und falls er es im Augenblick der Wahl noch nicht sein sollte, es beizeiten würde, sobald er bemerkt, wie weich und komfortabel die Sessel dort sind und wie ärgerlich und unbequem das wirkliche Leben.

Daher drehte sich in der derzeitigen Runde der Wahlkampf mehr um moralische Fragen als um die politische Zugehörigkeit. Die Erinnerung an die unglaublich schlechte Figur, die Fioramontis Partei gemacht hatte, war in der Tat noch viel zu frisch, als dass die Wähler sie ignorieren konnten, die ja in der Tat jedwede Schweinerei vergessen können, wenn man ihnen nur genug Zeit dazu lässt. In Anbetracht der Folgen des Fioramonti-Skandals und beim Versuch, diese einzudämmen (seitens der Linken) oder Kapital daraus zu schlagen (seitens der Rechten), hatten alle bedeutenden Parteien Kandidaten zur Wahl gestellt, die eine saubere Weste und einen Ruf von etwa vergleichbarer Rechtschaffenheit aufzuweisen hatten.

Die gemäßigte Linke hatte ihr Schicksal in die Hände von Stefano Carpanesi gelegt, einem stolzen Spross der Parteischule, der miterlebt hatte, wie die Farbe der eigenen politischen Ideen mit dem Verstreichen der Jahre und dem konstanten Verbleichen der Sonne der Zukunft, die die Linke in ihrem Banner trug, nach und nach verwässerte. Nach Aussage seiner Freunde war er ein Idealist: ein Mensch, der sich seine Jugendträume bewahrt hatte, auch wenn die Realität dagegen arbeitete. Nach Aussage seiner Feinde war er ein Idiot. Ein dermaßener Idiot, dass er nicht in der Lage war, sich seinen Lebensunterhalt auf anständige Weise zu verdienen, und daher zwangsläufig in die Politik gehen musste. Wie auch immer, Carpanesi war frei von Vorstrafen und niemals Gegenstand irgendwelcher Ermittlungen gewesen oder verklagt worden; anständig folglich nicht nur, weil er nie irgendetwas Unanständiges begangen hatte, sondern auch, weil ihn nicht einmal der Hauch eines Verdachtes gestreift hatte.

Die gemäßigte Rechte hingegen setzte auf Pietro Di Chiara, den bekannten und geschätzten Pädiatrieprofessor, der sich bereits vor Jahren den Ruf erworben hatte, unbestechlich zu sein, als er eine Berufung auf eine C2-Professur ausgeschlagen hatte, die etwas skandalöser als gewöhnlich war. Er hatte die Missstände deutlich und mit konkreten Beweisen angeprangert, auch wenn klar war, dass er selbst nichts davon hatte, außer seiner vom Groll angefressenen Seele etwas Erleichterung zu verschaffen. Das Zeugnis der Ehrenhaftigkeit wurde ihm folglich aufgrund seiner Geißelung der Unehrenhaften verliehen: eine seltsame und nicht immer unfehlbare Methode, die aber in Italien gewöhnlich gut funktionierte.

Das sogenannte christliche Zentrum schickte den Notar Stefano Aloisi ins Rennen. Eine farblose Erscheinung aus vergangenen Zeiten, Loden im Winter und gestreiftes Hemd im Sommer, kompetent, unerhört schweigsam und (nach Aussage aller) unbestechlich, tadellos und jedem Kompromiss abhold. Wie gesagt – eine Erscheinung aus vergangenen Zeiten.

Daher wartete heute das gesamte Personal der Bar gespannt auf den Bericht aus Pineta, der die starken Kandidaten der Nation präsentieren würde. Wie in überregionalen Sendungen üblich, wurde der Nachrichtenteil nicht mit Politik eröffnet; erst kam der Krieg, es folgten die Gesellschafts- und Verbrechensmeldungen und schließlich der Papst. Danach – die Politik. Diese Gewichtung wurde natürlich vom Senat kommentiert, allerdings in Worten, die hier leider nicht vollständig wiedergegeben werden können: Es würde an Verunglimpfung grenzen. Doch nach diesem Beitrag erschien endlich die Uhr des Imperiale im Bild, die seit Jahren schon zum Symbol dieses Küstenstreifens geworden war. Gleichzeitig erklang die Stimme des Journalisten, und der Bericht begann.

»Eine Woche vor Öffnung der Wahllokale steht die Lage im infolge der Affäre Fioramonti verwaisten Wahlkreis 86 mehr denn je auf der Kippe. Den letzten Umfragen zufolge liegt der Mitte-Links-Kandidat Stefano Carpanesi im Augenblick klar vorne.«

Über den Bildschirm flimmerten Bilder von Carpanesi, der zwischen einem Mann und einer jungen Frau, bei denen er sich untergehakt hat, durch die Ruinen eines im Schlamm versunkenen Dorfes spaziert und mit ihnen spricht: ein Typ um die vierzig mit zurückweichendem Haaransatz, einem pfeffer-und-salz-farbenen Schnurrbart und einer riesigen Sonnenbrille, die bereits seit mehr als ein paar Jahren aus der Mode ist.

»Doch ebenfalls den letzten Umfragen zufolge steigt der Kurs des Mitte-Rechts-Kandidaten sichtlich, gestützt auch durch die jüngsten Äußerungen von Professorin Angelica Carrus, Carpanesis Ehefrau und Kollegin von Professor Di Chiara.«

Das Bild wechselte und zeigte nun einen langen Tisch, an dem nebeneinander hinter den jeweiligen Mikrofonen Pietro Di Chiara – ein hünenhafter Kerl mit jovialer Ausstrahlung, beinahe vollkommen kahl, der aussah, als widme er sich in seiner Freizeit hauptsächlich der Erprobung eines neuen und überaus wirksamen Düngers für Augenbrauen – und Angelica Carrus sitzen, Chefärztin für Neurologie in derselben Einrichtung, in der auch Di Chiara arbeitet: eine winzige Frau von gedrungener Statur mit tiefschwarzen Augen, strahlend weißen Zähnen und raubtierhaftem Gesichtsausdruck.

»Frau Doktor Carrus hatte jüngst in Bezug auf das unübersehbar hohe berufliche Ansehen Di Chiaras erklärt, dass es eher im Interesse der Küstenregion liegen müsse, einen exzellenten Kinderarzt zu halten, als einen mittelmäßigen Senator zu bekommen. Diese wertschätzende Äußerung könnte indirekt eine positive Auswirkung auf Di Chiaras Quoten gehabt haben, der in den Umfragen gegenüber seinem Hauptgegner Boden gutmachen kann. Der dritte Kandidat, Notar Stefano Aloisi, scheint den Anschluss nun endgültig nicht mehr halten zu können. Die aktuellsten Umfragen schreiben ihm nur noch knapp zehn Prozent der Wählerstimmen zu. In weniger als einer Woche werden wir wissen, welcher der beiden Kandidaten Fioramonti im Palazzo Madama ersetzen wird. In der Zwischenzeit zurück ins Studio.«

»Danke an unseren Korrespondenten. Und jetzt zu unserer Rubrik Önogastronomie …«

»Ja, ja«, sagte Aldo, während er mit Autorität den Fernseher ausschaltete, »das fehlt mir gerade noch, die Rubrik Önogastronomie.«

»Da ist sowieso nichts zu machen«, bemerkte Pilade und eröffnete damit offiziell die Debatte, »in der Familie, da reimt sich Grips auf Grütze.«

»Aber wirklich«, echote Rimediotti. »Allein würde der Carpanesi doch nicht mal das Wasser im Meer finden. Angeblich soll ja auch diese Geschichte, sich überhaupt zur Wahl zu stellen, auf ihrem Mist gewachsen sein. Ohne sie säße der doch immer noch auf der Gemeinde und würde Aktentaschen tragen.«

»Ist denn der arme Mann wirklich so dumm?«, wagte sich Tiziana vor, während sie die Fernbedienung weglegte, weil Aldo – ein Mann mit vielen guten Eigenschaften, aber etwas zerstreut – sie ansonsten wahrscheinlich in die Tasche gesteckt und dann einfach zu Hause verloren hätte.

»Wirklich dumm würde ich nicht sagen«, antwortete Aldo. »Nur einfach gestrickt. Einer von denen, die die Welt in Gute und Böse aufteilen. Die auf seiner Seite sind die Guten, haben recht und sagen immer die Wahrheit. Die anderen sind die Bösen, lügen schon, wenn sie nur den Mund aufmachen, und verfolgen nur ihre eigenen Interessen. Wenn er über siebzig wäre, wäre das normal. Aber wo er doch erst fünfzig ist …«

Während Aldo die Vorzüge (wie man so sagt) und Schwächen des Kandidaten erläuterte, griff sich Rimediotti mit seiner gekrümmten Hand die Fernbedienung und machte den Fernseher wieder an, um die regionalen Nachrichten einzuschalten, die er mit großer Aufmerksamkeit verfolgte, seit die Tochter seines Metzgers hier die Gesellschafts- und Verbrechensnachrichten der Küstenregion verkündete. Und tatsächlich, der Fernseher ging an, und es erschien Valeria Fedeli im Bild, blondes Haar zu einem lockeren Zopf zusammengenommen, blauer Rock und das Mikrofon in der Hand, wie sie vor etwas stand, das bis vor Kurzem wahrscheinlich ein Auto war, jetzt jedoch nur noch ein erschreckendes Fraktal aus Glasscherben und Metall.

»Das ist die Tochter vom Fedeli«, unterstrich Rimediotti und hob damit das hervor, was er für den wesentlichen Teil der Sendung hielt (»Jemand, den ich kenne, arbeitet beim Fernsehen.«).

»Das dahinter ist die Kurve bei Procelli«, antwortete Del Tacca und brachte einen substanzielleren Aspekt zur Sprache (»Jemand, den ich kenne, könnte sich verletzt haben, wenn man bedenkt, dass der Unfall nur einen Kilometer von hier passiert ist und es noch keine Urlaubssaison ist.«). In der Zwischenzeit fasste die Journalistin die Tatsachen für die nach Unglücksfällen gierenden Zuschauer zusammen:

»Der Wagen war in südlicher Richtung unterwegs, nach Livorno, als die Fahrerin ohne erkennbaren Grund die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und mit einer der zahlreichen Platanen am Rand der Allee zusammenstieß. Der Aufprall scheint nicht besonders heftig gewesen zu sein, aber leider hatte keiner der Insassen – soweit wir bisher wissen, Mutter und Sohn – den Sicherheitsgurt angelegt. Marina Corucci wurde bewusstlos aus dem Autowrack gezogen, ihr Zustand scheint bedenklich, aber nicht kritisch zu sein. Für den jungen Giacomo Fabbricotti kam leider jede Hilfe zu spät.«

»Marina Corucci?«, fragte Ampelio. »Das wird doch nicht die aus Pieve sein?«

»Wen meinst du, die Schwester vom Priester?«

»Ja, Marina, natürlich. Die Witwe vom Fabbricotti«, hieb Del Tacca in dieselbe Kerbe und befolgte damit eines der unzähligen Gesetze eines Bargesprächs: Um seinem Gegenüber zu verstehen zu geben, dass man selbst genau weiß, von welcher Person die Rede ist, muss jeder der Anwesenden eine eindeutige Information über die fragliche Person beisteuern. Dies dient einerseits der zweifelsfreien Klärung der Identität desjenigen, über den getratscht werden soll, andererseits erwirbt man dadurch, dass man nachweisen kann, ihn direkt zu kennen, auch das Recht, an der unmittelbar bevorstehenden Lästerrunde teilzunehmen.

»Tja, die Welt ist klein«, steuerte Rimediotti bei. »Eben redet man noch über den Carpanesi, und schon kommt man auf Marina Corucci.«

»Warum?«, fragte Tiziana. »Was hat die denn mit dem Carpanesi zu tun?«

»Ach, die sind doch schon seit Jahren befreundet«, erklärte Aldo. »Parteigenossen und Kameraden in tausend Schlachten. Immer in der ersten Reihe bei den Demonstrationen, immer Händchenhalten beim Ringelreihen. Im Augenblick ist sie übrigens seine Pressesprecherin.«

»Pressesprecherin?«

»Sag ich doch«, nickte Ampelio. »So ein Hohlkopf braucht halt irgendwen, der ihm die Zeitung vorliest. Außerdem bezahlen wir die beiden ja eh.«

»Also, ich kenne diese Frau nicht. Ich weiß nicht mal, wie die aussehen soll.«

»Klar, dass du die noch nie gesehen hast. Stell dir das nur mal vor, Marina Corucci in der Bar«, kicherte Ampelio. »Das wär ja wie Bin Laden in der Messe.«

»Und die da …«, setzte Rimediotti erneut an, wurde jedoch von Del Tacca zum Schweigen gebracht.

»Erinnerst du dich noch an den Bericht vor dieser Sendung, wo sie den Carpanesi gezeigt haben, wie er eine untergehakt hatte und in dem Dorf zwischen den Ruinen rumlief?«

»Das Dorf, das wäre Vagli di Sotto«, hielt Aldo es für nötig zu bemerken, der im Übrigen der Einzige war, der auch über einen gewissen Sinn für Kunst verfügte.

»In diesem Dorf da zwischen den Ruinen«, fuhr Del Tacca unbeirrt fort. »Dieses Weibsbild, das war Marina, die Corucci. Massimo, du fährst nicht zufällig nach Pisa?«

Pilades Frage war berechtigt. Massimo, der sich gerade darüber klar wurde, dass alle in der Bar wie gewohnt mit dem nachmittäglichen Miteinanderplaudern begonnen hatten, hatte Maßnahmen ergriffen, um den ganzen abgeschmackten Themen zu entkommen. Bis um vier Uhr nachmittags war um diese Jahreszeit sowieso nichts los. Also hatte er zu Jacke und Autoschlüssel gegriffen und war hinter dem Tresen hervorgekommen.

»Nein«, antwortete Massimo trocken und vermied es so, um den Gefallen gebeten zu werden, der vermutlich hinter Pilades Frage stand. Irgendetwas wie: »Wo du sowieso nach Pisa fährst, könntest du da nicht vielleicht gleich meine Telefonrechnung bezahlen, ich geb’s dir dann später zurück?«

»Und wohin fährst du dann?«, fragte Ampelio.

»An einen der mannigfachen Orte auf der Erdoberfläche, die nicht Pisa sind.«

»Ich mein nur, weil, wenn du zufällig durch San Piero kommen würdest, könntest du …«

»Ich formuliere um: Ich fahre hin, wohin es mir passt. Ich werde sorgsam darauf achten, alle Orte zu vermeiden, an denen du eine kleine Gefälligkeit bräuchtest, ebenso wie alle Straßen, die dorthin führen. Was die Bestellungen angeht, so wird Tiziana euch alles geben, was ihr wollt, darunter auch das Eis für Großvater. Schönen Tag noch.«

Im Auto auf dem Weg zur Autobahn und endlich allein mit sich und seinen Gedanken, fing Massimo an, sich Luft zu machen. Wie üblich im Selbstgespräch: »Wo fährst du denn hin? Du kommst nicht zufällig da und da vorbei? Kommst du bald zurück? Einfach unglaublich. Jetzt hab ich die schon sechsundzwanzig Stunden am Tag auf der Pelle. Und da nerven die noch damit, wo ich hin will. Aber was soll ich mir vormachen: Ich bin sowieso schon verheiratet mit den Alten. Im Fernsehen gibt’s nur die Sachen, die sie sehen wollen. Wenn geredet wird, reden nur sie. Wenn jemand in die Bar kommt, der ihnen nicht passt, dann schicken sie ihn innerhalb von zwei Sekunden wieder hinaus. Und vom Poppen keine Rede. Genau wie in einer Ehe. Zum Teufel mit mir, der Bar, dem Billard und dem Hund meiner Mutter.«

Als er die Bar aufgemacht hatte, nach der Scheidung, hatte Massimo sich eine etwas andere Entwicklung erhofft. Er hatte sich Tage friedlichen Alleinseins vorgestellt, nur gelegentlich unterbrochen von einem schnellen Espresso, und unterhaltsame Abende im Kreise seiner Freunde, die die Bar füllten, einen Aperitif tranken und sich fröhlich unterhielten. Und er, Massimo, mittendrin, der organisierte und auf seine Art aufmerksam dirigierte, bevor er nach Hause ging, um sich in einem schönen Buch und dem Schlaf der Gerechten zu verlieren, oder vielleicht um eine skandinavische Touristin zu befingern, die er ganz besonders reizvoll gefunden hatte und die, nach einem schnellen und unzweideutigen Blickwechsel, auf ihn gewartet hatte, bis die Bar zumachte.

Stattdessen.

Stattdessen hatten sich die Dinge nach einer langen Phase des Überschwangs anders entwickelt. Die Freunde hatten geheiratet oder waren verheiratet geblieben, sie hatten Kinder und ließen sich nicht mehr in der Bar blicken. Zur Stunde des Aperitifs war die Bar hauptsächlich mit gebräunten Nichtstuern gefüllt, an die Massimo das Wort nur richten würde, um ihnen eine Verurteilung zu Zwangsarbeit mitzuteilen. Und die wenigen Finnen oder Dänen, die hereinkamen, beschränkten sich normalerweise darauf, einen Wodka zu bestellen und in der Gruppe hämisch zu lachen. Und Massimo, der sich nach der Scheidung damit getröstet hatte, nun frei zu sein und tun zu können, was er wollte, ging nach Hause und war frei, allein ins Bett zu gehen oder gar auf dem Sofa einzuschlafen. Auf demselben Sofa, auf dem er auch den Mittwoch, den Ruhetag der Bar, verbrachte, um Playstation zu spielen. Kurz und gut, Massimo begann zu begreifen, dass allein zu sein unter dem Strich ein Reinfall ist und dass die Wüste das schlimmste Gefängnis sein kann.

Massimo bog auf die große Allee ein und fing automatisch an, die Schilder, Plakate und Graffiti, die er sah, mit lauter Stimme vorzulesen, wie er es oft tat: »Ristorante Emilio. Gemeinde San Pietro. 12. Jahrhundert. Das Einzige hier in der Gegend, was im Schnitt noch älter ist als meine Bar. Vereinigung christlicher Arbeitnehmer. Wie, ist offen. Laura HDGDL für immer. Ja, ja. Wir reden später noch mal drüber. Jesus liebt dich. Na gut. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Der muss davon überzeugt sein, dass ich Masochist bin.«

Und dann war da natürlich noch die Bar. Die BarLume. Massimos Bar. Theoretisch. Seit er das Billard aufgestellt hatte, ging seine ungewollte Sammlung aus alten Opis praktisch nur noch zum Essen und zum Mittagsschlaf nach Hause; die einzige Ausnahme bildete Aldo, der Einzige, der noch arbeitete, alles in allem jedoch mehr Zeit in der BarLume verbrachte als in seinem eigenen Restaurant. Etwas Gutes gab es aber. Da die Alten den Billardtisch fest in Beschlag genommen hatten, war jetzt wenigstens der große Tisch unter der Ulme immer frei (der einzige, an dem das WLAN-Signal zu empfangen war). Dennoch gelang es Massimo nicht, den Anblick knackiger Zwanzigjähriger in Tangas zu genießen, die unter der Ulme chatteten, weil die vier Mehrfachzwanzigjährigen in ihren Achselhosen im Nebenzimmer ständig da waren. Wenigstens gab es noch Tiziana.

Massimo kam an den Kreisel zum Viale D’Annunzio und fing an, im Kreis zu fahren, weil er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte.

»Auf jeden Fall muss sich was ändern. Ich verwahrlose hier. Wenn das so weitergeht, komme ich eines Tages auch mit Hosen bis unter die Achseln in die Bar und gehe direkt zum Billardtisch, während ich über meine Prostata klage. Da muss sich was ändern. Was, weiß ich nicht. Aber irgendwas ganz bestimmt. Hast du genug Luft abgelassen, Massimo? Ja, ich glaub schon, ja. Okay, dann zurück zur Bar.«

Zwei

Es gibt Tage, die beginnen auf die beste aller möglichen Arten.

Massimo hatte seinen Tag um halb sechs morgens damit begonnen, dass er beim Weckerklingeln die Augen aufschlug, während der Rest seines Körpers noch eine halbe Stunde in Morpheus’ Armen einforderte. Nachdem er irgendwie aufgestanden war, hatte er sich in Richtung Küche aufgemacht und es dabei geschafft, mit dem ungeschützten nackten kleinen Zeh gegen die Kante eines Möbelstücks zu stoßen. In der Küche angekommen, nach einem sowjetophilen Ballett (Sprünge auf einem Fuß, rhythmisch untermalt mit Flüchen), hatte er entdeckt, dass der Kaffee ausgegangen war und das einzige Essbare, was er im Kühlschrank hatte, ein Stück Pecorino war.

Nachdem er sich mehr schlecht als recht angezogen hatte, war er nach unten gegangen, wo er entdeckt hatte, dass das Auto, an seinem üblichen Platz geparkt, den Ablauf des Pisa-Marathons in substanzieller Weise behindert hatte, der an jenem Morgen stattfinden sollte und dessen Strecke durch die Via San Marino führte. Daher hatte die Gemeinde es für unerlässlich befunden, den Wagen zu entfernen, damit am Ende nicht noch ein zerstreuter Läufer darüber stolperte, und ihn durch ein Schildchen ersetzt, das ihm mitteilte, dass er am Depot in der Via Caduti di Kindu vorbeischauen (klar, am Arsch der Welt, so geht man wenigstens mal ein Stück zu Fuß) und ihn dort, gegen die Entrichtung eines sympathischen Bußgeldes, wieder abholen könne.

Es gibt Tage, die beginnen auf die beste aller möglichen Arten.

Dieser war keiner davon.

Am Steuer sitzend, hielt Massimo endlich auf seine geliebte Bar zu und versuchte, den biblischen Zorn loszuwerden, der ihn im Lauf des Morgens ergriffen hatte. Der Funke, der diesen Zorn entfacht hatte, war, wie geschildert, das Verschwinden des Autos gewesen; den Brennstoff hatte ein Spaziergang von vier Kilometern in Richtung Flughafen geliefert, auf dem Massimo sich selbst mit einer langen Reihe von Schmähungen gegen die Veranstalter des Marathons, gegen die Läufer selbst und gegen alle anderen, die rennen, ohne verfolgt zu werden, unterhalten hatte. Zusätzlich angefacht wurde das Feuer durch die Tatsache, dass er an jenem Morgen zu spät in die Bar kommen würde, was verschiedene Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Erstens würde er es nicht schaffen, die Bar aufzumachen und sein halbes Stündchen in dem leeren und stillen Raum zu genießen, das er brauchte, um sich dem Tag stellen zu können.